Der Seuche entstiegen. - Karl Heinz Wesemann - E-Book

Der Seuche entstiegen. E-Book

Karl Heinz Wesemann

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Beschreibung

Der Roman schildert die Zeit um 1350 aus der Sicht eines Priesters, der im Rheinland nicht nur gegen die Pest zu kämpfen hat, sondern gegen noch etwas, was der Seuche entstiegen zu sein scheint. Die Archäologin, die seine Aufzeichnungen und Berichte findet, vertieft sich immer mehr in die Schriften und wird in ihren Bann gezogen, denn sie erfährt Hintergründe von denen sie nie zu träumen gewagt hätte, es aber nun beginnt. Der Umschlagtext: Elvira von Rensdorf gräbt, wie sie es schon oft getan hat, etwas aus dem Boden. Nur dieses Mal verändert ihr Fund das Leben der Archäologin. Das Buch, das sie entdeckt, entpuppt sich als ein Werk eines Priesters zur Zeit der Pestepedemie im Europa des 14. Jahrhunderts. Und das, was er schreibt, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Denn nicht der Tod wandelte durch Europa und das Rheinland. Es waren die Toten, die der Seuche entstiegen waren. Folgen sie Elvira und dem Autor des ausgegrabenen Buches, in diesem Genremix aus mittelalterlicher Erzählung und Zombieroman, in eine Zeit vor fast 700 Jahren, in der jeder Tag der letzte sein konnte.

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DerSeuche entstiegen

Wie schwarz und wie tot, war der Schwarze Tod?

geschrieben von K. H. Wesemann ©2014, Überarbeitete Fassung

Ein fiktiver, historischer Roman über ein Thema, dass niemals angeschnitten wurde.

Vielen Dank an Kerstin, Steffi, Bernd, Andrea und Stefan, ohne die das Ding hier wohl im Sande verlaufen wäre. Und natürlich auch Danke an die anderen „Probeleser“, denen ich auf den Geist gegangen bin.

K.

I

„Nun komm schon! Pack mit an!“ Elvira schwitzte unter der Last des Steines, den sie zu bewegen versuchte. Das war nichts wirklich Neues für sie, da sie doch eher schmächtig war und nicht viel Kraft besaß. Dafür aber besaß sie umso mehr Ehrgeiz, der sie antrieb und sie dumme Dinge tun ließ. So wie gerade jetzt, als sie versuchte einen der Steinbrocken in der Zelle aufzurichten, der schon beim bloßen Anschauen als eindeutig zu groß und schwer für sie, zu erkennen war. Jedenfalls für alle außer Elvira.

„Moment, Ellie. Musstest du schon wieder alleine das dicke Ding bewegen wollen?“, meinte Gerd mürrisch. Er kannte seine Kollegin schon so lange, dass ihm wohl jede ihrer Charaktereigenschaften vertraut war. Die Guten wie die Schlechten. Was aber nun nicht bedeutete, dass er sich nicht trotzdem zu einem Kommentar hinreißen ließ. Auch dann, wenn es für ihn sonnenklar war, dass sie einfach nicht hatte warten können.

Seit nunmehr drei Jahren gruben sie im Kloster zu Blaubach. Warum ausgerechnet diese Stelle so interessant sein sollte, hatte ihm Elvira nie genauer erläutert. Er brauchte diese Informationen aber auch nicht um Feuer und Flamme zu sein, denn jedes ihrer Projekte war bisher erfolgreich verlaufen. Jedes Mal legten sie sowohl historisch, als auch materiell Wertvolles frei. Wie auch hier. Und außerdem war ihm die Lebensart im Rheinland – denn Blaubach liegt nicht sehr weit von Bonn entfernt- sehr angenehm.

Nach anfänglichen Stockungen, hatten sie einen recht großen Teil des eingestürzten Chores freigelegt. Steine ausgraben und säubern, kennzeichnen, entfernen, sortieren und katalogisieren, all das erledigten sie mittlerweile fast wie im Schlaf. Routinearbeit. Doch manchmal meinte es der Gott der Archäologen gut mit ihnen, und sie kamen schnell voran, wie vor drei Monaten, als sie auf diesen Abgang stießen. Nicht ganz offensichtlich lag die oberste Stufe eines Abganges einfach so vor ihnen. So, als wären sie nicht schon hunderte Male über diese Stelle geschritten, als hätten sie nicht schon unendlich oft in dieser Ecke am alten Altarplatz gefegt und geputzt. Einfach so schaute die Ecke der Stufe aus dem Erdreich und ließ Gerd innehalten. Eigentlich war er darüber gestolpert, aber das würde er nie zugeben.

In den folgenden Wochen legten sie Stufe um Stufe frei, und fraßen sich immer tiefer in den Boden. Die Tür, auf die sie stießen war nahezu verrottet. Die Inschrift darauf war nicht mehr zu entziffern und die Beschläge hatten den Jahren im Erdreich Tribut gezollt. Der Gang dahinter war, im Gegensatz zum überirdischen Teil, nahezu intakt. Das war letzte Woche, als sie beide sich noch im Glück gewähnt hatten.

Dann wieder warf es sie einfach so um Monate zurück, weil eine Wand sich nach mehreren hundert Jahren vom umliegenden Erdreich befreit, in ihre Bauteile auflöste und zusammenfiel. Tonnen an Gewicht stapelten sich vor Ihnen. Unmengen an Stützarbeiten würden nötig sein um die Arbeiten zu sichern. Zusätzliche Helfer würden herangeholt, versorgt und vor allem bezahlt werden müssen. Aber das Schlimmste war der Zeitverlust der die Zwei traf, und ihre Arbeit so unerwartet stocken ließ, so dass sie vor dem Winter ihr Etappenziel nicht würden erreichen können. So standen sie nun zu zweit beim Kunstlicht ihrer Baustellen- und Kopfleuchten, schwitzend und ächzend in einem unterirdischen, stickigen, kalten, feuchten und engen Gang und mühten sich ab die Brocken zu entfernen, die sich so unerwartet aus dem Steinverband gelöst und ihnen in den Weg geworfen hatten. Zusätzliche Stützbalken und Platten sorgten nun für Halt, während sie beide wie üblich länger als die restlichen Helfer arbeiteten.Wieso musste sie sich auch immer die dicksten Brocken aussuchen? ging es Gerd durch den Kopf. „Wo sind deine Handschuhe Ellie?“ „Red‘ nicht, pack endlich an! Mir rutscht das Ding langsam aus den Händen.“ Ihre Stimme klang mittlerweile deutlich gepresst, aber sie wollte keinesfalls den Stein einfach so freigeben.

