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Der Schatten (dänisch: Skyggen) ist ein Märchen des dänischen Dichters und Schriftstellers Hans Christian Andersen. Das Märchen wurde erstmals 1847 veröffentlicht. Andersen verarbeitet darin das Motiv des verlorenen Schatten aus "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" von Adelbert von Chamisso. Einst ging ein gelehrter Mann aus den nördlichen Regionen Europas auf eine Reise nach Süden. Eines Nachts saß er auf seiner Terrasse, während das Feuer hinter ihm seinen Schatten auf den gegenüberliegenden Balkon warf. Wie er da saß, beobachtete der Mann amüsiert, wie sein Schatten jede seiner Bewegungen nachahmte, als würde er wirklich auf dem anderen Balkon sitzen. Als er schließlich müde wurde und schlafen ging, stellte er sich den Schatten vor, wie er dies ebenfalls im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite tat. Am nächsten Morgen jedoch stellte der Mann zu seiner Überraschung fest, dass er wirklich seinen Schatten über Nacht verloren hatte.
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Seitenzahl: 68
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H.C. AndersenDer Schatten
In den heißen Ländern brennt die Sonne freilich anders als bei uns. Die Leute werden ganz mahagonibraun, ja, in den allerheißesten Ländern brennen sie gar zu Mohren. Aber es war nur zu den heißen, wohin ein gelehrter Mann aus den kalten Ländern gekommen war. Der glaubte nun, dass er dort umherlaufen könne wie zu Hause; aber das gewöhnte er sich bald ab. Er und alle vernünftigen Leute mudassssten drinnen bleiben. Die Fensterläden und Türen blieben den ganzen Tag über geschlossen; es sah aus, als schliefe das ganze Haus oder als sei niemand zu Hause. Die schmale Straße mit den hohen Häusern, wo er wohnte, war nun auch gerade so gebaut, dass die Sonne vom Morgen bis zum Abend darauf liegen musste; es war wirklich nicht auszuhalten! Der gelehrte Mann aus den kalten Ländern – er war ein junger Mann und ein kluger Mann – meinte fast, er säße in einem glühenden Ofen. Das zehrte an ihm; er wurde ganz mager. Selbst sein Schatten schrumpfte zusammen; er wurde viel kleiner als zu Hause, die Sonne zehrte auch an diesem. – Erst am Abend lebten sie auf, wenn die Sonne untergegangen war. – Es war ein wahres Vergnügen, es mit anzusehen; sobald das Licht in die Stube gebracht wurde, reckte sich der Schatten an der Wand hinauf, ja sogar bis an die Decke hin, so lang machte er sich. Er musste sich strecken, um wieder zu Kräften zu kommen. Der Gelehrte ging auf den Altan hinaus, um sich dort zu strecken, und sobald die Sterne aus der klaren, herrlichen Luft herabschimmerten, war es ihm, als ob er wieder auflebte. Auf allen Altanen der Straße – und in den warmen Ländern hat jedes Fenster einen Altan – kamen die Leute hervor; denn Luft muss man haben, selbst wenn man daran gewöhnt ist, mahagonifarben zu sein. Überall oben und unten wurde es lebendig. Schuhmacher und Schneider, alle Leute zogen auf die Straße hinaus, Tische und Stühle kamen zum Vorschein, das Licht brannte, ja, über tausend Lichter brannten, und der eine sprach und der andere sang; die Leute spazierten, die Wagen fuhren, die Esel trabten: klingelingeling! denn sie trugen Glöckchen. Da wurden die Toten unter Psalmengesang begraben, die Straßenjungen schossen mit Leuchtkugeln, und die Kirchenglocken läuteten; fürwahr, jetzt herrschte Leben in der Straße! Nur in einem Hause, gerade gegenüber der Wohnung des fremden gelehrten Mannes, war es ganz stille. Und doch wohnte dort jemand, denn auf dem Altan standen Blumen, die gar herrlich trotz der Sonnenhitze gediehen, das hätten sie nicht gekonnt, ohne begossen zu werden, und jemand musste sie ja begießen. Leute mussten also da sein. Die Tür drüben zum Altan hinaus wurde auch des Abends geöffnet, aber drinnen war es dunkel, wenigstens in dem vordersten Zimmer. Tiefer innen ertönte Musik. Dem fremden, gelehrten Mann erschien diese Musik unvergleichlich schön. Aber das war möglicherweise auch nur Einbildung von ihm; denn er fand alles unvergleichlich schön draußen in den warmen Ländern, wenn nur keine Sonne dagewesen wäre. Der Wirt des Fremden sagte, er wisse auch nicht, wer das gegenüberliegende Haus gemietet habe, man sähe ja keine Leute, und was die Musik anginge, meinte er, dass sie grässlich langweilig wäre. »Es ist gerade, als säße einer und übte ein Stück, mit dem er nicht fertig werden kann, immer dasselbe Stück. Ich bekomme es noch heraus, denkt er, aber es gelingt ihm doch nicht, solange er, auch spielt.