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Der weltberühmte Autor Alexandre Dumas hat in seinen Feuilletons für eine französische Tageszeitung ein lebensvolles Porträt der Stadt Frankfurt zur Zeit ihrer Annexion durch die Preußen geliefert. »Der Schleier im Main«, vordergründig ein Abenteuer- und Liebesroman, bietet Schlachtengemälde und spannende Degenduelle ebenso wie romantische Liebeshändel und unvergängliche Treueschwüre. Kenntnisreich und mit Blick für die Details versteht es Dumas, städtische Szenen und das Leben der Frankfurter Bürgerinnen und Bürger nachzuzeichnen. Vor historischer Frankfurter Kulisse siedelt er die Gespräche unter Freunden, das Geflüster der Liebenden und die Intrigen gegenüber Feinden an. »Der Schleier im Main« ist eine Hommage an das Frankfurt des 19. Jahrhunderts und zugleich ein typischer Dumas- Roman: dramatisch, zupackend und mitreißend bis zum Schluss! »Eine wirkliche Entdeckung und gelungene Überraschung, nicht nur zum weiteren Ruhm der Stadt Frankfurt am Main, sondern auch zum Vergnügen des Lesers.« Andreas Maier, Autor
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Seitenzahl: 427
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Alexandre Dumas
Der Schleier im Main
Ein Frankfurt-Roman von 1866
Nacherzählt und mit einem Nachwort versehen von Clemens Bachmann
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2022 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz/E-Book: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Bruno Dorn, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: Historisches Museum Frankfurt am Main
Printausgabe ISBN 978-3-95542-445-9
E-Book ISBN 978-3-95542-452-7
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www.societaets-verlag.de
Vorwort zur Englischen Ausgabe »The Prussian Terror« 5
Berlin 13
Das Haus Hohenzollern 20
Graf von Bismarck 30
Bismarck entkommt einer ausweglosen Lage 36
Ein Sportsmann und ein Spaniel 49
Bendict Turpin 57
Kaulbachs Atelier 69
Die Herausforderung 77
Die zwei Duelle 83
Was in des Königs Hand geschrieben stand 94
Baron Friedrich von Bülow 106
Helene 116
Graf Karl von Freyberg 126
Die Großmutter 136
Frankfurt am Main 144
Der Truppenabzug 152
Österreicher und Preußen 161
Die Kriegserklärung 169
Die Schlacht von Langensalza 177
Benedicts Voraussagen bewahrheiten sich 186
Was in Frankfurt während der Schlacht von Langensalza und Sadowa geschah 191
Die kostenlose Mahlzeit 199
Die Schlacht von Aschaffenburg 206
Der Testamentsvollstrecker 215
Frisk 223
Der Verwundete 231
Die Preußen in Frankfurt 239
General von Manteuffels Drohung 250
General Sturm 256
Der Sturm bricht los 265
Der Bürgermeister 273
Königin Augusta 279
Die beiden Trauerzüge 287
Die Bluttransfusion 296
Die Trauung in extremis 303
»Warten Sie’s ab« 315
Ergebnis 323
Epilog 327
Nachwort 337
Der Autor 337
Der Feind hastete unter unserem Fenster vorbei und verschwand gleich wieder aus unserem Blickfeld. Augenblicke später vernahmen wir ein Tosen wie ein herannahender Sturm, und schon bebte unser Haus im Galopp der Pferde. Am Ende der Straße hatte unsere Kavallerie den Feind gestellt, welcher in Unkenntnis der schwachen Kräfte der Unseren gestreckten Galopps retirierte, hitzig verfolgt von unseren Husaren. In einem riesigen Durcheinander rauschten Freund und Feind wie ein Wirbelsturm aus Pulverdampf, Staub und Getöse vor unserem Hause vorbei. Unsere Soldaten, Säbel in der einen Hand und Pistole in der anderen, trieben feuernd und stechend den zurückweichenden Feind vor sich her. Die feindlichen Soldaten erwiderten das Feuer in hinhaltender Flucht. Zwei oder drei Kugeln schlugen in unser Haus ein, eine Kugel zerschmetterte den Holm des Fensters, durch dessen halbgeschlossenen Laden ich alles beobachtete. Das Schauspiel war erregend und erschreckend zugleich. Hart bedrängt von den Unsrigen machten die Feinde plötzlich kehrt. Nun entwickelte sich unter unseren Augen nur zwanzig Schritte von uns ein Gefecht Mann gegen Mann, so nah wie die Akrobaten von der ersten Reihe aus in einer Zirkusarena zu sehen sind, nur dass es hier blutiger Ernst war, Leben und Tod. Ich sah fünf, sechs feindliche Soldaten niedersinken, aber auch zwei, drei unserer Männer. Nach zehnminütigem Kampfe schien der Feind niedergerungen, der aufs Neue sich auf die Schnelligkeit ihrer Pferde verlassend das Weite suchte. Eine erneute Verfolgungsjagd hob an. Der Wirbelwind nahm seine Bahn wieder auf und verschwand uns aus den Augen, dabei drei, vier weitere Gefallene zurücklassend, die auf dem Straßenpflaster verstreut herumlagen. Dann hörten wir Trommeln zum Angriff wirbeln. Das war unsere Infanterie, die zum Sturm vorging, um sich ihren Anteil an dem Gefecht zu holen. Gut einhundert Mann mit aufgepflanzten Bajonett marschierten in beschleunigter Kadenz vor und verschwanden gleich wieder hinter der Biegung der Straße. Fünf Minuten später vernahmen wir aus einiger Entfernung heftiges Pelotonfeuer, dann erschienen unsere Husaren wieder, diesmal in heilloser rückgängiger Bewegung verfolgt von einer gut sechshundert Mann starken Kavallerie des Feindes. Nun waren die Verfolger die Verfolgten. Dabei war es unmöglich, im Zentrum des zweiten Sturmes irgendetwas zu erkennen oder zu unterscheiden – außer dass, nachdem er vorbeigezogen, drei, vier Leichen mehr auf der Straße herumlagen.«
Der Junge, der diese Begebenheit beobachtet, an die er sich viele Jahre später in seinen Memoiren erinnert, lebt mit seiner Mutter in Villers-Cotterêts, an der Straße nach Soissons im Aisne-Department, dem Brennpunkt einer heftigen Schlacht, die, während ich diese Zeilen niederschreibe, zwischen unserem kleinen Expeditionskorps und unseren französischen Alliierten auf der einen und den Deutschen auf der anderen Seite gerade stattfindet. Wir schreiben das Jahr 1814. Napoleon hatte sich aus Moskau zurückziehen müssen und die Schlacht bei Leipzig verloren, die Allianz der Russen, Preußen und Österreicher drängt immer weiter in Frankreich hinein. Das Vertrauen in den guten Stern Napoleons ist gänzlich geschwunden. Mit jeder Stunde rückt das Donnern der Kanonen näher an Paris heran. Wenige Tage später werden die Alliierten die Hauptstadt einnehmen, Napoleon das Abdankungsdekret unterschreiben lassen und ihn zu gezwungenem Aufenthalt nach Elba schicken.
Der Name des Jungen ist Alexandre Dumas. Seine Mutter hat die Möbel, Bettzeug und Hausrat im Keller in Sicherheit gebracht und darüber einen Dielenboden verlegen lassen, um Plünderer auf der Suche nach Beute zu täuschen, überdies hat sie ihr weniges Bargeld in einer kleinen Truhe im Garten vergraben. Nicht weniger als die Preußen und Russen fürchtet Madame Dumas die kaiserlich-französische Grande Armée. Wenn ihre Landsmänner, die Franzosen, zurückgeschlagen würden, könnten sie und ihr Sohn bei den Kämpfen ums Leben kommen, wenn aber Napoleon siegt, wird er ihren Sohn zu den Soldaten holen. Dabei ist der kleine Alexandre erst zwölf Jahre alt und viel zu jung für die Konskription, die erst ab der Altersklasse der Sechzehnjährigen beginnt.
Der Vater des Jungen, General Alexandre Dumas, bei dem Ersten Konsul aufgrund seiner republikanischen Überzeugungen in Ungnade gefallen und von jenem verbannt und ruiniert, ist längst tot, und die Witwe mit ihrem Sohn vom Kaiser vergessen und der Verarmung anheim gegeben. Dessen ungeachtet ist Madame Dumas bei den Nachbarn nur die Bonapartistin, nur weil ihr Mann einst unter Bonaparte gekämpft hatte, und als Bonapartist zu gelten, kommt in jenen Tagen einer Anschuldigung gleich, seit Ludwigs XVIII. Thronbesteigung immer wahrscheinlicher wird.