„Warum ausgerechnet dieser riesen Trümmer? Warum?“ Gerd packte endlich zu und sofort entspannte sich die Situation. Elvira atmete langsamer, kam zu Atem und trotz der Anstrengung antwortete sie lächelnd: „Siehst du es nicht?“ Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Finsternis. Sie drehte sich so, dass ihre Kopfleuchte den Bereich am Boden erhellte den sie meinte, und Gerd sah einfach nur Schwärze, die erhellt wurde. Nur Dreck, Trümmer und Steine. „Nein. Nichts.“ „Ja, erstmal weg mit dem Kiesel.“, scherzte sie. Sie wuchteten den Stein, den Ellie so verzweifelt versucht hatte zu bewegen, zur Seite und dann lächelte sie wieder. In ihren Augen sah Gerd ein Funkeln das ihm sagte, dass er etwas ganz spezielles nicht sah. Etwas, was sie vermutlich wirklich weiter bringen würde. Viel weiter.

Sicher deponiert sah der Granitquader gar nicht mehr so schwer aus. So, als würde er nicht dafür sorgen dass beide ihre Arme am nächsten Tag deutlich spüren würden. Elvira schenkte sich ungewöhnlicher weise das Aufnehmen des Fundes in den Katalog. Nummerierte ihn weder, noch kennzeichnete sie ihn. Aufgeregt wandte sie sich einem aus dem Boden ragenden Etwas zu und hockte sich davor; schaute es an, analysierte es mit den Augen. Fast zärtlich wanderte ihr Blick darüber, verträumt und in einer eigenen Form nahezu sinnlich. Sie schien genau zu wissen was da aus dem Boden ragte, während Gerd trotz der Leuchten im Dunkeln tappte. Er war zwar nicht derjenige, der Archäologie in Bamberg studiert hatte. Er war auch nicht derjenige, der promoviert hatte und sich „Doktor Elvira“ nennen durfte, aber er war ein ebenso erfahrener Gräber wie seine Kollegin. Realistisch betrachtet waren sie wohl schon eher Freunde denn Kollegen. Aber zum Henker: Er wusste nicht was ihm dieses metallene, faserige Ding was aus dem Boden ragte sagen sollte.

„Schlauer bin ich jetzt auch nicht, Ellie. Auch wenn wir es nun schön ausleuchten und anstarren.“ „Warte einen Moment, dann weißt du es auch, G.“ Ellie sprach seinen Namen immer als Abkürzung aus. Dschie, wie im Englischen. Ihm war auch immer noch nicht klar, wie sie das Teil im Boden zwischen den Trümmern sehen konnte, während sie Gefahr lief, dass ihr der Granitblock, den sie so übereifrig anfing umher zu wuchten, die eine oder andere Gliedmaße zerquetscht. Aber sei es drum; seine Neugier war schon geweckt, seit sie dieses Glitzern in den Augen hatte, als sie ihn fragte ob er es sehen könne. „Schau her!“, lockte sie ihn, genauer hin zu sehen. „Hier. Erkennst du diesen Schwung?“ Und tatsächlich erkannte Gerd nun einen gebogenen Stahlrest, der völlig unscheinbar aus dem lehmigen Untergrund lugte. Durch Feuchte und Luft zersetzt, blättrig und rot verfärbt, ragte er aus dem Boden, als wäre er nichts Besonderes. Seinerzeit, als er den Weg ins Erdreich fand, mag das auch so gewesen sein, aber nun? Wer wusste, was er mittlerweile an Wert darstellte? Dr. Elvira von Rensdorf schien es zu wissen!

II

Es war für Gerd kaum wirklich zu erkennen, was Ellie da so sicher identifiziert hatte. Außer dass es wohl aus Stahl oder Eisen sein musste, oder besser „gewesen sein“ musste. Sie jedoch suchte aufgeregt in ihrer Tasche und zog ihren Pinsel hervor, den sie in solchen Fällen zum Freilegen benutzte. Kurze Striche reinigten das Metall ein wenig. Ein Pusten hier, ein Wischen dort und der geschwungene Metallbogen wurde größer. „Nun lass es schon raus. Was ist es?“, kam es Gerd über die Lippen. „Ein Griff.“ „Ein Griff? Nur ein Griff? Geht’s noch, Ellie? Ich reiß‘ mir fast die Arme aus, damit du nicht verletzt wirst und das wegen eines Griffes? Ich glaube es…“ „Pscht!“, unterbrach Ellie seinen energischen Redeschwall. „Das ist nicht nur einfach ein Griff, G. Wenn du genauer hinschaust wirst du feststellen, dass es ein blumenverzierter und gefalteter Griff ist. Einer, der an einer Tür befestigt ist und uns in die Tiefe führen wird. Einer, der untypischerweise ein süddeutsches Muster aufweist und hier an sich völlig fehl am Platz ist. Einer der vermutlich aus dem ausgehenden 14 Jahrhundert stammt; das heißt, aus einer Zeit kurz vor der Aufgabe des Klosters. Also sag nicht ‚einfach nur ein Griff‘ dazu! Grrrrrr. Ok, das mit der Datierung ist nur grob geschätzt, aber der Rest wird stimmen!“ sagte sie, und Gerd glaubte ihr einfach. Wenn sie so sicher klang, war es immer bisher korrekt gewesen, was sie an ‚Fakten aus dem Ärmel schüttelte‘ wie sie sagt. „Ich bin ja schon ruhig. Also ein besonderer Griff. Gut. Und die Tür dahinter ist im Boden?“ „Ja. Genau das. Wir werden sie schon bald freigelegt haben“, meinte Ellie schon erheblich gelassener und sollte schon in wenig mehr als einem Arbeitstag recht behalten haben.

