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Eine Spur des Grauens kennzeichnet den Weg des Schlächters von Dead End in der Luxus-Villa von June Arnot. Die Polizei findet auf dem Anwesen sieben bestialisch hingemetzelte Leichen:
- den Pförtner am offenen Tor,
- den chinesischen Gärtner in der Allee,
- die junge Zofe auf der Treppe,
- den Butler im Salon,
- den Koch und den Hausboy in der Küche,
- und schließlich den Filmstar selbst im flachen Becken des Swimming-Pools.
Entsetzen ergreift die Bevölkerung von Hollywood. Die Polizei rechnet jeden Augenblick mit einer Festnahme.
Doch der Schlächter ist noch längst nicht am Ende...
Der Roman Der Schlächter von Dead End von James H. Chase (* 1906 in London; † 1985 Corseaux/Schweiz) erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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JAMES H. CHASE
Der Schlächter
von Dead End
Roman
Apex Crime, Band 95
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER SCHLÄCHTER VON DEAD END
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Eine Spur des Grauens kennzeichnet den Weg des Schlächters von Dead End in der Luxus-Villa von June Arnot. Die Polizei findet auf dem Anwesen sieben bestialisch hingemetzelte Leichen:
- den Pförtner am offenen Tor,
- den chinesischen Gärtner in der Allee,
- die junge Zofe aus der Treppe,
- den Butler im Salon,
- den Koch und den Hausboy in der Küche,
- und schließlich den Filmstar selbst im flachen Becken des Swimming-Pools.
Entsetzen ergreift die Bevölkerung von Hollywood. Die Polizei rechnet jeden Augenblick mit einer Festnahme.
Doch der Schlächter ist noch längst nicht am Ende...
Der Roman Der Schlächter von Dead End von James H. Chase (* 1906 in London; † 1985 Corseaux/Schweiz) erschien erstmals im Jahr 1953; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1969.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Erstes Kapitel
Das Telefon klingelte, als Janey Conrad gerade beschwingt die Treppe herunterkam. Sie trug ihr neues Abendkleid: ein trägerloses himmelblaues Gewand, dessen Oberteil mit silbernen Pailletten bestickt war. Sie sah wunderbar aus, und sie wusste es.
Beim Klang des Telefons verhielt sie den Schritt. Ihre freudige Miene verwandelte sich so schnell und endgültig, als habe man ein Licht ausgeblasen.
»Paul! Nimm nicht ab«, sagte sie mit der kalten ruhigen Stimme, die sie immer hatte, wenn sie wütend war.
Ihr Mann kam aus dem Wohnzimmer. Er war Ende Dreißig, groß, kräftig und durchtrainiert. Er trug einen Smoking und hielt einen schwarzen Hut in der Hand. Als Janey ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte er sie sehr an James Steward erinnert, und diese Ähnlichkeit war wohl der Hauptgrund, warum sie ihn geheiratet hatte.
»Aber ich muss doch abnehmen«, sagte er ruhig und bedächtig. »Man braucht mich vielleicht.«
»Paul!«, rief sie, schon ein bisschen lauter, als er zum Telefon ging und den Hörer nahm.
Er lächelte ihr zu und bedeutete ihr mit der Hand, still zu sein.
»Hallo?«, sagte er in die Sprechmuschel.
»Paul? Hier spricht Bardin.« Die Stimme des Lieutenants dröhnte in Pauls Ohren und erfüllte den stillen Raum.
Sobald Janey diese Stimme vernahm, ballte sie die Fäuste; ihr Mund bekam einen harten hässlichen Zug.
»Hier gibt's Arbeit für Sie«, fuhr Bardin fort. »In Dead End, bei June Arnot, hat es ein Massaker gegeben. Alles voller Leichen, eine davon ist June selbst. Wie schnell können Sie hier sein?«
Conrad zog ein Gesicht und blickte zu Janey hinüber. Er sah, wie sie langsam und steif ins Wohnzimmer ging.
»Am besten komme ich sofort«, sagte er.
»Prima. Ich lasse hier alles erst mal, wie es ist, bis Sie kommen. Machen Sie sich selbst ein Bild. Aber sehen Sie zu, dass Sie hier sind, ehe die Presse Wind von der Sache kriegt.«
»Ich komme sofort«, sagt Conrad und hängte auf.
»Verdammt«, murmelte Janey.
Sie stand vor dem Kamin und kehrte ihm den Rücken zu.
»Tut mir leid, Janey, aber ich muss doch gehen...«
»Zum Teufel damit, und mit dir auch«, sagte Janey, ohne die Stimme zu heben. »Immer passiert das. Immer, wenn wir ausgehen wollen, passiert das. Du und deine mistige Polizei!«
»Sag doch nicht so was«, sagte Conrad. »Es ist verdammt schade, aber wir können es nicht ändern. Morgen Abend gehen wir, und ich garantiere dir das.«
Janey beugte sich vor und fegte mit dem Handrücken die Nippsachen, Fotografien und die Uhr vom Kaminsims.
»Janey!« Conrad kam schnell herein. »Nun hör aber auf!«
»Ach, lass mich in Ruhe!«, sagte Janey mit derselben kalten und ruhigen Stimme. Sie starrte Conrads Spiegelbild mit bösen glitzernden Augen an. »Geh doch Räuber und Gendarm spielen. Brauchst dich nicht um mich zu kümmern, aber erwarte auch nicht, mich hier zu finden, wenn du zurückkommst. Von heute an werd' ich mich allein amüsieren.«
»June Arnot ist ermordet worden, Janey, da muss ich gehen. Komm, morgen gehen wir dafür ins Ambassador. Wär' das nicht was?«
»Wir gehen nirgendwo mehr zusammen hin, solange wir Telefon im Haus haben«, sagte Janey bitter. »Gib mir Geld, Paul.«
Er sah sie an.
»Aber, Janey...«
»Gib mir jetzt Geld, und zwar sofort! Wenn nicht, muss ich halt irgendwas versetzen, aber nichts, was mir gehört.«
Conrad zuckte mit den Schultern. Er nahm eine Zehndollarnote aus der Brieftasche und gab sie ihr.
