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Wer schwer oder lange erkrankt, der leidet oft auch emotional. Der Schmerz und seine Komplizen werden zum Mittelpunkt des Lebens. Der eigene Körper wird fremd oder sogar zum Feind. Nossrat Peseschkian entwickelte eine Methode, die den Umgang mit Krankheit und Schmerz erleichtert und neue Lebensfreude schenkt. Zehn Jahre nach seinem Tod hat seine Enkeltochter Samira Peseschkian die Grundlagen seiner Methode mit den neuesten medizinischen Erkenntnissen zum Umgang mit Schmerz kombiniert. Die junge Medizinstudentin, die aufgrund einer seltenen chronischen Erkrankung selbst Patientin wurde, wandte die Methoden ihres Großvaters erfolgreich an. Sie gibt einen Einblick in die sichtbaren und verborgenen Herausforderungen eines chronisch Erkrankten und ermöglicht dem Leser praktische Anwendungsmöglichkeiten der Methode.
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Seitenzahl: 204
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Samira PeseschkianProf. Dr. Nossrat Peseschkian
Der Schmerz und seine Komplizen
Resilienz bei chronischen Krankheiten
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Der Abdruck der Zitate erfolgt mit freundlicher Genehmigung:
S. 79: Nossrat Peseschkian, Positive Psychotherapie: Theorie und Praxis einer neuen Methode © 1985, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
S. 112: Nossrat Peseschkian, Steter Tropfen höhlt den Stein, Mikrotraumen. Das Drama der kleinen Verletzungen © 2000, Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
S. 119: Nossrat Peseschkian, Der Kaufmann und der Papagei. Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie © 1979, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Bei einigen Texten war es trotz gründlicher Recherchen nicht möglich, die Inhaber der Rechte ausfindig zu machen. Honoraransprüche bleiben bestehen.
©Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Illustrationen (S. 35, 39, 46, 132): Frank Wowra, Berlin
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © pyncho / GettyImages
E-Book Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara
ISBN E-Book (ePub): 978-3-451-82554-5
ISBN: 978-3-451-60255-9
In Gedenken an meine Großeltern Manije und Nossrat Peseschkian
Gewidmet allen, die trotz sichtbarer oder unsichtbarer Leiden ihren Alltag meistern.
Vorwort
Zur Entstehung des Buches
Einleitung: Vom besten Freund zum meistgehassten Feind
Teil IChronische Krankheiten
Chronische Krankheit ist nicht gleich chronische Krankheit
Ist alles nur in meinem Kopf? Ein kleiner Ausflug in die Psychosomatik
Was die Behandlung chronischer Erkrankungen so herausfordernd macht
Chronische Krankheiten und chronischer Schmerz
Was bei Schmerz im Körper passiert: Die Gate-Control-Theorie
Spuren im Gehirn: Neuroplastizität
Chronischer Schmerz und seine Komplizen
Die Komplizen Schmerzgedächtnis und Angst
Der Komplize Stress: Vom genialen Schutzmechanismus zum unsichtbaren Angreifer
Der Komplize Schlaf: Die Teufelsspirale
Der Komplize Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Der Komplize Zukunftsangst
Fazit
Teil IIGesund ist nicht gleich gesund – Die Gesundheitsmodelle Pathogenese und Salutogenese
Die Pathogenese
Die Salutogenese
Die Positive Psychotherapie
Das positive Menschenbild in der Positiven Psychotherapie
Das Balance-Modell
Fünf-Stufen-Modell der Konfliktbewältigung
Fünf Stufen zur Konfliktlösung
Die Signale des Körpers
Körper und Psyche: Teamplayer oder Gegner?
Der Körper lügt nicht
Wie wir auf Konflikte reagieren
„Lieber Schmerz ...“ – Wie man einen Brief an seine Krankheit schreibt
Vorlage nach Prof. Dr. med. Nossrat Peseschkian
Epilog
Dank
Viten
Anmerkungen
Schmerz ist der häufigste Grund, warum Menschen einen Arzt aufsuchen. Diesen Satz habe ich erstmals vor über 25 Jahren als Medizinstudentin gehört. Seitdem ist er mir oft begegnet. Er ist immer noch wahr – und trifft insbesondere auf chronische Schmerzen zu.