Etwa einen mal eineinhalb Meter groß im Rechteck lag sie da. Zwischen den Steinplatten eingefügt, mit eisernen, durch die Zeit rotgefärbten Beschlägen. Blättrige Auswürfe aus Rost zierten das Metall hier und da. Das Holz war teils in seinen weichen Stellen ausgefressen, teils voller Blüten durch Schimmel aber dennoch erstaunlich stabil für das Alter, was ihm Ellie unterstellte. Nicht nur ein, sondern drei Griffe zierten die Tür und seltsamerweise kein Schloss oder Riegel. Durch den Einsturz der Mauer und die zahlreichen großen Steine und Mörtelteile, war das Holz teilweise gesplittert und hatte sich verzogen, so dass sich eine der Ecken etwas aus dem Boden gehoben hatte. Anders wäre dieses ungewöhnliche Artefakt den beiden Gräbern vermutlich nicht oder wenn doch, so dann erheblich später aufgefallen. Denn so wie es schien, sollte man diese Tür nicht sofort erkennen. Keine Geheimtür, dafür war sie nun doch zu wenig versteckt. Aber auch nicht ganz so offensichtlich, als dass sie viel benutzt werden sollte. Ellie kam zu dem Schluss, dass einer der Griffe die Tür würde öffnen können. Sie verwarf die Idee sie unbeschadet aufzusperren jedoch, als der erste der verzierten Türringe bei einer Drehbewegung nachgab und mehr und mehr Lagen seines rostigen Innenlebens preisgab. Ebenso schien ihr die Methode einen neuen Griff einzuschrauben ob des Holzzustandes nicht wirklich erfolgversprechender.

„OK, G. Hier bleibt uns wohl nichts übrig außer Muskelschmalz einzusetzen“, flachste sie. „Ihr Einsatz bitte.“ Ihr Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen, trotz dass sie die Frucht eines Arbeitstages nun zum Teufel jagen würden. Sie liebte es, Gerd manchmal auf seine bloße Kraft zu reduzieren. Nur zum Spaß. Und sie wusste, dass er es ihr nicht krumm nahm. „Jawohl Miss Daisy“, meinte er gelassen und verschwand, nur um wenig später mit einem Hammer zu erscheinen, den Elvira immer als „Marke Steintod“ bezeichnete. Dem guten alten Vorschlaghammer. Der Kopf des Hammer hob sich und fiel herab in fast demselben Moment. Gerd setzte das schwere Werkzeug ab und schüttelte den Kopf. „Ellie, es muss einen anderen Weg da runter geben. Das ist doch sonst nicht deine Art, so schnell die Flinte ins Korn zu werfen. Lass mich mal etwas probieren, ich hab‘ da nämlich etwas gesehen.“ Gerd legte sich auf den Boden und ließ prüfend seinen Blick über die Struktur des Holzes wandern. Er saugte den Anblick der Metallteile und der verwitterten Eichenbretter in sich auf. Seine Hand wanderte tastend über die Maserung und seine Miene erhellte sich. „Ja, das könnte klappen. Ich versuche mal etwas. Einschlagen kann ich die Tür ja immer noch, aber so wie ich meine, könnte ich sie retten. Wäre doch einfach viel zu schade drum. Oder, Frau Dok-tor?“ Das stichelnde, langsame Aussprechen ihres Titels, hatte sie am Anfang ihrer Zusammenarbeit fast sekündlich später auf die Palme gebracht, aber mittlerweile musste sie darüber lächeln. Denn sie wusste, dass Gerd sich sicher war etwas ‚zu wissen, was sie nicht weiß‘, und das war in diesem Moment einfach nur gut. „Hier gibt es einen Spalt, den könnte man... Und dann hier. Da kann ich ansetzen....“ Das hektische, unvollständige Reden war ein zusätzliches Zeichen dafür, dass sich Gerd sicher war, eine Lösung gefunden zu haben. „Bin gleich wieder da.“, sprach er, und war Sekunden später entschwunden. Lächelnd verbrachte Minuten später sah Ellie ihn mit einer kleinen Kiste voller Keile, kleinen Hämmern und Dietrichen anmarschiert kommen. „Das geht, das geht. Wart’s nur ab. Das geht.“, tat Gerd seine Meinung zuversichtlich kund. Er fing an kleine Keile in die Zwischenräume zwischen der Tür und dem Steinboden zu treiben. Drückte den Spalt breiter und fügte mehr und mehr Keile entlang der Rillen ein, die sich auftaten. Der Leuchtkegel seiner Taschenlampe erhellte den Zwischenraum und Gerd suchte ihn intensiv und konzentriert nach etwas ab, was er letztlich wohl gefunden zu haben glaubte. „Yes! Ich wusste es. Ellie schau her!“ rief er freudig und stolz während seine Leuchte den Bereich des Interesses anstrahlte. „Siehst du den Metallrand dort?“ „Ja, natürlich. Jetzt. Der war vorher nicht zu sehen.“ „Eben. Aber der musste ja nun doch irgendwie da sein, denn da wo Riegel und Knäufe sind, muss es auch ein Schloss geben. Und hier ist es. Ich werde das jetzt mal freilegen und knacken.“ Gerd machte sich daran das Schloss mit Beiteln möglichst zaghaft freizulegen, um es dann aufzusperren. Anschließend setzte er einen Hakenstahl hinein, um damit die Tür aufzuziehen, was aber nur langsam Erfolg verzeichnete. Ein kleiner Spalt tat sich auf, als das Schloss unter dem Zug aufschnappte und nachgab. „Wow, G! Das reicht. Das reicht! Versuchen wir mal ob…..es….“ Die letzten Worte kamen bereits wieder angestrengt und gepresst über Elviras Lippen, weil ihre Hände schon in dem sich öffnenden Spalt steckten, und versuchten die Türangeln zu überzeugen nachzugeben. Als Gerd mit anpackte, quittierten sie nach ewiger Zeit des Ausruhens den Widerstand, und taten ihren Unmut darüber mit einem mörderisch lauten Knarren, Knacken und Quietschen kund. Kühle, mäßig feuchte, dennoch fast modrige Luft stieg aus dem sich öffnenden Steinschlund. Dunkelheit umfasste die Stufen und beide Wissenschaftler schauten einander staunend aber dennoch aufgeregt und glücklich an. „Ich hole mal Licht. Auch etwas für Sie, Miss Daisy?“ „Nun gut, Hoke. Bringe er mir auch ein wenig davon mit. Aber hurtig, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“ Der fröhliche Unterton in beiden Stimmen war unüberhörbar und als Gerd mit einem Sortiment aus diversen Stab- und Kopfleuchten, sowie einem Sammelsurium an Baustellenbeleuchtungen erschien, konnten sie es kaum erwarten hinabzusteigen. Endlich würde ihre Arbeit gekrönt werden. Würde es doch, oder? Es musste einfach. So viele Stunden im Dreck, so viele Liter Schweiß und Tränen der Erschöpfung. Es musste einfach. Und es würde. Sicherlich. Die Gedanken in Ellies Kopf liefen auf Hochtouren.

