DER SCHATTEN VON WHITECHAPEL - Henri Lindlbauer - E-Book

DER SCHATTEN VON WHITECHAPEL E-Book

Henri Lindlbauer

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Beschreibung

Wer war Jack the Ripper, der geradezu legendäre Mörder, der im Herbst des Jahres 1888 im Londoner East End sein grauenhaftes Unwesen trieb? Diese Frage ist bis heute nicht geklärt. Viele Ripper-Experten - die sogenannten »Ripperologen« - neigen zu der Auffassung, die Identität des Serienmörders in James Maybrick (1838 - 1889), einem aus Liverpool stammenden Baumwollhändler, ausgemacht zu haben. Ein ominöses Tagebuch Maybricks erhitzt seit Langem die Gemüter: Handelt es sich dabei um ein authentisches Dokument oder um eine ebenso dreiste wie geschmacklose Fälschung? DER SCHATTEN VON WHITECHAPEL aus der Feder von Henri Lindlbauer (Jahrgang 1964) ist ein akribisch recherchierter Roman, der gleichwohl spannend und atmosphärisch und darüber hinaus hervorragend geschrieben ist. Ein meisterhaftes Beispiel für rundum gelungene Kriminal-Literatur!

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HENRI LINDLBAUER

 

 

DER SCHATTEN

VON WHITECHAPEL

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

DER SCHATTEN VON WHITECHAPEL 

Danksagung 

Prolog 

1. Kapitel: London 1988 

2. Kapitel: Wales, Großbritannien 1988 

3. Kapitel: Großbritannien, Westküste 1988 

4. Kapitel: England 1988 

5. Kapitel: Liverpool 1888 

6. Kapitel: Liverpool / Manchester 1888 

7. Kapitel: England, Westküste 1988 

8. Kapitel: Milford Haven 1988 

9. Kapitel: Liverpool 1988/1888 

10. Kapitel: Donnerstag, 30. August 1888 

11. Kapitel: Prinz Albert Victor, Herzog von Clarence 

12. Kapitel: Martha Tabram, London 1888 

13. Kapitel: London, Freitag, 31 August 1888, Buck‘s Row 

14. Kapitel: London, Donnerstag, 6. September 1888 

15. Kapitel: Liverpool, Donnerstag, 6. September 1888 

16. Kapitel Robert James Lees, Spiritist, London, Freitag, 7. September 1888 

17. Kapitel: Whitechapel, Freitag, 7. September 1888, Annie Chapman 

18. Kapitel: Liverpool 1988 

19. Kapitel: Whitechapel, London 1888, 29 Hanbury Street, 6 Uhr morgens 

20. Kapitel: Liverpool, 8. September 1988 

21. Kapitel: Liverpool, September 1888 

22. Kapitel: London, Donnerstag, 29. September 1888 

23. Kapitel: London, East End, 29. September 1888 

24. Kapitel: London, East End, 30. September 1888 

25. Kapitel: London 1888, Nacht des Doppelmordes 

26. Kapitel: Liverpool, 29 September 1988 

27. Kapitel: London, 29. September 

28. Kapitel: Whitechapel, 30. September 1888 

29. Kapitel: Liverpool, Oktober 1888 

30. Kapitel: London, 16. Oktober 1888 

31. Kapitel: Whitechapel, 9. November 1888 

32. Kapitel: Lord Major‘s Day Whitechapel, 9. November 1888 

33. Kapitel: Der Herbst des Schreckens 

34. Kapitel: Liverpool, 11. Mai 1989 

Nachtrag 

Wer war Jack the Ripper? 

Impressum

 

Copyright © by Henri Lindlbauer/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Zasu Menil.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

Wer war Jack the Ripper, der geradezu legendäre Mörder, der im Herbst des Jahres 1888 im Londoner East End sein grauenhaftes Unwesen trieb? Diese Frage ist bis heute nicht geklärt. Viele Ripper-Experten - die sogenannten »Ripperologen« - neigen zu der Auffassung, die Identität des Serienmörders in James Maybrick (1838 - 1889), einem aus Liverpool stammenden Baumwollhändler, ausgemacht zu haben. Ein ominöses Tagebuch Maybricks erhitzt seit Langem die Gemüter: Handelt es sich dabei um ein authentisches Dokument oder um eine ebenso dreiste wie geschmacklose Fälschung?

 

Der Schatten von Whitechapel aus der Feder vonHenri Lindlbauer (Jahrgang 1964) ist ein akribisch recherchierter Roman, der gleichwohl spannend und atmosphärisch und darüber hinaus hervorragend geschrieben ist. 

Ein meisterhaftes Beispiel für rundum gelungene Kriminal-Literatur! 

  DER SCHATTEN VON WHITECHAPEL

 

 

 

 

 

 

 

Für Michèle, Jenny und Sven

 

Sollte dein Weg dich einmal in kühlen Herbstnächten nach London führen, verirre dich nicht in den nebligen Gassen von Whitechapel, denn Jack the Ripper lebt!

Und wie!

 

 

 

 

 

  Danksagung

 

 

Als Erstes möchte ich mich bei folgenden Personen ganz herzlich bedanken: 

bei Shirley Harrison und James Hodgkinson, denn ohne ihre Genehmigung für die Benutzung der Zitate aus Shirley Harrison: Das Tagebuch von Jack the Ripper hätte dieser Roman in der vorliegenden Form nie veröffentlicht werden können; bei Wilfried Schotten und Joe Blitgen, für ihre unermüdliche Lektorats- und Korrekturleistung. 