Ich lernte Samira als eine meiner Medizin-StudentInnen kennen – höchstmotiviert, fleißig und brillant. Aber es gab immer wieder Momente, die nicht in dieses perfekte Bild passten. Momente, in denen sie quasi unsichtbar wurde, in denen offensichtlich war, dass etwas nicht stimmte. Als sie eines Tages im Operationssaal fast ohnmächtig geworden war, vertraute sie sich mir an. Das Wissen um ihre Schmerzen machte es mir leicht, die „Momente“ einzuordnen – es war kein Desinteresse am Studium. Es hatte nichts mit dem „Außen“ zu tun, sondern war ein Problem ihres „Inneren“, dass nach außen Wirkung zeigte.
Seit vielen Jahren betreue ich als Neurochirurgin auch chronische Schmerzpatienten. Es ist immer wieder verstörend, zu sehen, wie totalitär ständige Schmerzen in ein Leben einbrechen, wie sie Menschen und ihr Umfeld verändern. Auch für den behandelnden Arzt ist es frustrierend, nur selten Therapien zur Verfügung zu haben, die echte, anhaltende Linderung bringen. Nur dann sehen sie ihre Patienten aufblühen wie vertrocknete Pflanzen, die endlich Wasser bekommen.
Die Geisteshaltung der westlichen Industrienationen ähnelt in medizinischen Belangen einer Reparatur-Mentalität: „Doktor, mach das weg.“ Aber Krankheit im Allgemeinen und Schmerzen im Besonderen sind in den seltensten Fällen ein kaputtes Rädchen im Getriebe, das man austauscht und der Motor läuft wieder. Es ist ein Zustand, der den ganzen Menschen erfasst – Körper und Geist. Er nagt an der Lebensfreude, der Willensstärke und Beziehungen zu anderen.
Viele haben die Vorstellung, dass Ärzte Krankheiten heilen. Tatsächlich habe ich das in meinem beruflichen Leben nur selten getan. Häufig lindert man Symptome, bis die Krankheit von selbst verschwindet wie bei Grippe und den meisten Bandscheibenvorfällen. Man versucht, den Krankheitsverlauf aufzuhalten oder zu verlangsamen wie bei vielen Krebserkrankungen oder Rheuma. Oder man bekämpft die Auswirkungen einer Krankheit, die nicht heilbar ist, wie beim Diabetes oder hohem Blutdruck. Medikamente sind nur ein kleiner Teil der Therapie. Die stärksten Substanzen können nicht viel ausrichten, wenn der Patient sich nicht auf seine Krankheit einlässt und sein Leben mit ihr lebt.
Wenn chronische Schmerz-Patienten zum ersten Mal in meine Sprechstunde kommen, höre ich oft, ich sei die letzte Rettung. Ihnen sage ich, dass es den Menschen, der ihre Schmerzen wegmacht, nicht gibt, aber dass wir gemeinsam versuchen können, die Situation zu verbessern. Schmerzen als verstehbar und bewältigbar und sich selbst als handelndes Subjekt und nicht als passives Objekt einer Therapie zu erkennen, ist ein langer Weg, den viele Patienten nicht meistern.
Deswegen ist dieses Buch so wichtig. Es erklärt leicht verständlich, was in Körper und Geist bei chronischen Schmerzen passiert und zeigt den steinigen Weg der Bewältigung, der zwar ein Ziel, aber kein Ende hat. Aber nicht nur für Patienten, auch für Menschen in deren Umfeld ist dieses Buch wichtig, weil Fehlinterpretationen oder der Wunsch, dass „alles wieder gut wird“, den Blick für den eigentlichen Weg verstellen. Nicht zuletzt ist es auch ein Buch für „Gesunde“, denn die Mechanismen und Wege, die hier aufgezeigt werden, funktionieren nicht nur im Schmerz, sondern sind universell. In diesem Sinne wünsche ich den LeserInnen bei der Lektüre ebenso viele erhebende und erhellende Momente, wie ich sie hatte.
