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Berlin, 2017: Zwei junge Frauen werden getötet – die erste aus Versehen, die zweite mit Absicht. Doch dies ist nur der Anfang, ahnt Hauptkommissar Tennat. In einem Bekennerschreiben wird ein Attentat angekündigt, das viele Todes opfer fordern wird. Allerdings liegen ihm keine klassisch politischen oder reli giösen Motive zugrunde, was die Suche nach dem Schuldigen erschwert. Es gibt einen neuen Tätertypus, der für die Entwicklung unserer Gesellschaft nichts Gutes bedeutet, weiß der smarte Kommissar. Es kann dadurch einen jeden treffen. Und egal wie alt oder welches Geschlecht, ein jeder kann der Täter sein. Auf den rauen Straßen Berlins beginnt für Tennat und sein Team ein verzweifelter Wettlauf um Leben und Tod.
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Seitenzahl: 312
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Hans Kämmerer
Der schwarze März
Ein Berlin-Krimi
Kommissar Tennats zweiter Fall
Bild und Heimat
Von Hans Kämmerer liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:
Das rote Tuch. Ein Berlin-Krimi (2016)
eISBN 9783959587518
1. Auflage
© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © fotolia / TIMDAVIDCOLLECTION
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Prolog
Sie kniete mit nach oben gezogenem Rock auf einem Gatower Acker, der an mancher Stelle schon einer Wiese glich, und grub ihre Hände in feuchten Löss, um zu verstehen, was ihr am Morgen erklärt worden war. Ihr Vater, einer der wenigen Landwirte Berlins, war kein Freund von Bodenanalysen, um Fruchtbarkeit von brachliegendem Land zu beurteilen, sondern ging der Sache selbst auf den Grund. Ein Klumpen Muttererde zwischen den Fingern, am besten bereits Anfang März, ohne Bodenfrost und vierundzwanzig Stunden nachdem es nicht übermäßig geregnet habe, könne einem viel besser verraten, ob die Zeit gekommen sei, dieses Stück Land wieder zu bearbeiten. Es hänge dabei aber nicht von einer richtigen Einschätzung des Substrats ab, also dem, was man auch im Labor herausfinde, sondern allein vom Zwiegespräch mit der Erde an sich. Das sagte ihr Vater vollen Ernstes, obwohl er keinerlei Konfession oder anderem Irrglauben anhing, und betonte abschließend, dass dies auch ihr möglich sei, schließlich sei sie seine Tochter.
Zu ihrer Verwunderung stellte sie bald fest, dass gute Voraussetzungen für die Bestellung des Feldes bestanden. Der höher als breit und wie ein kleiner Fels wirkende schwarze Erdklumpen auf ihrer flachen Hand zerbröselte nicht von selbst, verlor nicht aufgrund von Erdanziehung die Form, sondern fiel nur von dort zurück, wo er herkam, da ihre Finger ihn zerdrückten. Sie tat es fast genüsslich, da es guttat, und betrachtete auch aus nächster Nähe die Zusammensetzung dessen, was man als Humus bezeichnet und aus Resten von alten Pflanzen, Blättern, Holz und toten Tieren besteht.
Doch wie ihr Vater schon meinte, stellte dies nicht den Grund für ihr Urteil dar, und sie besaß nun wirklich keinerlei Erfahrungswert, um das, was sie mit klassischen Sinnen erfasste, beurteilen zu können. Vielmehr sprach diese Gatower Erde tatsächlich zu ihr. Es machte sich zunächst durch ein zartes Kribbeln in den Händen bemerkbar, welches langsam anwuchs und dann durch die Arme fuhr, um sich schließlich als Botschaft, dass es in diesem Jahr eine reiche Ernte geben werde, mit absoluter Gewissheit in jeder Zelle ihres Körpers festzusetzen.
Doch hatte dies ihr Vater gemeint? Schließlich ergab sich kein richtiges Zwiegespräch, da keine Worte in einem Dialog ausgetauscht wurden. Oder war es bei ihr anders? Und wenn ja, warum? Zudem wollte sie wissen, welche Botschaft ihr Vater erhalten hatte. Denn bevor er sie an einem milden, wenn auch stark bewölkten Tag auf dem Feld allein ließ, hatte er ebenfalls in die schwarze Erde gefasst, jedoch ohne sein Erlebnis mitzuteilen. Des Vaters Gesicht fror einfach für einige Sekunden ein, bis er schließlich nickte und mitteilte, dass er nun kurz zu ihrer Klassenlehrerin in die Habichtswald-Siedlung fahren werde, um zu erfragen, ob diese wisse, wo seine Frau, also ihre Stiefmutter sei. Dann strich er seiner Tochter über die Wange, lächelte mit feuchten Augen, als hätte sie Geburtstag, und fuhr mit dem Traktor in Richtung Kladower Damm.
Bloß was hieß ein kurzer Besuch? Eine halbe oder eine ganze Stunde? Und was war, wenn in der Zwischenzeit der Wind auffrischte und in der Ferne Donner erklang? War ihr nicht beigebracht worden, dass sie niemals bei solch Wetterlage wegen Blitzgefahr auf einem freien Feld stehen sollte? Warum hatte ihr Vater sie also hierhergebracht, wenn es doch auf ihrem Hof an der Gatower Chaussee viel sicherer gewesen wäre? Nur wegen des Zwiegesprächs, dieses Erlebnisses? Oder gab es noch einen anderen Grund?
Es entstanden immer neue Fragen in ihrem Kopf, auf einem Stück Land, das zuvor brachgelegen und gen Norden an die Rieselfelder für die Berliner Wasserbetriebe sowie gen Osten an die innerdeutsche Mauer gegrenzt hatte. Bis die ersten dicken Regentropfen fielen und ihr wirklich alles zu lang dauerte. Einerseits war die Stiefmutter seit gestern nicht mehr aufgetaucht; zum anderen kam nun ihr geliebter Vater nicht von der Klassenlehrerin in der Habichtswald-Siedlung zurück. Darum kniete sich die Tochter erneut hin und befragte die Erde, was zu tun sei. Hier warten, wie der Vater es wollte, oder ihm entgegengehen, weil sie es fühlte?