»Gut, Janey, wenn du meinst? Warum rufst du nicht Beth an? Du wirst doch nicht allein gehen wollen.«
Janey legte den Schein zusammen, sah Conrad an und wandte sich ab. Er war erschrocken über ihren unpersönlichen und gleichgültigen Blick.
»Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern. Kümmer dich lieber um deinen blöden Mord. Ich komme schon zurecht.«
Er wollte etwas sagen, aber dann ließ er es. Wenn sie in einer solchen Verfassung war, konnte man nicht mit ihr reden.
»Kann ich dich irgendwo absetzen?«, fragte er ruhig.
»Ach, fahr zur Hölle!«, sagte Janey heftig und ging zum Fenster hinüber.
Conrad presste die Lippen zusammen. Er ging durch die Halle, öffnete die Eingangstür und lief schnell hinunter zu seinem Wagen, der am Bordstein geparkt war.
Als er hinters Lenkrad glitt, fühlte er einen Druck auf der Brust, der ihm das Atmen schwer machte. Er wollte es nicht zugeben, aber er wusste, dass es zwischen Janey und ihm bald aus sein würde. Wie lange waren sie eigentlich schon verheiratet? Er runzelte die Stirn, als er den Wagen startete. Noch nicht ganz drei Jahre. Das erste Jahr war sehr schön gewesen, aber das war noch, ehe er zum Chief Investigator beim District Attorney ernannt worden war; als er noch regelmäßige Dienststunden hatte und mit Janey jeden Abend ausgehen konnte.
Es hatte ihr zwar gefallen, dass er befördert worden war: über Nacht hatte sich sein Gehalt verdoppelt, und sie konnten aus einer Dreizimmerwohnung in einen Bungalow in der vornehmen Hayland-Gegend umziehen, ein großes Stück aufwärts auf der sozialen Leiter. Nur Leute mit fünfstelligem Einkommen und mehr wurden in Hayland geduldet.
Aber Janey war nicht mehr so entzückt, als sie zu begreifen begann, dass er nun Tag und Nacht auf Abruf war.
»Meine Güte«, sagte sie, »man könnte dich für einen gewöhnlichen Polizisten halten.«
»Aber ich bin doch Polizist«, hatte er geduldig erklärt. »Ich bin dem D. A. zugeteilt und arbeite in seinem Auftrag.«
Es hatte Streitereien gegeben, wenn ein plötzlicher Anruf einen abendlichen Ausgang verdarb. Das war verständlich, hatte er sich gesagt, aber er wünschte sich trotzdem mehr Einsicht von ihr. Er musste zugeben, dass solche plötzlichen Anrufe immer gerade dann zu kommen schienen, wenn sie ausgehen wollten, aber damit mussten sie sich eben beide abfinden.
Doch Janey wollte nicht nachgeben. Der Streit wurde zu Gezänk, das Gezänk zu großen Szenen, und jetzt hatte er es allmählich satt.
Aber heute hatte Janey ihn zum ersten Mal um Geld gebeten, um allein ausgehen zu können. Das war etwas völlig Neues, und es beunruhigte Conrad mehr als alles bisher.
Janey war viel zu attraktiv, um ungefährdet allein ausgehen zu können. Conrad war sich darüber klar, dass sie einen Hang zum Leichtsinn hatte. Er hatte entschieden, dass ihn ihre Vergangenheit nichts anging, aber wenn er sich jetzt an die Geschichten von den wilden Parties erinnerte, die sie ihm erzählt hatte, und an die Namen ihrer ehemaligen Freunde, dann fragte er sich, ob sie nun wohl wieder auf Eroberungen ausgehen würde. Sie war erst vierundzwanzig, und Sex schien ihr viel mehr zu bedeuten als ihm; das verwunderte ihn, denn er hielt sich in dieser Beziehung für völlig normal. Und dann ihr Aussehen. Mit ihren vergissmeinnichtblauen Augen, ihrem seidigen blonden Haar, ihrem makellosen Teint und ihrer niedlichen Stupsnase war sie für jeden Mann eine Versuchung.
Ein Fluch entfuhr ihm.
Er gab Gas, schaltete und fuhr los.
Zweites Kapitel
In den vergangenen drei fahren war June Arnot der Star von Hollywood gewesen, und man hielt sie für die reichste Frau der Stadt.
Sie hatte sich eine Luxusvilla an der Steilküste am Ostufer der Tammany Bay bauen lassen, einige Meilen außerhalb von Pacific City und ungefähr zehn Meilen von Hollywood entfernt.
Die Villa war ein wahres Schaustück an Prunk und eitler Verschwendung, und June Arnot hatte sie, nicht ohne Humor, Dead End genannt.
Als Conrad vor dem kleinen efeubewachsenen Pförtnerhaus hielt, in dem sich alle Besucher in ein Gästebuch eintragen mussten, bevor sie sich auf den Weg zu dem eine Meile entfernten Haus machten, tauchte die bullige Gestalt von Lieutenant Sam Bardin von der Mordkommission aus der Dunkelheit auf.
»Na, na«, sagte er, als er Conrad erblickte. »So hätten Sie sich meinetwegen ja auch nicht in Schale zu werfen brauchen. Haben Sie etwa deshalb so lange gebraucht?«
Conrad grinste.
»Ich wollte gerade mit meiner Frau auf eine Party, als Sie anriefen. Bei uns ist jetzt eine Weile dicke Luft. McCann schon da?«
»Der Captain ist in San Francisco. Zu dumm«, sagte Bardin. »Er kommt erst morgen wieder. Das hier ist eine ganz hübsche Schweinerei, Paul. Ich bin froh, dass Sie da sind. Bis wir hier durch sind, werden wir so viele Leute brauchen, wie wir nur irgendwie kriegen können.«
»Na, fangen wir an. Erzählen Sie erst mal alles, was Sie wissen, und dann wollen wir uns umsehen.«
Bardin wischte sich das dicke rote Gesicht mit einem Taschentuch und schob die Mütze in den Nacken. Er war groß, vierschrötig und zehn Jahre älter als Conrad, also ungefähr fünfundvierzig.