Sie blickten sich an und Gerd machte den ersten Schritt auf die sich zeigenden Stufen. Aus Stein gehauen und erstaunlich wenig ausgetreten, sahen sie doch nicht ungefährlich aus. Im Licht der Stableuchte zeigte sich eine Art Kellergewölbe, welches aber den Namen Keller nicht verdiente, da es nicht einmal zweimal zwei Meter groß war, und die Tiefe auch mehr zum Kriechen als zum Stehen einlud. Elvira machte sich unbekümmert auf, die Stufen hinabzusteigen, wurde aber von ihrem besonneneren Kollegen gebremst.

„Was ist denn mit Dir los? Seit wann stürmen wir einfach munter drauflos, ohne Messungen?“, tadelte er sie oberlehrerhaft. „Das kannst du aber mal glatt vergessen, Ellie.“ Ihr Blick glich dem eines Kindes, das man beim Bonbon stehlen erwischt hatte. Sie senkte den Blick und zeigte mit der Hand in Richtung der Treppe vor ihnen, um Gerd zu sagen, dass er mit seinem Messgerät den Vorrang hatte vor ihrer Neugier und Ungeduld. Vorsichtig stieg Gerd eine Stufe nach der anderen hinab, und leuchtete schwenkend die Wände ab. Dr. von Rensdorf folgte ihm wenig später und hielt eine der starken Lichtquellen für Baustellen ausgeschaltet in der Hand. Ihre Kopfleuchte war nicht sonderlich hell, erlaubte ihr aber den Blick auf die Stufen so dass sie sicher hinuntergelangte. „Richtiges Licht, G?“ „Ja, sieht OK aus. Lass es raus.“, beschloss Gerd und signalisierte Elvira so, dass sie das Risiko der starken Hitzequelle eingehen konnten. Bisweilen gab es da Probleme mit Gasen, die es partout nicht mochten wenn man sie erwärmt, bzw. einem Schaltfunken aussetzt. Doch sein Messgerät für solche Gase meldete keine gefährliche Konzentration und auch ausreichend Sauerstoff, um atmen zu können. Die Luft konnte natürlich immer giftige Substanzen welcher Art auch immer enthalten, aber diese Möglichkeit verdrängten sie meist einfach. Dass man einfach so aus einer Grabungsstätte hinausexplodiert wird, war ihnen jedoch scheinbar äußerst zuwider. Elvira legte den Schalter an der Leuchte um und der Strom schoss durch die Lampe, die daraufhin den Raum unter dem Chor in gleißend helles Licht tauchte. Dunkelheit liebende Tiere suchten fluchtartig das Weite. Huschten in Ritzen und verbargen sich vor dem Licht das Gerd und Elvira zeigte, worin sie sich befanden. In einem Vorraum, denn sie blickten auf eine weitere Tür. Nicht sonderlich groß, aber dennoch eindeutig mit den Symbolen des Ordens in Blaubach gekennzeichnet. Bei genauerer Untersuchung zeigten sich noch andere Symbole, die sie beide nicht zu deuten wussten, aber die Blaubach’schen Kreuze waren nicht zu übersehen. Gedanken was wohl dahinter sein mochte schossen durch ihre Köpfe. Geld, Gold, sakrale Artefakte, Reliquien womöglich? Aber warum dann in einem versteckten Raum? So etwas zeigte man. Und Blaubach wurde aufgegeben, nicht geplündert. Warum also ein Versteck? Es gab nur einen Weg das rauszufinden und sie schlugen ihn ein. Die zweite Tür ließ sich seltsamerweise nahezu ohne Anstrengungen öffnen und der Lichtspalt, der sich in den zweiten Raum ergoss zeigt ihr etwas, womit sie nicht gerechnet hatte.

„Oh – mein- Gott!“, entfuhr es Ellie langsam mit deutlichen Pausen zwischen den Worten. „Pergamente, G. Hier ist alles voller Pergamente.“ Zu aufgeregt, um zu merken dass die Luft in diesem Raum viel trockener war als im Vorraum, ging sie fasziniert und unbedarft ins Halbdunkel und ihr Gesicht zeigt das zufriedene aber dennoch neugierige Lächeln eines Kindes, das erfahren hat, dass es ein riesiges Eis kriegen wird und an der Hand seines Vaters auf dem Weg in die Eisdiele ist. Gerd öffnete die Tür nun ganz, weil Elvira sofort als der Spalt groß genug für sie war, hindurch geschlüpft war. Er wollte noch einwenden, dass auch in diesem Raum eventuell gefährliche Gase oder Sauerstoffmangel herrschen könnten, aber er schluckte seinen warnenden Kommentar hinunter, als er sah, wie Elvira sich im Raum bewegte. Sie schien kaum mehr sie selbst zu sein. So unvorsichtig und ungestüm kannte er sie nicht. Und nun sah auch er, was sie erblickt hatte. Kistchen und Regale mit Büchern und Rollen aus Tierhaut. Pergamente die seit zig Jahrzehnten kein Licht gesehen hatten. Schriften, die teils sorgsam, teils hastig und unachtsam hingeworfen lagen. Manche waren auf den ersten Blick als angefressen oder anders beschädigt zu erkennen, andere machten den Eindruck als seien sie völlig intakt. Einer der Vorteile von Pergamenten gegenüber Papier war ihre Haltbarkeit. „Buchhaltung? Lagertabellen und Bestellungen?“, fragte Gerd, weil Elvira sich sofort an die Sichtung der ersten Schriftstücke machte. Ihre Neugier hatte über ihren wissenschaftlichen Verstand gesiegt. „Jain. Einiges davon ist üblicher Kram. Fragt sich nur, was das hier unten zu suchen hat. Tabellen mit irgendwelchen Zahlen. Aber etwas macht mich doch stutzig.“ „Aha? Und was wenn man fragen darf“, stichelte Gerd, als Ellie mehr und mehr in Gedanken abwandernd, das Reden einzustellen schien. Sie schreckte auf, und als hätte man sie geweckt, beendete sie ihre Mitteilung. „Die Zahlen scheinen keine Einkäufe zu sein, sondern Lagerzahlen eines Gefangen- oder Verwundetenlagers. Also auf den ersten Blick. Und das hier in der Kiste ist besonders, weil es verziert ist. Sowohl das Kistchen, als auch der Kopf der ersten Seite. So etwas machte man nicht einfach so. Und warum sind Lagerzahlen auf teurem Pergament? Alles sehr seltsam, wie ich meine.“ Und als gäbe es kein Später. Als gäbe es keine Kälte oder Hunger und Durst nach stundenlanger Arbeit, fing sie an zu lesen. Gerds Einwand, dass sie die Schriftstücke doch wie üblich zuerst katalogisieren und eventuell auch konservieren sollten, drang schon nicht mehr zu ihr durch...