Und sofort durchfuhr sie wieder diese Energie und ließ jeden Zweifel mittels einer eindeutigen Botschaft in jeder ihrer Körperzellen verschwinden. Über die Abkürzung des Groß-Glienicker Wegs, wo zwar kein Traktor entlangfahren, aber sie selbst zu Fuß Zeit sparen konnte, waren es nicht viele Kilometer.
Teil I: Die Wiese um fünfzehn Uhr
Kapitel 1
I was born in Borna.
Das ist kein Einstieg, um in einer netten Runde von sich gerade kennenlernenden Menschen auf die Frage, wo ich herkomme, möglichst gewitzt zu antworten. Weder mit einem Glas Prosecco in der Hand bei einer feinen Vernissage noch zu einem Brunch in einem gemütlichen Café. Nein, das ist die real existierende Absurdität meines Lebens. Und ich bin nicht lustig, sondern böse. Außerdem trinke ich keinen Alkohol und bin gern allein.
Gestatten, mein Name ist Meta, genau wie jene Vorsilbe in Fremdwörtern griechischen Ursprungs, welche darauf hindeutet, dass sich etwas auf einer höheren Stufe befindet. Aber ehrlich gesagt, habe ich mit Metadaten, Metamorphose oder Metaphysik nichts gemein; mein Meta entspringt allein dem Vornamen Margaretha, einem Vornamen aus einem anderen Jahrhundert, in dem ich ebenfalls nicht gern vor mich hin vegetiert hätte. Erwähnenswert sei darum nur noch, dass die Kurzform an sich auch ein Sinnbild für meine mangelnde Größe ist, denn die leibliche Verkörperung einer inzwischen Mittvierzigerin weist weder besondere Länge noch erwähnenswerten Status auf, sondern bloß eine große Klappe, und das auch nur, wenn ich mich in meiner 44-m²-Schuhschachtel befinde.
Gerade stehe ich mit solchen lauten Gedanken am Fenster, kratze mich am rechten Unterarm und betrachte das für mich stumme Menschentreiben im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark; es scheint die Sonne. Im Frühling, der vor drei Tagen am ersten März im meteorologischen Sinne begonnen hat, herrscht für mich neben diesen beiden ungünstigen Faktoren (mehr Menschen da unten, mehr UV-Licht von oben) zusätzlich Pollenalarm. Der Kleinere der zwei plastenen Fensterflügel, wo das ganze Jahr ein Moskitonetz das Eindringen von Insekten aller Art verhindert und allein dem Lüften dient, ist darum nur selten gekippt. Ich schaue aber durch den Größeren der beiden, kratze erneut meinen rechten Unterarm und denke, sollen sie sich doch da unten im Park alle die Haut verbrennen.
In Borna hingen hingegen immer Wolken am Himmel. Feinstaub, Ruß und Schwefeldioxid verliehen ihnen zahlreiche Nuancen von Silbriggrau bis Neonorange, je nachdem woher der Wind kam. In meinen Erinnerungen stand er allerdings meistens im ganzen Leipziger Süden still und dadurch ungünstig für die Einwohner. Zu reichhaltige Braunkohlevorkommen lagen in der Umgebung der Tagebaue Witznitz I und II, Borna-West und Borna-Ost/Bockwitz, so dass ab den Siebzigern, der Ölkrise und dem Entschluss des Politbüros, auf die Ressource Braunkohle zu setzen, Borna unter einer Käseglocke gefangen war, in die jemand ständig schwarzen Rauch hineinpustete. Das Straßenlicht wurde darum ganzjährig am frühen Nachmittag eingeschaltet. Manchmal war der Dreck sogar so schlimm, dass man bereits morgens nicht nur keinen Himmel, sondern auch keine Nachbarhäuser erkannte, weswegen mancher Autofahrer allzeit mit brennenden Scheinwerfern im Schritttempo fuhr.
Kleinkinder litten gern an Asthma, chronischer Bronchitis, Lungenemphysem, Pseudokrupp oder bizarren Ekzemen an allen erdenkbaren Körperstellen. Erwachsene starben mit Vorliebe an Silikose, Kehlkopf- oder Lungenkrebs. Und wenn sie nicht von außen vergiftet wurden, dann von innen, da das Obst oder Gemüse aus dem eigenen Garten Cadmium, Quecksilber und andere hochtoxische Schwermetalle enthielt, bis zu hundertfünfzigmal mehr als die menschliche Gesundheit verkraftet. In den Gärten wuchs darum nur noch Rasen, und viele Bäume verloren schon Ende Mai ihre Blätter. Petersilie gedieh überhaupt nicht mehr, Birke und Pappel galten als ausgestorben. Meine Mutter meinte aber immer, dass die Menschen nur schauen müssten, wann und wie sich der Wind drehe, woraufhin ich vor mich hin flüsterte, er stehe wie die ganze Welt meistens still. Doch da meine Mutter gute Ohren besaß und ihren Satz trotzdem bei allen erdenklichen Gelegenheiten wiederholte, als wäre es eine Zauberformel, und wir zudem unsere Wäsche im Wohnzimmer aufhängten, also nie Gefahr liefen, dass weißes Bettzeug draußen rasant ergraute, begriff ich irgendwann, dass sie es anders meinte. Sie wollte genau dorthin, von wo zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Breitengrad auf der Nord- sowie Südhalbkugel der Wind meistens herkam. Sie wollte weg aus einer Ossi-Schuhschachtel, in der ich bereits damals wohnte, nur einer anderen und eben zusammen mit meiner Mutter, der größten Schande aller Zeiten – hüben wie drüben.