»Um halb neun erhielten wir einen Anruf von Miss Arnots Manager Harrison Fedor. Er hatte heute Abend mit ihr eine geschäftliche Verabredung. Als er ankam, stand das Tor offen, was sehr ungewöhnlich ist. Er ging ins Pförtnerhaus und fand den Pförtner erschossen - Kopfschuss. Er telefonierte von dort zum Haus, bekam aber keine Antwort. Darauf verlor er vermutlich die Nerven. Auf jeden Fall sagte er, er habe sich nicht getraut, in die Villa hochzugehen, und lieber uns angerufen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Sitzt in seinem Wagen und stärkt sich mit Whisky«, sagte Bardin grinsend. »Ich hatte noch keine Zeit, ihn mir vorzunehmen, habe ihm aber gesagt, er soll in der Nähe bleiben. Ich war oben in der Villa. Die fünf Dienstboten sind alle tot, erschossen. Miss Arnot war nicht im Haus, aber sie musste sich ja irgendwo auf dem Grundstück befinden, da sie doch diese geschäftliche Verabredung hatte.« Er zog eine Packung Zigaretten heraus, bot Conrad eine Zigarette an und bediente sich ebenfalls. »Sie lag im Swimming-Pool.« Er verzog das Gesicht. »Jemand hat sie von oben bis unten aufgeschlitzt und den Kopf abgetrennt.«
Conrad holte Luft.
»Offensichtlich ein Verrückter. Was geschieht denn jetzt?«
»Die Jungs sind oben im Haus und am Swimming-Pool und nehmen Spuren auf. Wenn irgendwas rauszufinden ist, werden sie es rausfinden. Wollen Sie mal selber rumgehen und sich's ansehen?«
»Ich denke schon. Kann der Doktor die Todeszeit feststellen?«
»Er arbeitet noch daran. Ich bat ihn, die Leichen vor Ihrer Ankunft nicht zu berühren. Sehen wir uns erst das Pförtnerhaus an.«
Conrad folgte ihm durch den Eingang in einen kleinen Raum, der mit Schreibtisch, Stuhl, Sofa und Telefonschrank ausgestattet war. Auf dem Tisch lag ein dickes ledergebundenes Gästebuch, aufgeschlagen bei den Eintragungen dieses Tages.
Der Pförtner, der eine olivgrüne Uniform und glänzende Schaftstiefel anhatte, lag halb unter dem Tisch, den Kopf in einer Blutlache. Er war aus nächster Nähe erschossen worden; ein kurzer Blick auf ihn genügte Conrad.
Er ging hinüber zum Tisch und beugte sich über das Gästebuch.
»Der Mörder wird sich nicht gerade selber eingetragen haben«, sagt Bardin trocken. »Immerhin, der Pförtner muss ihn gekannt haben, sonst hätte er ihm wohl nicht das Tor aufgeschlossen.«
Conrads Augen überflogen die fast leere Seite.
15 Uhr - Mr. Jack Belling, 3 Lennox Street. Nach vorheriger Anmeldung.
17 Uhr - Miss Rita Strange, 14 Crown Street. Nach vorheriger Anmeldung.
19 Uhr - Miss Trances Coleman, 145 Glendale Avenue.
»Hat das was zu bedeuten?«, fragte er. »Diese Coleman muss doch hier gewesen sein, als die Morde passierten.«
Bardin zuckte die Schultern.
»Weiß nicht. Wir können sie uns ja mal vornehmen. Aber wenn sie was mit der Sache zu tun hätte, hätte sie garantiert die Seite aus dem Buch rausgerissen.«
»Stimmt. Sie kann es höchstens vergessen haben.«
Bardin winkte ab.
»Weiter. Es gibt noch eine Menge andere hübsche Dinge für Sie.« Er ging wieder in die Dunkelheit hinaus. »Wir können ja auch Ihren Wagen nehmen. Halten Sie in der zweiten Kurve. Dort wurde der Gärtner erschossen.«
Conrad fuhr die von riesigen Palmen und blühenden Büschen eingefasste Allee hinauf. Als er ungefähr dreihundert Meter gefahren war, sagte Bardin: »Nur noch um diese Kurve.«
Sie stießen auf einen geparkten Wagen, in dessen Scheinwerferlicht Doktor Holmes, zwei junge Ärzte in weißen Kitteln und ein paar gelangweilt blickende Polizisten auftauchten.
Conrad und Bardin gingen zu ihnen. Sie standen um einen alten verrunzelten Chinesen herum, der auf dem Rücken lag, die gelben klauengleichen Finger im Todeskampf verkrümmt. Die Brust seines weißen Anzugs war rot.
»Na, Conrad?«, sagte Doktor Holmes. Er war ein kleiner Mann mit rosigem Gesicht und weißem Haarkranz um die Glatze. »Wollen Sie sich unser Massaker ansehen?«
»Ja, aus purer Neugier«, sagte Conrad. »Wie lang ist er denn schon tot, Doktor?«
»Eineinhalb Stunden, mehr nicht.«
»Also kurz nach sieben?«
»So ungefähr.«
»Dieselbe Waffe wie beim Pförtner?«
»Wahrscheinlich. Sie sind alle mit einer .45er umgelegt worden.« Er sah Bardin an. »Das muss ein Profi gewesen sein, Lieutenant. Wer diese Leute auch erschossen hat, er verstand was davon. Hat sie alle mit einem Schuss erledigt.«
Bardin brummte.
»Das will nichts heißen. Mit einer .45er kann man jeden umlegen, ob man nun Profi ist oder Amateur.«
»Gehen wir hoch ins Haus«, sagte Conrad.
Nach dreiminütiger Fahrt erreichten sie die Villa. In allen Räumen brannte Licht. Zwei Polizisten bewachten den Haupteingang.
Conrad und Bardin gingen die Treppe hinauf in den kleinen Empfangsraum und von dort hinunter in den mit Mosaik ausgelegten Innenhof. Der Innenhof war an drei Seiten vom Haus umgeben und tagsüber angenehm schattig.