Dr. med. Stefanie Kästner
(Oberärztin für Neurochirurgie und Schmerzärztin)
Während monatelang Schmerzen meine Begleiter waren, regte mein Vater mich immer wieder an, einen „Brief an mein Organ“ zu schreiben. Die organische Abklärung der Symptome sei unabdingbar, aber ich solle nicht den Einfluss der Psyche außer Betracht lassen. Häufig überbringe der Körper eine Botschaft und jedes Symptom habe etwas zu sagen. Mittels des Briefes sollte ich mit meinen Schmerzen Kontakt aufnehmen und die Botschaft meines Körpers entschlüsseln. Ich lachte und wechselte rasch das Gesprächsthema. So eine „Psycho“-Methode, die er bei seiner Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiater anwandte, war mit Sicherheit nichts, was mir helfen konnte. Schließlich würden meine Schmerzen nicht durch Briefeschreiben verschwinden. Das diese Auffassung den Sinn eines solchen Briefes komplett verfehlt, hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden.
Als ich ein paar Monate später meine Großmutter besuchte, sprach auch sie das Thema an und versicherte mir, dass mein Großvater (er war Neurologe und Psychiater) mir zu Lebzeiten gewiss ans Herz gelegt hätte, mit meinen Schmerzen zu kommunizieren. Zum Beispiel indem ich einen Brief an sie adressierte. War das die neue Lieblingsmethode der Peseschkian-Familie? Langsam fragte ich mich, wieso sie alle davon sprachen. Meine Großmutter zeigte mir in dem Arbeitszimmer meines Großvaters seine alten Notizen und Akten. Beim Durchstöbern stieß ich auf eine Kiste mit der Aufschrift: Ein Brief an mein Organ.
Neugierig öffnete ich sie und fand zu meiner Überraschung ein Dutzend handgeschriebener Briefe, die an verschiedene Organe und Krankheiten gerichtet waren. Seine Patienten hatten sie geschrieben und jeder von ihnen war einzigartig. Ich fand Briefe an den Brustkrebs, die Kopfschmerzen, den Diabetes und unzählige andere Krankheitsbilder und Symptome. Einige waren voller Frustration und Wut, andere mit beruhigender Geduld und Humor verfasst. Eines hatten sie jedoch alle gemeinsam: Trotz all der Herausforderungen, von denen die Briefeschreiber berichteten, fand ich in jedem der Briefe eine Komponente der Dankbarkeit für die daraus gewonnene Lektion. Jeder Einzelne schrieb in seinen eigenen Worten davon, dass die Krankheit wie eine Notbremse wirkte. Das Lebenstempo musste reduziert werden und ohne die üblichen Ablenkungen des Alltags war man gezwungen, sich selbst wahrzunehmen.
Tiefer vergraben in der Kiste entdeckte ich nun auch eine Anleitung, die mein Großvater konzipiert hatte. Obwohl ich nach wie vor nicht verstand, welchen Sinn die Übung für mich haben sollte, entschied ich mich in diesem Moment, doch einen Brief an meine Bauchschmerzen zu verfassen. Ich hatte nichts zu verlieren – und vielleicht könnte ich den Psychiatern der Familie zeigen, dass es zwecklos war. Es war herausfordernd, wie in der Anleitung vorgegeben, einen Schritt zurückzutreten, um die Krankheit losgelöst von meinen Emotionen in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Ich assoziierte mit ihr nur Schmerz und Herausforderungen. Wie sollte ich eine positive Lektion lernen aus einer Situation, die mich über Jahre hinweg täglich belastete?
Dieses Buch ist kein faktisches Lehrbuch über Psychosomatik und chronische Erkrankungen. Vielmehr strebe ich an, einen Einblick zu geben in die Körper chronisch kranker Patienten und auf die vielen Herausforderungen aufmerksam zu machen, denen sie sich in ihrem Leben stellen müssen. Vielleicht bist du als Leserin oder Leser selbst betroffen oder hast ein Familienmitglied oder einen anderen lieben Menschen, der sich in dieser Situation befindet. Die Wahrheit ist: Die wenigsten von uns kommen im Laufe ihres Lebens um dieses Thema herum und wir alle profitieren davon, uns ein ganzheitliches Bild von Gesundheit und Krankheit zu machen.