In Pregnant Hill, wo ich seit über zwanzig Jahren allein lebe, ist das natürlich anders. Vor meinem Fenster in der obersten Etage eines zwischen sanierten Altbauten gepressten sechsstöckigen Plattenbaus des Typs QP haben die hohen Pyramidenpappeln ihr Blattwerk noch nicht ausgebildet und vermögen keine blickdichte Mauer zum Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark zu bilden. Selbst bei geringen Windstößen eröffnen sich dadurch zwischen kahlen Ästen immer neue Blickwinkel auf altbekannte Klischees, die niemand leugnen kann, es auch nicht tut, denn Prenzlauer Berg, wie dieser Ortsteil offiziell heißt, dient als stereotypes Feindbild in Feuilleton und Kabarett. Eins über diejenigen, die es geschafft haben und wissen, wie es geht. Sie sind echte Doppelverdiener, da doppelt erfolgreich und doppelt kreativ. Sie huldigen also nicht nur dem Geld, sondern auch kulturellen und zunehmend ethischen Aspekten, da sie in allem die Deutungshoheit erlangen wollen und es auch tun. Ich kann da in Bezug auf diesen Bezirk in keiner Weise originell sein, habe da keinen Anspruch, nur Ekel, der sich am besten durch eine Zeitlang an Fußgängerampeln aufgetauchten Aufklebern veranschaulicht lässt. Auf ihnen stand einfach: »Fuck Yoga«. Doch vielleicht war dies auch eine ernstgemeinte Spielart eines weltweit millionenschweren Wirtschaftszweigs, sozusagen eine weitere Diversifikation, die ich nicht mitbekommen habe.
Ist schließlich alles möglich hier, alles erlaubt, solange es einen Markt dafür gibt und man eben die Deutungshoheit besitzt. Und da dies über die eigene Existenz hinaus funktionieren muss, passt dieses »Fuck Yoga« besonders gut, denn sie, die ich wohl am meisten verabscheue, erobern eben nicht nur durch Zuzug und Kauf von Immobilien immer weitere Gebiete, erweitern sozusagen Stück für Stück ihren Lebensraum in Richtung Osten, sondern paaren sich auch fleißig, da dies ihre Potenz am offensichtlichsten veranschaulicht und sich damit wirklich mehr Platz beanspruchen lässt. Also zwei bis drei Kids müssen es schon sein. Ist halt Pregnant Hill. Und die, ohne die es bis jetzt noch nicht geht, also die, die sich dem öffnen, indem sie dieses niemals zufällige, sondern stets genau geplante Projekt in sich aufnehmen und gedeihen lassen, nehmen keine Rücksicht auf Schwache, Kranke, Alte, Arme. Das Blut perlt an einer Nanobeschichtung ab, äußerlich und innerlich. Die Superfood verzehrenden Kriegermütter sind für mich genauso furchtbar anzusehen wie die jedes Jahr mehr werdenden jungen Touristinnen vor meiner Nase, denn der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark vor meinen Augen grenzt an den Mauerpark, den all die hässlichen Ausländerinnen inzwischen völlig für sich in Anspruch genommen haben, als wäre es ihr eigenes Land. Ja, ich kann mich bei diesem Anblick da unten gar nicht entscheiden, wen ich mehr hasse. Die etablierten deutschen Spätgebärenden oder diese jungen, südländischen Dinger, die bereits im März kurze Höschen tragen müssen. Grundsätzlich sind es aber die fünfzig Prozent der Menschheit, zu denen auch ich gehöre: Frauen.
So ist das.
Jeden Tag und ganz besonders vorm Fenster im südlichen Trakt meiner 44-m²-Schuhschachtel.
Noch eine Stunde muss ich warten, bis das Radio wieder angemacht werden kann, dann erst geht auf meinem bevorzugten Sender namens radioeins eine Sendung mit einer gewissen Moderatorin zu Ende, die ich mit ihrer möchtegern-erotischen Stimme nun mal überhaupt nicht ausstehen kann. Dann kommen erst wieder Männer ans Mikro, die allerdings während ihrer zweistündigen Show oft essen, was ich ein wenig eklig finde. Da aber Musik eine meiner wenigen Leidenschaften ist, die ich noch habe, also gute Musik, kein Pop-Mainstream, und radioeins der einzige Radiosender ist, der auch mal melancholische Saiten anschlägt, ohne wie FluxFM zu elektronisch zu werden, gibt es keine Alternative. Was bei radioeins neben den Frauenstimmen stört ist nur die Werbung. Wenn die läuft, mache ich das Radio leise oder ganz aus, aber nicht so oft am Sonntag, da gibt es keine ohrenverätzende Reklame im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dadurch herrscht weniger Stress. Ich bin sogar einigermaßen entspannt, falls das bei mir geht, vielleicht sogar müde ohne Schlaftabletten, was mich bewegt, an meine Stirn zu fassen, um zu überprüfen, ob ich nicht Fieber habe, was wiederum meinen Plan, noch Staub zu putzen, gefährden könnte. Seit Tagen schwirrt das Wort Frühjahrsputz in meinem Kopf herum, und es muss wirklich sein, obwohl ich mich kaum bewege und wegen der Pollen das kleine Fenster zu ist. Der Staub, der sich überall in einer dicken Schicht breitgemacht hat, kann also nicht von mir oder vom Straßenverkehr sein. Wohne auch nicht an einer Hauptverkehrsader, sondern an einem Park, wie bereits festgestellt, wo noch immer …
Doch plötzlich passiert etwas, meine Gebete scheinen erhört. Zuerst kapiere ich es nicht, denke an Laiendarsteller einer freien Theatergruppe, die nach wochenlangen Proben und noch längeren Diskussionen irgendwann für einige Minuten in einer vom Senat geförderten und trotz freien Eintritts total leeren Kultureinrichtung ihren einen Moment haben. Aber dies scheint kein unsinniges Spiel zu sein, eher das, was man blutigen Ernst nennt, auch wenn meine Mundwinkel sich automatisch zu einem schmerzhaften, da ungewohnt persistenten Lächeln nach oben verformen.
Auf der einen Wiese fällt ein weibliches Wesen, das mir zuvor nur wegen eines hässlichen, langen Rockes aufgefallen ist. Nicht nur die Menschen um sie herum, sondern auch weiter entfernte, die zuvor mit den Performern nichts zu tun hatten, laufen bald panisch hin, beugen sich zu dieser Person hinunter, haben nun doch etwas damit zu tun.
