Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine historische Abenteuernovelle. Die Serie "Meisterwerke der Literatur" beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 109
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der Schatz von Franchard
Robert Louis Stevenson
Inhalt:
Robert Louis Stevenson – Biografie und Bibliografie
Der Schatz von Franchard
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Der Schatz von Franchard, R. L. Stevenson
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849624699
www.jazzybee-verlag.de
Engl. Schriftsteller, geb. 13. Nov. 1850 in Edinburg, gest. 8. Dez. 1894 in Apia (Samoa), ward Advokat, widmete sich aber schließlich erfolgreich der Schriftstellerei. Aus Gesundheitsrücksichten unternahm er wiederholte Reisen in Europa und Amerika, bis er sich endlich auf Samoa ansiedelte. Er schrieb: "An inland voyage" (1878), "Edinburgh picturesque notes" (1879), "Travels with a donkey through the Cevennes" (1879), "Virginibus puerisque" (1881), "Studies of men and books" (1882), "New Arabian nights" (1882, 2 Bde.) und "The Treasure Island" (1883), sein an Defoe erinnerndes Meisterwerk, dem noch eine Reihe ähnlicher Abenteuergeschichten folgte, wie "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" (1886), "Master of Ballantrae"; pseudohistorisch wird er mit "Prince Otto", historischen Hintergrund gewinnt er sich mit "David Balfour" und "St. Ives". Auch veröffentlichte S. einige Bände Gedichte ("A child's garden", 1885; "Underwoods", 1887; "Ballads", 1891) und "Memories and portraits" (2. Aufl. 1888, darunter von besonderm Interesse "A Gossip on Romance") sowie das zeitgeschichtliche Werk: "Footnotes to history, eight years of trouble in Samoa" (1892). S. ist wohl der bedeutendste der Jung-Romantiker mit seiner naiven Freude am Fabulieren. Seine Erzählungstechnik sucht sich als einfache Vorbilder Smollet und Defoe. Als Stilist wirkt er in seiner Einfachheit großartig. Gesammelt gab seine Werke E. Gosse heraus (1906, 20 Bde.). Vgl. A. Brown, Rob. L. S., a study (Lond. 1895); "Robert Louis S.; letters to his family and friends" (hrsg. von Colvin, das. 1899, 2 Bde.); Baildon, Robert Louis S., a life study in criticism (das. 1901); Balfour, Life of R. L. S. (das. 1891, 2 Bde.); Japp, R. L. S., record, estimate, and memorial (das. 1905); Prideaux, Bibliography of the works of R. L. S. (das. 1903).
Bei dem sterbenden Gaukler
Kurz vor sechs hatte man nach dem Bourroner Arzt geschickt. Um acht fanden sieh die Dorfbewohner zur Vorstellung ein, und man sagte ihnen, wie es stünde. Daß ein Gaukler ganz wie ein richtiger Mensch zu erkranken wagte, erschien ihnen als Dreistigkeit, und sie gingen murrend wieder fort. Um zehn begann Madame Tentaillon ernstlich besorgt zu werden und schickte die Straße hinunter zu Doktor Desprez. Der Bote traf den Doktor zu Hause in der einen Ecke des kleinen Speisezimmers über seinen Manuskripten, während seine Frau in der anderen Ecke neben dem Feuer ihr Nickerchen machte.
"Sapristi!" sagte der Doktor, "Ihr hättet mich früher rufen sollen. Der Fall scheint eilig." Und er folgte dem Boten, ohne sich umzuziehen, in Pantoffeln und Hauskäppchen.
Der Gasthof lag keine dreißig Meter entfernt, aber der Bote machte dort nicht halt. Er ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus in den Hof und schritt voran eine kurze Treppe hinauf, die neben dem Stall auf den Heuboden führte, wo der kranke Gaukler lag. Und wenn Doktor Desprez tausend Jahre alt werden sollte, wird er seinen Eintritt in den Raum nicht vergessen. Die Szene, die sich ihm bot, war nicht nur äußerst malerisch, sondern der Moment sollte ein Markstein in seinem Leben werden. Wir pflegen unser Leben – warum, weiß ich nicht – von unserem ersten kläglichen Auftreten in der menschlichen Gesellschaft, also von unserer ersten Niederlage an, zu datieren, denn mit üblerem Anstande betritt wohl kein Schauspieler die Bühne. Um jedoch nicht zu weit zurückzugreifen und uns überflüssiger Neugierde schuldig zu machen, wollen wir lieber feststellen, daß es in unser aller Leben später noch zahlreiche rührende und einschneidende Ereignisse gibt, die mit ganz dem gleichen Recht wie der Tag der Geburt eine Periode eröffnen. Da war zum Beispiel Doktor Desprez, ein Mann in den Vierzigern, der, wie man es wohl nennt, im Leben gescheitert und überdies noch verheiratet war, und der sich hier vor einem neuen Lebensabschnitt befand im Augenblick, da er die Tür öffnete, die zu dem Heuschober über Tentaillons Stall führte.