Das Buch besteht aus zwei Hauptanteilen: Zunächst werden wir uns mit chronischen Erkrankungen an sich beschäftigen – und dabei ein besonderes Augenmerk auf ihre „Komplizen“ haben (zum Beispiel die Ungewissheit, das Schmerzgedächtnis und die Angst). Diese werden wir mittels ihrer neurophysiologischen Verknüpfung analysieren, um zu verstehen, wieso chronische Erkrankungen alle Bereiche des Lebens beeinflussen können. Wie oft habe ich in medizinischen Vorlesungen Verblüffendes über Verknüpfungen im Gehirn erfahren, was wesentliche Fragen zum Thema chronischer Schmerzen („Wieso gehen chronische Schmerzen mit Angst einher und was passiert dabei im Gehirn?“ „Weshalb kann Ablenkung schmerzreduzierend wirken?“) erklärt. Doch finden diese Antworten kaum einen Weg aus dem Hörsaal hinaus und bleiben für die breite Gesellschaft meist unbekannt und unzugänglich.
Aufgrund der multifaktoriellen Natur chronischer Erkrankungen werden im Laufe des Krankheitsverlaufes verschiedene Lebensbereiche von ihr durchdrungen. Deshalb befassen wir uns im zweiten Teil des Buchs eingehend mit den Behandlungsmöglichkeiten chronischer Erkrankungen. Dabei werden wir uns exemplarisch mit der Positiven Psychotherapie auseinandersetzen, die die Vielschichtigkeit von chronischen Erkrankungen berücksichtigt. Die diesem Buch zugrunde liegende Methodik der Positiven Psychotherapie entstammt den Forschungsprojekten und Büchern meines Großvaters, Prof. Dr. med. Nossrat Peseschkian. Diese weltweit anerkannte Methode ist nicht auf Erkrankungen spezifiziert, sondern im Gegenteil eine Methode für jedermann zur persönlichen Reflexion seines/ihres Lebens. Wir werden uns mit Themenbereichen beschäftigen wie: Was bedeutet es, Balance in seinem Leben zu haben? Wie kommen innere Konflikte zum Vorschein oder an die Oberfläche und was für einen Einfluss haben sie auf unser Leben? Am Ende erhältst du als LeserIn mit einer Anleitung und Beispielen die Möglichkeit, das Reflexionsmedium des Briefeschreibens für dich selbst zu nutzen und einen Brief an deine eigenen Symptome zu verfassen.
Denn chronische Krankheiten und ihre Komplizen besser zu verstehen, ist nicht nur für Ärzte wichtig – für PatientInnen ist dieses Wissen ein Weg, Resilienz zu entwickeln und das Leben mit der Krankheit selbstbestimmter zu gestalten beziehungsweise belastende Selbstzweifel oder Schuldgefühle hinter sich zu lassen.
Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Neun Zehntel unseres Glücks beruhen allein auf der Gesundheit. (Arthur Schopenhauer)
Februar 2018: Der Beginn meiner Fahrt auf der Gesundheits-Achterbahn. Woher kamen plötzlich diese starken Bauchschmerzen? Waren es die Nachwehen einer Grippe, der Stress des Medizinstudiums oder hatte ich vielleicht doch nur etwas Falsches gegessen? Zu diesem Zeitpunkt hätte ich es mir in meinen wildesten Träumen nicht ausmalen können, noch hätte ich es mir gewünscht, dass ich später, nach zweieinhalb Jahren täglicher Schmerzen, die seltene Diagnose Dunbar-Syndrom bekommen würde, eine Krankheit, die nur fünf von einer Millionen Menschen betrifft.
Lasst uns von vorne anfangen. 20 Jahre alt, aktiv und sportlich, so hätte ich mich Anfang 2018 selbst beschrieben. Doch dann kam der Tag, als ich beim Lauftraining für einen Halbmarathon bereits nach ein paar Kilometern erschöpft nach Luft schnappte. Ein ungewöhnlicher Umstand, denn ein paar Wochen zuvor war ich noch problemlos 15 Kilometer gejoggt. Jetzt fühlte sich mein Körper schwer an, als müsste ich bei jedem Schritt fünf Kilo Blei an meinen Füßen mitziehen. Das war nicht nur eine verschlechterte Kondition, irgendetwas fühlte sich falsch an. Einige Tage nach dem Trainingslauf stellten sich dann plötzlich meine neuen „Mitbewohner“ vor: Bauchschmerzen, ein unangenehmes Völlegefühl, Übelkeit und komplette Appetitlosigkeit. Auch ein Schwindel überraschte mich von nun an häufig und es schlich sich über die nächsten Monate ein Gewichtsverlust von 15 Kilogramm ein.
