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Die Geschichte der kleinen Meerjungfrau berührt seit Generationen die Menschenherzen. Doch wie hat es angefangen? Der Glaube an schöne und gefährliche Wesen der Unterwasserwelt verwandelte sich im Laufe der Zeit in wunderbare, fantastische Kunstmärchen. Viele begabte Schriftsteller haben die Meerjungfrau zur Hauptheldin ihrer berührenden Geschichten auserwählt. Diese alten Geschichten leben immer noch zwischen uns durch mannigfaltige Symbole, die wir aber nicht immer auf Anhieb erkennen. Die zweiflossige Melusine aus der griechischen Mythologie inspirierte das Logo von Starbucks und "Die kleine Meerjungfrau" vom H. C. Andersen – die Walt Disney Studios zu "Arielle, die Meerjungfrau". Undine singt noch immer in der Oper von Tschaikowski und das Donauweibchen sieht man als farbenfrohes Graffiti am Donaukanal. Dies ist eine Kunstmärchen-Sammlung die allerersten Roman-Erzählungen zu Meerjungfrauen.
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Seitenzahl: 383
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Die Meerjungfrau
Undine und andere Klassiker von Wasserfrauen aus aller Welt
Romantische Kunstmärchen von Meerjungfrauen
© Wunderhaus Verlag, Fassungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Lektorat, Korrektorat
Alle Rechte vorbehalten
Klappentext
Die Geschichte der kleinen Meerjungfrau berührt seit Generationen die Menschenherzen. Doch wie hat dies angefangen? Der Glaube an schöne und gefährliche Wesen der Unterwasserwelt verwandelte sich im Laufe der Zeit in wunderbare, fantastische Kunstmärchen. Viele begabte Schriftsteller haben die Meerjungfrau zur Hauptheldin ihrer berührenden Geschichten auserwählt.
Diese alten Märchen leben noch immer zwischen uns durch ihre Symbole, die wir nicht immer erkennen. Zum Beispiel inspirierte die zweiflossige Melusine aus der griechischen Mythologie zum Logo von Starbucks und „Die kleine Meerjungfrau“ vom H. C. Andersen – die Walt Disney Studios zu Ariellle, die Meerjungfrau. Undine singt immer noch in der Oper von Tschaikowski und das Donauweibchen sieht man als farbenfrohes Graffiti am Donaukanal.
Dies ist eine Kunstmärchen-Sammlung der allerersten Roman-Erzählungen zu Meerjungfrauen.
Inhalt:
~ Die schöne Melusine (Gustav Schwab)
~ Die kleine Meerjungfrau (Hans Christian Andersen)
~ Undine (Friedrich de la Motte-Fouqué)
~ Das Donauweibchen (Karl Friedrich Hensler)
Die schöne Melusine
Gustav Schwab
- Deutschland -
Nächst Poitiers in Frankreich lebte ein reicher Graf namens Emmerich, ein gelehrter Herr, der besonders in der Sternkunde und in der Deutung der Zukunft viel Erfahrung hatte. Er besaß einen Sohn und eine Tochter, die er beide innig liebte. Der Sohn hieß Bertram, die Tochter Blaniferte. In den Wäldern unweit von Poitiers hatte zur selben Zeit ein armer, kinderreicher Vetter des Grafen seinen Wohnsitz. Graf Emmerich von Poitiers beschloss daher, seines Vetters Los zu erleichtern, damit er es besser habe und seine Kinder dereinst standesgemäß aussteuern könnte.
Es traf sich, dass der reiche Graf einst in seiner Residenz ein großes Festmahl veranstaltete und seinen Vetter, den armen Grafen von dem Forst, dazu einladen ließ. Dieser fand sich samt seinen drei Söhnen, jungen, wohlerzogenen Herren, mit aller Höflichkeit beim Fest ein. Graf Emmerich fasste solche Zuneigung zu diesen drei Jünglingen, besonders zu dem jüngsten, Raimund, dass er dem Grafen von dem Forst erklärte: »Lieber Vetter, überlasst mir einen Eurer Söhne an Kindes Statt; er soll gut erzogen und wohl versorgt werden.«
Der Graf von dem Forst stellte dem Grafen Emmerich auf dieses Anerbieten hin frei, welchen von den dreien er sich auswählen wollte. Also erbat sich Graf Emmerich den jüngsten, Raimund, der ihm am allerbesten gefiel.
Nachdem das Fest zu Ende war, nahm der alte Graf Abschied von seinem Vetter, seinen jüngsten Sohn Raimund aber ließ er zurück, wiewohl es nicht ohne nasse Augen und innere Trauer bei dem alten Vater ablief. Der junge Herr aber hätte sich keine bessere Aufnahme wünschen können. Er verstand auch seinen Dienst wohl zu versehen und wusste sich bald bei allen höchst beliebt zu machen; daher war ihm Graf Emmerich sehr gewogen und befahl auch allen Haus- und Hofgenossen, ihn nach Gebühr zu behandeln.
Als Graf Emmerich einmal auf der Jagd war und mit seinen Leuten einem wilden Schwein nacheilte, ritt auch Raimund hinterher. Die Verfolgung des Tieres zog sich in die Länge; nach und nach verloren sich alle Diener, keiner von ihnen wusste, wo der Graf hingekommen war, nur Raimund war bei ihm geblieben. Sie ritten quer durch das Gehölz und fanden endlich, als die Sterne schon am Himmel standen, nach vieler Mühe einen gangbaren Weg; Raimund meinte, er führe nach Poitiers. Der Graf, der hoffte, seine Leute wiederzutreffen, bemerkte: »Lass uns eilen, Poitiers wird uns auch noch bei später Nachtzeit die Tore öffnen.« So ritten sie den Weg entlang, Graf Emmerich voran, Raimund als sein Diener hinter ihm drein.
Plötzlich bemerkte der Graf, dem der Lauf der Gestirne stets eine Quelle der Forschung war, unter den Sternen einen ganz fremden Stern. Ratlos meinte er: »Ach Gott, wie sind doch deine Wunder so mannigfach!«
Tief seufzend sagte er zu Raimund: »Komm her, mein Sohn, ich will dir ein bedenkliches Vorzeichen am Himmel zeigen, wie man es nicht so leicht sieht!«
Raimund, ein lernbegieriger Jüngling, fragte, was denn zu sehen wäre?
»Merk auf«, erwiderte Graf Emmerich, »ich sehe am Himmel, dass in dieser Stunde ein Mann seinen Herrn töten und dadurch selbst ein gewaltiger Herr werden wird, mächtiger, als je einer seines Geschlechts gewesen ist!«
Raimund schwieg; bald darauf stießen sie auf ein Feuer, das wohl das Gefolge des Grafen im Wald zurückgelassen hatte. Die beiden stiegen von ihren Pferden, um sich zu wärmen, denn es war bitterkalt. In diesem Augenblick hörten sie durchs Holz etwas daherbrechen; Raimund griff schnell zu seinem Schwert, der Graf zu seinem Speer. Da kam ein starker Eber mit wildem Grunzen auf sie zu. Raimund bat seinen Vetter inständig, sein Leben zu retten und auf einen Baum zu flüchten; er wolle allein mit dem Schwein kämpfen. Aber der mutige Graf war nicht der Mann, einem Kampf mit dem wilden Tier furchtsam auszuweichen. Zugleich setzte er seinen Spieß an und rückte dem Schwein an den Leib.