III

„Testamentum Amadei“, prangte es verziert und kunstvoll geschwungen in großen Lettern auf dem Schriftstück . „Das Vermächtnis des Amadeus.“ Wer auch immer dieser Amadeus gewesen sein mochte, irgendetwas schien er zu erzählen zu haben.

„Deus non ridiculus est, sed multum homo“…..Gott ist nicht lächerlich, aber oft ist es der Mensch – übersetzte sie. Und las weiter. „Und doch sind wir sein Abbild, seine Kinder, seine Schafe. Auch wenn er uns manches Mal zur Schlachtbank führt. Viel gibt es zu berichten und vielleicht wenig Zeit bleibt mir dazu. Aber ich will der Welt die Taten eines Mannes kundtun, der so vielen Menschen das Leben rettete vor der großen Krankheit. Vor der Pestilenz, die uns so viel Kummer und Leid schenkte, uns die Liebsten nahm und Furcht und Schrecken verbreitete. Die Familien und Menschen zerriss und allen Orts nur Einsamkeit und Tod hinterließ. So fange ich denn damit an.

Leonhardt, so war sein Name. Hart wie ein Löwe. So sagt es der Name. Ach, wäre er es nur früher gewesen. Wie viele Leben hätte er gerettet. Mehr gerettet. Denn erst spät geworden ist er es. Hart. Mutig, gleich einem Löwen und stolz wie eben einer. Im Heuert1 des Jahres des Herren 1324 erblickte er das Licht der Welt. Schreiend und die Brust der Mutter suchend, wie alle Kinder. Ich war an diesem Tage zugegen, denn im Dorfe Hergendorf waren viele Kinder zu taufen und den jüngeren unter den Brüdern ward die Taufe zuteil, denn die alten vergruben sich lieber in ihren Studien und Abschriftzellen. So taufte ich auch Leonhardt, der wenn er den frühen Tod so vieler Kinder starb, nicht als Heide der Verdammnis entgegensehen sollte. Immer wieder trieb es mich in seinen Ort und so sah ich ihn heranwachsen. Nicht, dass er besonders stattlich gewesen wäre, oder auffallend hübsch. Gesegnet mit einem wachen Verstand sehr wohl, aber sonst ragte er nicht heraus aus der Schar der vielen Kinder in Hergendorf. Später jedoch – es mag 1337 oder 38 gewesen sein verlor ich ihn, als er in die Dienste des Freiherren Adalbert zu Hergendorf zog und traf ihn erst wieder, als die Pestilenz schon ihre Klauen an unserem Hals hatte.“

Das Latein alleine war schon schwierig zu übersetzen, aber die Schrift kam als Problem hinzu. Teils verwischt, teils blass und fast verblichen kostete es Ellie erhebliche Anstrengungen dem Text zu folgen. Auffallend war, dass die Absätze mit Kapiteln verziert waren. Dies war keine Urschrift, sondern eine Abschrift. Sie musste es hier herausschaffen und an einem sichereren Ort lesen. Aber ein paar Zeilen waren doch sicher noch zu schaffen…. Sie nahm Gerd schon lange nicht mehr wahr. Er bemerkte es, wunderte sich aber nicht sondern erleuchtete den Raum für sie. Völlig entrückt wanderten Elviras Augen über die Schrift.

„Im Ernting2 anno 1349 war es dann als ich ihn wiedertraf. Wie schon so oft zuvor zog es mich von Blaubach nach Hergendorf um Ehen zu schließen und deren Früchte zu segnen und den Reihen des Herrn einzuverleiben. Gerade damals war es so wichtig, denn die Kindlein so wie ihre Altvorderen ebenso starben landein landaus wie die Fliegen. Eine Pestilenz breitete sich aus dem Süden kommend in unser schönes Land aus. Eine Strafe Gottes für unser sündiges Leben, so hieß es, sollte sie sein. Dabei blieben aber doch mancherorts gerade die verschont, die sich am heftigsten den Lastern des Fleisches und des Suffes hingaben. Die soffen und hurten als wäre es ihr letzter Tag. Aus dem gelobten Lande käme sie, hieß es. Mit Schiffen landete sie in Sizilia und fraß sich in nur zwei Jahren ihren Weg durch Italien und das Frankenland nach Norden. Aber dies war nur der Anfang. Nie werde ich den Tag an der Motte3 vergessen, als ich wieder auf Leonhardt traf. Fluchend und schießend, schwitzend vor Angst und Anstrengung zugleich am äußeren Wall der Burg. Aber hier war er noch ein Bogenschütze unter vielen. Ein Gemeiner, der seinen Herrn verteidigte. Ein Gehorsamer, kein Führer. Noch war er Leonhardt, Sohn des Jacob aus Hergendorf. Noch nannte ihn niemand Retter, oder Geißel der Pestilenz. Noch war er ein Unbekannter.

Ich jedoch war ein bekannter Mann. Wenn ich auch keiner von blauem Blute war, so kannten die Menschen mich allerorts und man vertraute mir. Vertraute meinem Rat, meinen Gebeten und Segnungen; und die Menschen brauchten viel davon in jener dunklen Zeit. Die Kunde der heraneilenden Krankheit verbreitete sich schnell und Furcht ergriff jeden, der bei Verstand war. Furcht um sein Leben und das seiner Lieben. Manch einer wollte die Flucht ergreifen, aber wohin sollte man sich wenden? Nach Süden? Dem wandelnden Tod entgegen? Mit dem Kopf durch die Wand? Nach Norden um dort auszuharren bis man eingeholt wurde, denn der Tod wandelte schnell. Irgendwann war auch der Norden zu Ende. Irgendwann ging es auch dort nicht mehr weiter. Ausharren und sich dem Schicksal ergeben? Gott will es? So wie er entscheidet, so ergehe es uns? Jeder Dritte sei des Todes sagten manche. Mancherorts fielen alle der Sense des Gevatters zum Opfer sprachen andere. Ganze Dörfer und Städte wären dahingerafft. Aber warum, das verschwiegen sie. ‚Flüchtet. Rennt, packt eure Sachen und haut ab. Zieht von dannen, bevor der Tod euch holt‘ verstanden wir. Dass sie sagten ‚bevor die Toten euch holen‘ hörten wir nicht. Konnten wir es nicht? Wollten wir es nicht? Ich weiß es nicht mehr. Später beharrte Luciano Saltonato darauf dass er es genauso gesagt habe, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. An die Gräuel die er meinte und denen wir wenig später begegneten, jedoch nur zu gut. Aber der Reihe nach. Ich denke dass es am besten sein wird, wenn ich anfange wie ich im Ostermond4 anno 1349 wieder einmal auf dem Weg nach Hergendorf war, und auf Luciano traf.