Zunächst versuchte ich hartnäckig, die Schmerzen wieder loszuwerden. Ich machte mich auf die Suche nach der Ursache. Waren es meine geliebten Intoleranzen? Meine besten Freunde Laktose-, Fruktose- oder Histamin-Intoleranz? Ich suchte zahlreiche Fachärzte auf, die mich mehreren Gastroskopien, Endoskopien und Bluttests unterzogen und mir verschiedene Schmerzmedikamente verschrieben. Auch Homöopathie wurde nicht ausgelassen und ein strenger Diätplan eingeführt. Ich wurde vom Nutella-Liebhaber und Genussmensch zur glutenfreien, laktosefreien, zuckerfreien und histaminvermeidenden Spießerin. Immer wieder wurde ich gefragt: „Was darfst du überhaupt noch essen? Bleibt da eigentlich noch etwas übrig?“ Etwas schon: Weißer Reis mit Brokkoli und ein wenig Hähnchen wurden zu meinen engsten Gefährten.
Eine richtige Lösung fand sich jedoch nicht. Die Schmerzen blieben und das Ergebnis aller Untersuchungen waren unauffällige Befunde. Eigentlich ein Grund zur Freude – oder etwa nicht? Wieso hatte ich dennoch tägliche Schmerzen? Dachte ich mir das alles nur aus? Nach sechs langen Monaten stellte man dann bei einer Magenspiegelung mit endoskopischer Kamera fest, dass die intestinale Wand meines Darms durchlässig war. So gelangten Giftstoffe, Essensreste und Bakterien in mein Blut und verursachten Immunreaktionen. Die Ursache für meine Probleme schien gefunden: „Leaky-Gut-Syndrom“. Eine Untergruppe des Reizdarmsyndroms und die Lieblingsdiagnose aller verzweifelten Gastroenterologen. Doch half mir dieses „Etikett“? Hat es das Schmerzniveau oder sogar die Behandlung verändert? Leider nein. Rückblickend weiß ich, dass dies nur eine von vielen falschen Diagnosen auf dem langen Weg zu meiner tatsächlichen Diagnose sein würde.
Es gab kaum mehr etwas, das ich nicht probiert habe: drei Magenspiegelungen (weil jeder Arzt die Kompetenz des anderen anzweifelte), zwei Darmspiegelungen, Antibiotika, Schmerzmedikamente, Akupunktur, Heilerde vor jeder Mahlzeit (schmeckt so eklig, wie es sich anhört), 24h-Knochenbrühe-Fasten, Biophysikalische Therapie und eine Moxa-Therapie (aus der Traditionellen Chinesischen Medizin). Nichts brachte mich einer Lösung näher, und das, obgleich die Spurensuche wirklich kein Vergnügen war. Für die Moxa-Therapie wurde ich von meiner Familie sogar nach draußen verbannt. Die Methode wird bei vielen chronischen Erkrankungen sowie Entzündungen mit großer Wirksamkeit eingesetzt. Dabei werden Akupunktur-Punkte anstelle von Nadeln mit intensiver Wärme gereizt. Die getrockneten und in Zigarettenform gerollten Beifußblätter, die man dazu über der Haut abbrennt, entwickeln allerdings einen, sagen wir mal, „ungewöhnlichen“ Geruch. So saß ich abends auf einer Parkbank und zündete meine „Zigaretten“ an, die ich dann auf die verschiedenen Körperstellen legte. Über die Grimassen der Passanten schweige ich lieber.
Ich entwickelte mich zusehends von einer doch eher sportlichen Person (zumindest hatte ich auf der höchsten Landesebene Tennis gespielt) zur „Frührentnerin“, deren Gedanken nur noch darum kreisten, wie sie ihre zahllosen Medikamente, Probiotika und Vitamine in der richtigen Menge zur richtigen Zeit einzunehmen hatte. Nicht nur das Essen und der Sport waren beeinflusst durch die Schmerzen, auch bei meinem Medizinstudium war ich beeinträchtigt. Ich hatte Schwierigkeiten, den Vorlesungen zu folgen, während ich Stiche im Magen spürte. Der Schmerz wollte alle meine Aufmerksamkeit und ließ sich auch nicht vom spannendsten Vortrag über Anatomie beruhigen. Mit der Zeit schlich sich auch eine konstante Müdigkeit in das Geschehen.