Er versetzte dem Tier auch wirklich einen Fang, aber das Schwein wehrte den Stoß, der zu schwach war, mit einem Satz ab und warf seinen Feind ergrimmt zu Boden. Nun kam Raimund mit seiner Waffe zu Hilfe, um dem wilden Tier den Rest zu geben und seinen Vetter zu retten; doch die glitt an dem Schwein ab, und während er im Eifer nachdrückte, drang das Schwert dem auf dem Boden liegenden Grafen in die Brust. Raimund zog es sofort wieder heraus, verfolgte das Wildschwein und erlegte den Eber. Aber als er zurückkehrte, fand er den Grafen verschieden vor. Entsetzt eilte Raimund davon, denn er hatte unabsichtlich seinen väterlichen Freund ums Leben gebracht. Er klagte, rang die Hände, dabei entfernte er sich allmählich von dem Unglücksort und führte ein trauriges Selbstgespräch.
»Du unbarmherzige Glücksgöttin«, seufzte er, »du Betrügerin aller Menschen, du reichst für ein Quentchen Freude, womit du uns köderst, hinterher einen ganzen Zentner Leid. Du lässt uns nach den Reichtümern der Welt schnappen und machst uns nachher zum Bettler!«
Unter solchen Klagen ließ er sein Pferd gehen, wohin es wollte. Schließlich kam er an einen Brunnen, der »Durstbrunnen« genannt wird. Dort lagerten drei schöne Jungfrauen, die Raimund vor Leid und Jammer gar nicht sah. Die jüngste und schönste von ihnen trat zu ihm an den Weg und redete ihn an: »Mein Freund, Ihr benehmt Euch nicht ritterlich, dass Ihr uns Frauen keine Höflichkeit erweist, sondern ohne Gruß vorbeireitet!«
Raimund antwortete nicht, sondern klagte weiter, bis die kühne Jungfrau endlich das Pferd beim Zügel ergriff und tadelnd bemerkte: »Ihr wisst nicht, was der Anstand erfordert, wenn Ihr stillschweigend vorübereilen wollt.«
Erschrocken sprang Raimund nun schnell vom Pferd und rief: »Ach, erhabene Fee, ich bitte in tiefster Demut, dass Ihr mir meinen Fehler vergessen und Eure holden Blicke deswegen nicht entziehen wollt. In meinem tiefen Kummer war ich mit sehenden Augen blind. Doch befehlt Eurem Diener, Allerschönste, was er zu vollbringen hat, damit er Eurer Blicke weiter teilhaftig wird!«
»Nicht so, mein Raimund«, begann die holdselige Nymphe, »steht zuvor auf; ein so edler Ritter soll nicht demütig auf der Erde knien! Wir sind Euch alle gewogen, tapferer Ritter!«
Als Raimund hörte, dass die Nymphe seinen Namen nannte, erstaunte er noch mehr; denn er wusste nicht, wie dies zuging. »Göttergleiche Jungfrau«, sprach er, »nun merke ich, dass Ihr vom Himmel geschickt seid, mich aus meiner Seelennot zu erlösen und mich zu trösten. Denn kein Mensch in der Gegend kennt meinen Namen, und auch der Eurige ist mir unbekannt; aber ich halte Euch eher für einen Engel in menschlicher Gestalt als für einen Menschen.«
»So hört denn, lieber Raimund«, erwiderte sie, »was Ihr tun müsst, wenn Ihr glücklich sein wollt! Ich verlange, dass Ihr mir schwört, mich zu Eurer Gemahlin zu erwählen. An jedem Samstag sollt Ihr mich allein lassen, mich nicht fragen, mir auch nichts befehlen, gar nicht mit mir reden, mich auch niemand anderm vorstellen, so dass ich den ganzen Tag frei und unbekümmert bleibe. Dagegen gelobe ich Euch, dass ich Zeit meines Lebens, besonders aber am erwähnten Samstag, nirgends hingehen will, wo es Euch nicht recht wäre, und dass ich mich an diesem Tag in meinem Frauengemach still und ruhig einschließen werde.«
Raimund gelobte, alles das treu und unverbrüchlich zu halten. Der Nymphe Melusine – dies war der Name der holden Jungfrau – kam aber sein rascher Entschluss ziemlich verdächtig vor; sie glaubte, er verspreche mehr, als er halten würde.
»Ich sehe aus Euren Mienen«, setzte sie fort, »dass Ihr mehr gelobt, als Ihr zu halten gedenkt. Sollte es aber geschehen, dass Ihr mir untreu würdet, wovor Euch der Himmel behüte, so wäret Ihr selbst die einzige Schuld an Eurem Unglück, denn Ihr würdet mich unfehlbar verlieren und auch Euch und Euren Erben schaden und Schuld an dem Unglück bis auf die Kindeskinder auf Euch nehmen.«
Als Raimund diese Vorstellungen vernahm, schwur er noch einmal einen feierlichen Eid.
»Gut«, versetzte die Nymphe, »ich glaube Euch. Reist nun nach Südfrankreich, der Himmel begleite Euch mit seinem Schutz. Wenn Euch aber jemand fragt, wo Euer Vetter, der Graf, ist, so antwortet, dass Ihr ihn im Wald verloren habt. Vielleicht ist er irregeritten, wie auch seine andern Diener sagen werden. Dann wird ihn alles eiligst suchen, und endlich werden sie ihn auch finden und mit großer Klage den Toten nach Poitiers bringen. Nach seiner Beerdigung werden sich alle Verwandten und die Edlen des Landes einfinden, um von seinem Sohn, als ihrem jetzigen Herrn, die Lehen zu empfangen. Dann sollt auch Ihr Euch in Bescheidenheit melden und bitten, dass Euch der Erbe für Eure treu geleisteten Dienste ein Stück Land bei dem »Durstbrunnen« schenken wolle, wäre es auch nur so klein, als Ihr mit einer Hirschhaut umschließen könnt. Diese untertänige Bitte wird Euch der Rat des Grafen gern gewähren.«
Dann fuhr die Nymphe fort: »Eilt, mein teuerster Raimund, und vergesst nicht, Brief und Siegel darüber zu verlangen, die von des Grafen Hand unterzeichnet sein müssen, und trachtet, dass sie schleunig ausgefertigt werden. Hierauf wird Euch ein Mann begegnen, der eine Hirschhaut nach Hause trägt. Dem kauft die Haut ab, ohne viel Worte zu verlieren, und lasst sie zu einem ganz schmalen Riemen zuschneiden. Dann geht und lasst das Land abgrenzen; fangt beim Brunnen an! Diese Art wird Euch eine ganze Tagereise Land im Umkreis verschaffen, und niemand wird Euch dies streitig machen können.«
Mit diesen listigen Worten entließ die schlaue Nymphe ihren Liebling.
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Raimund machte sich sogleich nach Poitiers auf, um ihren Rat auszuführen. Während er durch die Stadt ritt, fragte ihn ein Mann: »Wie kommt es, Raimund, dass Ihr ohne Euren Herrn erscheint?«
Raimund antwortete: »Ich habe ihn seit gestern abend nicht gesehen; er entschwand meinen Augen im Wald während der Jagd, und ich konnte ihn nicht mehr auffinden.« Bei dieser Aussage blieb er, und niemand dachte an ein Unglück oder argwöhnte etwas anderes dahinter.