Der Feind, den der Junge in den Straßen kämpfen sieht, das sind die Preußen – Preußen, die seine Mutter so lange herbeisehnt hat, dass sie für diese Gelegenheit und zur Beschwichtigung der Soldaten große Mengen von Hammelragout kocht, dreimal insgesamt. Obwohl der Junge bei der Zubereitung des Gerichts mithilft und sich wenig Gedanken über die drohende Gefahr macht, solange sie nicht gegenwärtig ist, wird er den Einfall der Preußen nie vergessen, ebenso wenig die gefallenen Soldaten vor der Haustüre. Oft spricht er davon, dass die Preußen eines Tages ins Aisne-Tal zurückkommen würden!
Im Jahre 1848, verscherzt Dumas, der Kandidat der Deputiertenkammer, sich des Wohlwollens vieler Wähler, als er in einer Rede im Hinblick auf die Staaten Europas in seherischem Vorausblick warnt: »Geographisch gesehen hat Preußen die Gestalt einer Schlange, und wie eine Schlange scheint es dauernd zu schlafen und ist doch bereit, alles um sich herum zu verschlingen – Dänemark, Holland und Belgien; und wenn es die alle verschlungen hat, werden Sie sehen, dass Österreich an der Reihe sein wird und vielleicht auch, leider Gottes, Frankreich!«
Im Juni 1866 schreckt Preußens rascher Feldzug gegen Österreich Europa auf. Jeder, der Augen hat zu sehen, kann sich die Folgen der preußischen Vorherrschaft in Deutschland ausrechnen, und Dumas ist einer dieser Franzosen, die von düsteren Vorahnungen über das Schicksal des Vaterlandes ergriffen sind. Besonders betroffen scheint ihn das barbarische Vorgehen der Preußen in der Freien Stadt Frankfurt gemacht zu haben, worüber die Zeitungen tagtäglich berichten. (Dumas kennt die Stadt, im Jahre 1838 hatte ihn eine Deutschlandreise zusammen mit seinem Kompagnon Gérard de Nerval, dem Autor des Buches »Les Filles de Feu« bis Frankfurt geführt.) Unfähig, in Paris zu Hause untätig herumzusitzen, während sich da die Ereignisse überschlagen, fährt er nach Frankfurt, um sich selbst ein Bild zu machen. Vor hier aus reist er nach Gotha, Hannover und Berlin, sucht die Schlachtfelder von Langensalza und Sadowa auf und kehrt nach Paris zurück mit einem Notizbuch vollgeschrieben mit wertvollen Details und die Taschen voller unveröffentlichter Dokumente.
Nun kommt Monsieur Hollander, der Herausgeber des politischen Journals Le Situation, auf den Autor der »Drei Musketiere«, der »Königin Margot« und so vieler anderer berühmter historischer Romane zu, um ihn um einen Roman zu bitten, der »La Terreur Prusienne« heißen soll. Dumas, der sich mit Hollander einig ist, dass nichts unversucht gelassen werden solle, Frankreich aufzurütteln, das unter dem Zweiten Reich im raschen Zerfall begriffen war, und auf die von Preußen ausgehenden Schrecken hinzuweisen, willigt frohen Herzens ein. Das ist die Entstehungsgeschichte dieses Buches, in dem der Autor auf jeder Seite den Warnungsruf zu erheben scheint: »Wacht auf! Gefahr ist in Verzuge!«
Um die heutigen Leser, die, wie mir scheint, nur noch wenig über den Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 wissen, die Ausgangslage des Romans verständlich zu machen, wollen wir kurz zurückblicken auf die wichtigen Ereignisse, welche den Verleger und den Romancier umtreiben.
Nach dem Tode des Königs von Dänemark 1863 gärt es in den Herzogtümern von Schleswig und Holstein sowie in Luxembourg. Obwohl durch den Vertrag von London (1852) die Nachfolge von Schleswig und Holstein durch die Dänische Krone geklärt ist, sprechen die Signatarstaaten Österreich und Preußen dem neuen Dänenkönig das Recht auf die norddeutschen Herzogtümer ab und reklamieren diese als Teil Deutschlands. Im Februar 1864 überschreiten österreichische und preußische Truppen die dänische Grenze. Die Dänen leisten tapferen Widerstand, müssen sich aber geschlagen geben, und die Herzogtümer fallen letztendlich an die beiden Siegermächte.
Dann stellt sich Preußen, das schon länger den Machtgewinn Österreichs mit Argwohn beobachtet und einen Krieg mit dem Rivalen früher oder später für unvermeidlich hält, gegen die österreichische Absicht, die Herzogtümer zu einem eigenen Staat unter dem Herzog von Augustenburg zu formen. Österreich bringt die Angelegenheit vor den Frankfurter Bundestag, der einen Beschluss im Sinne des Herzogs fasst. Preußens erster Minister Bismarck aber, dem die vollständige Kontrolle Norddeutschlands angelegen ist, verlangt den Anschluss der beiden Herzogtümer an das preußische Staatsgebiete, und damit nicht genug, es sollen auch ganz Hannover, Hessen Kassel, Hessen Nassau und die Stadt Frankfurt in Preußen aufgehen. Beide deutschen Mächte, Österreich und Preußen, bereiten sich zum Waffengange, Preußen geht mit Victor Emanuel eine gegen Österreich gerichtete Allianz ein. Am 7. Juni dringen preußische Truppen in Holstein ein.
In der maßgeblichen Entscheidung um die Mobilmachung der Bundesarmee am 14. Juni stimmt Hannover im Bundestag mit Österreich, und erklärt damit unwiderruflich, auf wessen Seite in der drohenden Auseinandersetzung es stehen wird. Preußen stellt sofort Hannover ein Ultimatum mit der Bedingung, strikte Neutralität zu wahren und seine Grundzüge der Neuordnung des Bundes zu akzeptieren. Hannover weist diese Forderungen sogleich zurück, prompt überschreiten preußische Truppen die hannoverschen Grenzen. Der Ausgang dieses Feldzuges ist bekannt, die Schlachten von Langensalza gegen die Hannoverische Armee und Aschaffenburg gegen die Bundesarmee gehen siegreich für die Preußen aus. Die Österreicher erleiden eine katastrophale Niederlage in der blutigen Schlacht von Sadowa (oder Königsgrätz), und wieder ist Bismarck seiner Vorstellung von einem einigen Deutschen unter Preußen ein Stück nähergekommen.
Der nächste Akt der Preußen nach Sadowa ist die Einnahme der »Freien« Stadt Frankfurt, die auf bestehende Verträge sich verlassend keinen Versuch ihrer Verteidigung unternommen hat, und die niederträchtige Behandlung seiner Einwohner. Es sind genau diese »terroristischen Akte«, an die Hollander und Dumas in erster Linie denken, von der sie sich erhoffen, die romanhafte Verdichtung zu einer volkstümlichen Liebesgeschichte werde dazu beitragen, die Franzosen wachzurütteln.
Verschiedentlich ist behauptet worden, dass vor dem deutsch-französischen Krieg von 1870 deutsche Soldaten sich zu keinerlei Gräueltaten hätten hinreißen lassen. Diese Erzählung beweist das Gegenteil, wobei es nicht wenig verwundert, dass es außer Fachbücher kein vergleichbares Werk in englischer Sprache gibt, das den Abgrund an dem »preußischen Schreckens« zum Thema hat, dessen Ausmaß wir nunmehr zu begreifen scheinen. Schon aus dem Grunde verdient Dumas, Buch Beachtung, um nicht zu sprechen von seinen erzählerischen Meriten, als einen maßgeblichen Beitrag zur historischen Orientierung und zum Verständnis der Jetztzeit (1915, C.B.). Abgesehen davon ist die Geschichte so schwungvoll und interessant erzählt, dass es überrascht, dass nach so langer Zeit – es sind inzwischen siebenundvierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung vergangen – ich der Erste sein soll, der dem britischen Publikum eine englischsprachige Fassung vorlegt. (Hier sei angemerkt, dass Monsieur Hollander, der unbedingt möglichst viele Ausgaben seiner Zeitung im Glanze des berühmten Namens Dumas scheinen lassen will, sich nicht weniger als sechzig Feuilletons ausbedungen hat. Dumas liefert das Gewünschte, sieht sich freilich gezwungen, zur Streckung ein paar Jagdgeschichten einzufügen, die er seinem Helden, Benedict Turpin, in den Mund legt. Diese Geschichten sind in der vorliegenden Fassung ausgelassen.)