Sergeant O'Brien, ein großer hagerer Mann mit harten Augen und Sommersprossen, kam aus dem Salon. Er nickte Conrad zu.
»Was gefunden?«, fragte Bardin.
»Ein paar Kugeln, sonst nichts. Keine Fingerabdrücke, für die es nicht auch einen Nachweis gibt. Der Mörder ist wohl einfach hereinspaziert, hat jeden erschossen, der in Sicht kam, und ist wieder gegangen, ohne irgendetwas zu berühren.«
Paul ging zum Fuß der breiten Treppe und schaute hinauf. Oben lag die Leiche einer jungen Chinesin. Sie trug einen gelben Hausrock und dunkelblaue bestickte Seidenhosen. Ein roter Fleck bildete ein hässliches Mal zwischen ihren Schulterblättern.
»Sieht aus, als wäre sie um ihr Leben gerannt, als sie erschossen wurde«, sagte Bardin. »Wollen Sie sie sehen?«
Conrad schüttelte den Kopf.
»Die Leiche Nummer vier liegt im Salon«, sagte Bardin und führte Conrad in einen verschwenderisch ausgestatteten Raum mit ledernen Sofas und Sesseln, in dem dreißig oder vierzig Leute bequem Platz hatten.
Die Mitte des Raumes nahm ein großer Springbrunnen ein, in dessen bunterleuchtetem Bassin tropische Fische schwammen.
»Schön, was?«, sagte Bardin trocken. »Sie sollten dagegen mal mein Wohnzimmer sehen.«
Conrad ging weiter ins Zimmer hinein. Vor den Fenstern zum Garten saß June Arnots Butler auf dem Boden. Er war durch den Kopf geschossen worden.
»Die Tapete ist verdorben«, sagte Bardin. Er ließ seine Zigarette in einen Aschenbecher fallen und fuhr fort: »Wollen Sie die Küche sehen? Da liegen noch zwei, ein chinesischer Koch und ein Filipino. Sie sind wohl beide zum Ausgang gerannt, aber keiner schnell genug.«
»Ich habe genug«, sagte Conrad. »Wenn noch was zu finden ist, werden es Ihre Leute schon finden.«
»Das schreibe ich mir ins Album und zeige es Ihnen, wenn ich das nächstemal was verpatze«, sagte Bardin.
»Okay, gehen wir zum Bad.«
Er öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Der aufgehende Vollmond warf sein hartes kaltes Licht über die See. Der Garten war von Blütenduft erfüllt. In der Ferne verwandelte ein zweiter beleuchteter Springbrunnen die Szene in ein Märchenland.
»Sie liebte Licht und leuchtende Farben«, sagte Bardin. »Aber das hat ihr nicht viel geholfen. Es ist ziemlich grausam, so zu enden. Selbst ihr ganzer Reichtum würde mich nicht für solch einen Tod entschädigen.«
»Der Haken bei Ihnen, Sam«, sagte Conrad ruhig, »ist, dass Sie mit Ihrem sozialen Status so unzufrieden sind. Dabei gibt es sicher eine Menge Leute, die Sie um Ihr Leben beneiden.«
»Die möchte ich mal sehen«, erwiderte Bardin mit saurem Lächeln. »Sie haben gut reden mit Ihrer wunderbaren Frau. Ich würde ein schäbiges Zuhause in Kauf nehmen und schlechtes Essen, wenn ich nur eine Spur von dem hätte, was Sie haben. Wenn Sie mal 'n paar Museumsstücke sehen wollen, brauchen Sie nur am Waschtag über meinen Gartenzaun zu gucken. Aber Ihre Frau trägt sicher diese Nylonsachen, die mich immer verrückt machen, wenn ich an einem Schaufenster vorbeigehe.«
Conrad fühlte plötzlich, wie eine gewisse Gereiztheit ihn überkam. Er kannte Bardins Frau. Sie war unscheinbar und nichtssagend, aber sie versuchte wenigstens, ihren Haushalt gut zu führen, wovon Janey meilenweit entfernt war.
»Sie wissen nicht, wie gut Sie's haben«, sagte er barsch und ging die Stufen zum Swimming-Pool hinunter.
Drittes Kapitel
Neben dem fünfzehn Meter hohen Sprungturm standen Doktor Holmes, die beiden jungen Ärzte, ein Fotograf und vier Polizisten und sahen ins Wasser hinunter. An dieser Stelle war es blutrot verfärbt.
»Ja, da liegt sie nun«, fuhr Bardin fort und machte eine Handbewegung zum Wasser hin. Paul sah die kopflose nackte Leiche auf dem Boden am flachen Ende des Beckens. Bei ihrem Anblick zog sich sein Magen zusammen.
»Wo ist der Kopf?«, fragte er und wandte sich ab.
»Ich habe ihn gelassen, wo er war: auf einem Tisch in einer der Umkleidekabinen. Wollen Sie ihn sehen?«
»Nein, danke. Sind Sie sicher, dass es sich um June Arnot handelt?«
»Daran besteht kein Zweifel.«
Conrad wandte sich an Doktor Holmes.
»Okay, Doktor, ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte. Sie können jetzt über die Leichen verfügen. Lassen Sie mir bitte eine Kopie Ihres Berichtes zukommen.«
Doktor Holmes nickte.
Bardin sagte: »Okay, Jungs, zieht sie raus. Aber vorsichtig.«
Drei Polizisten setzten sich widerwillig in Bewegung. Einer von ihnen stieß einen langen Bootshaken ins Wasser.
»Lassen Sie uns derweil mit Fedor reden«, sagte Conrad. »Führen Sie ihn bitte ins Haus hoch, ja?«
Bardin schickte einen seiner Leute los, Fedor zu holen.