Inzwischen kamen alle Begleiter des Grafen von der Jagd nach Hause bis auf zwei. Aber keiner wusste, wo ihr Herr geblieben war. Dies verursachte bei Hof große Bestürzung, besonders bei der Gräfin und ihren Kindern. Plötzlich erschienen die zwei letzten Diener aus dem Gefolge des Grafen und brachten ihren toten Herrn, was den Jammer aller Anwesenden noch vermehrte. Auch dem unschuldigen Täter Raimund wurden die Augen nass, und das Herz klopfte ihm heimlich mit schnellen Schlägen. Die Diener erzählten, wie sie den Grafen in seinem Blut entseelt bei dem wilden Schwein auf der Erde gefunden hätten.
Als Graf Emmerich am nächsten Tag bestattet war, fanden sich die Edlen des Landes bei seinem Sohn, Graf Bertram, ein und empfingen von ihm ihre Lehen, wie dies bei einem neuen Landesherrn zu geschehen pflegt. Da trat auch Raimund herzu und brachte seine Bitte vor, wie ihn Melusine angewiesen hatte. Der Graf versprach ihm auf der Stelle Gewährung. Auch alle Räte gaben einmütig ihre Zustimmung. Nun bat Raimund um die Ausfertigung eines gesiegelten Lehensbriefes, von des Grafen Hand unterzeichnet, der ihm sofort eingehändigt wurde.
Kaum hatte Raimund mit dem gesiegelten und unterschriebenen Brief das Schloss des Grafen verlassen, traf er einen Mann, der eine gegerbte Hirschhaut feilbot, die Raimund unverzüglich kaufte und in ganz schmale und dünne Riemen zerschneiden ließ. Darauf meldete er sich abermals bei dem Grafen und stellte die weitere Bitte, dass man ihm das Stück Land, welches er in der Gegend des »Durstbrunnens« auswählen würde, als Lehen übergeben möge. Der Graf bestellte einige Amtsleute, die mit Raimund zu dem Brunnen ritten. Da fanden sie, dass Raimund eine Hirschhaut zu den allerschmälsten Riemen zerschnitten hatte, und wunderten sich sehr über diese List.
Obgleich sie erklärten, dass es mit der Hirschhaut ganz anders gemeint gewesen sei, ließen sie es doch bei der Schenkung bewenden, weil der Graf sein Wort einmal gegeben hatte, und ritten nach Poitiers zurück. Hier erzählten sie alles dem jungen Grafen. Dieser konnte sich über die Schlauheit Raimunds nicht genug wundern, doch gönnte er seinem lieben Vetter und Freund, der sich auch um seinen Vater wohlverdient gemacht hatte, alles Gute mit dem Wunsch, dass es ihm dabei glücklich ergehen möge.
Nachdem Raimund bei Hof seinen Dank abgestattet hatte, ritt er wieder zum »Durstbrunnen«, wo ihn seine Verlobte, die unvergleichlich schöne Melusine, ungeduldig erwartet hatte und nun auf das freundlichste begrüßte. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu einer abgelegenen Waldkapelle, in der viele Ritter und Bürgersleute, Frauen und Jungfrauen anwesend waren. Raimund wusste aber nicht, wo er sei; obgleich er sich lange umsah, konnte er nicht einen einzigen Bekannten entdecken. Aufs höchste verwundert, fragte er seine Geliebte: »Mein Kind, was für ein unbekanntes Volk ist das? Wem unterstehen die Leute, die ich so geschmückt vor mir sehe?«
»Wundert Euch nicht, mein Geliebter«, versetzte die Schöne, »es sind lauter Leute, die Euch künftig dienen werden, kurz, mein Volk und meine Untertanen sind es!« Und nun wandte sie sich zu dem Volk und gebot, dass alle von nun an Raimund als ihrem rechtmäßigen Herrn und Gebieter gehorsam sein sollten. Alle verneigten sich tief und gaben ihre Untertänigkeit sogleich zu erkennen.
Raimund fühlte sich durch diese Worte Melusinens wieder etwas getröstet, die Jungfrau aber fuhr fort: »Ihr müsst eine richtige Hochzeit halten und vornehme Gäste dazu einladen. Dies muss aber, wenn Ihr glücklich sein wollt, bis spätestens innerhalb acht Tagen geschehen.«
Raimund willigte in alle Wünsche Melusinens ein. Er schwang sich sogleich auf sein Pferd und begab sich wieder nach Poitiers zu seinem Vetter. Hier brachte er sein Anliegen mit folgenden Worten vor: »Gnädiger Herr Vetter, geruht, nicht unwillig darüber zu sein, dass ich mich so bald und unverhofft wieder bei Hof einfinde. Ich bin Bräutigam und komme, Euch und Eure Frau Mutter zu meinem Hochzeitsfest einzuladen, das bei dem wohlbekannten ›Durstbrunnen‹ begangen werden soll. Wenn mir nun die Ehre Eurer Gegenwart künftigen Montag früh zuteil werden könnte, würden ich und meine Braut dies für ein ganz besonderes Glück halten.«
Neugierig fragte der Graf, wer denn seine Braut sei.
»Sie ist eine edle, reiche und mächtige Dame«, erwiderte Raimund, »deren Herkunft ich übrigens selbst noch nicht weiß und erst nach der Trauung erfahren werde.«
Graf Bertram konnte sich des Lachens kaum enthalten. Doch gab er ihm den höflichen Bescheid: »Liebster Vetter, wir vernehmen mit größtem Vergnügen Euer Glück und sind entschlossen, auf Euer freundliches Ersuchen bei Eurem Hochzeitsfest zu erscheinen. Aber überlegt, ob Euch diese Heirat nicht übel ausschlagen wird. Denn wenn Eure Braut vielleicht von unedlem Geschlecht wäre, könnte sie Eurer Herkunft schaden.«
So schied Raimund mit der Zusage des Grafen und höflichem Dank. Der Hochzeitstag kam, und am frühen Morgen machte sich Graf Bertram mit seiner verwitweten Mutter und allem Hofgesinde auf, um an seines Vetters Ehrenfest teilzunehmen.
Unterwegs scherzten sie darüber, ob bei dem verrufenen »Durstbrunnen« nicht ein gespenstisches Gaukelspiel vorgehen werde. Kaum aber waren sie an ihrem Ziel angelangt, erblickten sie auf einer grünen Ebene eine Menge prächtiger Zelte, auch sahen sie sehr viele Teilnehmer, lauter unbekannte Leute, die um die Zelte herumwandelten. Dies bestärkte sie im Glauben, dass alles nichts andres sein könne als ein Blendwerk, besonders in einer solchen Einöde, wo sonst kein Mensch anzutreffen war.
In diesen Gedanken wurden sie durch eine Menge von jungen Rittern und Edelleuten unterbrochen, die in schönstem Schmuck und auf das beste bewaffnet daherritten. Sie begrüßten den Grafen, seine Mutter und ihr ganzes Gefolge auf das ehrerbietigste im Namen ihres Herrn Raimund und begleiteten sie bis vor die Zelte. Diese höfliche Aufnahme, die sorgfältige Verteilung der Gäste in die Zelte und das prunkvolle Quartier wunderten Graf Bertram nicht wenig. Indessen kam auch Raimund mit einem Gefolge von Kavalieren daher, um den Grafen zu bewillkommnen. Als es Zeit zur Trauung war, verfügten sich alle Herrschaften nach der Kapelle, wo ein mit den größten Kostbarkeiten gezierter Altar errichtet war. Der Kirchenraum selbst war mit Tapeten und Kleinodien auf das prächtigste geschmückt. Die Braut glich an Schönheit fast einem Engelsbildnis. Ihre Gewänder schimmerten von Gold, Perlen und Edelsteinen wie der gestirnte Himmel; kurz, alles war köstlich anzuschauen.