Dumas lebt in Paris, als im Sommer Preußen der Krieg erklärt wird, ist aber von so schlechter Gesundheit, dass sein Sohn, der Autor der »Kameliendame«, ihn nicht in der belagerten Stadt zurücklassen will. Im Herbst nimmt er den Vater zu sich auf sein Landhaus in Puys bei Dieppe. Dort stirbt Dumas der Ältere am 5. Dezember 1870.
Er hat nie erfahren, Nachrichten enthält man ihm wohlweislich vor, dass sich seine schlimmste Befürchtung am Ende seiner Erdentage doch noch bewahrheitet hat. Tatsächlich besetzt ein Detachement der preußischen Armee Dieppe, als er den letzten Atemzug tut. Und während die deutschen Soldaten beim klingenden Spiel ihrer Regimentskapellen durch die Straßen marschieren, ängstlich beobachtet von den Einwohnern, die sich hinter verschlossenen Türen und Fensterläden verbergen, verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in der Stadt, dass Frankreich seinen großen Sohn, seinen typischsten Romancier überhaupt verloren hat. Der Sarg mit den sterblichen Überresten von Alexandre Dumas wird zum Friedhof nach Neuville, das bereits unter deutscher Besatzung steht, überführt und im Beisein einer preußischen Streife beerdigt. Im Jahre 1872 wird der Leichnam exhumiert und im Familiengrab in Villers-Cotterêts beigesetzt. Ganz in der Nähe, wo einst der zwölfjährige Alexandre den Donner der preußischen Geschütze gehört hatte, ringen jetzt drei Nationen im schweren Kampfe.
Robert Singleton Garnett 1915
Berlin erweckt den Anschein, als habe der Architekt die Planung der Hauptstadt zwar mit aller Sorgfalt und Absicht liniengetreu und regelgemäß geplant, ihre Gestaltung aber doch so langweilig und wenig malerisch ausgeführt, wie es seine Genialität zuließ. Blicken wir von der Domkirche, dem höchsten begehbaren Punkt herab, erinnert uns der Ort an ein riesiges Schachbrett, worauf das königliche Palais, das Museum, die Kathedrale und andere wichtige Gebäude gleichsam als König, Dame und Springer aufgestellt sind. Aber im Gegensatz zu Paris, das von der durchfließenden Seine zusammengehalten wird, ist Berlin durch die Spree geteilt; während dort der Fluss eine Insel umfließt, verzweigt er sich hier wie die Henkel einer Vase rechts und links in zwei künstliche Kanäle, um so mitten in der Stadt zwei unterschiedlich große Inseln zu bilden. Die größere Insel hat das Privileg die eigentliche Hauptstadt zu sein; auf ihr sind das Palais des Königs, die Domkirche, Museen, die Börse und viele andere öffentliche Gebäude gelegen, sowie eine stattliche Anzahl von Häusern, die man in Turin, dem Berlin Italiens, sicherlich als Paläste bezeichnen würde; die andere Insel enthält nichts an Bemerkenswertem, welches den Vergleich mit der Pariser Rue Saint Jacques und dem Viertel Saint-André-des-Arts aushielte.
Das aristokratische, das elegante Berlin ist zur Rechten und Linken der Friedrichstraße beheimatet. Es erstreckt sich vom Belle-Alliance-Platz, wo der nach Berlin kommende Fremde die Stadt betritt, bis zum Oranienburger Platz, wo er sie verlässt, und kreuzt ziemlich genau in ihrer Mitte die Straße Unter den Linden. Diese berühmte Promenade führt durch jenes vornehme Viertel vom Königsschloss bis zum Zeughausplatz. Diese Straße verdankt ihren Namen zwei Reihen mächtiger Linden, die entlang eines reizenden Spazierweges zu beiden Seiten des breiten Fuhrweges stehen. Beide Straßenseiten sind gesäumt von Cafés und Restaurants, die von ihren zahlreichen Gästen besonders in den Sommermonaten fast bis zur öffentlichen Fuhrstraße in Besitz genommen sind, was dann ein bemerkenswertes Ausmaß lebhaften Treibens annimmt. Keiner übertreibt jedoch und stört durch lautes Reden oder Geschrei, denn gewöhnlich zieht es der Preuße vor, sich sub rosa zu amüsieren und gibt sich nur hinter verschlossenen Türen ausgelassen.
Am 7. Juni 1866 jedoch, gegen sechs Uhr abends, an einem Tag, wie ihn so schön nur Preußen hervorbringen kann, bot sich auf der Straße Unter den Linden eine Szenerie höchst ungewöhnlichen Tumultes. Ursache der Aufgeregtheit war vor allem die wachsende Feindseligkeit, die Preußen im Zusammenhang mit der Holsteinkrise gegenüber Österreich zeigte und in deren Verlaufe es – wegen der Fortführung der Wahl des Herzogs von Augustenburg – eine Verweigerungshaltung eingenommen hatte. In diesem Zusammenhang gab es weiterhin erregte Debatten über die allgemeine Aufrüstung aller Seiten, sowie Berichte über die unmittelbar bevorstehende Mobilmachung der Landwehr, über die Auflösung des Bundestages und letztendlich ein Gerücht über ein Telegramm aus Frankreich, das Drohungen gegenüber Preußen beinhaltete und von dem man behauptete, es stamme von Louis Napoleon selbst.
Um die Abneigung zu verstehen, die man hierzulande gegenüber den Franzosen hegt, empfiehlt sich ein Besuch Preußens. Dem Besucher wird allenthalben eine Art von Monomanie auffallen, die sogar bis in die gebildeten Kreise reicht: Kein Minister erlangt Popularität, es sei denn, er bediente sich einer kriegerischen Rhetorik; kein Redner findet Gehör, es sei denn, er streute aus seinem Zitatenschatz das eine oder andere brillante Epigramm oder eine geistreiche Andeutung anti-französischen Inhalts ein. Noch weniger würde man jemandem den Titel eines Dichters zuerkennen, wenn sich der Anwärter nicht mit der Autorenschaft einiger populärer Reime mit Titeln wie »Der Rhein«, »Leipzig« oder »Waterloo« qualifizieren würde.
Woher kommt diese Aversion gegen Frankreich – ein tiefes, hartnäckiges und unausrottbares Gefühl der Abneigung, das Boden und Luft durchdrungen zu haben scheint? Wir können es nur vermuten. Sollte es aus einer Zeit stammen, als die Gallische Legion, die Elitetruppe der Römischen Armee, als erste in Germanien eindrang? Diesen Gedanken weiter nachhängend kämen wir zur Schlacht von Rosbach als einem möglichen Grund; in diesem Falle müsste der deutsche Nationalcharakter noch um einiges bösartiger entwickelt sein. Weiterhin, wäre der Hass, den die Schüler Friedrichs des Großen seit den Tagen des berühmten Manifests des Herzogs von Braunschweig an den Tag legen, möglicherweise aus einem militärischen Unterlegenheitsgefühl erklärbar? Jener drohte seinerzeit, in Paris nicht einen Stein auf dem anderen zu lassen! Die Schlacht von Valmy vertrieb anno 1792 die Preußen aus Frankreich; und eine andere, die von Jena, öffnete uns im Jahre 1808 die Tore nach Berlin. Immerhin können uns unsere Feinde – nein, unsere Rivalen – auf diese Jahreszahlen hin die Namen von Leipzig und Waterloo entgegenhalten. Was jedoch Leipzig betrifft, können sie für sich höchstens ein Viertel beanspruchen, denn man muss sich vor Augen halten, dass ihre Armee mit der Russlands, Österreichs und Schwedens alliiert war – nicht zu reden von dem Beitrag Sachsens, der in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt zu werden verdient. Auch kann man nicht mehr als eine Hälfte Waterloos dem preußischen Verdienst anrechnen, denn Napoleon, der bis zu deren Anmarsch überlegen war, hatte seine Armeen im Verlaufe eines sechsstündigen Gefechts mit den Engländern längst erschöpft.