Als er und Conrad wieder die Stufen zum Haus hinaufstiegen, fragte er: »Na, was halten Sie von der Sache bis jetzt?«
»Sieht aus, als sei der Täter jemand gewesen, der im Haus gut bekannt war. Es kann kein Fremder gewesen sein, denn sonst hätte ihn der Pförtner nicht eingelassen; auch der Umstand, dass er das gesamte Personal umgelegt hat, um nicht identifiziert zu werden, weist in diese Richtung.«
»Falls es nicht einfach ein Verrückter war, der reinkam und Amok lief.«
»Aber dann wäre doch das Tor nicht offengewesen.«
»Vielleicht hat er dem Pförtner irgendeine plausible Geschichte aufgetischt.«
Als sie das Haus erreichten, kamen ihnen zwei Polizisten mit einer Tragbahre entgegen, auf der eine verhüllte Leiche lag.
»Das ist der letzte, Lieutenant«, sagte einer von ihnen. »Das Haus ist jetzt sauber.«
Bardin brummte etwas vor sich hin und ging hinunter in den Innenhof.
»Was halten Sie von Fedor?«, fragte Conrad, als er sich in einem Korbstuhl niederließ.
»Er ist nicht der Typ, der so die Herrschaft über sich verliert. Und er hätte schon einen verdammt triftigen Grund dazu haben müssen. Sie war seine einzige Kundin, und er hat ein Vermögen an ihr verdient.«
»Eine Frau wie sie hat bestimmt eine Menge Feinde«, sagte Conrad und streckte dabei die langen Beine aus. »Der Täter muss sie ganz schön gehasst haben.«
»Man sagt, dass sie ziemlich üble Bekanntschaften hatte«, sagte Bardin und fuhr sich über die Augen. »Wenn ich dem trauen soll, was ich so über sie aufgeschnappt habe, so war sie sich für nichts und niemanden zu schade. Wussten Sie, dass sie es sogar mit Jack Maurer gehabt haben soll?«
Conrad richtete sich auf.
»Mit Jack Maurer?«
Bardin grinste.
»Dacht' ich mir's doch, dass Sie das elektrisieren würde. Ich kann es nicht beschwören, es gingen zu viele Gerüchte um. Sie selbst hat es geheimgehalten, aber es heißt, dass sie Maurers Geliebte war.«
»Wenn's nur wahr wäre! Das hier könnte gut Maurers Werk sein, es liegt genau auf seiner Linie. Erinnern Sie sich an den Massenmord, den er vor ein paar Jahren inszenierte? Sieben Männer an die Wand gestellt?«
»Wir wissen nicht ganz sicher, dass es Maurer war«, sagte Bardin vorsichtig.
»Wer denn sonst? Die Leute hatten versucht, sich bei ihm einzuschleichen.«
»Der Captain war damals nicht überzeugt. Er tippte eher auf Jacobis Meute, die Maurer etwas anhängen wollte.«
»Er weiß, was ich von dieser schiefen Theorie halte. Es ging auf Maurers Konto, und das heute sieht ihm genauso ähnlich.«
»Sie scheinen Maurer ganz schön auf dem Kieker zu haben«, sagte Bardin. »Sie würden wohl Ihre Seele dafür hergeben, ihn hinter Gitter zu bekommen?«
»Nicht hinter Gitter«, sagte Conrad, und dabei wurde seine Stimme hart, »sondern auf den elektrischen Stuhl. Er ist schon eine verdammte Weile zu lang auf der Welt.«
Ein Polizist kam an die Tür und räusperte sich.
»Mr. Fedor, Sir.«
Conrad und Bardin erhoben sich.
Harrison Fedor, June Arnots Manager, kam mit kleinen schnellen Schritten über den Mosaikboden. Er war klein und zierlich, hatte harte Augen, einen großen Mund und glänzende Apfelbäckchen. Er packte Conrads Hand und schüttelte sie heftig.
»Freut mich, Sie zu sehen. Was ist geschehen? Geht's June gut?«
»Kann man nicht gerade sagen«, erwiderte Conrad. »Sie ist ermordet worden. Sie und ihr gesamtes Personal.«
Fedor schluckte, sein Gesicht verlor alle Farbe. Dann fing er sich wieder und ließ sich in einem Korbstuhl nieder.
»Soll das heißen, dass sie tot ist?«
»Allerdings.«
»Um Himmels willen!« Fedor nahm den Hut ab und fuhr sich mit den Händen durch die schütteren Locken. »Tot, sagen Sie? Zum Teufel! Ich kann's nicht glauben.«
Er starrte erst Bardin an, dann Paul. Keiner von beiden sagte etwas. Sie warteten ab.
»Ermordet«, fuhr Fedor nach einer Weile fort. »Na, das wird eine Sensation. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.«
»Was soll das heißen?«, knurrte Bardin missbilligend.
Fedor verzog das Gesicht.
»Sie haben nicht fünf endlos lange Jahre für sie gearbeitet, sonst wüssten Sie, was ich meine.« Er beugte sich zu Bardin hinüber. »Ich wäre ja blöd, wenn ich ihr auch nur eine Träne nachweinen wollte. Kann sein, dass ich mit ihr meinen Lebensunterhalt verliere, aber gleichzeitig fällt mir auch eine Last von der Seele. Dieses Weib war dabei, mich zu Tode zu schinden. Auf die Dauer hätte nur einer von uns beiden überleben können.«
»Jemand hat ihr den Kopf abgetrennt«, fuhr Conrad seelenruhig fort. »Und nicht nur das, er hat sie auch noch aufgeschlitzt. Fällt Ihnen jemand ein, dem Sie das zutrauen würden?«
Fedors Augen traten hervor.
»Jesus Maria! Den Kopf abgetrennt? Meine Güte, warum denn das?«
»Er mochte sie eben nicht. Kennen Sie jemanden, der so was fertigbrächte?«
»Kann ich nicht behaupten. Himmel! Ist die Presse schon unterrichtet?«
»Nein, und sie wird auch nichts davon erfahren, bevor ich nicht mehr in der Hand habe«, sagte Bardin grimmig. »Jetzt hören Sie mal zu. Wenn Ihnen jemand einfällt, dann rücken Sie besser mit der Sprache raus. Je eher die Angelegenheit geklärt ist, desto besser für alle, Sie inbegriffen.«
Fedor zögerte, zuckte dann mit den Schultern.