Es wirkt nach wie vor äußerst theatralisch, ist aber keine Fata Morgana am Horizont meiner seelischen Wüste, weil so laut geschrien wird, dass ich es durch die geschlossenen Fenster meiner 44-m²-Schuhschachtel höre. In meinem Kopf ertönt dadurch neben dem Wort Frühjahrsputz automatisch passender Applaus.
Kapitel 2
Es ist bald so weit, nun kann es wirklich jederzeit kommen. Tracy Kraft spaziert bedächtig, so unglaublich langsam durch den vor ihrem Haus befindlichen Park. Noch sprießen keine Blätter an Büschen und Bäumen, aber es ist derart warm, als wäre es nicht erst der vierte März, sondern bereits Mitte Mai, dem Klimawandel sei Dank.
Passend dazu klopft auch das Kind im Bauch immer häufiger, nur nicht gerade jetzt, wenn seine Mutter sich bewegt. Im Durchschnitt sind im aktuellen Stadium Babys knapp fünfzig Zentimeter lang, besitzen einen Kopfumfang von rund fünfunddreißig Zentimetern und wiegen bereits über sechs Pfund. Per Ultraschall, der bei Spätgebärenden auf der Zielgeraden öfter gemacht wird, um das Fruchtwasser zu überprüfen, kam aber schon heraus, dass das Kind bereits länger und schwerer, also ein ziemlicher Dickkopf ist. Kein Wunder bei dieser riesigen Kugel, die Tracy vor sich herträgt. Dabei hat sie sonst kaum Fett zugelegt. Weder an Armen noch an Beinen oder Po. Das sieht bei anderen Frauen ganz anders aus. Nur Tracys Brüste sind angenehm gewachsen, vor allem in den letzten Tagen, als wenn schon der Milcheinschuss beginnen würde. Alles ist auch in diesem Sinne für die Geburt bereit. Fehlt nur noch ein Vater, wenn man daswill. Neben dem Namen des Kindes gilt auch dies demnächst zu klären. Ebenso, ob sie, die Mutter, wenn alles vorbei ist, weiterhin solch langen Röcke tragen wird, eine modische Todsünde, aber unheimlich bequem und praktisch zugleich.
Tracy setzt sich also, ohne dass es irgendwo zwickt, auf eine freie Bank und denkt, dass sie in den Jahren zuvor nur einen Fuß in diesen Park gesetzt hat, um auf der Tartanbahn ihre Runden zu drehen, was aber selten vorkam, da die Laufbänder vom Holmes Place besser gefedert sind. Ansonsten diente dieser Park allein als Kulisse zu Füßen ihres Lofts. Prenzlauer Berg, oberste Etage und möglichst freie Sicht waren drei wesentliche Kriterien, als sie sich vor zehn Jahren in Berlin nach einer dauerhaften Bleibe umsah. Laut dem Makler lag über einen Kilometer zwischen ihrem Balkon und dem nächsten Fenster in Richtung Westen; laut Google Maps sind es allerdings nur siebenhundertfünfzig Meter, wie sie feststellte. Dazwischen befinden sich der schmale Mauerpark, das Jahnstadion, die Max-Schmeling-Halle und diverse Echt- oder Kunstrasenplätze, also alles recht flach, vor allem was die Areale direkt vor ihrem Haus betrifft.
Ihre Lieblingsstelle, die Tracy erst vor kurzem entdeckt hat, als wäre diese aus dem Dornröschenschlaf erwacht, ist eine unweit gelegene quadratische, von allen Seiten umzäunte Wiese. Den schmalen Zugang erreicht man nur, wenn man ihn kennt, da er sich versteckt zwischen Tennisplätzen und einem für Vereinssportler neugebauten Umkleidetrakt befindet. Dadurch verirren sich nur wenige Auswärtige hierher, selbst an einem warmen Sonntag, an dem es alle Menschen hinauszieht, höchstens zehn- bis fünfzehn Einheimische.
Tracy findet also genügend Platz auf rund einhundert mal einhundert Metern, wo sich neben zwei getrennt liegenden Pärchen hinten rechts nur noch eine Handvoll junge Leute hinten links tummeln. Ein schöner Anblick, denkt Tracy, nicht zu viel, nicht zu wenig – Menschen und dadurch Gedanken. Und wie besonders die Jüngeren vor ihr agieren bringt sogar schöne Gedanken, denn es zeugt von Freundschaft und dass man das Leben genießen kann.
Tracy lässt ihren Blick nicht von diesem Grüppchen ab und wünscht sich jene positive Einstellung dem Leben gegenüber auch für ihr eigenes Kind, wobei beruflicher Erfolg im Sinne, dass man mit einer Tätigkeit Geld verdienen kann, die einem am Herzen liegt, als ebenso elementar wie Gesundheit zu erachten ist, da sich beides bedingt.
Daraufhin atmet Tracy durch, seufzt geradezu, wie es ihr neuerdings bei solchen Gedanken bezüglich des Kindes und dessen Gesundheit passiert, da immer ein wenig Angst mitschwebt, mit der schlecht umzugehen ist. Sie kratzt sich am Unterarm, der aus irgendeinem Grund an diesem Tag juckt, fasst sich dann an den Bauch, wo sich gerade nichts tut, schaut dann von den jungen Leuten weg, zunächst durch die hohen Bäume, dann in den Himmel. Schließlich wird sie nun Mutter, hat allerdings trotz kerzengeraden Rückens bereits einige Jahre auf dem Buckel, wie ihr im letzten Winter äußerst bewusst geworden ist. Die eigene Endlichkeit macht sich auch durch Falten bemerkbar, die trotz erhöhter Wasserbindungsfähigkeit ihres Hautgewebes besonders im Gesicht zum Vorschein kommen. Tracy findet diese Falten zwar gut, also nicht direkt schlecht, da sie dem Gesicht mehr Kontur geben und noch nichts Entstellendes haben, doch jeden Tag gleichzeitig die Frage symbolisieren, was vom eigenen Leben bleibt, wenn selbst die Falten nicht mehr sind. Gewiss das Geld. Und hoffentlich das Kind, welches niemals aus Geldgründen arbeiten werden muss. Doch gibt es eine persönliche Botschaft, eine Ansicht, die Tracys Leben eine innere Schönheit verleihen kann? Schließlich dreht sich vieles bei ihr um Ästhetik, das kann sie nicht leugnen, will sie auch nicht, auch wenn sie einen grenzwertigen Rock trägt.