Nach der Trauung führten Graf von Poitiers und ein anderer vornehmer Herr die Braut zur besondern Ehre dem Festzelt zu. Hier wurde das Handwasser in goldenen Schalen gereicht, dann setzte man sich zu Tisch; die gräflichen Gäste nahmen zuoberst nächst dem Brautpaar auf goldenen Sesseln Platz. Die köstlichsten Gerichte wurden aufgetragen und bei allem eine Pracht angewendet, dass es fast königlich anzusprechen war.
Auf die Tafel folgte ein prächtiges Turnier. Die Ritter in herrlicher Rüstung stellten sich, in zwei Partien geteilt, auf. Alle erwarteten voll Neugier, wer siegen würde. Jeder tat sein Bestes, aber Raimund selbst trug den Preis davon, ein wertvolles Kleinod, mit Diamanten besetzt.
Am späten Abend nach Beendigung des Ehrenfestes wurde das Brautpaar mit Fackeln zu seinem Zelt begleitet. Dieses war von lauter Seide, mit dichten Goldstreifen und bunten Vogelgestalten künstlerisch durchwirkt; das Lager und die Decken von Seide waren mit goldenen Lilien bestickt, so dass der Glanz die Augen blendete. Um das Zelt ertönte eine liebliche Musik. Melusine aber sprach zu ihrem Gemahl: »Ich bin jetzt deine angetraute Gemahlin, bis uns der Tod trennen wird. Nur lass dich nie gelüsten, nach meiner Herkunft zu forschen oder dein Gelübde zu brechen, mich samstags nicht zu sehen, wenn du nicht selbst der Urheber deines Verderbens sein und mich verlieren willst.«
Raimund umarmte seine Gemahlin und schwor ihr alles, wie er es schon zweimal gelobt hatte.
Am andern Morgen versammelten sich die Gäste wieder, und die Fröhlichkeit ging von neuem an. So währten die Hochzeitsfreuden fünfzehn Tage lang. Beim Abschied öffnete Melusine einen mit Elfenbein ausgelegten großen Schrein, in dem die kostbarsten Kleinodien von Gold, Perlen und Edelsteinen in unzählbarer Menge verwahrt waren. Damit beschenkte sie ihre Gäste reichlich. Nun hätte Graf Bertram gern gewusst, woher die junge Frau stamme, weil er sie immer noch nicht für etwas Natürliches halten wollte, aber er fürchtete den Zorn, in den Raimund über einen solchen Verdacht geraten könnte. Daher unterließ er es, und so schieden sie voneinander, ohne dass sie wussten, bei wem sie gewesen und woher Raimunds reiche Braut war. Von Raimund und seinen Rittern wurden sie bis an den Saum des Waldes begleitet.
-
Wochen waren verflossen, da kam eine Menge Werkleute bei dem »Durstbrunnen« an; die fällten alles Holz ringsumher, dann machten sie tiefe Gräben um die hohen Felsen herum. Sie legten ein tiefes, starkes Fundament und setzten die ersten Grundsteine auf den harten Fels. In eifriger Arbeit hatten sie bald mächtige Türme und hohe, dicke Ringmauern errichtet. Innerhalb dieser bauten sie zwei feste Burgen. Und als der Bau zu aller Gegenwehr hinlänglich gerüstet war, nannte ihn Melusine nach ihrem Taufnamen »Lusinia«.
Nach einiger Zeit gebar Melusine ein Söhnlein, das sie Uriens taufte. Der Knabe hatte ein seltsames Aussehen; er war klein und breit, überdies war das eine Auge rot, das andere grün; er hatte dabei einen weiten Mund und lang herabhängende Ohren.
Ein Jahr darauf schenkte Melusine einem zweiten Sohn das Leben, der Gedes genannt wurde und eine so brennende Röte im Gesicht hatte, dass sie gleichsam einen Widerschein gab; sonst aber war er schön und wohlgestaltet. Dann errichtete sie der Mutter Gottes zu Ehren ein Kloster, Mallières genannt.
Als diese Gebäude fertig waren, schenkte Melusine abermals einem Sohn das Leben; diesem Kind stand ein Auge ein wenig höher als das andere. Der Knabe hieß Gyot. Im gleichen Jahr baute Melusine wieder ein Schloss, Larochelle, und zu Soniets ließ sie eine herrliche Brücke anlegen. Dann bekam sie noch einen Sohn, Antonius geheißen, der einen Löwengriff an seiner Wange mit auf die Welt brachte, sehr behaart war und lange, scharfe Nägel an den Fingern hatte. Dieser Knabe war so scheußlich, dass jeder, der ihn nur ansah, sich schon vor ihm fürchtete. Der nächstgeborene Sohn hatte nur ein Auge mitten auf der Stirn und wurde Reinhard genannt.
Es folgte nun der sechste Sohn, den man Geoffroy »mit dem Zahn« hieß, weil er einen großen Zahn mit auf die Welt brachte, der wie ein Hauer aus dem Mund ragte.
Es blieb aber auch bei diesem sechsten Sohn nicht, sondern ein siebenter folgte, Freimund geheißen; dieser war sehr schön, hatte jedoch auf der Nase ein haariges Mal, als wäre ihm ein Stück von einer Wolfshaut eingesetzt. Bald nach diesem kam der achte Sohn, der drei Augen hatte, von denen ihm eines auf der Stirn stand. Er wurde wegen seines abscheulichen Aussehens Horribil genannt und zeigte schon in zarter Kindheit böse Neigungen; er war nur darauf bedacht, Arges zu stiften. Diesem folgte als neunter Sohn Dietrich und als letzter Raimund, beide wohlgewachsen.
Als der älteste Sohn Uriens ins Mannesalter gekommen war, wollte er kriegerischen Ruhm erwerben. Deswegen nahm er einige Segel- und Ruderschiffe und ließ sie mit allem Nötigen ausrüsten und stark bemannen. Sein jüngerer Bruder Gyot bekam Lust, mit ihm zu fahren, obgleich er noch jünger als sein Bruder Gedes war, der auch an dieser Reise Gefallen gefunden hatte. Der mutige Uriens aber hatte größere Zuneigung zu seinem Bruder Gyot, so dass er sich diesen zum Reisegefährten nahm und den Bruder Gedes zurückließ. Melusine freute sich über den Vorsatz ihrer Söhne, rüstete sie reichlich aus und ließ sie in des Himmels Schutz dahinfahren.
So rafften sie ihre Segel und stießen vom Strand; bald kamen sie in das Königreich Zypern. Dort hatten sie die beste Gelegenheit, ritterliche Taten zu verrichten; denn der König von Zypern wurde in seiner Stadt Famagusta von dem mächtigen Heidensultan mit starker Macht und viel Volk belagert. In der Stadt herrschte große Hungersnot, und der König schwebte in größter Gefahr, sich den Heiden unterwerfen zu müssen; dies verursachte großes Wehklagen in der Stadt. Kaum hatte Uriens die Kunde vernommen, als er sich mit seiner Flotte nach der Stadt wendete.