Vergegenwärtigt man sich dieser Erbfeindschaft, zu der sich hier tatsächlich jeder offen bekennt, dann konnte das Ausmaß der öffentlichen Gefühlsäußerungen kaum überraschen, welches ein weit verbreitetes Gerücht ausgelöst hatte, das besagte, Frankreich habe den Fehdehandschuh hingeworfen und beteilige sich an dem nahe bevorstehenden Konflikt. Viele jedoch bezweifelten die Neuigkeiten, weil darüber in der Morgenausgabe des »Staatsanzeigers« nicht ein einziges Wort zu lesen stand.
In Berlin gibt es gutgläubige Anhänger der Regierung, die der Meinung waren, die Regierung lüge nie und hielte in elterlicher Fürsorge niemals Nachrichten zurück, die den teuren Untertanen von Interesse seien. Vergleichbar dem »Moniteur« in Paris findet sich dieses Publikum hier in der Leserschaft des »Tagestelegraphen«, und beide Leserschaften fühlen sich geeint in der Gewissheit, ihr spezielles Organ veröffentliche immer, wovon es Kenntnis habe; genauso verhält es sich mit den Lesern der regierungsnahen und aristokratischen »Kreuzzeitung«, die sich gleichfalls weigern, irgend etwas Glauben zu schenken, wenn es nicht in ihren gut informierten Kolumnen geschrieben steht. Diesen Tumult also übertönten die Titel der obengenannten Tageszeitungen oder Wochenausgaben sowie Dutzende anderer, die von den Zeitungsjungen von allen Seiten in die erregte Masse hineingerufen wurden; da setzte sich plötzlich in dem Getöse eine schrille Stimme erfolgreich durch: »Französische Neuigkeiten! Französische Neuigkeiten! Telegraphische Nachrichten! Ein Kreuzer!«
Die Auswirkung auf die Massen kann man sich vorstellen. Trotz der sprichwörtlichen preußischen Sparsamkeit langte jede Hand nach der Geldbörse, kramte einen Kreuzer hervor und gab ihn aus im Tausch gegen ein rechteckiges Stück Papier, das die lang erwarteten Nachrichten enthielt. Und in der Tat, die Bedeutung des Inhalts entschädigte den vorausgegangenen Ärger über das lange Anstehen. Der Bericht lautete wie folgt:
»6. Juni 1866. Seine Majestät der Kaiser Napoleon III. wurde auf dem Weg nach Auxerre, wo er an der Provinzialversammlung teilnehmen wird, am dortigen Stadttor von dem Bürgermeister begrüßt, der eine Grußbotschaft überbrachte, in der er seine und der Bürgerschaft Reverenz übermittelte. Seine Majestät antwortete in nachfolgenden Worten, die man unseren Landsleuten nicht erklären muss. Ihre Bedeutung sollte jedem genügend klar sein.
’Ich sehe mit großer Freude, dass sich Auxerre immer noch des ersten Kaiserreichs erinnert. Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass ich für meinen Teil die Gefühle der Zuneigung geerbt habe, die das Oberhaupt unserer Familie gegenüber den patriotischen und tatkräftigen Gemeinschaften empfunden hatte, welche ihn gleichsam in Glück und Unglück unterstützt hatten. Ich selbst stehe in der Schuld der Dankbarkeit gegenüber dem Department Yonne, das im Jahre 1848 als eines der ersten sich für mich entschied. Es wusste, was schon dem größeren Teil der Nation bewusst war, dass seine Interessen und die meinen dieselben waren und dass wir beide diese Verträge von 1815 gleichermaßen ablehnen, die heute als Mittel der Kontrolle unserer auswärtigen Politik benutzt werden.«
Hier brach der Bericht ab, offensichtlich dachte sein Verfasser nicht daran, die Fortsetzung der kaiserlichen Ausführung auch weiterhin als berichtenswert zu erachten. Sicherlich, auch ohne diesen Rest war die Bedeutung genügend klar. Trotzdem verging eine geraume Zeit, bis die Bedeutung der Mitteilung den Lesern aufging und den Wutausbruch weckte, der natürlicherweise folgen musste.
Als sie schließlich zu verstehen und zu begreifen begannen, dass die Hand des Neffen des Großen Napoleon einen Schatten auf ihren geliebten Rhein warf, da hallten Drohungen und Hurras von dem einen bis zum anderen Ende der Straße Unter den Linden. Ein solcher Entrüstungssturm erhob sich, dass man meinen musste – um Schillers lebendige Ausdrucksweise zu bemühen – der ungeheure Ring, der das ganze Himmelsgewölbe umfasst, müsse in Stücke springen. Man stieß laute Verwünschungen aus, brüllte Flüche und schüttelte die Fäuste gegen den Beleidiger Frankreich. Ein Student aus Göttingen kletterte auf einen Tisch und begann mit großer Eindringlichkeit Rückerts grimmiges Gedicht »Die Rückkehr« zu rezitieren, in dem sich ein preußischer Soldat, durch einen Friedensbeschluss nach Hause entlassen, im Folgenden wegen der mannigfaltigen Kriegstaten bitter beklagt, die zu vollbringen er nun gehindert sei. Es ist nicht nötig zu erwähnen, dass dieser Vortrag mit enthusiastischem Beifall bedacht wurde. Zwischenrufe, wie »Bravo!« und »Hurra!«, mischten sich unter den Beifallschor »Lang lebe König Wilhelm!« »Hurra für Preußen!« »Nieder mit Frankreich!«, und alles zusammen bildete eine Begleitmusik, die zweifellos im nächsten Stücke sich fortzusetzen versprach, denn der Vortragende kündigte an, als nächstes ein Gedicht von Körner vorzutragen. Die Ansage wurde mit lautem Beifall aufgenommen.
Es war jedoch durchaus nicht das einzige Überdruckventil, an dem die Leidenschaft der aufgeregten Menge – nun an ihrem Siedepunkt – ihren Auslass suchte und fand. Etwas weiter unterhalb, an der Ecke Friedrichstraße, geschah es, dass ein bekannter Sänger gerade zufällig von einer Gesangsprobe zurückkehrte. Jemand hatte ihn erkannt und mit lauter Stimme »Der Deutsche Rhein! Der Deutsche Rhein! Heinrich! Sing Der Deutsche Rhein!« gerufen. Sogleich erkannte die ganze Menschenmenge den Künstler und umringte ihn. Er ließ sich nicht zweimal bitten, mit einer schönen Stimme gesegnet und mit dem geforderten Stück vertraut, stellte er seine Zuhörer zufrieden; da er besonders eindringlich sang, übertraf die überwältigende Aufnahme seines Liedes bei weitem die des Gedichts »Die Rückkehr«.
Auf ein Mal hörte man über allem wilden Applaus ein lautes und wütendes Geräusch – dem Zischen entweichenden Dampfes aus der Drosselklappe einer Dampfmaschine ähnlich – mit einer Wirkung wie ein Schlag in des Sängers Gesicht. Eine Bombe, die in der Menge explodiert wäre, hätte kaum wirkungsvoller sein können; dem Zischen antwortete ein dumpfes Grollen der Art, wie es einem Gewittersturm vorauseilt und jedermanns Auge wandte sich der Richtung zu, von wo es sich ausbreitete.
An einem der Tische stand ein gutaussehender junger Mann, offensichtlich um die 25 Jahre, helle Haare, helle Haut, ziemlich schmächtig gebaut; seine Barttracht und seine Kleidung erinnerten irgendwie an ein Portrait van Dycks. Er hatte gerade eine Flasche Champagner geöffnet und hielt ein überschäumendes Glas in die Höhe. Unbeeindruckt von den zornigen Blicken und den herausfordernden Gesten wandte er sich um, stellte einen Fuß auf seinen Stuhl. Er hob das Glas über seinen Kopf und rief mit lauter Stimme: »Vive la France!«, dann trank er den Inhalt mit einem Zug aus.