Es war ein großer Raum, den nur eine einzige Kerze vom Fußboden her erhellte. Der Gaukler lag aus einer Matratze auf dem Rücken; er war von massigem Körperbau mit einer Nase à la Don Quichotte, die vom Trinken gerötet war. Madame Tentaillon beugte sich über ihn mit einer feuchten, heißen Senfpackung für seine Füße; dicht daneben auf einem Stuhl baumelte ein Bürschchen von elf, zwölf Jahren mit den Beinen. Diese drei waren, die Schatten ausgenommen, die einzigen Bewohner des Schuppens. Allein die Schatten bildeten an sich schon eine ganze Gesellschaft; der große Raum verzerrte sie ins Riesenhafte, und von unten her traf das Licht der Kerze nach oben und schaffte groteske und verunstaltende Verkürzungen. Das Profil des Gauklers war an der Wand zur Karikatur vergrößert, und es war seltsam anzusehen, wie seine Nase im Luftzug der Flamme sich verlängerte und zusammenschrumpfte. Was Madame Tentaillon anbetrifft, so glich ihr Schatten einem einzigen Riesenhöcker, den von Zeit zu Zeit an Stelle eines Kopfes eine Halbkugel krönte. Die Stuhlbeine waren zu spindeldürren Stelzen verlängert, und der Junge hockte über ihnen wie eine Wolke dicht unter der einen Dachecke.
Der Junge vor allem nahm den Doktor gefangen. Er hatte einen großen gewölbten Schädel, Stirn und Hände eines Musikers und ein Paar Augen, die einen nie wieder losließen. Es kam nicht daher, daß sie groß waren, von sanftestem, rötlichem Braun und sehr fest blickten. Daneben war noch etwas an ihnen, das den Doktor bis ins Innerste berührte und ihn fast mit Unruhe erfüllte. Er wußte, daß er diesem Blick schon vorher begegnet war, konnte sich aber des Wie und Wo nicht erinnern. Es war, als hätte dieser Junge, den er noch nie zuvor gesehen hatte, die Augen eines alten Freundes oder vielleicht auch eines Feindes. Und der Junge ließ ihn nicht zur Ruhe kommen; er schien in höchstem Maße gleichgültig gegen alles, was um ihn her vorging, vielmehr durch eine überlegene Ruhe von ihm getrennt. Da saß er mit über dem Schoße gefalteten Händen und baumelte sanft mit den Beinen gegen die Querleisten des Stuhles. Und trotzdem folgten seine Augen dem Doktor auf Schritt und Tritt mit gedankenvoller Beharrlichkeit. Desprez wußte nicht, ob er den Jungen faszinierte oder der Junge ihn. Er machte sich mit dem Kranken zu schaffen, stellte Fragen, fühlte den Puls, scherzte, ereiferte sich ein wenig und fluchte: und dennoch! Wenn er sich umblickte, da waren die braunen Augen und warteten auf ihn mit dem gleichen fragenden, melancholischen Blick.
Endlich ging dem Doktor blitzartig ein Licht auf. Jetzt wußte er, wo er dem Blick begegnet war. Das Kerlchen hatte, wenn auch kerzengrade gewachsen, die Augen eines Buckligen. Es war nicht im geringsten deformiert, trotzdem war es, als blickten einem unter jenen Brauen die Augen eines Krüppels an. Der Doktor holte tief Atem, so erleichtert war er, daß er nun eine Theorie gefunden hatte (er liebte die Theorien), mit deren Hilfe er sein Interesse erklären und auflösen konnte.
Trotzdem besorgte er den Kranken mit ungewöhnlicher Elle und wandte sich, noch mit dem einen Bein auf dem Boden kniend, halb um, um mit Muße den Jungen betrachten zu können. Dieser war nicht im geringsten aus der Fassung gebracht, sondern sah seinerseits den Doktor in ungetrübter Ruhe an.
"Ist das dein Vater?" fragte Desprez.
"Oh nein," versetzte der Junge, "mein Herr."
"Hast du ihn gern?" fragte der Doktor weiter.
"Nein, Herr", sagte der Junge.
Madame Tentaillon und Desprez wechselten ausdrucksvolle Blicke.
"Das ist schlimm, junger Mann", fuhr letzterer mit einem Anflug von Strenge fort. "Jeder sollte die Sterbenden lieb haben, oder doch wenigstens seine Gefühle verbergen; und dein Herr liegt im Sterben. Wenn ich eine Weile zugesehen habe, wie ein Vogel meine Kirschen stiehlt, fühle ich dennoch eine leise Enttäuschung, wenn er über meinen Gartenzaun fliegt, und ich ihn auf den Wald zusteuern und verschwinden sehe. Wie viel mehr also bei einem Geschöpf wie dieses da, so stark, so klug, so reich begabt! Wenn ich mir vor Augen halte, daß in wenigen Stunden seine Rede zum Schweigen gebracht, sein Atem gestorben, ja sogar der Schatten dort an der Wand verschwunden sein wird, so fühlen selbst ich, der ich ihn nie zuvor gesehen habe, und jene Dame dort, die ihn nur als Gast kennt, uns durch eine Art Liebe bewegt."