 

 

 

 

 

  Prolog

 

 

Wenn ich heute an die Ereignisse zurückdenke, die erst wenige Monate hinter mir liegen, dann steigt als eines der unvergesslichen Bilder, die sich in meine Erinnerungen eingebrannt haben, immer wieder das Antlitz von Mary Jane Kelly auf. Sie mag wohl die geheimnisvollste und bezauberndste von ihnen gewesen sein. Jedenfalls war sie die Jüngste. Alle waren sie dem Tod geweiht, es musste so kommen. Sie hätten noch lange leben können, wenn ich nicht gewesen wäre. Aber wären sie, hätte ich sie nicht ermordet, auch nur annähernd so unvergesslich geworden? Ich sehe Mary vor mir, in ihrem kleinen Zimmer, wie sie versuchte sich zu wehren. Ihren zarten Mund, die wild rollenden, blutunterlaufenen Augen. Sie wehrte sich nicht lange, und als ich mein Werk vollendet hatte, war sie eine Frucht, aus der sämtlicher Saft entronnen war. Das war nur wenige Monate vor meinem Tod, bevor man mich auf diesem Friedhof beisetzte. 

Aber ich ließ mehr zurück als meine Frau und fünf gefüllte Gräber. Meine Frau, die wegen des Mordes an mir verurteilt werden wird, hatte in Wahrheit nichts damit zu tun; aber sie wird leiden müssen, so wie ich unter ihren Demütigungen zu leiden hatte. 

Nun liege ich hier in meinem kalten, modrigen Grab und die Würmer nagen bereits an meinem faulenden Fleisch. Mit mir begruben sie meine Träume. Träume von Reichtum, Glück und Macht. Eine Macht von menschlicher Größe und Ruhm. So wird wohl jeder von uns etwas zurücklassen, wenn er durch die Tore der Zeit schreitet. Ich ließ meinen Namen zurück, einen Namen, der zur Legende wurde und den man bis in alle Ewigkeit nicht vergessen wird. Ich nannte mich Jack the Ripper. 

 

 

 

 

  1. Kapitel: London 1988

 

 

Rick Maybrick war einer der beliebtesten Professoren der London University, nicht nur, weil er sein Fach bis ins kleinste Detail beherrschte, sondern vorwiegend deshalb, weil er sich weigerte, Seminare vor zehn Uhr morgens zu beginnen. Niemand wusste, weshalb er seinen Unterricht erst so spät anzusetzen pflegte, aber alle hatten eine Meinung dazu. Egal, welcher Ansicht sie waren, ob er die ersten Morgenstunden zum Schlafen brauchte oder ob sie dazu dienten, sich vom Rausch des vorangegangenen Abends zu erholen, alles war Ansichtssache. Den tatsächlichen Grund aber kannte niemand. Alkoholische Getränke fasste er nie an. Darin war er anders als die meisten seiner Kollegen. Und doch hatte er an diesem Morgen eine schlimme Migräne.

Der Anlass für seine Beliebtheit beruhte nicht allein auf der Tatsache, dass er erst spät am Morgen seinen Unterricht abzuhalten pflegte. Er war auch beliebt, weil er sich bei allem, was er tat, Zeit ließ, und eben die ließ er auch seinen Studenten. Die anderen Professoren verachteten ihn nicht, sie missbilligten lediglich seine Art, und insgeheim wünschte sich jeder von ihnen, einmal so beliebt zu werden wie er. Rick Maybrick besaß als einziger Professor der Universität das Privileg, seine Studenten selber auswählen zu dürfen. Fünfzig Teilnehmer waren oberste Grenze. Das war seine Regel, und die hatte er bisher nie überschritten. Zu viele Studenten bedeuteten ein zu hohes Defizit an Aufmerksamkeit, und das konnte er sich nicht erlauben!

Maybrick war fünfzig, aber mit seinen stechenden Augen, seiner jugendlichen Art und wie er sich kleidete, hätte er ebenso gut erst vierzig sein können. Sein heutiges Aussehen ließ allerdings eine andere Vermutung zu; mit seiner Kleidung und seinem Viertagebart hätte er vielmehr in ein früheres Jahrhundert gepasst. Sein Alter war ihm gleichgültig, jede Lebensphase hatte ihre Besonderheiten, genauso wie die Jahreszeiten. Von allen Jahreszeiten mochte er die Winterzeit am liebsten. Dann ließ er sich einen Vollbart wachsen und rasierte sich erst wieder, wenn der Frühling kam.

Bei ihm war es die kalte Winterzeit, die ihn auf ihre frostige Art verzaubern konnte! Die meisten verabscheuten es, wenn der Schnee seinen weißen Mantel über die Stadt legte, die Straßen unbefahrbar machte und eine Eisschicht die Bürgersteige in eine Schlittschuhpiste verwandelte. Wie oft saß er dann auf seinem Bett, sah durchs Fenster dem Schneetreiben zu und dachte, wie nett es doch wäre, endlich wieder wie früher Weihnachten zu feiern.

Vor einigen Jahren hatte es eine Zeit gegeben, da war die Festlichkeitsstimmung nicht mehr so richtig aufgekommen, aber den Winter hatte er immer gemocht. Der bloße Gedanke an Schnee und Weihnachten hatte etwas Idyllisches. Allein dem Spiel der Schneeflocken im Lichtkreis der Straßenbeleuchtung zu folgen, rief Erinnerungen wach. Uralte Erinnerungen an Zeiten, da Schnee für niemanden eine lästige Angelegenheit bedeutete, sondern das Zeichen für fröhliche Schlittenfahrten und Spaziergänge im Park. Maybrick erinnerte sich gerne an seine Kindheit; wenn Weihnachten kam und der erste Schnee fiel, zog helles Schlittengeläute durch die ganze Stadt und farbige Lichterketten schmückten die Parkeingänge und Wege. Wie lange war das schon her!? Seit damals schien eine Ewigkeit vergangen. Der große Wirrwarr der Gefühle, das Vergnügen, die fallenden Schneeflocken in den Haaren und auf dem Gesicht zu spüren, war irgendwann beinahe verloren gegangen. Eines Tages aber hatte er den Weg zurück gefunden. Seitdem ließ er Jahr für Jahr die alten Erinnerungen wieder aufleben. Bevor der nächste Winter kommen sollte, würden noch Monate vergehen. Monate, in denen dichter Nebel durch die Gassen zog und kalter Regen den Schmutz der Straßen aufpeitschte. Das Karussell des Lebens drehte sich unaufhaltsam wie die Zeiger seiner Uhr. Mit den Jahreszeiten änderte Maybrick auch sein Aussehen und seine Kleidung.