Und sich wieder am Unterarm kratzt.
Und danach den Bauch streichelt, wo sich nichts bewegt.
Und zu diesen jungen Menschen schaut, die sich Drinks eingießen und wirklich nett aussehen. Einer, der Dünnere der beiden Männer, trägt eins von diesen Refugees-Welcome-Shirts, scheint sich noch zu engagieren, dies ernst zu meinen. Eins von den Mädchen sieht sogar zu Tracy herüber, winkt mit einem Eiswürfelpaket, damit sich die schwangere Frau eine Abkühlung verschaffen kann. Das ist nett gemeint, was Tracy zugleich befremdet, da es nun wirklich nicht heiß ist und es zudem in ihrer Generation nie viel um Helfen ging. Man dachte stets an sich, dachte, es würde immer weiter auf Individualisierung und ein rein auf materielles Glück gerichtetes Streben hinauslaufen. Trotzdem war das Helfen vor drei, vier Jahren ein wichtiges Thema geworden, weil geopolitische Ereignisse ihre Folgen in der deutschen Gesellschaft zeitigten oder weil es auch eine Gegenbewegung, einen Konterpart zur vorherigen persönlichen Abschottung einer ganzen Generation an Hedonisten darstellt. Und Abschottung ist nun seltsamerweise wiederum ein großes Thema staatlicherseits geworden, sei es durch Einwanderungsquoten, Zäune und neue Zölle, obwohl sich zuvor alle Grenzen, vor allem in Europa, nach und nach geöffnet haben, da nichts wichtiger schien als der freie Markt, ein immer besserer Menschen- und Warenfluss in einer globalisierten Welt. Es sollte immer weiter so gehen, das waren Tenor und Glaube, der Fortschritt und die Aufklärung, nun haben beide aber eine Backpfeife bekommen und stehen mit roten Wangen in der Ecke. Und es geschah recht plötzlich, als wenn sich eine schwarze Energie angestaut hätte, die nun alles durchdringt. Es machte sich zunächst nur in einigen Ländern bemerkbar, die Tracy schon immer bizarr vorgekommen sind, doch nun in fast allen, als wäre es Mode, nur eine, die nicht wie Kleidung in der nächsten Saison überholt sein würde. Man sieht es an den letzten Bundestagswahlen; mein Gott, wer hätte das vier Jahre zuvor gedacht? Trotzdem befindet sich nach wie vor das Helfen im Bewusstsein einer Anzahl an Bundesbürgern und definiert noch den Zeitgeist.
Tracy kann dieses Engagement oder auch die Macht, die von politischen Statements ausgehen kann, exemplarisch an einer Anfrage seitens einer ihr persönlich und der breiten Öffentlichkeit bekannten Journalistin festmachen. Ein Netzwerk von Frauen aus Wirtschaft, Medien und Kultur engagiert sich schon länger für syrische Flüchtlinge, jedoch inzwischen mit stagnierendem Erfolg, da der Hype und das öffentliche Interesse nachlassen. Die bekannte Journalistin schickte bei ihrer Mail-Anfrage an Tracy sogar ein mit dem World Press Photo Award prämiertes Foto, jene unscharfe Nachtaufnahme von Warren Richardson, auf der ein Flüchtling am Grenzzaun von Serbien zu Ungarn ein Baby durch den Stacheldraht reicht. Das war geschickt, denn es war bereits allgemein bekannt, dass Tracy Kraft schwanger ist. Dann rief die Journalistin auch noch persönlich an, fragte nach, ob Interesse bestehe, um, als Tracy zögerte, zu ergänzen, dass sie dann nicht nur wegen ihres Kernthemas Textilwirtschaft im Fernsehen auftrete, sondern auch zu politischen sowie ethischen Fragestellungen, und das in ernsthaften Talkshows, die ihr sonst verschlossen blieben. Schwangere Frau, schick gekleidet, mit knallrotgeschminktem Mund, in mehreren Vorständen sitzend, also extrem erfolgreich und ohne jegliche Sozialromantik über die ganze Sache redend. Was aktuell zu tun sei. Dies, das, jenes. Da könne ihr kein Politiker das Wasser reichen, weder die von links noch die von rechts. Wenn Tracy Kraft das Wort erhebt, dann erstarrt alles in Ehrfurcht und hört zu. Tracy bat zum Abschluss jenes Kontaktes um Bedenkzeit: »Ich werde mich bei Ihnen melden.«
Was sie nicht tat. Aus vielen Gründen. Zum einen befindet die Familie Kraft seit Generationen politische und religiöse Äußerungen für nicht vorteilhaft für die eigene Sache, da sie einen verorten. Überdies hat Tracy Kraft selbst keine politischen oder religiösen Präferenzen, will diese nicht haben, weil sie zwar mitten in der Gesellschaft agiert, sich aber noch nie irgendwo zugehörig fühlte. Drittens wegen der Eitelkeit. Die meisten Menschen, die sich gerade in der Öffentlichkeit – und nicht wie der junge Mann vor ihr mit dem Refugees-Welcome-Shirt – engagieren, tun dies nämlich nicht, weil sie wirklich und vor allem dauerhaft helfen wollen, weil sie es innerlich schon immer gefühlt haben und überzeugt davon sind, sondern weil sie sich nun selbst so sehen wollen: helfend und folglich gut. Und das kommt nur daher, weil sie es woanders gesehen haben, wie ein Must-have, ein Kleidungs- oder Möbelstück in der Friedrichstraße oder am Kurfürstendamm, das sie unbedingt haben müssen. Es ist zutiefst narzisstisch, leider, und eine weitere Form von Konsum. Und auch wenn Tracy aus dem konsumorientierten Mode- und Lifestyle-Bereich kommt und es dort völlig offensichtlich um reine Eitelkeit geht, so ist diese dort die ehrlichste Form und nichts im Vergleich zur nicht mal mehr verkappten Eitelkeit von Politikern, Journalisten und Intellektuellen in Talkshows. Sie alle möchten nur noch recht haben, am liebsten für immer und über den Tod hinaus, ganz wie in Milan Kunderas Buch Die Unsterblichkeit, und regen sich über andere auf, wie es Tracy nicht mal in Firmen tut, bei denen sie im Vorstand sitzt.