Es regnete, wie es das so oft in der vorösterlichen Zeit tat. Mein Esel stank fürchterlich und ich vermutlich ebenso, denn nass waren wir beide. Er trotz seines struppigen Fells und ich trotz meines dicken wollenen Mantels, der sich schon vollgesogen hatte und schwer an meinem Körper zog. Der Weg von Blaubach nach Hergendorf war nur etwa gut einen Tag, aber wenn man wie ich unterwegs vom Regen überrascht wird, nässt man durch bis auf die Haut, bevor man sein Ziel erreicht. Es sei denn man möchte pausieren und die Reise in die Länge ziehen, was ich üblicherweise bei nur einem Tag nicht in Erwägung zog. Wie zumeist ritt ich allein. Nur Franziskus der Esel und ich trotteten in der Dämmerung über die Straße, die schon lange keine rechte mehr war. Grade bei starkem oder dauerndem Regen zeigte sich, wie sie über die lange Zeit seit den Tagen der römischen Besatzung, gelitten hatte. Die meisten werden wohl nicht einmal gewusst haben, dass es eine römische Straße war, so wie sie jetzt aussah. Schlammig, tief und alles andere als trittsicher. Mein grauer Gefährte kannte den Weg nur zu gut. Viele Male sind wir ihn zusammen gegangen. Und so trottete er unermüdlich vor sich hin. Ich weiß es nicht mehr, warum ich von Franziskus Rücken aufblickte. Aber ich sah ein flackerndes Leuchten am Rande des Weges, nur wenig abseits. Ich hieß Franziskus anhalten und schaute durch die Regentropfen gen Licht. Ein Lagerfeuer war es.‚Wärme. Vielleicht ein trockener Platz dazu?‘, dachte ich und saß ab. Ich sah zwei schwarze Schatten am Feuer hocken, als ich näher wanderte und rief ihnen mein ‚Gott zum Gruße‘ hinüber. Laut und freundlich, wie ich es immer tat, dass niemand mich mit einem Halunken der auf Raub und Mord aus ist verwechseln mochte. Einer der Schatten stand auf und warf die Gugel nach hinten. Er war recht schlank anzuschauen und nicht sonderlich groß. Der andere starrte weiterhin ins Feuer. Ein kleiner Unterstand, gerade groß genug um für zwei Männer Schlafplatz zu bieten, umgab ihn. Derjenige, der aufgestanden war drehte sich zu mir und warf mir ein ‚Buona Sera, Signore‘ entgegen. ‚Italiener? So weit im Norden?‘, ging es mir durch den Kopf und in meinem schlechtesten Italienisch antwortete ich ‚Guten Abend werte Herren. Ist es genehm wenn ein Diener Gottes an eurem Feuer Platz nimmt? ‘ Ich sah erst jetzt, als er sie sinken ließ, dass der Mann seine Hand am Gürtel gehabt hatte. Direkt neben dem Knauf eines nicht zu übersehenden Hammers. ‚Kommen sie und wärmen sie sich mit uns ein wenig. Bringen sie ihren Esel ruhig mit. Wir hatten schon lange keine lebendige Gesellschaft außer der unseren.‘, klang es mir in schlechtem Deutsch, das aber immer noch viel besser war als mein Italienisch, entgegen. ‚Signore Luciano Saltonato. Buona Sera.‘ stellte er sich vor. Ein Name den ich wohl nie vergessen werde. Ich gab mich als Amadeus von Blaubach zu erkennen und nahm höflich die Kapuze meines Mantels ab, so dass der Regen auf meinen haarlosen Schädel prasselte. ‚Bruder im Kloster zu Blaubach und auf dem Weg zu Taufen, Segnungen und Eheschließungen in Hergendorf. Nass bis auf die Knochen und gefroren wie im Winter. Und dies ist mein treues graues Reittier, das auf den Namen des heiligen Franziskus hört. Was treibt euch so weit in den Norden?‘ ‚Nehmt Platz am Feuer und wir reden dort. ‘ Ich nahm neben dem zweiten Mann Platz, der immer noch in die Flammen stierend am Feuer saß und sich nicht bewegt hatte. Ich sah, dass seine Hand zitterte, die einen irdenen Becher hielt. Er schien nicht einmal Notiz von mir zu nehmen als ich neben ihm zu Boden sank. ‚Signore?‘ versuchte ich seine Aufmerksamkeit zu erhaschen, was er mit einem kurzen Seitenblick in mein Gesicht anerkannte, aber sich sofort danach wieder in Richtung Feuer drehte um weiter hinein zu starren, als wäre darinnen die Lösung der Probleme auf dieser Welt zu finden. ‚Michele spricht nicht mehr, scusi. Seit wir die Toskana verlassen haben ward er immer stiller und nachdem wir den Brenner passierten kam gar kein Ton mehr über seine Lippen. Es war zu viel was er sah, was wir sehen mussten. Wir kannten das Grauen nur aus Erzählungen von Reisenden, die auf der Flucht vor dem nahenden Tod waren, aber was wir sahen war schlimmer als all das, was wir zu hören bekamen.‘ Viel später erinnerte ich mich tatsächlich daran, dass Luciano hier schon davon sprach, dass die Menschen auf der Flucht vor den nahenden Toten waren. Vermutlich übersetze ich mir sein gebrochenes Deutsch so, wie ich es hören wollte, denn niemand dachte im Traum daran, dass die Toten den Tod brachten und bringen würden. Er setzte sich zurück ans Feuer und streckte die Hände den Flammen entgegen. ‚Ich bin Händler aus Milano5. Gewürze und feine Gläser. Zart wie der Hauch eines Engels. Ihr müsstet sie sehen. So zerbrechlich und schön. Die Gewürze fein und erlesen. Pfeffer aus dem Orient, Salze wie ihr sie nicht kennen werdet und Blüten mit denen Speisen gelb werden.‘, schwärmte er. ‚Aber ein Bruder hat sicherlich keinen Sinn für solch weltliche Dinge, wie ich denke. Nun; es ist so, dass wir auf dem Weg nach Oenipontum6 und weiter nach Frankenfort waren. Michele begleitet mich und wir waren entsetzt, als wir die ersten Dörfer fanden, die der Tod eingeholt hatte. Immer wieder stießen wir auf Dörfer und Städte, Meiler und Gehöfte die verlassen waren oder voller Toter. Aber das erste Dorf war wohl das grausamste für uns. Habt ihr schon mal ein Dorf gesehen über das der Tod herfiel?‘ Ich musste das verneinen. Die große Krankheit tobte zu dieser Zeit im Süden und wir waren nicht unglücklich darüber, soweit entfernt zu sein. ‚Zerstörte Leiber, gedunsene und geplatzte Körper, ein unerträglicher Gestank nach Pestilenz und fauligem Fleisch. Dankt dem Herrn dass ihr das nicht sehen musstet!‘ Und er erzählte mir Geschichten. So, als hätte er nur darauf gewartet sie endlich preisgeben zu können. Fast schien es mir, als wäre ihm ein Zwang gewesen sich zu offenbaren. Er erzählte von Dörfern, die ohne gebrannt zu haben menschenleer waren. Spuren von Blut waren sehr wohl zu sehen, wie Signore Saltonato betonte, aber keine Menschen. Keine Leichen, keine frischen Gräber. Nur Stille und Gestank. In einem Dorf diesseits der Alpen sahen sie Scheiterhaufen aus Leibern gestapelt. Schwarz und verkohlt. Wie in Bewegung erstarrt, die Fratzen zur Unkenntlichkeit verzogen. ‚Auch Städte lagen in Agonie, Bruder. Ganze Städte, versteht ihr? Nicht bloß kleine Gehöfte, oder Dörfer. Keine Weiler oder Lustschlösser. Nein ganze Städte!‘ kam es zitternd über Lucianos Lippen. ‚An Geschäft war ohnehin nicht zu denken. Niemand hatte Interesse an Gewürzen oder gar feinen Glaswaren, außer den Doctores, die sich wagten das Fieber kurieren zu wollen. Sie hatten Masken, in denen sie stark riechende Gewürze gegen den Gestank benutzten. Nein, Geschäft war wenig wichtig geworden. Weiterziehen lag uns im Sinn. Wir trauten uns kaum einzukehren in eines der wenigen gastfreundlichen Häuser. Meist waren die Türen eh verschlossen. Oh, Hurenhäuser, natürlich. Dort war man immer noch willkommen, und die Dirnen hatten alle… nunja, sie hatten viel zu tun. Nur war uns nicht danach, uns dem Laster hinzugeben, wie ihr sicher versteht. Erst dachten wir, wir reisten dem Tod hinterher bis wir vor Oenipontum etwas anderes gewahr wurden. Wir erhielten Kunde von Reisenden aus dem Osten, dass dort ebenfalls der Tod um sich griff. Jedoch nicht wie im Süden, wo die Menschen innerhalb weniger Tage der Sense zum Opfer fielen und sich schwarz verfärbten. Dort schien es anders zu sein. Der Tod wandelte dort umher, hieß es. Die Toten würden wandeln. Im Lande gen Frankenfort und Paris, war es ebenso wie in Böhmen. Entsetzte Gesichter schilderten uns was sie sahen. Gehetzt und rastlos. Bruder Amadeus, diese Menschen waren auf der Flucht vor etwas anderem, als was wir meinten gekannt zu haben. Und dann hatten wir eine erste Idee dessen was uns immer wieder begegnen sollte. Nicht wie in Venecia oder entlang des Isarco7, nicht wie in den Dörfern Bavarias nach der Grenze. Mittendrin waren wir, in Chaos und der Hölle auf Erden. Verfolgt von der Krankheit aus dem Süden die die Beulen in den Körper treibt und uns schwarz anlaufen lässt. Die in Tagen den Tod verursacht und scheinbar von einem zum anderen wandert, wie es ihr beliebt. Und eingezwängt von etwas anderem was uns fremd und noch grausamer vorkam. Oh Vater, was waren wir in Furcht. Jedoch zu weit gereist und voller Zweifel in uns, die uns die Umkehr verboten. ‘