An manchen Tagen kam er gekleidet, als lebte er im neunzehnten Jahrhundert, mit dunklem Mantel und einem harten Filzhut mit breitem Rand. Aus seiner Westentasche hing eine goldene Kette, mit der er während des Unterrichts oftmals eine Uhr hervorzog, die, wie er behauptete, einst seinem Urgroßvater gehört hatte. Obwohl sein Auftreten in ungewöhnlichem Gegensatz zu anderen Tagen stand, konnte er mit seiner Behauptung Recht haben, denn der Feinheitsstempel auf der Innenseite des Uhrdeckels trug das Datum von 1846. Er schaffte es mit seiner Brillanz und Beharrlichkeit, sein Fach, die kriminalistische Geschichte Großbritanniens, immer interessanter zu gestalten. Das brachte an der London University sonst niemand fertig, und so drängten sich die Studenten an Rick Maybricks Seminaren nach zehn Uhr, an fünf Vormittagen in der Woche. 

Heute sollten es fünfzig sein, die in fünf ansteigenden Reihen saßen und miteinander flüsterten, während er ungeniert auf seinem Pult saß und seinen Stoppelbart kraulte. Es war drei Minuten vor zehn und die Plätze waren bis auf einen restlos belegt.

»Immer noch zu früh«, bemerkte er scharfsinnig.

Wahrscheinlich wollte er warten, bis auch der letzte Sitz besetzt war, denn seine Augen blickten gelangweilt zu dem leeren Platz. Maybrick ließ den Blick langsam durch den Raum schweifen und wartete. Das Flüstern hatte sich gelegt und im Raum breitete sich Totenstille aus.

Dann klickte der Türknopf. Die Tür schwang auf und eine attraktive junge Frau in schwarzen Jeans und roter Bluse schmiegte sich an der Wand entlang zur dritten Reihe, wo sie sich geschickt zwischen den Studenten hindurchschlängelte, bis sie den freien Platz erreicht hatte und sich setzte. Wie eine sanfte Wolke breitete sich der Duft ihres Parfums in den hinteren Reihen aus und erweckte in so manchem abenteuerliche Gedanken. Sie war erst 20 und das dunkelrote Haar reichte ihr in welligen Strähnen gerade bis zu den Schultern. Mit ihrer prachtvollen Figur und der Art, wie sie sich kleidete, gehörte sie einfach zu den kleinen, charmant aussehenden Mädchen, in die sich jeder junge Mann mindestens einmal während des Studiums verliebte.

Aber sie war keine von denen, die gleich zur Schau stellen, was sie besitzen. Obwohl sie bereits seit drei harten Studienjahren die London University besuchte, hatte es bisher noch keiner geschafft, mit ihr auszugehen. Der Mann, der neben ihr saß, lächelte sie an; sie lächelte kurz zurück, und viele aus den anderen Reihen, die ihre Köpfe nach ihr umdrehten, hätten gerne ihre Plätze mit ihm getauscht.

Maybrick ignorierte ihr Eintreten; wenigstens sah es so aus, denn er kraulte weiter gelangweilt seinen Bart. Jeder, der ihn nicht kannte, hätte annehmen können, er empfände nichts gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Obwohl er es nicht zeigte, fühlte er sich stärker zu ihr hingezogen als zu allen anderen Frauen, die er kannte. Viele seiner Studenten hätten gerne die Nacht mit ihr verbracht, Maybrick hätte sein Leben für sie gegeben. Doch das sollte sein Geheimnis bleiben. Mit ihrem Aussehen und ihrer Figur erinnerte sie ihn an Mary Jane Kelly, die nach alten Bildern fast genauso ausgesehen haben musste. Doch das war vor langer Zeit gewesen, vor sehr langer Zeit, damals im Herbst des Jahres 1888, den sie nicht überleben sollte.

Es war bereits das dritte Jahr, dass diese junge Dame, die Mary Jane Kelly zum Verwechseln ähnlich sah, an Maybricks Unterricht teilnahm. Damit stand sie nicht allein, denn seit Rick die Seminare abhielt, hatte die Zahl der Studenten sich mehr als verdreifacht. Das hatte bisher an der Universität noch keiner geschafft.

Mit flüchtigem Gruß wandte er sich seinen Studenten zu und begann umherzuwandern. Es war absolut nicht seine Art, ein Seminar mit einer Begrüßung zu beginnen, und jeder der hier Anwesenden wusste das. Augenblicklich herrschte Stille im Saal.

»Hat jemand meine Abhandlung über Jack the Ripper gelesen?«, fuhr er fort, als die Zeiger der Uhr genau auf zehn wiesen. Alle beobachteten ihn verwundert und senkten die Köpfe. Maybrick schaute sich um. Die Legende von Jack dem Schlitzer war einer von mehreren bedeutenden Fällen, die Maybrick eine Woche zuvor beiläufig erwähnt hatte; aber mit keinem Wort hatte er verlauten lassen, dass er von diesem Thema eine Abhandlung verfasst hatte. Niemand meldete sich. Maybrick ließ seinen Blick langsam durch die Reihen schweifen und wartete darauf, eine hochgereckte Hand zu erblicken. Es war zu riskant, wenn man nicht genügend über ein Thema wusste, die Hand auszustrecken, denn dies konnte eine Stunde pausenlosen Aushorchens auslösen.