Die Stadtbewohner vernahmen bald, dass fremdes Kriegsvolk herbeikomme; sie konnten aber nicht wissen, ob es Christen oder Heiden wären. Als der Sultan das Herannahen der christlichen Schiffe erfuhr, begann er sein Heer zusammenzuziehen. Da glaubte der König von Zypern, die Heiden wollten die Flucht ergreifen, und zog mit seinen Mannen mutig gegen die Heiden ins Feld. Die Prinzessin Herminia, seine junge, schöne Tochter, blieb in der Stadt zurück. Da erhob sich ein harter Kampf, viele Christen wurden erschlagen, der König von Zypern selbst wurde durch das vergiftete Geschoss eines Heiden tödlich verwundet, so dass man kaum hoffte, ihn lebendig vom Schlachtfeld hinwegzubringen. Auf diese Weise mussten die Zyprier, von den Heiden bedrängt, nicht ohne große Verluste wieder abziehen. In der Stadt Famagusta erhob sich große Klage um die Toten und Verwundeten. Die Kinder weinten um ihre Väter, die Frauen rauften sich verzweifelt die Haare. Am kläglichsten aber schluchzte Prinzessin Herminia, denn sie hatte aus dem Bericht der Ärzte entnommen, dass die Wunden ihres Vaters unheilbar seien.
Unterdessen war Uriens mit seinem Bruder Gyot und der Heerschar, die mit ihnen auf den Schiffen war, gelandet und jäh auf die Heiden losgerückt. Sie fielen heldenmütig in ihre Reihen, und Uriens sowie Gyot fochten mannhaft, so dass die Heiden an den Rückzug glauben mussten.
Nach Beendigung der Schlacht fertigte der todkranke König von Zypern eine Gesandtschaft an Uriens mit dem höflichen Ersuchen ab, zu ihm in die Stadt Famagusta zu kommen; läge er nicht an einer tödlichen Wunde darnieder, so würde er selbst ihm, als dem Sieger über seine Feinde, einen Besuch im Lager abstatten. Uriens nahm dieses Anerbieten mit Dank entgegen und machte sich bald mit seinem Bruder Gyot auf den Weg. Aber das Volk in der Stadt Famagusta empfing ihn anfangs nicht sehr freundlich, sondern sah ihn wegen seines unförmigen Gesichts misstrauisch an.
Der König empfing Uriens mit den Worten: »Mein Freund, Ihr habt tapfer gefochten und uns und der ganzen Christenheit einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Nun sagt uns, wer Ihr seid und woher Ihr stammt.«
Uriens antwortete ihm mit tiefer Verbeugung: »Allergnädigster König und Herr, Eure Majestät beliebe zu vernehmen, dass ich aus dem Stamme der Grafen zu Lusinia geboren bin.«
Der König sprach: »Von Eurem Geschlecht haben wir schon viel vernommen. Jetzt aber wünschen Wir, dass Ihr, tapferer Ritter, Uns einen besondern Gefallen erweist. Es soll dies zu Eurer eigenen Ehre gereichen. Wisst«, fuhr der König mit einem tiefen Seufzer fort, »dass Unsre Tochter Herminia eines Schutzes und dies Reich selbst eines tapfern und heldenmütigen Thronfolgers bedarf, da es den heidnischen Grenzen zu nahe liegt. Darum wollen Wir, dass Ihr Unsre Tochter und dieses Reich zusammen übernehmt und vor jedem Ansturm der Feinde beschützt; denn es ist in allen Landen, unter allen Rittern der Welt keiner, mit dem Unsere Tochter und unser Reich besser fahren würden.«
Uriens erschrak vor Freude. Er antwortete dem König in tiefster Demut: »Großmächtiger König, ich sage für diese hohe und unverdiente Gnade meinen untertänigen Dank und halte mich für unwürdig, die Erbin einer Königskrone als Gemahlin heimzuführen und ein so mächtiges Reich zu beherrschen. Jedoch eine so unvergleichliche Gnade auszuschlagen, wäre eine Vermessenheit. Deswegen will ich Folge leisten, wenn Ihr mit Eurem Knecht nicht scherzt.«
Der König, über diese kluge Antwort des Fremdlings erfreut, versetzte: »Nun preise ich den Himmel, dass ich noch vor meinem Ableben Tochter und Reich nach meinem Wunsch versorgt habe!«
Hierauf ließ er seine Reichsstände, alle seine Räte und die Prinzessin herbeikommen und forderte die Stände auf, seiner Tochter als Königin und Beherrscherin des Reiches zu huldigen.
Das geschah nach dem Willen des Königs. Dann fuhr der sterbenskranke Fürst fort: »Ihr wisst, dass es einem schwachen jungen Weib fast unmöglich ist, Reiche und Länder zu regieren und vor feindlichen Angriffen zu beschützen. Im Interesse Unseres Vaterlandes sind Wir entschlossen, Unser einziges Kind, die Prinzessin Herminia, mit Uriens zu vermählen und ihm das Zepter des Reiches einzuhändigen.«
Die Landesherren forderten hierauf den tapfern Uriens auf, sich mit der Prinzessin Herminia zu vermählen; dann wollten sie ihm auf der Stelle Treue schwören und ihn zu ihrem König krönen. Dies nahm der edle Ritter dankbar an, und sofort wurden beide angesichts des sterbenden Königs vermählt. Bald darauf verschied der König.
Uriens und Herminia lebten in zärtlicher Liebe miteinander. Die junge Königin schenkte einem Prinzen das Leben, den man den Greif nannte.
Nun erkrankte auch der König von Armenien, Herminiens Oheim. Er starb und hinterließ eine einzige Tochter, die Floria hieß und noch unvermählt war. Da schickten die Landesherren eine Gesandtschaft an den König von Zypern ab und baten, der neue König Uriens möge seinen Bruder Gyot zu ihnen senden und ihn der Prinzessin Floria zum Gemahl geben; dann wollten sie ihm huldigen und ihn zum König krönen. Uriens erfüllte ihre Bitte. Darauf machte sich Gyot auf die Reise und kam nach Armenien, wo er mit der schönen Floria vermählt und unter den größten Festlichkeiten zum König gekrönt wurde. Von dieser Zeit an waren die zwei berühmten Königreiche wieder in zweier Brüder Händen, und beide regierten klug und mächtig und leisteten dem Heidenvolk kräftigen Widerstand.
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Als Raimund und Melusine erfuhren, dass ihre beiden Söhne durch tapfere Taten zu hohen Ehren gekommen und sogar auf Throne erhoben worden waren, freuten sie sich sehr, und Melusine ließ zum Dank für diese Fügung des Himmels eine Kirche errichten.
Darauf vermählte sie ihren zweiten Sohn, Gedes, an eine Tochter des Grafen von der Mark. Indessen wuchs auch ihr Sohn Reinhard, der nur ein Auge hatte, heran und entschloss sich, mit seinem Bruder Antonius gleich seinen beiden ältern Brüdern in die Fremde zu gehen und durch ritterliche Taten Ehre zu erwerben. So zogen sie miteinander in Begleitung eines großen Gefolges wohlausgerüstet von Lusinia fort und wandten sich nach Luxemburg, das eben der Fürst von Elsass mit großer Streitmacht belagerte. Er hätte diese Stadt ohne Zweifel erobert, wenn ihr nicht die unerwartete Hilfe der beiden jungen Helden zugekommen wäre. Der Fürst von Elsass war der Herkunft nach König von Böhmen, weshalb man ihn auch allgemein den König von Elsass hieß. Jedermann wusste, dass der Fürst jenen Angriff mutwillig vom Zaun gebrochen hatte, um die Herzogin von Luxemburg, die eine arme, hilflose Waise war, zur Gemahlin zu bekommen oder ihr wenigstens Schloss und Stadt mit Gewalt zu entreißen.