Die ungeheuere Menschenmenge, die den jungen Franzosen umstand, verstummte für einen Moment vor Verblüffung. Viele, des Französischen nicht mächtig, verstanden nicht, was er sagte. Andere, die es verstanden, beachteten ihn wegen seines Mutes, der wütenden Menge zu trotzen, eher mit Anerkennung und mit Erstaunen denn mit Verärgerung. Wieder andere, die verstanden hatten, glaubten sich als Opfer einer üblen Beleidigung und hätten jenem trotzdem mit typisch deutscher Bedachtsamkeit Zeit und Gelegenheit zum Verschwinden gelassen, wenn er das beabsichtigt hätte. Aber das Vergehen des jungen Mannes bewies, dass er, was immer seine Bravour an Folgen nach sich ziehen würde, für diese einzustehen gedachte. Augenblicklich machte in der Menge ein unheilvolles Murmeln die Runde: »Franzose, Franzose.«
»Ja«, sagte er in einem guten Deutsch, wie man es überall zwischen Thionville und Memel hören konnte. »Ja, ich bin Franzose. Mein Name ist Benedict Turpin, ich habe in Heidelberg studiert und man könnte mich für einen Deutschen halten, da ich eure Sprache so gut beherrsche wie die meisten hier, oder sogar besser spreche als manch andere. Auch weiß ich mit einem Rapier umzugehen, mit einer Pistole, einem Säbel, Degen, Kampfstock, mit Boxhandschuhen oder mit irgendeiner anderen Waffe, welcher ihr den Vorzug gebt. Jeder, der von mir Genugtuung wünscht, kann mich im ›Schwarzen Adler‹ auffinden.«
Kaum hatte der junge Mann seine kühne, herausfordernde Rede beendet, da gingen ihn vier Männer aus den unteren Schichten der Gesellschaft an. Die Menge verstummte, so waren seine herausfordernden Worte weithin zu hören: »Was, vier gegen einen? Schon wieder Leipzig! Kommt her! Ich bin bereit!« Daraufhin sprang der junge Franzose, dem Angriff zuvorkommend, in Richtung des ihm am nächsten Stehenden und schwang diesem die Champagnerflasche über den Kopf. Den Zweiten brachte er mit einem gut zehn Fuß weiten Wurf zu Fall, dem Dritten versetzte er einen mächtigen Boxhieb in die Rippen, so dass dieser über einen Stuhl fiel. Den Vierten packte er an Kragen und Hüfte, hielt ihn tatsächlich für einen Augenblick in die Höhe, warf ihn zu Boden und stellte sofort seinen Fuß auf seine Brust.
»Ist Leipzig nicht gerächt?«, rief er.
Nun brach ein Sturm los. Die Menge umringte drohend den Franzosen, der aber, immer noch mit einem Fuß seinen am Boden liegenden Gegner niederhaltend, packte einen Stuhl und wirbelte diesen so kraftvoll um sich herum, dass er die Menge kurzzeitig in Schach zu halten vermochte, die sich ihrerseits auf Drohungen beschränkte. Aber der Belagerungsring wurde immer enger, einige schnappten nach dem Stuhl und bekamen diesen schließlich zu packen. Wenige Minuten später wäre der mutige Franzose womöglich in Stücke gerissen worden, hätten nicht einige preußische Offiziere eingegriffen. Diese bahnten sich ihren Weg durch die Menge und formierten sich dann zu einer Art Leibwache um den jungen Mann. Einer der Offiziere wandte sich an die Menge und rief:
»Kommt, kommt, meine Freunde, man muss nicht gleich einen mutigen jungen Mann umbringen, nur weil er nicht vergessen kann, Franzose zu sein und der deswegen ›Vive la France!‹ gerufen hat. Er wird jetzt ›Hoch lebe Wilhelm IV.‹ rufen und wir werden ihm freien Abzug gewähren.« Dann sagte er in einem etwas leiseren Ton zu Benedict: »Rufen Sie ›Hoch lebe Wilhelm IV.!‹ oder ich kann für Ihr Leben nicht mehr garantieren.«
»Ja!«, schrie die Menge, »er soll ›Hoch lebe Wilhelm IV. – Es lebe Preußen!‹ rufen und wir lassen ihn gehen.«
»Sehr gut«, sagte Benedict, »aber ich ziehe es vor, frei und ohne Zwang zu entscheiden. Lasst mich los und erlaubt mir, von einem Tisch aus zu sprechen.«
»Tretet zur Seite und lasst ihn durch«, sagte einer der Offiziere und schuf Benedict etwas Bewegungsfreiheit. »Er hat euch etwas mitzuteilen.«
»Lasst ihn reden, lasst ihn reden!«, rief die Menge.
»Ehrenwerte Männer!«, sagte Benedict und stieg auf einen Tisch, der dem offenen Fenster eines Kaffeehauses am nächsten stand, »tut mir den Gefallen und hört mir zu. Ich kann nicht Preußen hochleben lassen, weil sich in diesem entscheidenden Moment vielleicht mein Land schon mit dem euren im Kriegzustand befindet, in diesem Falle würde ein Franzose sich selbst entehren, wenn er ein anderes Land als Frankreich hochleben ließe. Außerdem kann ich nicht guten Gewissens ›Hoch lebe König Wilhelm‹ rufen, für mich spielt es keine Rolle, ob er lebendig oder tot ist, denn ich bin nicht sein Untertan. Aber ich werde euch mit ein paar entzückenden Versen eine Antwort auf euren ›Deutschen Rhein‹ geben!«
Das Publikum hörte ihm zu, ungeduldig und ahnungslos über die Absicht seines Vortrages. Es reagierte wieder mit Enttäuschung, als es merkte, dass die fraglichen Zeilen nicht auf Deutsch, sondern auf Französisch rezitiert wurden. Dennoch schenkten sie ihnen größtmögliche Aufmerksamkeit. In der vorherigen Aufzählung seiner Fähigkeiten hatte Benedict diejenigen des Schauspielers und Redekünstlers unerwähnt gelassen. Jenes Gedicht hatte de Musset als Antwort auf den »Deutschen Rhein« geschrieben und Benedicts leidenschaftlicher Vortrag ließ nichts zu wünschen übrig. Denjenigen unter den Zuhörern, welche den Vortragenden verstehen konnten, wurde bald klar, dass er sie vorgeführt hatte und solche Wahrheiten aussprach, die anzuhören sie keinerlei Bedürfnis verspürten. Kaum wurde dies auch der Menge bewusst, brach der Sturm, der sich vorübergehend gelegt hatte, mit verdoppelter Macht wieder los.
Benedict war sich wohl bewusst, dass für ihn keine weitere Verteidigungsmöglichkeit bestand, daher schätzte er sorgfältig die Entfernung zwischen seinem Tisch und dem nächstgelegenen Fenster ab.
Da plötzlich knallten in der unmittelbaren Umgebung mehrere Pistolenschüsse, rasch hintereinander abgefeuert. Die Aufmerksamkeit der Menge war augenblicklich abgelenkt. Alle wandten sich der Richtung zu, aus der die Schüsse gefallen waren, und sahen dort einen gutgekleideten Jugendlichen in Zivil, der sich verzweifelt gegen einen wesentlich älteren Mann in der Uniform eines Obersten wehrte. Der junge Mann feuerte einen weiteren Schuss ab, mit dem Resultat, dass er damit seinen Gegner noch wütender machte, der ihn nun mit eisernem Griff festhielt, ihn schüttelte wie ein Terrier eine Ratte, wobei der junge Mann es unter seiner Würde fand, um Hilfe zu rufen. Nachdem ihn der Oberst zu Boden geworfen hatte, kniete er sich auf die Brust des Möchtegern-Mörders, wand diesem den nun nutzlos gewordenen Revolver aus der Hand und hielt ihm den Lauf an die Stirn. »Ja, schieß doch, schieß!«, keuchte der junge Mann. Aber der Oberst, in dem die Umstehenden auf einmal den mächtigen Minister Graf von Bismarck erkannten, änderte seinen Entschluss. Er steckte den Revolver in seine Tasche und winkte zwei Offiziere zu sich heran. »Meine Herren«, sagte er, »dieser junge Mann ist möglicherweise verrückt, aber er ist auf alle Fälle ein ungeschickter Dummkopf. Er griff mich ohne den geringsten Anlass an und schoss fünfmal auf mich, ohne zu treffen. Ihr übergebt ihn besser dem nächstgelegenen Gefängnis, während ich dem König darüber Bericht erstatte, was gerade vorgefallen ist. Ich denke, ich brauche mich nicht vorzustellen – mein Name ist Graf von Bismarck.«
Nachdem er sich die eine Hand, die er sich im Verlauf des Handgemenges leicht aufgeschürft hatte, mit einem Taschentuch verbunden hatte, ging der Graf zum kaum hundert Schritte entfernten Königsschloss zurück, während die zwei Offiziere den Attentäter der Polizei übergaben. Einer der beiden begleitete die Polizeieskorte mit dem Attentäter bis zum Gefängnis, wo dieser sofort in Haft genommen wurde. Die Menge hatte nun wieder Zeit, sich Benedict Turpins zu erinnern, musste aber erkennen, dass dieser verschwunden war. Doch das beunruhigte sie wenig, denn die Aufregung des gerade vergangenen Ereignisses hatte die Richtung ihrer Aufmerksamkeit entscheidend verändert.