»Sie haben recht. Ralph Jordan war bei ihr derzeit Favorit. Die beiden hatten kürzlich einige üble Streitereien. Der Film, den er mit June dreht, ist sein letzter. Die Pacific hat den Vertrag mit ihm gelöst Sie hatten die Nase voll von ihm.«
»Warum?« Conrad zündete sich eine Zigarette an.
»Er ist süchtig, schon seit sechs Monaten; nach jeder Marihuana-Zigarette spielt er verrückt.«
»Wie sieht das aus?«
»Er läuft Amok.« Fedor zog ein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. »Vorletzte Woche hat er ein ganzes Studio in Brand gesetzt. Und letzte Woche auf der Schwimmparty bei Maurice Laird hat er sich ein Stück geleistet, das Laird in seinem Leben nicht vergessen wird. Jordan hatte irgendeine Säure mitgebracht, die er den Mädchen auf die Badeanzüge spritzte. Das Zeug fing Feuer, und im Nu waren die Badeanzüge verbrannt. So was hat die Welt noch nicht gesehen. Dreißig oder so unserer bestbekannten Stars rannten herum - ohne einen Fetzen an. Zugegeben, für uns Männer war das ganz lustig, und wir amüsierten uns ja auch, bis wir merkten, dass das Zeug nicht nur die Badeanzüge angriff. Ein Teil der Haut war ebenfalls verbrannt. Fünf Mädchen mussten ins Krankenhaus. Wenn Laird nicht eine ganz schöne Summe rausgerückt hätte, Jordan wäre angezeigt worden. Am nächsten Morgen zerriss Laird den Vertrag.«
Conrad und Bardin sahen sich an.
»Klingt, als sollten wir uns den Knaben mal vornehmen«, sagte Bardin.
»Sagen Sie ihm um Gottes willen nicht, dass ich Ihnen den Tip gegeben habe«, sagte Fedor nervös. »Ich hab' schon so genug um die Ohren, ohne mich auch noch mit ihm anzulegen.«
»Fällt Ihnen außer Jordan sonst noch jemand ein?«, sagte Conrad.
Fedor schüttelte den Kopf.
»Nein. Junes Freunde waren zwar meist üble Kerle, aber so nun auch wieder nicht.«
»Ist was Wahres an dem Gerücht, dass June ein Verhältnis mit Jack Maurer hatte?«
Fedor sah plötzlich zu Boden. Ein kalter, unbeteiligter Ausdruck trat in sein Gesicht.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Hat sie Maurer jemals Ihnen gegenüber erwähnt?«
»Nein.«
»Haben Sie je seinen Namen in Verbindung mit ihrem Namen gehört?«
»Nein.«
»Haben Sie ihn mit ihr gesehen?«
»Nein.«
Conrad sah zu Bardin hinüber.
»Ist das nicht phantastisch, wie ahnungslos alle sind, sowie nur Maurers Name fällt? Man könnte glauben, der Kerl existiert überhaupt nicht.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Fedor hastig. »Wenn ich etwas wüsste, würde ich es Ihnen sagen. Ich weiß aber nicht das geringste über Maurer, außer dem, was man in der Zeitung über ihn liest.«
»Immer dasselbe Lied«, sagte Conrad verächtlich. »Aber wenn ich Glück habe, finde ich eines Tages doch noch jemand, der etwas weiß und Mut genug hat, es zu sagen; eines Tages, aber Gott weiß, wann.«
»Machen Sie sich nichts draus«, sagte Bardin.
Sergeant O'Brien kam in den Innenhof herunter.
»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Lieutenant?«
Bardin nahm seinen Arm und ging mit ihm in den Salon.
»Bleiben Sie in der Nähe«, sagte Paul Conrad zu Fedor und ging ihnen nach.
»Er hat den Revolver gefunden«, sagte Bardin eine Spur munterer. Er hielt einen .45er Colt Automatic hoch, mit den eingravierten Initialen R. J.
»Wo haben Sie ihn gefunden?«, fragte er O'Brien.
»Im Gebüsch, ungefähr dreißig Meter von der Toreinfahrt. Ich wette, es ist der Revolver. Er ist leer, aber vor kurzem benutzt worden; und es ist ein .45er.«
»Lassen Sie's Heber noch mal überprüfen, Sam.«
Bardin nickte. Er gab den Revolver O'Brien.
»Nehmen Sie ihn mit aufs Revier, dazu die Geschosse, die Sie gefunden haben.« Er wandte sich an Conrad. »R. J. Ziemlich einfach, was? Sieht aus, als hätten wir einen offenen und abgeschlossenen Fall zugleich. Jordan hat uns wohl etwas mitzuteilen. Kommen Sie?«
Viertes Kapitel
Sie wussten .von Fedor, dass Ralph Jordan eine Wohnung am Roosevelt Boulevard hatte. Er hatte sie gemietet, kurz nachdem June Arnot ihre Villa in Hollywood verkauft hatte. Seine luxuriöse Wohnung in Beverly Hills hatte er zwar beibehalten, aber er wohnte nur selten dort.
Conrad bog in die Auffahrt zu Jordans Wohnblock und hielt. In der Nähe stand eine Reihe von Garagen. Ein dicker schwarzer Cadillac, halb innerhalb und halb außerhalb einer Box geparkt, zog Conrads Aufmerksamkeit auf sich.
»Da hat jemand nicht aufgepasst, wo er hinfuhr«, sagte er, als er ausstieg. Er ging hinüber zu der Box, Bardin folgte ihm.
Der eine Kotflügel des Cadillac hatte die Wand gerammt und das Holz zersplittert. Das Blech war eingedrückt und der Scheinwerfer zersplittert.
Cardin öffnete die Wagentür und sah nach der Registraturmarke.
»Dacht' ich mir's doch«, sagte er, »Jordans Wagen. Hat wohl wieder mal verrückt gespielt.«
»Wenigstens ist er zu Hause«, erwiderte Conrad und ging zum Eingang des Wohnhauses hinüber. Er trat durch die Drehtür in die Empfangshalle, Bardin dicht hinter sich.