Auf die Nachricht von dieser Gewalttätigkeit sandten die Brüder eilig einen Herold zu dem König von Elsass und kündigten ihm wegen seines ungerechten Vorgehens den Krieg an. Ungesäumt rückten sie gegen das gegnerische Lager vor und griffen den Feind tapfer an. Aber die Elsässer wehrten sich erbittert. Der Kampf war hart, doch neigte sich der Sieg schließlich auf die Seite der Lusinier; denn die zwei Brüder stritten mit unglaublicher Kühnheit. Dabei geriet der junge Held Antonius in die Nähe des Königs von Elsass und nahm ihn nach hartem Kampf gefangen. Als das rheinische Volk seinen Herrn in der Hand des Gegners sah, ergriff es die Flucht. Die Lusinier aber stießen nach und fügten den Flüchtenden große Verluste zu.
Als der Sieg errungen war, schickten die zwei Brüder den König von Elsass, ihren Gefangenen, nach Luxemburg und ließen ihn der Erbin von Luxemburg zum Zeichen des Sieges überantworten. Als die Prinzessin den königlichen Gefangenen erblickte, erinnerte sie sich der Drangsale, die ihr der Fürst zugefügt, und die Strafe des Himmels, die den Übermütigen ereilt, sowie ihre eigene Errettung gingen ihr tief zu Herzen. Bewegt sprach sie zu den Rittern, die ihr den König überbrachten: »Sagt mir nun, wer sind die siegreichen Helden, die uns aus den Händen dieses Tyrannen errettet haben?«
Da antwortete ihr ein alter Ritter: »Durchlauchtigste Fürstin, die Sieger stammen aus Lusinia in Frankreich und sind zwei Brüder, der eine heißt Antonius, der andere Reinhard.«
Die Prinzessin befahl sofort, dass man beiden Siegern die besten Quartiere in der Stadt besorge und für all ihr streitbares Volk Unterkunft bei den Bürgern bereite, damit, wenn sie kämen, alles schon zu ihren Diensten stünde.
Als die beiden Brüder dann in die Stadt einrückten, wurden sie vom Jubel des Volkes empfangen und feierlich zur Herzogin geleitet.
»Seid willkommen, meine siegreichen Befreier!«, rief die Fürstin ihnen freundlich entgegen; »und auch ihr, tapfere Mitstreiter, seid alle aufs herzlichste aufgenommen! Rastet aus von eurer Mühe und seid fröhlich! Ihr sollt bei einem Ehrenmal alle eure Beschwerden mit einem Meer der Freuden abspülen!«
Als die Tafel wieder aufgehoben war, wurde über Verlangen der König von Elsass vorgeführt, der an seine beiden Besieger die Frage richtete: »Meine Herren! Nachdem ich euer Gefangener geworden bin, bitte ich euch, mir zu sagen, welches Lösegeld ihr von mir verlangt; bestimmt es aber so, dass es nicht über die Kräfte meines Reiches geht, wofür ich mich auf alle Weise erkenntlich zeigen werde.«
Die beiden Brüder gaben ihm in aller Höflichkeit zur Antwort, er sei zwar ihr Gefangener, doch hätten sie die freie Verfügung über ihn ganz der Herzogin anheimgestellt. Was diese beschließen wolle, das würden auch sie gutheißen. Auf diese höfliche Rede erbleichte der König, denn er konnte sich wohl vorstellen, dass er bei der Fürstin wegen seiner Gewalttätigkeiten wenig Milde finden würde, obschon sie sich anscheinend freundlich gegen ihn benahm.
Aber die kluge Herzogin erklärte großmütig: »Meine tapferen Erretter, ich danke euch nicht nur für eure getreue Hilfe, sondern überlasse es euch auch, nach Gutdünken mit eurem Gefangenen zu verfahren.«
Als der König dies hörte, kehrte die Farbe wieder in sein Antlitz zurück. Die Brüder aber erwiderten voll Edelmut: »Durchlauchtigste Fürstin, wir nehmen das großmütige Geschenk einer Siegesbeute mit ehrfurchtsvollem Dank an, erklären aber, dass wir kein Lösegeld verlangen, sondern unserem Gefangenen die Freiheit zum Geschenk machen mit dem Vorbehalt, dass der König Euch für alle Beleidigungen, die er Euch zugefügt, Abbitte tue und schriftlich gelobe, in Zukunft Frieden zu halten.«
Nicht nur der Herzogin, sondern auch dem gefangenen König selbst schien diese Forderung annehmbar, und der König tat alles sofort mit Freuden, indem er mit tiefer Verbeugung und demütigem Dank Abbitte leistete. Dann gelobte er den beiden tapfern Helden Freundschaft und königliches Wohlwollen und riet der Herzogin, sich mit dem Helden Antonius zu vermählen.
Die kluge Fürstin erwog, dass des Königs Wunsch ihrem Land nur von großem Nutzen sein könnte. Daher ließ sie, als der Held Antonius selbst um sie warb, die Vermählung ohne weiteren Aufschub vor sich gehen. Der König von Elsass war als Ehrengast zugegen, und das Fest verlief zum Vergnügen aller.
Kaum aber waren die Tage der Festlichkeit zu Ende, da folgte schon wieder eine Schreckensnachricht; denn als die Gäste eben fortziehen wollten, kam ein Eilbote aus Böhmen und übergab dem König von Elsass einen schriftlichen Bericht seines Bruders, dass nunmehr die Stadt Prag von dem türkischen Großsultan mit einer gewaltigen Heeresmacht belagert und von allen Seiten eingeschlossen sei und auf keinen Entsatz zu hoffen habe. Der König von Böhmen flehte daher seinen Bruder um schleunige Hilfe an. Der König von Elsass erschrak über dieses Schreiben und bat die beiden Heldenbrüder Antonius und Reinhard, zum Zeichen der neugeschlossenen Freundschaft seinem bedrängten Bruder an seiner Seite mit vereinter Heeresmacht zu Hilfe zu kommen, damit das Land Böhmen vom Untergang errettet und der Christenfeind bezwungen werde. Dadurch würden sie ihren Heldennamen weithin bekanntmachen und sich Ruhm in aller Welt erwerben.
Nun wollte freilich die Herzogin den tapferen Helden Antonius nicht von sich lassen, doch bewirkte die dringende Bitte des Königs, dass Antonius ihm versprach, sein Bruder Reinhard werde auf der Stelle mit einer stattlichen Anzahl tapferer Streiter aufbrechen. Sollte es dann die höchste Not erfordern und die vereinigte Macht des Königs und seines Bruders noch nicht hinreichen, so wolle auch er ihnen mit seiner eigenen Person und einem neuen Heer zu Hilfe eilen.