Keiner schien seine wissenschaftliche Arbeit gelesen zu haben. Maybrick hatte es gleich gewusst, und doch wollte er seine Annahme bestätigt sehen. Dass er seine Seminare mit solcherart Fragen eröffnete, dafür war er berühmt. Dabei konnte das diesjährige Abschlussexamen beinahe hundert solcher Kriminalfälle umfassen, und wenn er dann ebenso vorgehen würde, würde das Examen zum bösesten Albtraum werden. Normalerweise war er ein netter Kerl und ein großzügiger Beurteiler, und wer beim Examen durchfiel, musste ein unbelehrbarer Blödmann sein. Aber heute schien er recht unfreundlich und seine stechenden Augen wanderten immer noch durch den ganzen Saal. Alle Köpfe blieben gesenkt. Jede noch so geringe Bewegung, und sei es nur ein Augenzwinkern, konnte seine Aufmerksamkeit erregen. Irgendwer würde daran glauben müssen, das stand fest. Dann blieben Maybricks Augen in der dritten Reihe hängen. Die Zeit für sein Opfer war gekommen.

»Was ist mit Ihnen, Mr Goodman?«, fragte er den Mann, der eben noch lüstern der Rothaarigen nachgestarrt hatte. »Haben Sie meine Abhandlung gelesen?«

»Nein, Sir«, hallte es verängstigt aus der dritten Reihe.

»Ach ja. Liegt das vielleicht daran, dass Sie beim letzten Mal nicht aufgepasst haben?«

»Nein, Sir. So ist es nicht gewesen!«

»Woran dann?«

»Ich wusste nicht, dass Sie eine Abhandlung verfasst haben.«

Maybrick funkelte ihn an. Seine stechenden Augen und die altertümliche Kleidung ließen den dunklen Blick noch drohender wirken. 

»Und warum nicht? Wir hatten doch letztes Mal ausgiebig darüber gesprochen. Sie haben wieder mal nicht aufgepasst, nicht wahr? Das war dumm von Ihnen, Mr Goodman! Ausgesprochen dumm!«

»Es muss mir irgendwie entgangen sein.«

Maybrick nahm es erstaunlich gelassen.

»Das überrascht mich nicht. Ich habe den Ripper-Fall letzte Woche nur flüchtig erwähnt. Um genau zu sein, letzten Montag. Das ist jetzt genau eine Woche her, und ich muss gestehen, dass mein Beitrag noch nicht einmal erschienen ist.«

Hörbare Erleichterung ging aus den Reihen hervor und Goodman erinnerte sich, dass Maybrick den Ripper im gleichen Atemzug mit John Christie und Dr. Crippen erwähnt hatte.

Maybrick ging langsam um sein Pult herum und musterte die Studenten. Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet, während er gelassen herumwanderte, den Blick auf den Boden gerichtet. Er legte großen Wert auf Diskussionen solcher Art, denn für ihn stand fest: Nur so würden sie die Fälle während ihrer gesamten Laufbahn nicht wieder vergessen.

»Nur damit alle informiert sind: Der Fall Jack the Ripper wird im Abschlussexamen vorkommen.«

Das war wieder charakteristisch für Maybrick. Er hatte nur des Spaßes halber gefragt und alle waren wie die Kinder ängstlich in ihre Stühle gerutscht. Die Spannung hatte sich gelöst.

»Vielen Dank, Mr Goodman, für Ihr Interesse an einem der berühmtesten Kriminalfälle der englischen Geschichte.«

Es folgte ein flüchtiges Lachen aus den oberen Reihen, ausgestoßen von Studenten, die sich zum Lachen verpflichtet fühlten und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten. Maybrick aber lächelte nicht.

»Damit stehen Sie nicht allein, Mr Goodman. Sie hatten lediglich das Pech, dass ich Sie als Ersten gefragt habe.« Maybrick musterte seine Studenten eingehend, dann lächelte er.

»Nun möchte ich Ihr kriminalistisches Niveau ein bisschen anheben. Ich werde dort beginnen, wo ich glaube, dass alles seinen eigentlichen Anfang nahm. Später werden wir uns mit jedem einzelnen dieser Morde beschäftigen.

Sie können alle Orte besichtigen, die in irgendeiner Weise mit Jack the Ripper in Verbindung stehen, und Sie werden feststellen, dass das East End von 1888 langsam, aber sicher verschwindet. Seit der Ripper dort gewütet hat, ist vieles anders geworden. Als Erstes wurden Straßennamen umbenannt: Bucks Row, wo Mary Ann Nichols ermordet wurde, heißt heute Dunward Street, und Millers Court, Schauplatz seines letzten und grausamsten Verbrechens, gibt es heute gar nicht mehr. Dort, wo einst das Haus der 25-jährigen Mary Jane Kelly stand, sind heute Lagerhäuser, und die Gebäude gegenüber mussten einem Parkhaus weichen. Millers Court war ein enger Durchgang an der Nordseite der heruntergekommenen Dorset Street, der heutigen Duval Street. Aber nicht nur Straßennamen wurden umgeändert. Häuserreihen wie die der Hanbury Street oder ganze Blocks, die einst den Bomben zum Opfer fielen, existieren heute auch nicht mehr. Anstelle der kleinen, verwahrlosten Häuser stehen heute modernere Bauten, Gebäude, die eigentlich gar nicht in diese Gegend passen.