In Prä-Krankheitszeiten lautete mein Essens-Motto: „Lecker, schnell und vor allem viel.“ Jetzt verging mir durch die nach jeder Mahlzeit auftretenden Schmerzen immer mehr der Appetit. Ich tauschte große Teller gegen kleine Schüsseln aus. Bald räumte ich auch die kleinen Schüsseln zurück in den Schrank und füllte mein Essen in Teetassen. Eine Teetasse, eine Mahlzeit. Und trotzdem fühlte ich mich auch nach diesen Kleinstportionen derartig voll, als hätte ich eine halbe Weihnachtsgans verschlungen.
Die Portionsgrößen, die ich zu mir nahm, beeinflussten auch meine Wahrnehmung der geeigneten Mengen, wenn ich für meine Familie kochte. Während ich von Resten für eine ganze Woche ausging, war bei meiner Familie nach dem Essen gerade mal der Appetit angeregt, ganz zu schweigen davon, dass sie satt gewesen wäre. Zwar kochte ich nach wie vor gerne und verbrachte wie früher Stunden damit, mir auszumalen, was ich einkaufen, zubereiten und essen wollte. Häufig scheiterte ich aber in der Umsetzung des letzten Schrittes, dem Essen selbst. Meine Beziehung zum Essen hatte eine 180-Grad-Wendung gemacht: vom besten Freund zum meistgehassten Feind. Vielleicht war ich durch die nicht enden wollenden Beschwerden auch zum Pawlow’schen Hund (siehe S. 48) geworden. Die Angst vor den Schmerzen nahm bald einen so großen Teil von mir ein, dass ich sie schon kommen sah, bevor ich überhaupt den Löffel zum Mund hob.
Den Gipfel meiner Frustration erreichte ich 2019, rund ein Jahr nach der fälschlichen Leaky-Gut-Diagnose, als ein Gastroenterologe mich nüchtern anblickte und feststellte: „Die gute Nachricht ist, dass Sie keine verkürzte Lebenserwartung haben, sondern nur eine geringere Lebensqualität.“ Einerseits schwand meine Kampfbereitschaft, andererseits wuchs meine Angst, lebenslänglich Schmerzen leiden zu müssen. Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich akzeptierte, dass ich ein Leben lang nur Portionen von zwei bis drei Bissen essen konnte, um Schmerzen zu vermeiden. Oder ich gab einer alternativen Heilmethode unvoreingenommen eine Chance. Beide Optionen gefielen mir nun nicht besonders gut. Doch der Gedanke, als „junge Rentnerin“ eine restriktive und schmerzbelastete Existenz zu fristen, war derart beängstigend, dass ich schließlich die Alternative in Erwägung zog.
Ich kannte bei mir selbst wie auch in meinem Freundeskreis ein skeptisches Misstrauen gegenüber ganzheitlicheren Methoden zur Behandlung körperlicher Symptome, die auch die Psyche als Akteur verstehen. Unvoreingenommen zu sein, ist auch nicht einfach, denn obwohl Akzeptanz von psychischen Krankheiten gewachsen ist, so schwingen beim Thema Psyche weiterhin Vorurteile und Scham mit und Betroffene erleben nach wie vor Diskriminierung. Als Medizinstudentin hörte ich im Klinikalltag regelmäßig Sätze wie: „Der Patient hat nichts. Das ist nur in seinem Kopf…“, „Ist bestimmt psychosomatisch.“ Wer kann da unvoreingenommen bleiben? Ich konnte es jedenfalls nicht. Und das, obwohl ich ausgerechnet in einer Familie von Psychiatern groß geworden bin. Oder war genau das der Grund für meine Skepsis? Jedes Mal, wenn ein Familienmitglied auch nur ansatzweise vorschlug, dass ich mit Blick auf meine Erkrankung die psychische Komponente nicht außer Acht lassen sollte, ging ich demjenigen jedenfalls fast an die Gurgel und sagte: „Das ist nicht psychisch! Ich habe mir das nicht selbst angetan.“
Rückblickend weiß ich: Die Vorstellung, dass organische Störungen nicht auch durch unsere Lebensweise und Lebenseinstellung beeinflusst werden, muss verworfen werden. Eine Trennung von Psyche und Körper in zwei Systeme, die unabhängig voneinander krank oder gesund sind, ist weder faktisch korrekt noch realistisch. Krankheiten sind häufig weder rein somatisch noch rein psychisch, denn es herrscht ein enges Zwischenspiel der Systeme. Körper und Psyche bilden eine Einheit.