Da erklärte der König von Elsass in seiner übergroßen Freude, sein Bruder in Böhmen, ein sehr mächtiger König, habe eine einzige Tochter. Er selbst wolle vermitteln, dass Reinhard die königliche Prinzessin und nach ihres Vaters Tod die Krone von Böhmen erhalte. Die Herren von Lusinia sagten ihm dafür Dank und boten sofort alles Volk auf. Der König mit Reinhard eilte über den Rhein und hatte keine Ruhe, bis er auf böhmischem Boden war. Aber da standen die Feinde in solcher Stärke, dass der König und Reinhard sich zu schwach fühlten, sie allein zu bekämpfen. Deswegen sandten sie einen Eilboten an den Herzog Antonius ab mit der dringenden Bitte, sich an die Spitze seiner Heeresmacht zu stellen und den Sieg erringen zu helfen.
Infolge dieser Nachricht verabschiedete sich Antonius von seiner geliebten Gemahlin und brach zur Rettung der Christenheit und des Königs von Böhmen mit einem Gefolge von mehreren tausend Streitern auf.
Die Fürstin hatte ihren Gemahl beim Abschied gebeten, ihres seligen Vaters Schild, Helm und Panzerkleid zu tragen und auch sein Wappen zu führen. Antonius aber hatte ihr geantwortet, er habe schon von seinem Vater ein ererbtes Wappen, das er nicht aufgeben dürfe. Auch habe ihn die Natur selbst schon von Geburt an gleichsam mit einem Wappen, nämlich mit einem Löwengriff auf der Wange, versehen, wodurch er von vielen Tausenden unterschieden sei. Deswegen wolle er als Helmzier einen Löwen führen und auch auf ihren beiden Wappen einen Löwen beifügen lassen.
Der König von Elsass war vor Freude außer sich, als er vom Herannahen des Helden Antonius hörte, und eilte ihm etliche Meilen weit entgegen.
Endlich langten sie vor Prag im Angesicht der Feinde an. Der König von Böhmen war in der Stadt eingeschlossen. Er sah sich wohl von mächtigen Feinden mit einem gewaltigen Kriegsheer bedroht, aber er wusste auch hilfreiche Freunde, den König von Elsass und die zwei Herren von Lusinia, deren gesamte Macht den Türken wenig nachzustehen schien, in der Nähe. Das tröstete ihn, er wollte zeigen, dass er ein tapferer König sei und sich wohl getraue, eine Heldentat auszuführen, wie sie Königen geziemt. Als daher der türkische Kaiser eines Tages prahlend vor die Stadt ritt und die Belagerten herausforderte, wollte der König diesem Hochmut nicht länger mehr zusehen, sondern versammelte eine Anzahl seiner Ritter um sich und zog mit ihnen, auf des Himmels Schutz vertrauend, den Türken zum Trotz vor die Tore.
Es entspann sich ein harter Kampf. Die Türken wehrten sich verzweifelt, und schließlich zeigte es sich, dass die Christen zu einem solchen Ausfall zu schwach waren. Sie zogen sich daher wieder zurück und ließen, ohne einen Mann verloren zu haben, viele Türken tot auf der Walstatt liegen. Der König selbst, der bisher wie ein Löwe gefochten hatte, wurde aber zuletzt durch den vergifteten Pfeil eines türkischen Janitscharen zwischen den Panzer getroffen und so schwer verwundet, dass das Gift durch die Wunde in das Herz drang und seinen Tod herbeiführen musste.
So ward bei den Böhmen die Freude jählings in Leid verkehrt, und klein und groß erhob jammervolle Klage. Die Türken aber wurden darüber nur noch übermütiger, doch die Strafe brach bald über sie herein.
Die Böhmen fielen aus der Stadt, ihren getöteten König einzuholen, doch die Türken streckten viele streitbare Ritter nieder. Immer mehr wuchs der Verlust an tapferen Helden, und die in der Stadt eingeschlossene Prinzessin, die der Tod ihres Vaters aufs tiefste gebeugt hatte, wurde noch trauriger, besonders als sie und alles Volk in der Stadt sehen mussten, wie die Türken vor den Toren ein großes Feuer anschürten, die Leichname der Christen daraufwarfen und unter Jubelgeschrei von der Flamme verzehren ließen. Es war einer der schrecklichsten Tage der Geschichte.
Inzwischen hatten sich die Christen jenseits der Hauptstadt, bewogen durch das Jammergeschrei, das aus der Stadt herübertönte, endlich mit ihrer großen Heeresmacht in Schlachtordnung aufgestellt und rückten nun mutig gegen die Feinde vor. Alles brannte vor Begierde, die Stadt von ihren Bedrängern zu befreien. Vorher hatten sie einen Eilboten abgefertigt, der sich nach Prag hereinschlich und den Bürgern die Kunde von der herannahenden Rettung brachte.
Diese freudige Botschaft machte bei den Einwohnern wieder bessere Stimmung. Sie eilten auf die Mauern und fochten so mannhaft, dass die Türken sich zurückzogen. Während diese sich noch über das Ungestüm der Belagerten wunderten, kam einer aus den Zelten dahergelaufen und schrie voll Entsetzen, sie sollten auf der Stelle den Sturm einstellen und sich in ihr Lager zurückziehen, wenn sie nicht alle des Todes sein wollten. Dazu rief er: »Ich sehe fremdes Kriegsvolk wie eine Nebelwolke dicht zum Entsatz der Christen in unserem Rücken heranziehen. Sie werden uns wie eine Flut überfallen!«
Auf dieses Geschrei stellten sich die Türken in Schlachtordnung auf. Von beiden Seiten hörte man die Trompeter blasen. Die tapferen Christen gingen wie Löwen auf die Türken los, zertrennten ihre Reihen, und es fiel eine große Menge von ihnen. Besonders der edle Held Reinhard von Lusinia tat es allen andern Kämpfern zuvor, und sein Bruder Antonius gab ihm an Heldenmut nichts nach. Die Ungläubigen begannen zaghaft, die Christen aber immer mutiger zu werden. Der Sultan, der die Niederlage seines Volkes erkannte, gebärdete sich wie verzweifelt, griff nach den Waffen und raste selbst unter die Christen, deren er in seiner Wut viele erlegte.
Als Reinhard den Sultan erblickte, griff er zum Schwert und stürmte spornstreichs auf ihn los. Es glückte ihm, den türkischen Kaiser zu töten. Als die Türken sahen, dass ihr Oberhaupt gefallen sei, ergriffen sie in Hast die Flucht. Aber Reinhard, Antonius und der König von Elsass setzten ihnen nach, töteten viele auf der Flucht und errangen einen herrlichen Sieg. So endete die Türkenniederlage und wurde Prag von der feindlichen Belagerung befreit.
Dann ließ der König von Elsass den gesamten Adel von Böhmen rufen und erläuterte in einer beweglichen Rede, was dem Vaterland nottäte. »Geliebte Herren und Edle«, sprach er, »treue Freunde meines in Gott ruhenden Bruders, ihr alle wisst, dass dieses Königreich jetzt verwaist ist. Damit das Reich nicht ohne Vater bleibe, müsst ihr auf die Wiederbesetzung bedacht sein. Weil nun mein glorwürdiger Bruder eine einzige Erbin als eure Gebieterin hinterlassen hat, habt ihr zu beschließen, was ihr als das Beste für das böhmische Reich und die Krone haltet.«
Die Ritterschaft dankte dem König für seine sorgenden Worte und versicherte einstimmig, sie wüssten keinen bessern Rat, als Seiner Majestät die Sorge für des Landes Wohlfahrt zu überlassen.