Lassen Sie uns diese Unterbrechung ausnutzen und die Charaktere in Augenschein nehmen, die dazu ausersehen sind, in unserem Bericht aufzutreten. Aber zuallererst lassen Sie uns die Bühne untersuchen, auf der sie ihre verschiedenen Rollen spielen.
Als das am wenigsten deutsche aller deutschen Länder ist Preußen von einem Gemisch verschiedenster Rassen bewohnt. Neben den Deutschen selbst findet man hier zahlreiche slawische Stämme. Es gibt auch Nachkommen der Wenden, der Letten und Litauer, Polen und anderer früher Stämme, sowie eine Einmischung fränkischer Flüchtlinge.
Der Wohlstand, wenn auch noch nicht die Größe des Hauses Hohenzollern, beginnt mit Herzog Friedrich, dem größten Wucherer seiner Tage. Es ist unmöglich, die enormen Summen abzuschätzen, die er den Juden abpresst, und es ist unbeschreiblich, auf welche Art und Weise er dies tut. Ursprünglich ein Vasall Kaiser Wenzels, wechselt Friedrich aus dessen Heerlager in das seines Rivalen Othos, um abermals, als dessen nahe bevorstehender Fall offensichtlich wird, in das Lager Sigismunds, Wenzels Bruder, überzutreten.
Im Jahre 1400, im selben Jahr, in dem Charles VI. den Goldschmied Raoul als Lohn für seine finanzielle Unterstützung in den Adelsstand erhebt, leiht sich Sigismund, der sich in einer finanziellen Verlegenheit befindet, von Friedrich 100.000 Gulden und überlässt ihm dafür als Sicherheit die Mark Brandenburg. Fünfzehn Jahre später findet sich Sigismund, der während des Konzils von Konstanz für seine Verschwendungssucht aufzukommen hat, mit 400.000 Gulden bei Friedrich in der Kreide. Zahlungsunfähig verkauft er die Mark Brandenburg und garantiert als Entschädigung die Kurfürstenwürde. Im Jahre 1701 wird das Kurfürstentum zum Königreich erhoben und Kurfürst Friederich III. wird als Friedrich I. König von Preußen.
Fortan legen die Hohenzollern die typischen Charaktereigenschaften und Fehler ihres Geschlechtes an den Tag. Ihre Staatskasse ist bewunderungswert verwaltet, aber die moralische Bilanz ihrer Verwaltung hält der finanziellen kaum stand. Herzog Friedrich führt die Linie weiter, die sich mal mehr, mal weniger scheinheilig durch stetig wachsende Habgier hervortut. So entsagt im Jahre 1525 Albert von Hohenzollern, Großmeister des Deutschen Ritterordens, dann Kronprinz von Preußen, seinem Glauben und konvertiert zum Luthertum. Dafür erhält er im Gegenzug den vererbbaren Titel eines Herzogs von Preußen unter der Oberherrschaft Polens. Und als im Jahre 1613 der Kurfürst Johann Sigismund die Grafschaft Kleve zu erwerben trachtet, folgt er Alberts Beispiel und wird Calvinist.
Der Leitspruch des Großen Kurfürsten wurde von Leibnitz in einem Satz zusammengefasst: »Ich stehe auf der Seite desjenigen, der am besten bezahlt.« Ihm verdankt man die Aufstellung eines stehenden Heeres in Europa, und es ist des Kurfürsten zweite Frau, die berühmte Dorothea, die in Berlin Läden und Gaststätten eröffnet, um dort den Ausschank ihres Bieres und den Verkauf ihrer Molkereiprodukte zu gestatten. Der militärische Genius des Großen Friedrich steht außer Zweifel, aber gerade er war es, der sich erbot, den Großfürsten mit »deutschen Prinzessinnen« zum »geringst möglichen Preis zu beliefern«, um sich in den russischen Hof einzuschmeicheln. Eine Dame, die man auf diese Art »zustellte«, eine anhaltinische Prinzessin, ist als »Katharina die Große« bekannt geworden. Wir sollten nebenbei auch bemerken, dass Friedrich höchstpersönlich für die polnische Teilung verantwortlich ist, ein Verbrechen, das die Preußische Krone mit der Verachtung der anderen Nationen straft, und die er während einer skandalösen und gotteslästerlichen Zusammenkunft mit seinem Bruder Heinrich folgendermaßen bejubelte: »Komm, lasst uns die Eucharistie des Leibes Polen feiern!« Friedrich verdanken wir auch die wirtschaftliche Maxime, »dass derjenige am besten isst, der am Tisch eines anderen speist!«
Friedrich stirbt kinderlos, eine Tatsache, in der Historiker, seltsam genug, einen Anlass zur Kritik an ihm sehen. Sein Neffe und Nachfolger, Wilhelm II., marschiert 1792 in Frankreich ein. Seine Invasion, der das Manifest des Herzogs von Braunschweig vorausgeht, ist im hohen Grade großtuerisch, während sein Rückzug, begleitet von Danton und Demouriez, ohne Pauken und Trompeten vonstatten geht.
Der »Mann von Jena«, Friedrich Wilhelm III. beerbt ihn. Zu den zahlreichen dümmlichen und servilen Briefen, die der Kaiser Napoleon in den Tagen seines Wohlergehens erhält, müssen auch die von Wilhelm III. gezählt werden.
Friedrich Wilhelm IV. – wir nähern uns jetzt rasch dem Heute – besteigt im Jahre 1840 den Thron. Gemäß Hohenzollern’scher Tradition ist sein erstes Kabinett liberal und bei seiner Thronbesteigung bemerkt er zu Alexander von Humboldt:
»Als Adliger bin ich der erste Edelmann im Königreich; als König bin ich lediglich der erste Bürger.«
Seinerzeit in der Nachfolge der Krone Frankreichs sagte Karl X. so ziemlich das Gleiche, sehr wahrscheinlich aber formulierte es de Martiniac für ihn.
Der erste Beweis seines Liberalismus ist ein Versuch des Königs, die geistigen Kräfte des Reiches zu mobilisieren, eine Aufgabe, die er dem Minister Eichhorn überträgt. Nomen est omen. In den zehn Jahren hat das Projekt keinen einzigen Schritt nach vorne gemacht, obwohl der Minister selbst als Wunder der permanenten Anpassung gilt. Auf der anderen Seite erstarkt die Reaktion immer mehr. Die Presse sieht sich verfolgt, Beförderungen und Auszeichnungen werden nur noch an Schleimer und Denunzianten verliehen. Hohe Ämter kann nur erreichen, wer sich zu einem diensteifrigen Instrument der pietistischen Partei verbiegt, welcher der König vorsteht.
Friedrich Wilhelm und König Ludwig von Bayern sind die Belesendsten unter den zeitgenössischen Herrschern. Während Ludwig die Künste, in welcher Form auch immer unterstützt, will Friedrich Wilhelm sie hingegen zur einer Art Hilfstruppe der Despotie ausrichten. Mit dem Selbstwertgefühl eines Gehemmten versteht er sich für Adel und Bürger gleichermaßen als Vorbild guter Manieren und beginnt, unserem großen Satiriker Boileau ähnlich, einen Briefwechsel mit Ludwig, in dessen Verlauf er letzterem einen Vierzeiler übersendet, in dem er den Skandal bezüglich seiner Intimitäten mit Lola Montez kommentiert. Der bayrische König antwortet in einem ebensolchen, der an den Höfen Europas seine Runde macht:
»Contempteur de l’amour, dont j’adore l’ivresse,
Frère, tu dis que, roi sans pudeur, sans vertu.
Je garde à tort Lola, ma fille enchanteresse.