Dass ich selbst dieser fragmentierten Denkweise anhing und meine Krankheit nur somatisch abklären ließ, hinderte mich monatelang daran, auch anderen „nicht schulmedizinisch orientierten Therapien“ eine Chance zu geben. Als bei mir schließlich doch noch eine Fehlbildung entdeckt wurde, stand im Sommer 2020 eine Operation auf dem Plan. Nachdem die bei mir durch das Dunbar-Syndrom verursachte verringerte Blutzufuhr zum Magen wieder normalisiert worden war, hätte ich rein körperlich beschwerdefrei sein müssen. Es zeigte sich aber, dass auch in meinem Fall eine psychische Komponente, das sogenannte Schmerzgedächtnis, mitspielte: Die Kaskade der Schmerzreduktion wurde zu einem intensiven und monatelangen Prozess und die „mechanische Reparatur“ durch die Operation war erst der Anfang, nicht etwa das Ende meiner Reise zur Genesung. Und das Werk meines Großvaters wurde zum Teil dieser Geschichte.
Für eine spezielle Ausstellung hatte man einen Elefanten in einen dunklen Raum gebracht. Die Menschen strömten in Scharen herbei. Da es dunkel war, konnten die Besucher den Elefanten nicht sehen, und so versuchten sie, seine Gestalt durch Betasten zu erfassen. Da der Elefant groß war, konnte jeder Besucher nur einen Teil des Tieres greifen und es nach seinem Tastbefund beschreiben. Einer der Besucher, der ein Bein des Elefanten erwischt hatte, erklärte: „Der Elefant sieht aus wie eine starke Säule.“ Für einen zweiten, der die Stoßzähne berührte, war klar: „Der Elefant hat die Form eines spitzen Gegenstandes.“ Ein dritter, der das Ohr des Tieres ergriff, behauptete: „Der Elefant ist eine Art Fächer.“ Mit gleicher Überzeugung aber meinte der vierte, der über den Rücken des Elefanten strich, dass der Elefant so gerade und flach sei wie eine Liege.[1]
Chronische Erkrankungen sind als Begriff fester Bestandteil unseres Wortschatzes, aber wenn wir ehrlich sind, haben wir weder als Gesellschaft noch als Ärzte einen besonders guten Durchblick, was den Kern der Sache angeht. Weder über die Ursachen noch den Entstehungszeitpunkt noch die Art der Behandlung herrscht Einigkeit und es bedarf weiterer Forschung, um unsere Wissenslücken zu schließen. Doch ob wir „chronische Krankheiten“ nun verstehen oder nicht, die meisten von uns kommen im Laufe des Lebens mit ihnen in Kontakt. Entweder durch Erfahrung am eigenen Leib oder durch Berührungspunkte bei Verwandten oder Bekannten. Die Last chronischer Erkrankungen beeinflusst uns dabei aber nicht nur auf persönlicher Ebene, sondern auch als Gesellschaft. Aus einem Report des Instituts für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität Frankfurt geht hervor, dass in Deutschland mehr als jeder Fünfte unter 30 Jahren an einer chronischen Erkrankung leidet. Mit zunehmendem Alter steigen diese Zahlen noch, bei den 65-Jährigen ist es sogar mehr als jeder Zweite.[2] In ihrer Analyse chronischer Schmerzerkrankungen beschreiben die Autoren, wie schwierig es ist, Fragen nach der „Bedeutsamkeit“ chronischer Schmerzen zu beantworten, denn die Bedeutung einer Krankheit hängt immer maßgeblich von der gewählten Perspektive ab. Aus Sicht des Patienten sind es die Lebensqualität, Krankheitslast und Sterblichkeit, die einen besonderen Stellenwert einnehmen. Aus Sicht der Gesellschaft ist es die Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung von Patienten sowie die damit einhergehenden Kosten. Der durch chronische Krankheiten entstehende Versorgungsaufwand verursachte 2015 Kosten von fast 340 Milliarden Euro. Allein Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens schlugen mit 10,9 Milliarden Euro zu Buche, dicht gefolgt vom Bluthochdruck mit 10,1 Milliarden Euro. Auch in Bezug auf Arbeitsunfähigkeit liegen chronische Krankheitsbilder an der Spitze des Verursacherfelds. Besonders dominant sind hierbei die Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und psychische Erkrankungen, welche gemeinsam ein Drittel der Fehlzeiten und 40 Prozent der Langzeit-Arbeitsunfähigkeit ausmachen. Weil sowohl persönliches Leiden als auch gesellschaftliche Kosten so hoch sind, bleibt es unabdingbar, chronische Krankheiten besser zu erforschen sowie die Ursachen, Behandlung und vor allem Prävention auszubauen.