Ein untersetzter blasser Portier in tadellosem Smoking legte zwei schmale weiße Hände auf den polierten Empfangstisch und blickte Conrad mit hochmütig emporgezogenen Augenbrauen an.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Bardin schob sich vor und zeigte ihm mit finsterer Miene seine Marke. Wenn er wollte, konnte er hart und böse aussehen, und das wollte er jetzt.
»Lieutenant Bardin, Kriminalpolizei«, sagte er mit schnarrender Stimme. »Jordan zu Hause?«
Der Portier zuckte zusammen, seine schmalen Hände zitterten.
»Wenn Sie Mr. Ralph Jordan meinen, so ist er zu Hause. Möchten Sie ihn sprechen?«
»Wann ist er heimgekommen?«
»Kurz nach acht.«
»War er betrunken?«
»Darauf habe ich nicht geachtet.« Conrad musste über das schockierte Gesicht des Portiers lächeln.
»Wann ist er fortgegangen?«
»Kurz nach sechs.«
»Er wohnt ganz oben, nicht wahr?«
»Ja.«
»Okay, wir gehen rauf. Lassen Sie die Finger vom Telefon, wir wollen ihn überraschen. Ist jemand bei ihm?«
»Soviel ich weiß, nicht.«
Bardin knurrte und marschierte dann über den dicken Teppich zum Fahrstuhl.
»Er ist also kurz nach sechs gegangen und um acht zurückgekommen. Zeit genug, nach Dead End zu fahren, die Sache abzuziehen und zurückzukommen«, sagte er, während der Aufzug sie leise und sanft hinauftrug.
»Seien Sie vorsichtig«, sagte Conrad, als sie ausstiegen. »Er kann gefährlich sein, wenn das Zeug noch wirkt.«
»Er ist nicht der erste Süchtige, mit dem ich zu tun habe, und ich wette, auch nicht der letzte.«
Bardin blieb vor der Wohnungstür stehen.
»Nanu, die Tür ist ja offen.«
Er drückte auf die Klingel. Irgendwo in der Wohnung schrillte eine Glocke. Bardin wartete einen Moment, stieß dann die Tür mit dem Fuß weit auf und sah in die Diele.
Die Tür gegenüber war nur angelehnt.
Sie warteten noch einen Moment, dann ging Bardin durch die Diele und stieß auch die andere Tür auf.
Sie blickten in einen riesigen Salon, in dem sämtliche Lichter brannten. Die weinroten Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen. Die Wände waren grau. Der Raum war mit Sesseln, Sofas, ein oder zwei Tischen und einer reichbestückten Cocktailbar ausgestattet. Ein Fernseher und ein Radio standen nebeneinander, und den Kaminsims schmückten formvollendete obszöne Glasfiguren.
Bardin sah sich tun.
»Ist das nicht toll, wie diese Kerle leben?«, sagte er wütend.
»Auch Sie werden eines Tages in den Himmel kommen«, grinste Conrad, »da kriegen Sie einen goldenen Revolver und Diamanten auf die Schulterklappen. Sieht aus, als sei niemand hier.«
»Hallo?« bellte Bardin mit einer Lautstärke, dass die Fenster klirrten.
Die Stille war beklemmend.
Sie sahen sich an.
»Was nun?«, sagte Bardin. »Glauben Sie, dass er sich irgendwo versteckt?«
»Sehen wir mal nach.«
Conrad durchquerte das Zimmer, klopfte links an eine Tür, drückte die Klinke hinunter und sah in ein riesiges Schlafzimmer. Außer einem dicken weißen Teppich war das einzige Interieur ein drei Meter breites Bett, das auf einem Podest stand und so einsam aussah wie ein Leuchtturm.
»Niemand hier«, sagte Conrad und betrat das Zimmer.
»Versuchen Sie's mal mit dem Bad«, sagte Bardin um einen Ton heftiger.
Sie gingen quer durchs Schlafzimmer zur Badezimmertür und öffneten sie. Es war das bestausgestattete Kabinett, das sie jemals gesehen hatten, aber der Luxus und der glitzernde Chrom konnten ihre Augen nicht fesseln. Ihre ganze Aufmerksamkeit wandte sich der eingebauten Badewanne zu.
Ralph Jordan lag in der trockenen Wanne; der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Er trug einen weinroten Morgenrock über einem blassblauen Schlafanzug. Die Wände der Wanne und die Vorderseite seines Morgenrockes waren dunkel verschmiert. In der rechten Hand hielt er ein altmodisches Rasiermesser. Die dünne Klinge sah aus, als sei sie verrostet.
Bardin schob Conrad zur Seite und berührte Jordans Hand.
»Toter als tot. Tiefgefroren.«
Conrad zuckte zusammen, als er den tiefen Schnitt sah, der quer über Jordans Hals verlief.
»Das war's dann«, sagte Bardin und trat zurück. »Wie ich gesagt habe: ein offener und zugleich abgeschlossener Fall. Er war dort, hat sie umgelegt, ist zurückgekommen und hat sich die Kehle durchgeschnitten. Sehr zuvorkommend. Erleichtert uns die Arbeit - mir wenigstens.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Doktor Holmes hat eine denkwürdige Nacht vor sich.«
Conrad blickte sich im Badezimmer um. An der Wand entdeckte er einen elektrischen Rasierapparat und deutete darauf.
»Komisch, dass er außerdem noch ein Rasiermesser hatte.«
Bardin stöhnte.
»Fangen Sie jetzt nur nicht an, die Sache noch mal aufzurühren. Vielleicht hat er sich die Hühneraugen damit geschnitten, manche Leute machen das.«
Er stieß die Tür am anderen Ende des Badezimmers auf und sah in ein Ankleidezimmer. Auf einem Stuhl lagen Anzug, Hemd und seidene Unterwäsche, daneben Schuhe und Strümpfe.
Conrad ging hinein und blieb plötzlich stehen.