Je te l’enverrai bien.– Oui ; mais qu’en ferrais-tu?«
Und in seltener Einmütigkeit der Geistreichen ist das Lachen auf der Seite des vielbewanderten Königs Ludwig.
Nach sechs Jahren Hausdurchsuchungen, Repressalien und Massenvertreibungen gegenüber kritischen Journalisten kommt schließlich der Preußische Landtag in Berlin zusammen. In seiner Eröffnungsansprache adressiert der König an die Abgeordneten Folgendes:
»Erinnert euch, meine Herren, dass Ihr hier seid, um die Interessen des Volkes zu vertreten, aber nicht seine Gefühle.«
Etwas später im gleichen Jahr löst Friedrich Wilhelm feierlich die Wahrnehmung seiner Göttlichen Rechte ein, als er die Versammlung auflöst:
»Ich werde nicht einem Fetzen Papiers erlauben, zwischen meinem Volk und seinem Gott zu stehen!« womit er wohl meint, was er nicht auszusprechen wagt, »zwischen meinem Volke und mir.«
Dann bricht die Revolution von 1848 aus und Berlin, das bald im vollen Aufruhr steht, bleibt nicht verschont. Der König verliert völlig seinen Kopf und verlässt die Stadt. Dabei wird er gezwungen, an den Leichnamen gefallener Aufständischer entlang zu fahren, die im Kampfe getötet worden waren. Da erschallt der Ruf »Hut ab!«, und der König ist gezwungen, barhäuptig zu verharren, während das Volk die berühmte Hymne singt, die einst der Große Kurfürst komponiert hat:
»Jesus, mein Erlöser lebt.«
Jedermann weiß, wie erfolgreich die absolutistischen Parteigänger die Nationalversammlung dominieren und wie die Reaktion die jetzigen Führer in die Machtpositionen gebracht hat: zum Beispiel von Manteuffel, dessen Politik den unglücklichen österreichischen Triumph bei Olmütz ermöglicht hat, und Westphalen, der die Provinzialversammlungen wieder eingeführt und den König während der berühmten Warschauer Unterredung beraten hat. Weiterhin muss hier Statel genannt werden, der zwar konvertierter Jude ist, sich aber geriert wie ein protestantischer Jesuit, ein Großinquisitor, der seine Berufung verpasst hat, und schließlich die zwei Gerlach-Brüder, Intriganten reinsten Wassers, deren Geschichte mit jener der beiden Spitzel Ladunberg und Techen zusammenhängt.
Obwohl Wilhelm IV. am 6. Februar 1850 seinen Eid auf eine Verfassung ablegt, welche die Einrichtung zweier Kammern vorsieht, soll es noch bis zur Thronbesteigung seines Nachfolgers Wilhelm Ludwig, respektive König Wilhelm I. dauern, bis sowohl das Unterhaus als auch das Oberhaus gesetzgeberische Aufgaben wahrzunehmen beginnen.
Darauf formiert sich eine Liga, zusammengesetzt aus der Bürokratie, dem orthodoxen Klerus, dem Landadel und Teilen des Proletariats, Beginn der berüchtigten Sammlungsbewegung des Vaterlandsvereins, der die Auslöschung der Verfassung zum Ziel hat.
Da taucht in der Geschichtsschreibung – als erster Präsident der Königsberger Vereinigung – der Name Graf von Bismarck auf, der eine so bedeutende Rolle in der preußischen Geschichte spielen wird. Wir sollten an dieser Stelle ihn nicht hinter den Hohenzollern zurückstehen lassen, oder um es so auszudrücken, wir müssen ihm und dem Preußen von heute ein ganzes Kapitel widmen. Denn, ist nicht der Graf von Bismarck ein viel größerer Monarch als der König von Preußen selbst?
Viele haben für die bemerkenswerte königliche Gunst, der sich Graf von Bismarck erfreut, Begründungen gesucht, und einige behaupten, diese gefunden zu haben. Unserer Meinung nach der Hauptgrund ist sein außerordentlicher Genius, den nicht einmal seine Feinde in Abrede stellen, ungeachtet der Tatsache, dass Begabung in der Regel alles andere ist als eine Empfehlung zur Erlangung der Gunst von Königen.
Wir werden ein oder zwei Anekdoten erzählen, die den Ersten Minister betreffen. Beginnen möchten wir mit einer, die ihn nicht persönlich betrifft, die aber als eine Art Einführung zu einer anderen dienen soll. Jeder kennt die Absurdität, mit der man in Preußen der militärischen Etikette huldigt.
Ein Pommerscher General – Pommern mag man sich als das preußische Böotien vorstellen – im Militärdienst bei Darmstadt, stand einst völlig gelangweilt, wie man sich nur in Darmstadt langweilen kann, an seinem Fenster und hing seinen Tagträumen nach, etwa einem Großbrand, einer Revolution, einem Erdbeben oder irgendetwas Aufregendem, als er in einiger Entfernung einen Offizier bemerkte, einen Offizier ohne Degen. Ein schrecklicher Verstoß gegen die Disziplin! »Aha!«, dachte der entzückte General, »hier steht ein Leutnant, wie geschaffen für einen Sündenbock. Zehn Minuten Lektion und vierzehn Tage Arrest! Was für ein Glück!«
Der Offizier näherte sich ahnungslos und noch bevor er salutieren konnte, rief ihn der General: »Leutnant Rupert!« Der Offizier blickte auf, erkannte den General und wurde sich augenblicklich, da er das Fehlen seines Degens bemerkt hatte, seiner schrecklichen Lage bewusst. Der General hatte ihn bereits gesehen; Leutnant Rupert erkannte, dass es kein Zurück gab und er diesen Sturm überstehen musste. Der General strahlte wegen der Aussicht auf etwas Spaß und rieb sich erfreut seine Hände. Der Leutnant nahm seinen ganzen Mut zusammen und betrat das Haus des Generals. Beim Betreten des Vorraums erblickte er eine Dienstwaffe, die an der Garderobe hing. »Was für’n Glück!«, murmelte er, nahm den Degen vom Haken und schnallte ihn sich rasch um. Alsdann betrat er so unschuldig wie möglich blickend den Raum und nahm an der Türe Haltung ein.
»Habe die Ehre, Herr General, Sie haben mich gerufen«, sagte er.
»Ja«, sagte der General mit Ernst, »Ich muss etwas klarstellen –« und hielt plötzlich inne, da er den Degen an der Seite des Schuldigen gewahrte. Sein Ausdruck änderte sich augenblicklich, und er sagte lächelnd:
»Ja, ich wollte fragen, wollte Sie fragen – was zum Himmel war es denn nur? Ach ja, ich wollte Sie nach ihrer Familie fragen, Leutnant Rupert. Im Besonderen wollte ich mich nach Ihrem Vater erkundigen.«
»Wenn mein Vater Ihre freundliche Nachfrage ihm gegenüber hören könnte, General, wäre er höchst geehrt. Unglücklicherweise starb er vor 20 Jahren.«
Der General blickte sichtlich betroffen auf.
Der junge Offizier fuhr fort: »Haben Sie noch Befehle, Herr General?«
»Warum, nein«, sagte der General. »Nur dies: Lassen Sie sich niemals ohne Degen blicken. Wären Sie heute ohne gewesen, hätte ich Ihnen vierzehn Tage Arrest gegeben.«
»Ich werde mir die größte Mühe geben, Herr General! Sehen Sie?«, antwortete der Leutnant und wies dabei keck auf den Degen an seiner Seite.
»Ja, ja, ich sehe! Es ist gut! Sie können abtreten.« Der junge Mann verlor keine Zeit, den Vorteil seiner Entlassung zu nutzen; er grüßte, verließ den Raum und hängte, als er durch den Vorraum ging, geräuschlos den Degen zurück. Als er das Haus verließ, bemerkte der General, wieder am Fenster stehend, dass jener keinen Degen umhatte. Er rief seine Frau:
»Schau her«, sagte er, »siehst du den Offizier da?«
»Sicherlich!«, antwortete sie.
»Hat er einen Degen um oder nicht?«
»Hat er nicht.«
»Nun denn, du hast Unrecht. Er sieht so aus, als hätte er keinen, aber er hat einen.«
Die Dame verkniff sich eine Bemerkung, da sie sich über das, was ihr Gatte sagte, zu wundern abgewöhnt hatte. Der junge Offizier kam so mit dem Schrecken davon und war sorgfältig bedacht, seinen Degen nicht ein zweites Mal zu vergessen.