« Eines Nachts erwachte der Fremde. Er schlief bei offener Altantür; da lüftete sich der Vorhang vor derselben im Winde, und es kam ihm vor, als ob ein wunderbarer Glanz von dem Altan gegenüber käme. Alle Blumen leuchteten wie Flammen in den herrlichsten Farben, und mitten zwischen den Blumen stand eine schlanke, liebliche Jungfrau; es war, als ob auch von ihr ein Glanz ausginge. Es blendete ihn fast, er hatte aber die Augen auch gewaltig aufgerissen, als er so plötzlich aus dem Schlafe kam. Mit einem Sprung stand er auf dem Fußboden und schlich sich ganz leise hinter den Vorhang, aber die Jungfrau war fort, der Glanz war fort, und die Blumen leuchteten gar nicht, sondern standen nur sehr frisch und üppig wie immer. Die Türe drüben war angelehnt, und tief von innen heraus klang die Musik so sanft und lieblich, dass man dabei in die süßesten Gedanken versinken konnte. Das war wie ein Zauber, wer mochte nur da wohnen? Wo war der eigentliche Eingang? Im ganzen Erdgeschoss lag Laden an Laden, dort konnten die Leute doch nicht immer hindurchlaufen. Eines Abends saß der Fremde draußen auf seinem Altan. In der Stube hinter ihm brannte Licht, und so war es ganz natürlich, dass sein Schatten auf die gegenüberliegende Wand fiel. Ja, er saß gerade gegenüber zwischen den Blumen auf dem Altan, und wenn der Fremde sich bewegte, bewegte sich der Schatten auch, denn das tut er. »Ich glaube, mein Schatten ist das einzige Lebendige, was man da drüben sieht!« sagte der gelehrte Mann. »Sieh, wie nett er zwischen den Blumen sitzt. Die Tür steht nur halb angelehnt, nun sollte er so pfiffig sein, hineinzugehen und sich umzusehen; dann müsste er zu mir zurückkommen und erzählen, was er gesehen habe! Ja, Du solltest sehen, dass Du Dich nützlich machst!« sagte er im Scherz. »Sei so freundlich und gehe hinein! Na, wirst Du wohl gehen?« Und dann nickte er dem Schatten zu, und der Schatten nickte ihm zu. »Ja, geh nur, aber bleibe nicht dort!« Und der Fremde erhob sich und sein Schatten auf dem gegenüberliegenden Altan erhob sich auch; der Fremde wandte sich um und der Schatten wandte sich auch um; Ja hätte jemand genau acht gegeben, so hätte er deutlich sehen können, dass der Schatten in die halboffene Tür gegenüber hineinging, gerade als der Fremde in sein Zimmer ging und den langen Vorhang hinter sich niederfallen ließ. Am nächsten Morgen ging der gelehrte Mann aus, um Kaffee zu trinken und die Zeitungen zu lesen. »Was ist das?« fragte er, als er in den Sonnenschein hinaustrat, »ich habe ja keinen Schatten! Also ist er wirklich gestern abend fortgegangen und nicht wiedergekommen; das ist recht unangenehm!« Und es ärgerte ihn; jedoch nicht so sehr, dass der Schatten fort war, sondern weil er wusste, dass es eine Geschichte von einem Mann ohne Schatten gab, die jedermann daheim in den kalten Ländern kannte, und käme nun der gelehrte Mann dorthin und erzählte sein Erlebnis, so würden alle Leute sagen, dass es eine Kopie sei, und das hatte er nicht nötig. Er nahm sich daher vor, überhaupt nicht davon zu reden, und das war vernünftig gedacht. Am Abend ging er wieder auf seinen Altan hinaus, das Licht hatte er ganz richtig hinter sich gesetzt, denn er wusste, dass ein Schatten stets seinen Herrn als Schirm haben will; aber er konnte ihn nicht herbeilocken. Er machte sich klein, er machte sich groß, aber kein Schatten war da, es kam auch keiner. Er sagte: »Hm, hm,« aber auch das half nichts. Ärgerlich war es zwar, aber in den warmen Ländern wächst alles so geschwind. Nach Verlauf von acht Tagen merkte er zu seinem großen Vergnügen, dass ihm ein neuer Schatten von den Beinen aus wuchs, wenn er in die Sonne trat. Die Wurzel musste sitzen geblieben sein. Nach drei Wochen hatte er einen ganz leidlichen Schatten, der, als er sich heimwärts nach den nördlichen Ländern begab, auf der Reise mehr und mehr wuchs, bis er zuletzt so lang und groß war, dass die Hälfte auch genügt hätte. So kam der gelehrte Mann nach Hause, und er schrieb Bücher über die Wahrheit in der Welt und über das Gute und Schöne, und es vergingen Tage und Jahre; es vergingen viele Jahre. Da sitzt er eines Abends in seinem Zimmer, und es klopft ganz leise an die Tür. »Herein« sagte er, aber es kam niemand. Da schließt er auf, und vor ihm steht ein so außergewöhnlich magerer Mensch, dass es ihm ganz wunderlich zumute wurde. Im übrigen war der Mensch durchaus fein gekleidet; es musste ein vornehmer Mann sein. »Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?« fragte der Gelehrte. »Ja, das habe ich mir wohl gedacht!« sagte der feine Mann, »dass Sie mich nicht erkennen würden. Ich bin so sehr zum Körper geworden, dass ich mir habe Fleisch und Kleider zulegen müssen. Sie haben sich wohl auch nicht gedacht, mich in solchem Wohlstand wiederzusehen! Kennen Sie Ihren alten Schatten nicht wieder? Sie haben sicherlich nicht geglaubt, dass ich noch wiederkommen würde. Mir ist es überaus gut ergangen, seit ich zuletzt bei Ihnen war, ich bin in jeder Hinsicht sehr vermögend geworden! Wenn ich mich von meinem Dienst loskaufen will, kann ich es.« Und dann rasselte er mit einem ganzen Bund kostbarer Berlocken, die an der Uhr hingen, und steckte seine Hand in die dicke goldene Kette, die er um den Hals trug; nein, wie an allen seinen Fingern die Diamantringe blitzten. Und alles war echt. »Nein, ich kann mich noch gar nicht fassen!« sagte der gelehrte Mann, »was ist denn das nur?«