Der Junge schwieg eine Weile, scheinbar in Gedanken versunken.
"Sie kannten ihn nicht", antwortete er schließlich.
"Er war ein schlechter Mensch."
"Er ist ein kleiner Heide", sagte die Wirtin. "In dem Punkt sind sie einer wie der andere, diese Gaukler, Akrobaten, Artisten und dergleichen. Sie haben kein Inneres."
Der Doktor jedoch musterte den jungen Heiden immer noch mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Brauen.
"Wie heißt du?" fragte er.
"Jean-Marie", sagte der Junge.
Desprez schoß auf ihn zu in einem ihm eigenen Anfall plötzlicher Aufregung und betastete allseitig vom ethnologischen Standpunkt aus seinen Kopf.
"Keltisch, keltisch!" rief er.
"Keltisch!" wiederholte Madame Tentaillon, die das Wort wohl mit hydrozephalisch verwechselte. "Armer Junge! Ist es gefährlich?"
"Es kommt drauf an", erwiderte grimmig der Doktor. Dann wandte er sich abermals an den Jungen: "Womit verdienst du dir deinen Lebensunterhalt, Jean-Marie?" erkundigte er sich.
"Ich schlage Purzelbäume", lautete die Antwort.
"So, so! Purzelbäume?" wiederholte der Doktor.
"Wahrscheinlich sehr gesund. Ich wage zu vermuten, Madame Tentaillon, daß Purzelbäumeschlagen eine gesunde Lebensweise ist. Und hast du jemals etwas anderes getan als Purzelbäumeschlagen?"
"Bevor ich das lernte, habe ich gestohlen", antwortete Jean-Marie ernsthaft.
"Bei meinem Wort!" rief der Doktor. "Du bist für dein Alter ein nettes Bürschchen. Madame, wenn mein Kollege aus Bourron eintrifft, werden Sie ihm meine wenig günstige Ansicht unterbreiten. Ich überlasse ihm den Fall; sollten natürlich irgendwelche besorgniserregenden Symptome oder gar Zeichen der Besserung sich einstellen, so zögern Sie nicht, mich zu rufen. Ich habe. Gottlob, aufgehört, Arzt zu sein; aber ich bin einmal einer gewesen. Gute Nacht, Madame. Schlafe wohl, Jean-Marie."
Eine Morgenunterhaltung
Doktor Desprez pflegte früh aufzustehen. Noch ehe der Rauch in die Lüfte stieg, ehe der erste Viehwagen auf dem Wege zur Tagesarbeit auf den Feldern über die Brücke holperte, konnte man ihn in seinem Garten spazierengehen sehen. Bald pflückte er eine Weintraube, bald aß er unter dem Spalier eine Birne; bald zeichnete er alle möglichen Schnörkel mit dem Stock auf den Gartenweg; dann wieder ging er zum Fluß hinunter und sah dem endlos fließenden Wasser zu, das an dem hölzernen Landungssteg, wo sein Boot angekettet lag, vorüberströmte. Zum Theoretisieren, pflegte er zu sagen, gäbe es keine bessere Zeit als die Morgenfrühe. "Ich stehe früher auf als sonst irgend einer im Dorfe", prahlte er einmal. "Folglich weiß ich auch mehr als alle anderen und suche mein Wissen weniger auszunutzen."
Der Doktor war ein Kenner in Sonnenaufgängen und liebte als Auftakt für den Tag einen guten theatralischen Effekt. Er hatte eine eigene Theorie über den Tau, nach der er das Wetter vorauszusagen vermochte. Ja, die meisten Dinge mußten zu diesem Zweck herhalten: der Klang der Glocken aus den umliegenden Dörfern, der Geruch des Waldes, die Wanderungen und das Verhalten der Vögel wie der Fische, das Aussehen der Pflanzen in seinem Garten, die Wolkenbildungen, die Farbe des Lichts, und, als letztes und wichtigstes, ein ganzes Arsenal meteorologischer Instrumente, die in einem Verschlag auf dem Rasen geborgen waren. Seit seiner Niederlassung in Gretz hatte er sich allmählich zu dem Lokalmeteorologen und freiwilligen Verfechter des dortigen Klimas entwickelt. Anfänglich glaubte er, daß es im ganzen Arrondissement keinen gesünderen Flecken gäbe als Gretz; schon nach zwei Jahren behauptete er, es gäbe keinen zuträglicheren Ort in dem ganzen Departement. Und bereits seit längerer Zeit vor seinem Zusammentreffen mit Jean-Marie war er bereit, ganz Frankreich und den größeren Teil von Europa in die Schranken zu rufen, daß kein Ort sich mit seinem Lieblingsaufenthalt messen könnte.