Nun, ein ähnliches Missgeschick – eher ein Affront vergleichbarer Art – widerfuhr dem König von Preußen, zur damaligen Zeit noch Kronprinz. Von Bismarck war lediglich Attaché der Frankfurter Bundesversammlung ohne besonderen Titel. Als der Kronprinz auf seinem Weg zu einer Truppenbesichtigung bei Mainz in der Nähe Frankfurts Halt machte, bekam von Bismarck die Ehre, zu dessen Begleitung abkommandiert zu werden.
Es war an einem heißen Tag im August und die Luft im Eisenbahnwagon drückend schwül. Jedermann vom Prinz abwärts hatte seinen Uniformmantel aufgeknöpft. Bei der Ankunft in Mainz, wo vor dem Bahnhof Truppen zu seinem Empfang angetreten waren, knöpfte der Kronprinz seinen Mantel wieder zu, ließ aber einen Knopf offen. Er war gerade dabei, den Wagon zu verlassen, als von Bismarck glücklicherweise das Missgeschick bemerkte.
»Gütiger Himmel, Prinz!«, rief er aus, »was machen Sie?«
Und er sprang auf, für einen Moment die Etikette vergessend, die es verbot, eine königliche Person durch die Berührung profaner Finger zu beschmutzen und schloss den Anstoß erregenden Knopf. Nicht wenige datieren seit dieser Zeit den Beginn der königlichen Gunst. Auch als der König durch die Ereignisse von 1858 in große Schwierigkeiten geraten war, war ihm wohl bewusst, dass der Mann, der seine Krone in Berlin rettete, schon damals seinen Ruf in Mainz gerettet hatte.
Der Graf wurde dann Fraktionsführer der »Junker«, deren publizistische Stimme die »Kreuzzeitung« ist. Er war tatsächlich für diese Position der am besten geeignete Mann, ausgestattet mit Eloquenz, großer mentaler und physischer Durchsetzungskraft und mit der absoluten Überzeugung, dass jedes Mittel am Ende durch den Zweck gerechtfertigt sei. Zu guter Letzt donnerte er von der Höhe seines Rednerpultes einer erstaunten Abgeordnetenkammer folgenden Ausspruch – wie ein Schlag in deren Gesichter – hinunter: »Macht ist Recht!« Damit fasste er in drei Worten sowohl sein politisches Glaubensbekenntnis zusammen als auch die direkten Folgen, die sich daraus ergeben mussten.
Die lebensspendenden Prinzipien der menschlichen Entwicklung kann man beispielhaft an drei Nationen darstellen:
England steht für wirtschaftliche Tatkraft.
Deutschland steht für moralische Expansion.
Frankreich steht für intellektuelle Brillanz.
Wenn wir uns fragen, warum Deutschland nicht die großartige Position einnimmt, für die es vorgesehen ist, finden wir eine Antwort darin: Frankreich hat sich die Freiheit der Gedanken erkämpft, Deutschland aber gestattet sich lediglich die Freiheit eines Träumers. Die einzige Atmosphäre, in der es frei atmen kann, ist die einer Festung oder eines Gefängnisses. Und wenn wir uns wundern, warum das übrige Deutschland von der Peitsche Preußens beherrscht wird, ist die Erklärung wohl darin zu finden: Die Deutsche Art existiert nicht, wohl gibt es aber einen nationalen Genius; ein Genius, der kein Sehnen nach Revolution, wohl aber nach Frieden und Freiheit kennt und vor allem – nach intellektueller Unabhängigkeit. Diese Sehnsucht ist Preußens größtes Problem; es bekämpft sie, es schwächt sie und hofft, sie irgendwann ganz zu kontrollieren. Es rühmt sich seiner Unterrichtspflicht; seine Kinder bekommen in der Tat alle Bildung, die man vermitteln kann, aber einmal aus der Schule heraus, dürfen seine Untertanen niemals wieder selbständig denken.
Die Junkerfraktion setzt sich hauptsächlich aus jungen Söhnen zusammen, die sich um eine öffentliche oder militärische Karriere bemüht haben. Da ihnen diese versagt blieb, müssen sie mit einer ausreichenden Apanage alimentiert werden und bleiben so vom Familienoberhaupt abhängig. Von einigen sehr wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es keinen »alten Adel« in Preußen, seine Aristokratie zeichnet sich nicht durch Reichtum oder Intellekt aus. Ein paar Namen hier und dort erinnern an die alte deutsche Geschichte; andere gehören in die Annalen preußischer Militärgeschichte. Der Rest der Adelsfamilien jedoch kann für sich keine Vornehmheit beanspruchen, da sie ihre Landgüter gerade für ein oder zwei Jahrhunderte in Besitz haben.
Folglich sind fast alle liberalen und progressiven Mitglieder des Abgeordnetenhauses in ihrer Position wie auch in ihrem Wirken von der Regierung abhängig. Kein einziger ist stark genug, um gegen die Despotie zu opponieren; eine Despotie, die sich eines Kindes schon im Moment der Geburt bemächtigt, es durch die Jugend führt und für den Rest seines Lebens begleitet. So kann Graf von Bismarck sowohl die Abgeordnetenkammer als auch einzelne Abgeordnete ungestraft beleidigen, weil er weiß, dass deren Beschwerden kein widerhallendes Echo im Lande erfahren, während man am Hofe auf ihn – wie auf die Dienerschaft – herabsieht.
Man erzählte sich, dass Präsident Grabow, der an einem Staatskonzert teilnahm, sich gerade in einem der weniger überfüllten Räume auf einen Stuhl setzen wollte, als ein Saaldiener ihn mit der Bemerkung zurückhielt »Diese Stühle sind für die Hoheiten reserviert, mein Herr.«
»Tatsächlich, mein Freund,«, antwortete der Präsident, »dann habe ich hier offensichtlich keinen Platz.«
Man mag den Niedergang moralischer Unabhängigkeit sowohl in Preußen als auch in den übrigen deutschen Staaten mit der aufkommenden Herrschaft der Hohenzollern datieren. Die Hohenzollern haben überhaupt keinen zivilisierenden Einfluss auszuüben vermocht, indem sie etwa die Literatur förderten und die Sprache verfeinerten, sondern sie haben Minerva durch Athene ersetzt und damit die wohltätige Kost des Wissens und der Weisheit durch die wendige Göttin des Krieges.
Seit den vergangenen drei Monaten nun befand sich von Bismarck in einer ausweglosen Situation und niemand konnte voraussagen, wie er da wieder herauskommen würde. Unbeschadet von den wichtigen Vorfällen, welche von China bis Mexiko über die Weltbühne gingen, war er es, auf den die Augen Europas gebannt starrten.
Altgediente Minister, mit allen Kniffen der Diplomatie vertraut, verfolgten seine Karriere wie mit Vergrößerungsgläsern, ohne daran zu zweifeln, dass der epochemachende Minister auf dem Thron einen Komplizen hat, auf den er sich verlassen kann und von dem sie – vergeblich – die Vorreiterrolle der Weltpolitik erwarteten. Falls sich jedoch herausstellen sollte, dass es diese Komplizenschaft nicht gäbe, dann würden sie ihn als einen beispiellosen Dummkopf bezeichnen.
Junge Diplomaten, die sich in aller Bescheidenheit nicht wirklich in einer Reihe mit den Talleyrands, mit den Metternichs oder Nesselrods stellten, studierten ihn mit großer Ernsthaftigkeit. Sie glaubten und wünschten den Beginn einer neuen Politik zu erkennen, die dazu prädestiniert sei, ihre Epoche zum Zenith zu tragen und stellten dabei flüsternd eine Frage, die sich Deutschland schon seit drei Jahrhunderten stellt: »Ist er der Mann?« Um diese Frage zu verstehen, müssen wir unsere Leser darüber aufklären, dass die Deutschen auf ihren Erlöser warteten wie die Juden auf den Messias. Wann immer ihre Ketten sie peinigten, schrien sie auf: »Wo bleibt der Mann?«
Nun, manche erheben den Anspruch, in Deutschland begänne der Aufstieg einer vierten Partei, die bis jetzt im Dunkeln gekauert hätte – ein schreckliches Bild, wenn man den Dichtern Deutschlands glauben schenken darf. Hören sie Heine zu diesem Thema:
»Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Donner und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.«