Nein, Tracy Kraft will nicht recht haben, nicht mehr und nicht so. Und sie weiß erst recht nicht, was zu tun ist, weder jetzt noch später. All das nervt sie, weswegen sie sich auch bei Facebook, Twitter und Instagram abgemeldet hat, da all die Kommentare nur Pickel im Gesicht erzeugen. Sie will das nicht mehr sehen. Tracy Kraft will möglichst wenig sehen, außer ihren Falten, ihren Namen im Impressum einiger Firmen sowie natürlich bald ihr eigenes Kind. Und dies wohl am besten in einem Haus auf dem Lande, vielleicht in Frankreich, wobei Frankreich auch nicht mehr das ist, was es mal war. Es wird wohl auf einen immer stärkeren Rückzug aus der Öffentlichkeit hinauslaufen, der sie zum ersten Mal in ihrem Leben keineswegs erschreckt, sondern gerade durch das Kind folgerichtig erscheint, fast als sei es keine Option, sondern Pflicht, da es für ein Kind besser wäre, nicht in dieser Stadt oder überhaupt in einer Großstadt aufzuwachsen. Allein schon wegen der Anschläge. Es ist einfach zu gefährlich geworden.
Tracy bekommt seit ihrer Schwangerschaft ein immer stärker werdendes Bewusstsein dafür, sozusagen ein Auge für potentielle Gefahren. Sie muss dazu nur fünfzig Meter weitergehen, egal in welche Richtung. Überall auf den Straßen, in den Cafés oder Supermärkten kann man Psychopathen entdecken, die immer mehr werden. Sie lassen sich aber nicht nur anhand von Bärten und Burkas entlarven, das ist zu einfach gedacht, zu kurzfristig. Man erkennt sie vielmehr an ihren glasigen Pupillen, als wären sie auf einer Droge hängengeblieben, und können jedes Alter, jede Hautfarbe, jede der vom Senat anerkannten über vierzig Geschlechtsarten besitzen, denn sie tragen vor allem eins in sich, das sie verbindet, ja, definiert: Entfremdung. Manche benutzen auch das Modewort Wut oder das noch stärkere Hass, welche allerdings nur Ergebnisse der Entfremdung sind. Die Menschen schotten sich wie die Länder nach außen ab. Es ist ein Ergebnis der Aufklärung, der Individualisierung, potenziert durch den Siegeszug der virtuellen Welt der sozialen Netzwerke, welche als real wahrgenommen wird. Ein Paradox, wie man meinen könnte, doch ohne echten Kontakt und vielleicht sogar Zwang scheint der Mensch anscheinend verloren.
Das Gegenteil ist die Verbindung, in ihrer absoluten Version: die Liebe. Tracy hat zunehmend Angst, dass diese Liebe, die sie vor allem für ihr Kind spürt, durch diesen allseits präsenten Hass gefährdet ist. Tracy streichelt abermals ihren Bauch und denkt gleichzeitig an die Korrespondenz, die sie seit neun Monaten mit einem für sie sehr wichtig gewordenen Menschen pflegt. Dieser Kontakt, und es wirkt für sie wie einer aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, wo man sich für handgeschriebene Briefen viel Zeit nahm, zeugt nicht von Entfremdung, sondern von enger Verbindung. Jede Woche schreiben sie sich eine lange E-Mail, die allerdings nie Längen aufweist, sondern stets spannend und schön bis zum letzten Wort ist. Dabei hat Tracy diesen Mann, der so schön schreiben kann und für sie auch schön aussieht, vor einigen Jahren sehr ungewöhnlich kennengelernt, fast aus den Augen verloren, doch dann wiedergewonnen, als hätte das mit ihnen beiden erst reifen müssen wie ein guter Wein, den man noch nicht kosten darf. Anscheinend. Weil es zu schön ist. Oder beide nie ein Treffen ansprechen. Also der Wein noch ein wenig Reifung benötigt. Oder sie beide einfach zu schüchtern sind.
Tracy ist erfüllt von dieser Korrespondenz, diesem Mann, bis sich ihr Körper meldet. Der Bauch, die andere Füllung. Jedoch nicht, weil sich das Kind bewegt. Es ist vielmehr die Gebärmaschine an sich, die Hunger verspürt, welcher sich gegen fünfzehn Uhr am besten im mit kulinarischen Einrichtungen gut bestückten Gleimviertel hinter dem Plattenbau der angrenzenden Gaudystraße befriedigen lässt. Und inzwischen ist es in der prallen Sonne doch etwas zu warm geworden, weswegen Tracy großen Durst empfindet, der unangenehm wird und nicht gestillt werden kann, da sie bereits eine Flasche Wasser beim Spaziergang über den Flohmarkt am Mauerpark ausgetrunken hat. Sie kann also Nachschub gebrauchen und erhebt sich von der Bank am Rande der schönen Wiese, um sich der Realität zu stellen, dem Kampf, den Verrückten auf der Straße mit ihren glasigen Pupillen, den potentiellen und tatsächlichen Attentätern, als abermals dieses eine Mädchen mit den Eiswürfeln winkt und Tracy wieder an Frieden, echte Freundschaft und das Gute im Menschen denken lässt.
Kapitel 3
Laura Maria García fühlt die schöne Traurigkeit, jene Form einer angenehmen Melancholie, die für sie nur durch den ursprünglichen andalusischen Flamenco, der noch mehr maurische Einflüsse enthielt, oder durch Schlafentzug an solch perfekten Tagen auf einer Wiese bei strahlendem Sonnenschein entstehen kann.