Es gibt nicht viele Verbrecher, die eine so hohe Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben wie Jack the Ripper. In neuester Zeit änderte man meines Wissens nur noch einmal einen Straßennamen. Im Fall John Christie. Er mordete bei sich zu Hause in Rillington Place Nummer 10 in Notting Hill. Nach den grauenvollen Morden wurde Rillington Place in Ruston Close umbenannt. Das Christie-Haus steht heute immer noch im hintersten Teil dieser heruntergekommenen Gasse. Es ist das letzte Haus zur Linken und sieht noch schäbiger aus als zu den Zeiten, als Christie es bewohnte. Der Putz und die Farbe sind längst abgebröckelt und der Zug verlässt London immer noch mit seinen tosenden Geräuschen hinter der hohen Grenzmauer. Das Christie-Haus liegt nach wie vor im Schatten der hohen Fabrikkamine, mit dem einzigen Unterschied, dass die Fabrik stillgelegt wurde. Irgendwann, es wird sicher nicht mehr lange dauern, wird auch dieses Haus moderneren Bauten weichen, und das Letzte, was noch an ihn erinnern wird, ist das Wissen um die grausamen Morde. Der Ripper aber hält nach wie vor alle Rekorde! Das, was ich Ihnen zu erzählen habe, können Sie übrigens auch meiner Abhandlung entnehmen, sollten Sie später einmal eines dieser vorerst noch seltenen Exemplare erstehen«, warb er und wedelte mit einer Ansammlung loser Blätter durch die Luft. »Das soll Sie aber nicht daran hindern, mir für die folgenden zwei Stunden Ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Fangen wir also damit an, was Ihnen über die Vorgeschichte des Schlitzers vertraut sein sollte.

Wie Sie alle wissen, war das East End lange Zeit bedeutendster Ort unvorstellbarer Verbrechen. Von den vielen Millionen Menschen, die in London lebten, hauste ein Großteil im unübersehbaren Gassengewirr von Whitechapel. Ein Wirrwarr an Straßen, Gerüchen und Abfall. Das Blut aus den Schlachthöfen mischte sich unter menschliche und tierische Exkremente, die durch die Gassen flossen. Das East End stank wie eine Kloake. In diesem Elend vegetierten Menschen in modrigen Räumen dahin. Whitechapel war reich an überfüllten Armenhäusern, in denen jährlich Tausende ihr Leben beendeten. Obdachlose, die kein Geld für ein Bett hatten, schliefen im Urin auf den Straßen oder unter Brücken am Fluss und verströmten ihrerseits einen ebenso grässlichen Gestank wie der ganze Rest des Viertels. 

Die unzähligen, überwiegend ausländischen Bewohner wurden für ihre Armut gleichermaßen wie für unzählige Mordtaten verantwortlich gemacht.

Zehn Jahre, bevor Jack the Ripper durch die Straßen Whitechapels zog, zählte die Kriminalabteilung der Themse-Metropole zum Criminal Investigation Department. Zu Beginn war diese Abteilung für Verbrechensbekämpfung in der Nähe von Charing Cross untergebracht. Mit der Zeit aber wurden die Räumlichkeiten zu klein und die Polizei suchte nach einem größeren Gebäude. Im gleichen Jahr sollte am Embankment ein Opernhaus erbaut werden, aber nachdem das Grundstück gekauft und der Grundstein gelegt worden war, ging dem Erbauer das Geld aus. Das Grundstück wurde von der Regierung gekauft, die palastartigen Ausstattungen durch Portlandsteine ersetzt und es entstand der Bau, wie wir ihn heute kennen. Ein Gebäude, gelegen am Themse-Ufer, mit großen runden Türmen an jeder Ecke, in dem Scotland Yard seinen neuen Sitz finden sollte. Viele junge Männer hofften dort als Beamte in der Kriminalabteilung von Scotland Yard Karriere zu machen. Im Anfangsstadium wurden sie lediglich mit der Untersuchung von kleinen, ärgerlichen Einbruchsdiebstählen beauftragt. Einige Beamte gelangten auf der Karriereleiter nach oben, andere versagten und blieben ihr Leben lang kleine Mitläufer.

An der Spitze der Londoner Polizei stand Sir Charles Warren. Königin Victoria hätte keine unheilvollere Wahl für diesen Posten treffen können, als sie sich für den ehemaligen General entschied. Warren war ein gutaussehender, stattlicher Mann mit dichtem Schnurrbart und kurz geschnittenem, schwarzem Haar. Ob er außer seiner auffallenden Figur noch andere Vorzüge besaß, weiß Gott allein. Wie in der Armee, herrschte er auf seinem neuen Posten mit militärischer Strenge. Mit seiner Ernennung zum Commissioner der Metropolitan Police hat das ganze Übel erst richtig begonnen. Die Folgen waren harte Schicksalsschläge, unter ihnen auch jene, die als die Morde Jack the Rippers in die Annalen eingehen sollten. 1886 war ein Jahr großer Unruhen, die Forderungen der Arbeitslosen jedoch wurden nicht zur Kenntnis genommen. Königin Victoria glaubte, dass nur Warren das Vertrauen des Volkes wiederherstellen könnte, und der Commissioner erhielt den Auftrag, die Demonstrationen schnellstmöglich zu beenden. Während der ganzen Zeit, bis zum eiskalten Winter des darauffolgenden Jahres, ließ er seine Polizisten der rebellierenden Menschenmenge, die sich auf dem Trafalgar Square und in den umliegenden Straßen einfand, gegenübertreten. Sie wollten nur auf ihre bittere Not aufmerksam machen. Wie wildes Vieh ließ Warren sie auseinandertreiben. Am 13. November 1887 versammelten sie sich erneut, kamen in noch größeren Scharen aus allen Teilen der Themsestadt auf den Trafalgar Square zu einer weiteren Demonstration. Königin Victoria war entrüstet über das Fußvolk, das sich so sehr gegen die Regierung auflehnte. Um seine Macht zu beweisen, stellte Warren seine Polizisten wie Soldaten gegen die Menschenmenge. Viele Demonstranten wurden schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht und erlagen ihren Wunden. Sein brutales Durchgreifen hatte ihm beim Yard einiges Ansehen verschafft, doch die Bevölkerung hatte ihr Vertrauen in die Regierung gänzlich verloren. Überall wollte Warren seinen Willen durchsetzen, denn nach diesem Tag, der als Blutsonntag in die Geschichte einging, fühlte er sich als unfehlbarer Herrscher der Nation. Seit jenem Sonntag lebte er in ständigem Streit sowohl mit dem Leiter des Criminal Investigation Department, James Monro, als auch mit dem Innenministerium und der gesamten Bevölkerung von London. Sir Charles Warren hatte es geschafft, das Vertrauen des Volkes, das es in langen Jahren mühsam zum Yard aufgebaut hatte, in nur zwei Jahren zu zerstören. Seine Leitung als Chef der Metropolitan Police brachte unglückliche Folgen mit sich; ein Rattenschwanz, der vom Volk bis auf die ihm unterstehende Polizei reichte. Die Zusammenstöße mit den Arbeitslosen hatten die Öffentlichkeit verängstigt. Die Polizisten waren erschöpft und gründlich demoralisiert.