»Da ist was für Sie, Sam«, sagte er und deutete auf einen blutbefleckten Gegenstand am Boden.
Bardin trat neben ihn.
»Der Blitz soll mich treffen! Eine Machete!« Bardin kniete neben dem rasierklingenscharfen Messer nieder. »Wetten, dass das die Mordwaffe von Dead End ist?«
»Sie finden wohl auch nichts dabei, dass jemand wie Jordan ein südamerikanisches Dschungelmesser besitzt?«
Bardin ging in die Hocke und grinste. Er sah fast aus wie ein Wolf.
»Vielleicht hat er es als Souvenir aufbewahrt. Er war wahrscheinlich mal in Südamerika oder in Westindien, ganz sicher in Westindien. Kein Zweifel, das hier ist die Mordwaffe, und ich wette, dass das Blut da June Arnot gehört.«
Conrad untersuchte die Kleider auf dem Stuhl.
»Kein Blut dran. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man jemand derart massakrieren kann, ohne sich dabei mit Blut zu besudeln.«
»Jetzt reicht's aber«, sagte Bardin ungeduldig. Er stand auf und redete sich. »Machen Sie sich doch nicht verrückt. Vielleicht hatte er einen Mantel an oder sonst was. Ist doch egal. Ich bin jedenfalls zufrieden. Sie nicht?«
»Weiß nicht«, sagte Conrad nachdenklich. »Die Sache ist zu glatt; sieht aus wie für uns in Szene gesetzt. Der Revolver mit Jordans Initialen, der demolierte Wagen, Jordans Selbstmord, und jetzt auch noch die Mordwaffe. Alles fein säuberlich zurechtgelegt und zur Besichtigung freigegeben. Das stinkt einfach.«
»Es stinkt Ihnen, weil Sie sich mit aller Gewalt zermürben wollen«, sagte Bardin mit einem Schulterzucken. »Lassen Sie das doch. Die Sache überzeugt mich, sie wird den Captain überzeugen, und sie würde auch Sie überzeugen, wenn Sie nicht so wild drauf wären, Maurer auf den Stuhl zu bringen. Daran liegt's doch, stimmt's?«
Conrad zupfte sich nachdenklich an der Nase.
»Kann sein. Na, hier ist sowieso nichts mehr für mich zu holen. Kann ich Sie am Revier absetzen?«
»Ich rufe von hier aus an. Die Jungs sollen noch mal die Wohnung durchsuchen. Nachher will ich nach Dead End zurück und die Presse unterrichten. Fahren Sie heim?«
Conrad nickte.
»Was sonst?«
»Sie sind zu beneiden. Schon fertig mit der Arbeit, ein hübsches Haus und ein warmer Empfang. Wie geht es übrigens Ihrer Frau?«
»Danke, gut«, sagte Conrad und ärgerte sich darüber, dass seine Stimme dabei so flach und gleichgültig klang.
Fünftes Kapitel
Conrad fuhr so schnell wie nur möglich. Er benutzte die dunkleren Seitenstraßen, um dem Theaterverkehr zu entgehen. Dabei überlegte er, ob Janey wohl ihre Drohung wahr gemacht und ausgegangen, und wenn ja, ob sie schon zurück war. Gerade jetzt wollte er eigentlich gar nicht an sie denken, aber wenn er nach Hause fuhr, schlich sie sich immer in seine Gedanken ein, ob er wollte oder nicht.
Er fuhr langsamer, um sich eine Zigarette anzuzünden. Als er das Streichholz durch das offene Fenster hinauswarf, sah er zufällig das Namensschild der Straße: Glendale Avenue.
Als er fast am Ende der Straße angekommen war, fiel ihm ein, dass Frances Coleman, das Mädchen, das June Arnot um sieben Uhr besucht hatte, als Adresse Glendale Avenue 145 angegeben hatte. Er bremste scharf.
Einen Augenblick lang saß er still und starrte durch die Windschutzscheibe auf die dunkle leere Straße. Doktor Holmes hatte festgestellt, dass June Arnot ungefähr um sieben Uhr gestorben war. Ob dieses Mädchen wohl etwas gesehen hatte?
Er stieg aus und sah nach dem ersten besten Nummernschild. Er war bereits bei Nummer 123.
Nummer 145 war ein großes schäbiges Haus aus braunem Stein. In einigen Fenstern brannte noch Licht.
Er ging die steilen Steinstufen zur Eingangstür hinauf und sah durch die Scheiben in einen dämmrigen Hausflur mit einer Treppe, die sich in der Dunkelheit verlor.
Er drehte den Türknopf und drückte die Tür auf. Ein scharfer Geruch von gebratenen Zwiebeln, Katzen und Müll schlug ihm entgegen. An der Wand hing eine ganze Batterie von Briefkästen. Der dritte gehörte Miss Coleman, sie musste also im dritten Stock wohnen.
Conrad ging die Treppe hinauf, vorbei an schmutzigen Türen, hinter denen Radios plärrten.
Dort, wo die Treppe das dritte Stockwerk erreichte, war Miss Colemans Tür. Eine mit Reißnägeln festgemachte saubere weiße Karte trug ihren Namen.
Als er gerade anklopfen wollte, stellte er fest, dass die Tür nur angelehnt war: Er klopfte, wartete eine Ewigkeit und trat dann zurück. Seine Augen bekamen einen lauernden Ausdruck.
Sollte er wieder eine Leiche hinter halbgeschlossenen Türen finden?
Heute Nacht hatte er schon sechs Leichen gesehen, jede auf ihre Weise schrecklich. Er fühlte, wie sich seine Nerven anspannten und die Haare in seinem Nacken sich aufrichteten.
Er zog eine Zigarette heraus. Als er sie ansteckte, merkte er, dass seine Hände ganz ruhig waren, und er musste plötzlich grinsen.
Er beugte sich vor, stieß die Tür auf und spähte in die Dunkelheit.
»Jemand da?«, fragte er laut.
Niemand antwortete. Tiefes Schweigen schlug ihm entgegen und der schwache Duff von kalifornischem Mohn.