Eine allgemeine einheitliche Definition von chronischen Erkrankungen gibt es zwar derzeit noch nicht, man beschreibt damit aber in der Regel lang andauernde und schwer heilbare Krankheitsverläufe. Ab einer Dauer von mindestens sechs Monaten bis zu einem Jahr grenzt man chronische Krankheiten von akuten ab. Mit der „Chronizität“ gibt es also einen gemeinsamen Nenner – abgesehen davon unterscheiden sich die häufigsten Diagnosen aber in so ziemlich jedem anderen Bereich: angefangen bei den verschiedenen betroffenen Organen oder Körperteilen über die Art der Symptome und deren Schweregrad bis hin zur Behandlung. Manche chronische Krankheiten gehen mit Schmerzen einher, andere nicht. Und selbst innerhalb des Krankheitsbilds „Chronische Schmerzerkrankung“ finden wir maßgebliche Unterschiede: Die Schmerzen können stechend, ziehend, pulsierend, krampfend sein. Auch die Ursachen sind bei einzelnen chronischen Erkrankungen unterschiedlich. Bei manchen ist die Genetik der Haupttäter (zum Beispiel bei Typ 1 Diabetes), andere werden im Zusammenspiel von Umwelteinflüssen, Lebensstil und altersbedingter Abnutzung ausgelöst (zum Beispiel Arthrose). Betrachtet man die weitgefächerte Liste chronischer Erkrankungen, bleibt fast kein Organ außen vor – „von Hacke bis Nacke“ –, wüten Diabetes, Krebserkrankungen, Herz- und Kreislauferkrankungen, Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems, Atmungssystemerkrankungen und psychische Störungen und beeinflussen unsere Lebensqualität, unsere Arbeitsfähigkeit und unsere Sterblichkeit.
Chronische Erkrankungen lassen sich in zwei Gruppen aufteilen: Die erste besteht aus den Erkrankungen, die eine konkrete Diagnose haben. Dazu gehören beispielsweise Diabetes, Multiple Sklerose, chronisches Herzversagen und so weiter. Die zweite Gruppe sind die medizinisch ungeklärten Erkrankungen. Ihnen lässt sich keine bestimmte Diagnose zuweisen, obwohl Patienten in ihrem Verlauf chronischer Symptome haben. In Gruppe zwei gehörte auch ich mit meinen Bauchschmerzen. Andere Beispiele sind das Schmerz-Symptom Fibromyalgie (bei dem man Muskelschmerzen, Müdigkeit, Erschöpfung und Schlafstörungen hat), Rückenschmerzen, orthopädische oder neurologische Beschwerden. Bei dieser Gruppe spricht man von „funktionellen Erkrankungen“. Das bedeutet, dass keine pathologische Schädigung eines Organs erfasst wurde, die Funktion von Organsystemen jedoch trotzdem gestört ist. Funktionelle Erkrankungen sind unter dem Hauptbegriff der Psychosomatik einbegriffen.
Es gibt eine Vielzahl verschiedener Ursachen für diagnostizierbare chronische Erkrankungen wie für funktionelle Erkrankungen. Die Symptome sind aber in beiden Gruppen oft identisch und für den Patienten nicht zu unterscheiden. Und auch ohne Diagnose ist das Leiden der Patienten in Gruppe zwei nicht weniger groß.