Wenn Luciano da schon gewusst hätte, dass sein geliebtes Mailand von der großen Krankheit nahezu völlig verschont blieb. Aber wie hätte davon erfahren sollen? Vielleicht hatte Gott einen Plan mit ihm. Vielleicht sollte er zu uns finden. Vielleicht sollte er sich uns anschließen, oder wir uns ihm. Vielleicht sollte er sich behaupten im Kampf gegen die Toten um zum Leben zurück zu finden. Wer weiß es außer unserem barmherzigen Herrn? Noch immer nahm ich nicht wirklich wahr, von was der Händler aus Mailand sprach. Zu unwirklich war, was er von sich gab. Die große Krankheit mit den schwarzen Beulen. Von der hatten wir alle schon gehört. Aber von wandelnden Toten? Nein, das ging über mein Verständnis hinaus. Auch wenn ich falsch lag, ich wusste es nicht besser“

Ellies Augen schmerzten schon und langsam nahm sie auch wieder Notiz von ihrer Umwelt. Gerd war schon dazu übergegangen einige der anderen Manuskripte zu sichten und zu verpacken. Ein kurzer Rundgang entlang der Wände hatte ihm gezeigt dass es keine weiteren Gänge mehr gab. So dachte er, dass es reicht wenn einer von ihnen sich wie ein ausgehungerter Wolf auf das Lesen stürzte. Es war schon etwas befremdlich wie intensiv seine Kollegin sich in den Text fraß. Sonst war sie nicht arg so tief in Schriften versunken wie heute. „Oh, zurück?“ stichelte er. „Meinst du wir können mal langsam die normale Arbeit wieder aufnehmen? Hier was sichten und verpacken? Vielleicht auch mal was hochbringen, bevor wir hier noch krumm und lahm werden?“ Elvira war diesen stichelnden, fast anklagenden Ton nicht gewohnt. Sie kannte ihn zwar, war ihn aber nicht gewohnt, weil Gerd einerseits sehr tolerant war und sie andererseits völlig vergessen hatte wie lange sie in die Schrift des Amadeus abgetaucht war. „Ja, natürlich G. Sorry, das war wie ein Rausch für mich. Und wenn ich nur halbwegs richtig liege, mit dem was der gute Amadeus da überliefert hat, dann werden wir einiges umdenken müssen was unsere Geschichte angeht.“ Völlig verwirrt, mit Gedanken im Kopf die sie sich kaum traute zu Ende zu denken, geschweige denn auszusprechen sagte sie: „Ok. Let’s go. Packen wir ein und machen wir unsere Arbeit.“