Möglicherweise hätte Jack the Ripper gefasst werden können, wäre Hauptkommissar James Monro ‒ der Einzige, der neben Inspektor Frederick Abberline dazu in der Lage gewesen wäre ‒ nicht nach einer Reihe von Auseinandersetzungen mit Sir Charles Warren und dem Innenministerium am 31. August 1888 von seinem Posten zurückgetreten. Von August bis November herrschten große Streitigkeiten zwischen Innenministerium und Polizeiabteilung, Differenzen, die sich zweifellos abschlägig auf den Fall Jack the Ripper auswirkten. Nach dem Rückzug von James Monro blieb nur noch Inspektor Abberline, der im Stande gewesen wäre, den Ripper zu fassen; aber das Innenministerium und Sir Charles Warren ließen ihm nicht den nötigen Freiraum, sein Können gegen ein so diabolisches Gehirn wie Jack the Ripper unter Beweis zu stellen. Warren war ein Angeber auf höchstem Niveau, unterstützt von Ihrer Hoheit, Queen Victoria, und wollte sich überall gnadenlos durchsetzen. Er war so sehr von sich überzeugt, dass er kein Fettnäpfchen ausließ. Letztendlich war es Jack the Ripper, der ihn von seinem hohen Ross herunterholte. Der Ripper begann seinen Streifzug unter Warrens Herrschaft, mordete weiter und ließ ihn nicht einmal annähernd an sich heran. Am Tag vor dem Mord an Mary Jane Kelly kündigte Sir Charles Warren seinen Posten als Commissioner, zu einem für den Ripper idealen Zeitpunkt. Monro übernahm seine Stelle.

Marys Leichnam wurde in einen Schuppen auf der Old Montague Street, gleich hinter dem Armenhaus, gebracht. Es war ein wahrlich widerliches und dunkles Loch, das in Schmutz und üble Gerüche gehüllt war. Die Chirurgen, die hier Obduktionen vorzunehmen hatten, waren gezwungen, ihre kniffligen Aufgaben mit überaus mangelhaften Mitteln durchzuführen.«

Maybrick machte eine kurze Verschnaufpause, hob seinen Kopf und richtete im gleichen Augenblick, als in der hintersten Reihe Bryan Smith seine Hand ausstreckte, die Augen seinen Studenten zu.

»Ja, Smith?«

»Ihre Geschichte hört sich an, als wären Sie dabei gewesen!«

»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss, aber der einzige Weg dorthin wäre für mich mit H. G. Wells‘ Zeitmaschine gewesen, und die gibt es, soviel ich weiß, nur im Roman. Außerdem würde ich äußerst ungern die dunklen Pfade der Vergangenheit betreten, jedenfalls soweit sie Jack the Ripper betreffen. Kaum zu glauben, dass ein Mensch dazu imstande war, ein solches Chaos anzurichten.«

Als der Professor ihn anfunkelte, senkte Bryan den Kopf und fragte sich, weshalb er diese Bemerkung überhaupt gemacht hatte.

Maybrick wandte seinen Blick ab und begann wieder umherzuwandern. Sein Kopf schmerzte und die Stiche nahmen zu. Es war in der Tat eine schlimme Migräne, aber der Unterricht musste weitergehen.

 

 

 

 

  2. Kapitel: Wales, Großbritannien 1988

 

 

Am Freitag nach dem Begräbnis seines Freundes Jonathan Peltzer lenkte Maybrick seinen Wagen zum südlichsten Zipfel von Wales. Dort schlängelt sich eine schmale Landstraße die gewundene Küstenlinie entlang, von Cardiff nach Liverpool. Unweit des Dorfes Pembroke zweigt eine kaum befahrene Nebenstraße von der Küstenstraße ab und führt nach und nach, beinahe wie zufällig, ins Landesinnere, wobei die Straße zwischen den Bergen, den Wäldern und dem Meer verläuft. Nahe Carmarthen stößt man auf eine weitere Abzweigung. Einer dieser Wege führt im Schatten der Gebirgszüge an hochmittelalterlichen Schlossruinen vorbei, als wollte er den Besucher in frühnormannische Zeiten zurückversetzen, geradewegs zum Carew Castle.

Von dort führt der Weg parallel zur Küste weiter, hoch oben über eine Gebirgskette, mit faszinierendem Ausblick über den Atlantischen Ozean, dann südlich durch die stillen Täler nach Milford Haven, einem Landstädtchen mit einem der größten Naturhäfen der Welt. Milford Haven, einst Wohnsitz Lady Hamiltons, deren Liebesromanze mit Lord Nelson nur allzu bekannt war, hatte sich mit den Jahren zum beliebtesten Ferienort der Südküste entwickelt.

Maybrick liebte es, über diesen Weg nach Liverpool zu gelangen, und noch mehr liebte er es, wenn er an den langen Wintertagen diese Strecke zurückzulegen hatte. An solchen Tagen war das Hügelland kalt und rau, heftige Stürme jagten darüber hinweg, und wenn der Sturm nicht wochenlang ununterbrochen Regen vor sich her peitschte, dann jagte er die Schneeflocken. Wenn der Frühling zeitig begann, oder zur Sommersonnenwende, wurden die Gebirgszüge in fließend roten Sonnenschein gebadet. Doch heute war das Wetter ruhig und vom Meer her kroch undurchdringlicher Nebel übers Land. Wie Watte schien er über dem Meer zu hängen, wo er sich nach und nach in immer größer werdenden Mengen zum Festland hin bewegte, um die Heidelandschaften und Gebirgszüge tagelang in feuchte Kälte und geheimnisvolle, tiefe Stille zu hüllen.