Genau genommen entspricht dem aber auch eine Form des Glücks, denn richtig traurig ist Laura selbst nicht gewesen, als sich ihre Eltern trennten. Damals, sie war acht, sah sie allein Vorteile. Papá und mamá wurden im Umgang miteinander wesentlich entspannter, kauften in bester Stadtlage Madrids und im selben Haus eine weitere Etage auf, wo papá einzog und Laura ein weiteres Kinderzimmer bekam, das sie ganz nach ihrem Geschmack gestalten durfte. An die himmelblaue Decke malte der neue Freund von mamá, ein recht bekannter Bildhauer und Maler, weiße, fast fotorealistische Wolken, an die Wände schwarze Umrisse von Bäumen, als wäre dort ein Wald. Dieses Zimmer lud zum Träumen ein, und daher lag Laura oft in ihrem Bett, das zwei Vorhänge besaß – einen ganz feinen wie einen Schleier gegen Mücken und einen aus dickerem roten Samtstoff mit Rosenmotivstickereien, der das Bett wie zu Zeiten des ersten richtigen spanischen Königs Philipp II. in eine dunkle Höhle verwandeln konnte. Aber selten fühlte sich Laura danach, sich von der Außenwelt abzuschotten; sie liebt schon immer das Leben und kann nicht genug davon kriegen.
Genau wie jetzt in Berlin, wo sie nach einer durchgemachten Nacht, einem ausgiebigen Brunch in ihrer WG und anschließendem Flohmarkt-Besuch im Mauerpark auf einer zufällig entdeckten Wiese liegt. Sie trägt zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Deutschland Hotpants, zwar mit Strumpfhosen darunter, aber immerhin, und schaut entspannt nach oben. Alles schön, befindet sie. Krähen, Elstern, Spatzen, Tauben und vereinzelt Insekten. Das Leben erwacht. Es sind vor allem die noch kahlen und in Reihe stehenden Pyramidenpappeln am Rande der Wiese, die es Laura antun. Sie werden in Deutschland gern an Sportplätzen gepflanzt, da sie schnell bis zu dreißig Meter hochwachsen, ohne wesentlich in die Breite zu gehen, also ganz nach deutscher Mentalität präzise planbar sind. Möglich ist das, da der Blattstiel einer Pappel seitlich zusammengedrückt und dadurch labil ist, was zu einer hohen Blattbewegung führt. Diese fördert die Verdunstungsrate, was wiederum die Pumpkraft erhöht und zu einer größeren Aufnahme an Nährstoffen und somit zu jenem schnellen Wachstum in die Höhe führt. Die sich nach oben verjüngende reine Gestalt ergibt auch den deutschen Namen. Im Spanischen heißt diese Pappel hingegen álamo de Lombardía und verweist namentlich auf ihren Ursprung in der norditalienischen Region Lombardei. Durch Napoleon fand der Baum von dort aus nach ganz Europa als Alleebaum Verbreitung, da seitliches Sonnenlicht die Wege schneller als anderswo trocknen konnte. Inzwischen ist die Pyramidenpappel aber wegen ihrer guten Eigenschaften bei der Aufforstung gerodeter Wälder nicht nur in Europa, sondern weltweit gefragt, sozusagen als echter Global Player.
All das, was Laura durch eine ihrer vielen Hausarbeiten weiß, stellt aber nicht den Grund dar, warum Laura diesen Baum liebt. Es ist allein sein sanftes Hin- und Herschwingen. Selbst ohne Blätter wiegen sich die Baumspitzen ganz zart im kleinsten Wind. Tiefe Dankbarkeit spürt Laura da, echten Frieden. Besonders an diesem milden Sonntag, an dem die Sonne zeigt, was sie auch in Deutschland kann. Worüber sie auch in der noch sehr kühlen Nacht mit ihren Freunden sprach, die nun wiederum gerade schweigen, obwohl sie auf dem Weg hierher, vor gut zehn Minuten, noch wild über die Zukunft der EU diskutierten.
Laura richtet sich auf und schaut zu ihnen hinüber. Drei ihrer hier in Berlin gewonnenen vier Freunde befinden sich nur wenige Meter entfernt im Schatten der Bäume oder wie sie im prallen Sonnenlicht. Roul, der katalanische Politologe und Call-Center-Agent, der sich selbst wegen seines Körperumfangs manchmal Barcelona Buddha nennt, sitzt im Schneidersitz auf einem abgesägten Baumstumpf und dreht für alle Zigaretten. Stefano, der dünne, sonst stets überdrehte Italiener, mit dem Laura durch das Erasmus-Austauschprogramm ein Semester in Umweltverfahrenstechnik an der TU Berlin absolviert hat, lehnt sich etwas dahinter gegen einen Zaun und bläst Seifenblasen in den Wind, als würde er tatsächlich mal zur Ruhe kommen. Clara, die gebürtige Französin, die sich ohne Studium seit zwei Jahren in Berlin erprobt, steht auf einem Bein und jongliert mit kleinen Bällen, bis sie feststellt, dass sie etwas stört.