»Gut«, erwiderte darauf der König, »weil ihr dies Vertrauen zu Uns habt, so finden Wir keinen Tauglicheren, das Zepter des Reiches zu tragen und zugleich als Beschützer der königlichen Erbin einzustehen, als den großmütigen und um das Reich durch seinen Sieg unsterblich verdienten jungen Helden, Graf Reinhard von Lusinia. Ihn wollen Wir als neuen Zepterträger anerkennen.«
Frohlocken ertönte aus der Mitte der Landstände auf diese willkommene Erklärung des Königs, und auch das Volk jubelte über diesen Beschluss. Die ganze Stadt widerhallte von Freudenrufen, dass sie einen so großmütigen König haben sollten. Auch die Prinzessin war außer sich vor Freude, so sehr hatte die Liebe ihr Herz eingenommen. Herzog Antonius dankte hierauf für die Ehre, die seinem Bruder Reinhard widerfuhr.
Als das Hochzeitsfest vorüber war, trat Reinhard seine Regierung an; er tat sich von Tag zu Tag in Fürsorge für sein Land immer mehr hervor und erwies sich als großmütiger und tapferer Regent, so dass man von diesem heldenmütigen Fürsten nicht genug zu rühmen wussste.
Herzog Antonius von Luxemburg aber begab sich nach den Hochzeitsfeierlichkeiten in seine neue Heimat Luxemburg zurück, wo er mit seiner geliebten Gemahlin in glücklichster Ehe lebte.
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Indes gingen Raimund und seine Gattin Melusine ihren übrigen Kindern mit den schönsten Tugenden voran, und der Vater eroberte fast das ganze französische Land gegen die Bretagne zu. Sein Sohn Geoffroy, der den großen Zahn mit auf die Welt gebracht hatte, erwies sich ebenfalls als tapferer Held. Denn als sich das Gerücht verbreitete, dass in dem Land Garande ein entsetzlicher Riese hause, der die ganze Gegend verwüstete, da erbot sich der mutige Ritter Geoffroy, das Land von dem Scheusal zu erlösen. Sein Vater hörte dies nicht gern; er fürchtete, der Riese könnte den Jüngling überwältigen. Aber der junge Held beharrte auf seinem Entschluss, ließ sein Ross satteln und ritt in die Landschaft Garande, dem gefürchteten Riesen den Garaus zu machen.
Inzwischen war auch der jüngste Sohn Melusinens, Freimund, herangewachsen, ein Jüngling von stillem Gemüt, gelehrt und ein Liebhaber des geistlichen Standes. Dieser besuchte aus freiem Willen wiederholt das Kloster zu Mallières und empfand endlich lebhaftes Verlangen, in den Orden der Mönche aufgenommen zu werden und sein Leben in diesem Gotteshaus zu beschließen. Er offenbarte diese Neigung seinen Eltern, die ihm die Heldentaten seiner Brüder vorhielten und das junge Blut auf andere Gedanken zu bringen suchten. Aber weder Weltlust noch Liebe zu Heldentaten vermochten den Jüngling von seinem Entschluss abwendig zu machen. Er trat in das Kloster Mallières ein, worüber die Mönche sich freuten.
Während sich die beiden sonst so glücklichen Eltern hierüber heimlich grämten, kam ihnen, als sie gerade zu Favent Hof hielten, durch einen Eilboten die frohe Kunde von dem Sieg ihrer beiden Söhne Antonius und Reinhard vor Luxemburg und Prag, und dass der erste das Herzogtum, der andere die böhmische Krone und beide schöne Fürstentöchter zu Gemahlinnen gewonnen hätten.
Bald nach dieser frohen Botschaft aber stellte sich das Unglück ein. Es hatte nämlich eines Samstags ganz zufällig Raimund seine Melusine aus den Augen verloren. Weil er ihr aber feierlich versprochen hatte, an keinem Samstag ein Wort mit ihr zu wechseln oder auch nur nach ihr zu fragen, so machte er sich keine Gedanken darüber, dass er nicht wusste, wo sie war. Nun war aber gerade zu der Zeit der alte Graf vom Forst, Raimunds Vater, gestorben, und der ältere Bruder Raimunds kam nach Lusinia, um diese Trauerbotschaft zu überbringen. Der mit vielen hohen Herren ankommende Bruder wurde nach Gebühr empfangen und ihm alle Ehre angetan.
Nun vermisste der Graf vom Forst seine Schwägerin Melusine und bat seinen Bruder mit freundlichen Worten: »Lasst auch Eure Gemahlin kommen, lieber Bruder, damit wir ihr die gebührende Ehre erweisen können!«
Nun erwiderte ihm Raimund mit aller Höflichkeit, dass es diesmal nicht möglich wäre, aber am nächsten Tag geschehen solle. Der Graf wollte sich jedoch damit nicht begnügen, sondern führte während der Mahlzeit seinen Bruder beiseite und sagte ihm leise ins Ohr: »Lieber Bruder, ich glaube, Ihr seid verzaubert! Das ganze Land hegt auch diese Meinung von Euch. Wie könnt Ihr so leichtsinnig sein und gar nicht nach dem Tun Eurer Gemahlin fragen? Meint Ihr, dass Euch das zur Ehre gereicht und nicht allmählich im Volk der Verdacht eines seltsamen Lebenswandels Eurer Frau entsteht? Es ist allgemein bekannt, dass Eure Frau ein Gespenst ist und nur ihr Spiel mit Euch treibt!«
Zorn erfüllte Raimund bei diesen Worten, er wurde blass, dann rot; der Schimpf, den er erfuhr, beraubte ihn jeder Besinnung. Wütend ergriff er das Schwert und drang damit in das Geheimzimmer seiner Gemahlin. Hier stieß er aber auf eine mit Eisen beschlagene Tür, die sich gleichsam seinem Grimm zu widersetzen und ihn zum Bewusstsein zurückzurufen schien. Aber der rasende Zweifel kehrte immer wieder. Er bohrte daher mit der Spitze seines Schwerts ein Loch in der Tür von Eichenholz und blickte mit finsterem Auge hinein, um sein eigenes Unglück zu schauen.
Zu seinem Schrecken sah er seine Gemahlin in verwandelter Gestalt in einem Wasserbecken sitzen. Das Gesicht und die obere Hälfte des Leibes waren wunderbar schön, aber die untere Hälfte ging in einen langen, missgestalteten, schlangenartigen Schweif aus; der glänzte wie Lasurblau mit Silber vermengt. Raimund stand vor der Tür, kalter Schweiß überlief ihn, Bangigkeit wollte sein Herz sprengen, er konnte nichts sagen und nichts denken. Doch fiel ihm endlich das Versprechen ein, das er seiner Gemahlin gegeben und jetzt im Zorn so treulos gebrochen hatte. Er verklebte daher das Loch, das er mit seinem Schwert gebohrt, mit Wachs und tröstete sich mit der Hoffnung, Melusine werde seinen Treubruch nicht bemerkt haben. Dann verließ er niedergeschlagen stillschweigend das Vorgemach und ging zu seinem Bruder. Aber er konnte sich nicht so verstellen, dass dieser keine Veränderung an ihm bemerkt hätte. Er sprach deswegen ohne Scheu zu ihm: »Lieber Bruder, ich merke wohl, dass mit Eurer Gemahlin etwas nicht in Ordnung ist.«