Wie oft schon hatte Maybrick diesen Weg zurückgelegt, und jedes Mal hatte sich ihm das Küstenland von einer anderen Seite gezeigt.

Maybrick erinnerte sich an seine Kinderzeit, die er hier mit seinen Eltern verbracht hatte. Damals lebten sie dort unten im Tal, zwischen Milford Haven und Haverfordwest. Irgendwo dazwischen zweigt ein breiter Weg von der Hauptstraße ab, der sich zu den Feldern hin stark verengt, über eine Flussbrücke führt und schließlich zu einem fast holprigen Fußpfad wird. Am Ende dieses Pfades, nahe dem Hügelhang, bewohnten sie vor langer Zeit ein kleines Häuschen, von dem behauptet wurde, dass die Grundmauern noch aus der Tudor-Zeit stammten. Aus den Bergen kommend, plätscherte ein Bach am Fuße der Scheune vorüber, zog unter der kleinen Brücke durch, um wenig weiter in den Ozean zu münden. Das Haus sah wirklich sehr alt aus, doch hatte es ihnen nur für kurze Zeit als Wohnhaus gedient; denn wenige Jahre, nachdem sie aus Liverpool kommend dort eingezogen waren, kamen seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben. Seitdem lebte er zusammen mit seiner Tante Irma in London, bis auch sie vor sechs Jahren verstarb und ihm neben allen Erinnerungen ihr Herrenhaus in London hinterlassen hatte.

Einmal, zur Weihnachtszeit, als Rick Maybrick noch ein kleiner Junge war, saß er mit seinen Eltern im Wohnzimmer. Es war schon spät und draußen glitzerte der frisch gefallene Schnee im silbrigen Mondlicht. Die Stille der Nacht erfüllte das Haus. Nichts war zu hören, außer dem schwachen Knistern des Feuers. Drei Lehnsessel standen dicht vor den Kamin gerückt. Sein Vater, Charles Maybrick, etwa dreißig Jahre alt, hatte sich zurückgelehnt und die Beine zum Feuer hin ausgestreckt. Einer seiner Arme lag über der Armstütze des Sessels, in der Hand hielt er ein großes Stück vergilbtes Papier. Sein fein geschnittenes Profil hob sich klar vom knisternden Feuer ab. Er war glatt rasiert, hatte den Kopf erhoben und starrte geradewegs in die Flammenzungen. Daneben saß Ricks Mutter, wie eine königliche Dame, mit schmalen Lippen und dunklen, kühl leuchtenden Augen.

An solchen Abenden pflegte Ricks Vater Geschichten über England zu erzählen. Verblasste Erzählungen, die von uralten Zeiten berichteten und seit ungezählten Generationen von den Eltern auf die Kinder überliefert wurden. Die langen, aber gemütlichen Winterabende waren wie dafür geschaffen, die Legenden des Landes wieder auferstehen zu lassen. Geschichten längst vergangener Kulturen, wo sich die Mythen der Vergangenheit mit den Erzählungen der Zeit in erfindungsreichem Ablauf verstrickten. Sagen von Geisterschiffen und Gnomen, von Spuk und Poltergeistern, aber nie hatte er von seinen Ahnen erzählt.

An einem Tag, vor langer Zeit, zog ein Mann in ein kleines Haus in Milford Haven. Einige Monate gingen ins Land, bis Rick an einem frühen Morgen im März durch Zufall ein seltsames Gespräch zwischen diesem Mann, der sich Bryan Maycroft nannte, und seinem Vater mit anhörte.

»Ich fürchte«, sagte der Fremde, »ich habe schlechte Nachrichten für Sie.«

Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt und Rick spähte durch einen Spalt ins Innere. Sie saßen sich an einem Tisch gegenüber, und jedes Mal, wenn der Fremde seinen dicken Bauch gegen die Tischkante drückte, schwankten die Teetassen.

»Ich weiß nicht, von welchen Nachrichten Sie sprechen«, erwiderte Charles Maybrick und versuchte, keinen Anschein von Interesse zu erwecken.

»Na, die Sache mit Ihrem Großvater! Ein überaus eifriger und gefährlicher Mann«, fuhr er fort, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Er versuchte sich zu erheben, wobei er energisch die Brust vorstreckte, plumpste aber gleich wieder in seinen Sessel zurück.

»Wovon reden Sie?«

»Ich rede über wahre Ereignisse und ich versichere Ihnen, ich treibe Sie bis an den Rand des Unerträglichen. Wir sollten uns einmal ernsthaft darüber unterhalten«, sagte Bryan. Charles Maybrick hatte die Andeutung verstanden. Woher nur konnte Bryan Maycroft von seinem wohlgehüteten Geheimnis wissen? Keiner wusste davon, keiner außer ihm! Er hatte nie jemandem von seiner Entdeckung erzählt, nie jemandem verraten, dass sein Großvater der berüchtigte Jack the Ripper gewesen war. Vor langer Zeit war ihm in Liverpool im Hause seines Großvaters durch Zufall dieses Tagebuch in die Hände gefallen. Detailgetreu hatte James Maybrick alles in diesem unscheinbaren Buch niedergeschrieben. James war ein seltsamer Mann gewesen, das hatte Charles immer gewusst, aber niemals hätte er seinen Großvater mit dem Whitechapel-Mörder in Verbindung gebracht. Er hatte alle Einträge gelesen, wollte anschließend das Tagebuch vernichten, doch dann war er auf dieses perfekte Versteck gestoßen. Keiner würde es je dort finden, keiner erfahren, dass Jack the Ripper sein Großvater gewesen war. So wie einst sein Großvater, wollte auch er das Geheimnis mit ins Grab nehmen, das hatte er sich geschworen.