Clara streift lachend ihren langen Batik-Rock ab und wirft ihn Laura zu, als ob sie ihn mal anprobieren sollte. Und Laura tut es, obwohl sie sonst nie Röcke oder Kleider trägt, sondern ausschließlich Hosen, am liebsten eben kurze Hotpants, denn wenn sie eins in Berlin gelernt hat, dann ist es, über den eigenen Schatten zu springen und spontan zu sein. So wie ihre brasilianische WG-Mitbewohnerin Sophia, die Fünfte im Bunde, die über die Wiese gesprungen kommt und jubelt: »Cuarenta y Tres!«
Laura lächelt, dreht sich mit dem Rock im Kreis, die Jungs klatschen, wobei es auch am Cuarenta y Tres liegen kann, denn was für andere Leute in solchen Momenten ein Jägermeister oder Sekt wäre, ist für die Freunde dieser spanische Likör, der sich aus einem über zweitausend Jahre alten Rezept entwickelt hat. Cuarenta y Tres ist einzigartig, da er aus dreiundvierzig Zutaten besteht, einer geheimen Rezeptur mit unzähligen Gewürzen. Lauras papá trinkt ihn pur. Als Longdrink wird er in Berliner Clubs meistens mit Milch im Verhältnis eins zu drei gemischt. Laura und ihre Freunde genießen ihn aber mit eiskaltem Maracujasaft. Sophia hat im Späti sogar einen Sack Eiswürfel bekommen, Sophia ist großartig. Sie stellt kompostierbare Pappbecher auf den Baumstamm, auf dem zuvor Roul gesessen hat, und macht die Drinks. Es ist gegen fünfzehn Uhr. Seit dem Morgen hat Laura nichts bis auf Wasser und Matetee getrunken. Von weitem hört sie schon den Soundcheck von Joe Hatchibans berühmter Freiluft-Karaoke-Party, die bereits ab diesem Sonntag mit mehreren hundert Zuschauern in die neue Saison starten soll. Darum sind sie eigentlich hier. Sie wollen es echt und live erleben, nicht nur auf YouTube.
»Salud!«
»Cin cin!«
»Saúde!«
»Santé!«
»Prost!«, sagt Roul, der in der Nacht seinen Entschluss mitteilte, nun für immer in Berlin zu bleiben, da er als Politologe in Spanien sowieso keinen Job bekäme.
Sie stoßen an, stehen im Kreis, die vorhin kurz eine schöne Traurigkeit oder einfach ein Bedürfnis nach Ruhe verspürten, sind jetzt wieder voll da und mit sich zufrieden, obwohl sie wissen, bald Abschied voneinander nehmen müssen. Oder sie bleiben alle. Oder sie besuchen sich gegenseitig. Das ist ja heutzutage kein Problem, sie sind auch nicht anders aufgewachsen, die Welt wird immer vernetzter. Aber nun sind sie noch hier. Im Jetzt. Im Frühling. Das kann ihnen keiner nehmen. Sie sind jung und in Berlin besonders frei, wenn auch zielstrebig. Es gibt viele Probleme in der Welt, doch sie sind sich gewiss, dass dies alles zu packen ist. Und sie wollen ein Teil dieser neuen Welt sein. Ohne Umweltzerstörung. Ohne Armut. Ohne Ungerechtigkeit. Ohne Krieg. Warum können die Menschen einander nicht toleranter und hilfsbereiter begegnen? Das kann schon mit kleinen Symbolen anfangen, wie zum Beispiel den Eiswürfeln, die Sophia wohl zum dritten Mal einer schwangeren, blonden Frau anbietet. Sie steht auch tatsächlich auf, kommt herüber. Doch da passiert etwas mit Laura.
Es fühlt sich an, als würde ihr jemand auf den Rücken klopfen, weil sie sich an ihrem Getränk verschluckt hat, was aber nicht zutrifft, und zusätzlich geschieht es merkwürdigerweise vorn auf der Brust. Es fängt an einem Punkt an und verzweigt sich nach außen wie das Sonnengeflecht der Nervenbahnen am Bauch, nur eben etwas darüber und zwischen ihren beiden Lungenflügeln. Es ist angenehm warm, das muss sie zugeben. Und sofort denkt sie an Zuckerwatte, die sie als Kind in großen Mengen aß, möglichst direkt aus der Maschine, warme essbare Wolken. Vielleicht lässt sich Laura darum fallen, genau so, wie sie es früher in ihr Bett mit den beiden Vorhängen tat. Es geschieht ganz automatisch, ohne allerdings zu spüren, dass ihr Körper landet. Viel eher fühlt es sich an, als würde sie gar nicht wirklich fallen, sondern in der Luft schweben, weil sich ihre Füße nach oben bewegen. Passend dazu fliegen die Vögel und Insekten nicht mehr über Laura, sondern neben ihr in Kopfhöhe, knapp unterhalb der Baumkronen der Pyramidenpappeln, welche nun voller saftiger Blätter sind, wie Laura überrascht feststellt. Sie hört im Wind ein zartes Blattrauschen, wohl das schönste Flirren, das Laura je gehört hat, lieblich wie Engelsflöten. Von hier oben hat sie eine leicht verzerrte Perspektive, da ihr Körper wie in einem Fahrstuhl immer weiter hinaufgleitet, verfolgt aber das Geschehen unter ihr nicht weniger detailliert.
Sie sieht sich selbst.
Wie Laura Maria García völlig ruhig daliegt.
Aus der Mitte ihres Oberkörpers wachsen rote Rosen.
Und nach wie vor ist sie glücklich, nur anders – nicht mehr hier, nicht mehr jetzt.
Teil II: 4.–19. März
Kapitel 4
»Sie liegt genauso, wie …«, deutet Michael Wandt an und geht mit laut knackenden Kniegelenken in die Hocke.
»Wie sie hinfiel«, bestätigt Sven Tennat, der aus ihrem Team zuerst eintraf. »Niemand hat sie bisher angerührt. Außer die Sanitäter, die den Tod feststellten, sowie ihre Freunde, die anfangs an ihr rüttelten, aber ebenso bereits feststellen konnten, dass …«
»Bei dem Blutverlust, kein Wunder. Durchschuss?«
»Die Kollegen der KT haben sie kurz angehoben, die Kugel steckt noch im Brustkorb, ist nicht ausgetreten.«
»Und ihre Freunde sitzen entspannt am Zaun bei Udo Melzig?«
»Sie sitzen, ja, aber entspannt? Sie stehen wohl eher unter Schock, wie ich finde. Sobald du das Okay gibst, werden sie ins LKA gefahren und einzeln befragt. Die Psychologen sind verständigt.«
»Keiner ist also vorhin weggerannt«, wundert sich Wandt und steht mit erneut knackenden Knien wieder auf. »Nach einem Schuss aus heiterem Himmel und wenn jemand neben einem tot umfällt.« Er kratzt sich am Kopf. »Rennt man da nicht weg? Bringt man sich nicht in Sicherheit?«