Nun aber saß dieser fette, glotzäugige Kerl vor ihm und drohte mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen! Mit einem versöhnlichen Lächeln und einer beschwichtigenden Handbewegung versuchte Charles, drohendes Unheil abzuwenden.

»Sie glauben mir nicht! Großer Gott, ich weiß, wovon ich rede, und das wissen Sie auch.« Bryan hob den Blick zur Decke. »So etwas habe ich noch nicht erlebt. Sie waren alle nur Huren, die geradewegs zur Hölle gingen.« Er blickte zur Tür, da er glaubte, in seiner Aufregung einen Laut gehört zu haben. Das Geräusch, das er vernommen hatte, musste vom alten Haus stammen. Keiner außer ihnen war anwesend, und so wendete er sich wieder Charles Maybrick zu.

»Er war angeblich Arzt!«, fuhr er fort. »Ein praktischer Arzt kann aber nicht so viel anrichten wie damals Ihr Großvater. Es sei denn, er war unheilbar krank und besessen.« Bei dieser Andeutung fuhr er sich bedeutungsvoll mit der Hand an den Kopf. »Multiple Persönlichkeitsstörung, wie in der Erzählung von Dr. Jekyll und Mr Hyde. Sie wissen, was ich meine.«

Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als ob Charles seine Beherrschung verlieren würde. »Sie können mich nicht für etwas belangen, für das mein Großvater verantwortlich war.«

Mit einem verächtlichen Blick musterte Bryan ihn über seine schweren, herabhängenden Lider hinweg. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu einem versöhnlichen Lächeln. Hatte Charles Maybrick doch soeben seinen Verdacht bestätigt. Jack the Ripper war wirklich sein Großvater gewesen.

»Ich sehe, Sie haben verstanden. Sie stecken in ernsten Schwierigkeiten, mein Freund!«

Charles lächelte. »Ach, du liebe Güte, es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass Sie mir damit Unannehmlichkeiten bereiten können.«

»Aber nicht gänzlich auszuschließen. Ihr Großvater ist seit jeher ein Gesprächsthema, und das Interesse an den Morden von 1888 wächst beständig an. Es gibt mittlerweile sogar einen Namen für Leute wie mich!«

»Ach ja«, schmunzelte Maybrick und versuchte seine Wut nicht zu zeigen.

»Ripperologen!«, entgegnete Bryan angeberisch und nickte mit dem Kopf.

»Idioten würde wohl eher passen!«, entgegnete Maybrick gelassen.

»Nicht doch, Mr Maybrick! Wir sind nicht die Schlechten! Ich bin zurzeit der einzige Mensch im Tal, der über Ihre Familie Bescheid weiß. Ich kenne alle Gerüchte, die in Milford Haven umgehen. Stellen Sie sich vor, wie schnell sich Ihr guter Ruf verschlechtern könnte. Denken Sie an Mrs Freeman, die Besitzerin des Lebensmittelladens; sie ist schon 67 Jahre alt, aber im Kopf immer noch gut beieinander. Dabei kennt sie jeden im Umkreis von zehn Meilen und weiß praktisch alles über die Leute, die hier verkehren. So ein Laden ist nun mal ein Ort, an dem die Leute zusammenkommen, um neben einigen Einkäufen die Zeit totzuschlagen und zu diskutieren. Sie zerreißen sich die Mäuler über anderer Leute Angelegenheiten. Ich verkehre sehr oft in solchen Läden. Deshalb weiß ich auch, dass ganze Familien in der Blüte ihrer Jahre von Zeit zu Zeit Opfer solchen Geschwätzes werden können. Manchmal höre ich Gerüchte, die es wirklich in sich haben. Was soll ich sagen, ich hasse Klatsch und Tratsch, doch kann man ihm oft nur mit Mühe aus dem Weg gehen.«

Bryan schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme vor dem dicken Bauch und blickte Maybrick aus tiefliegenden Augen an. In seinem Blick lag ein Hauch von Verbitterung und moralischer Entrüstung. Charles Maybrick hatte das Gefühl, als riefe der bloße Gedanke an diese Dirnen in Bryan lüsterne Phantasien hervor.

»Es gibt keinen Zweifel, Ihr Großvater war sicherlich einer der bedeutendsten Huren-Experten. Ich stelle mir vor, wie es war, als er sie abschlachtete. Er muss ihren Atem im Gesicht gespürt haben. Womöglich haben sie ihm sogar in die Augen gesehen, als er ihre Kehlen durchschnitt.«

Charles Maybrick schwieg und wartete, während Bryan weitersprach. »Ihr Großvater hat Sie testamentarisch zum Alleinerben gemacht.«

Charles lächelte. »Das bezweifle ich sehr. Wann soll er das denn getan haben?«

»Was weiß ich?«, entgegnete Bryan gereizt. »Jedenfalls verwalten Sie die Nachlässe Ihres Großvaters.«

»Die er meinem Vater vermachte«, erwiderte Maybrick.

»Nun ja, letztendlich sind Sie der Alleinerbe. Darauf läuft es doch mehr oder weniger hinaus.«

»Von dem Haus in Liverpool abgesehen, bekam mein Vater so gut wie nichts.«

Charles Maybrick vermutete, dass Bryan die Habseligkeiten seines Großvaters mit ihm durchgehen wollte, um möglicherweise irgendetwas von seinem Besitz gegen seine Verschwiegenheit auszutauschen. Aber Maybrick irrte. Bryan wollte noch mehr... 

»Gerade darauf will ich hinaus. Es ist ein sehr eindrucksvolles Haus, nicht wahr? So ein Haus kostet natürlich auch einiges an Unterhalt!« Endlich war es heraus. »Mit anderen Worten: das Haus gegen meine Verschwiegenheit!«

Bryan erhob sich und ging geradewegs auf das Fenster zu, um einen Blick auf die Berge zu werfen.

---ENDE DER LESEPROBE---