IV

Ellie konnte kaum vernünftig arbeiten an der Konservierung der Schriften. Zu sehr plagte sie die Neugierde, was Amadeus weiter zu berichten hatte. Aber sie wusste, dass es nötig war, diese uralten Werke zu schützen, bevor sie das Lesen wieder aufnahm. In ihrem ehemaligen Wohnmobil, was Gerd und sie -wohl wissend, dass ihre Arbeit wenig bis nichts mit Musik zu tun hat- scherzhaft als Rot-Kreuz-Konservatorium bezeichneten, befanden sich neben ihrem Datenbestand in handschriftlicher und elektronischer Form auch die Utensilien, um die gefundenen Artefakte primär vor weiterem Verfall zu schützen. Ihre „Erste Hilfe“ für Artefakte. Hier fanden sich Reinigungsmittel, Lösungen gegen Pilzbefall, Fette und Öle um Leder aufzubereiten und jede Menge an Werkzeugen, um Schmutz und Verkrustungen entfernen zu können. Gerd war damit beschäftigt die groben Inhalte der bereits gesichteten Schriftstücke in den Rechner einzupflegen, während Ellie zugange war, den Feinden der Tierhäute zu Leibe zu rücken. Alles was Elvira schon soweit einer Schutzprozedur unterzogen hatte, dass es gefahrlos mit Baumwollhandschuhen durchblättert werden konnte, wanderte über seinen kleinen Klapptisch mit dem Notebook, bevor es im Klimaschrank verschwand. Das „Vermächtnis“ bestand aus mehreren Teilen. Sowohl in gebundener als auch gerollter Form. Und ferner waren einige Werke durch die Hände der Doktorin gewandert, die schlicht Anmerkungen und Zahlen enthielten. Lagerzahlen wie sie schon gleich vermutet hatte. Soweit so gut. Aber von was? Die üblichen Einkäufe mit soundso viel Hühnern, Sack Mehl oder Saatgut waren nicht dabei. Hier drehte es sich scheinbar um Zahlen eines Krankenlagers. Tabellen die wirr geführt waren, Namen enthielten und Daten, aus denen beide Archäologen nicht schlau wurden.

Sie hatten den Rest des Fundtages damit verbracht, diejenigen Schriftstücke aus dem Keller auszusortieren, die zu sehr mit Pilz oder ähnlichem befallen waren als dass sie transportiert werden konnten. Glücklicherweise waren das nur sehr wenige, aber dennoch beanspruchte die Untersuchung eine Menge Zeit, weil jedes einzelne der Pergamente dafür gesichtet werden musste. Aber Zeit war etwas, was Archäologen scheinbar anders betrachteten als andere Menschen. Die Arbeitsweise etwas freizulegen war primär auf Erhalten ausgerichtet, denn auf Schnelligkeit. Wichtiger war es, das Kunstwerk, Schriftstück oder den Knochen unversehrt zu überführen als einen Tag oder eine Woche einzusparen. Und nun waren sie seit Tagen damit beschäftigt die Einbände und Seiten zu entstauben, zu reinigen, mit Fungiziden zu behandeln wo es nötig und sinnvoll war und sie mit Fett geschmeidig zu halten und zu schützen. Der Klimaschrank im Restaurationsmobil war die Lagerstätte in denen die Bücher dann temperiert in trockener Luft lagern konnten. Die stärker gefährdeten Rollen schweißte sie einfach ein und lagerte sie temperiert. Ellie war hervorragend als Konservatorin. Sie kannte sich sehr gut damit aus, wie viel Licht Papier oder Pergament vertragen kann. Welche Luft die optimale Aufenthaltsumgebung hergab und wie sie den kleinen Feinden, wie Bakterien und Pilzen, zu Leibe rücken musste. Nur, diese heiklen Pergamente bedurften keiner rudimentären Behandlung. Sie mussten peinlichst genau und steril bearbeitet werden. Eine Arbeit, die sie in dieser Umgebung nicht leisten konnte. Und unterbewusst auch nicht wollte. Denn zum ersten Mal seit Jahren war sie unruhig bei der Arbeit. Zu neugierig war sie auf den Fortgang dessen, was Amadeus zu schreiben hatte.Amadeus. Heißt das nicht Gottlieb? ging ihr durch den Kopf. Auch wenn es mancherorts üblich war seinen Namen zu latinisieren, so tat man dies zumeist nicht ohne Grund. Berühmte Schriftsteller, oder solche die sich dafür hielten änderten ihre Namen ins Lateinische, wie der Verfasser des Hexenhammers in den späten 1470er Jahren. Auch königliche und kaiserliche Geschlechter führten latinisierte Titel wie Karolus magnus8, aber ein kleiner, recht unbedeutender Mönch, der sonst nirgendwo in den Geschichtsbüchern auftauchte? Welchen Grund mag er haben. Nur, weil er sein Testamentum in lateinischer Sprache verfasst hat? Auch war es verwunderlich dass er sich als von Blaubach vorstellte, als wäre er im Kloster geboren. Üblicherweise gab man seinen Geburtsort oder Beruf im Namen an, wenn man denn überhaupt einen Nachnamen verwandte. Nur war er ein gebürtiger Blaubacher? Unwahrscheinlich. Ein Findelkind? Was hatte es sich mit den Toten auf sich, von denen Saltonato sprach? Fragen, Fragen, Fragen für die es wohl nur einen Ort mit Antworten gab. Und zu dem wollte Ellie. Viel mehr als Schlafen, oder Essen wollte sie Lesen. Endlich weiterlesen.

Sie legte ihr Werkzeug beiseite als sie merkte, dass sie weder klar sehen noch denken konnte und Gefahr lief Fehler zu machen. Ihre blauen Schutzhandschuhe, die sie vor den Chemikalien schützen sollten hatte sie schon vollgeschwitzt, und so musste sie sie fast mit Gewalt von den Händen reißen. Schrumpelige Finger kamen zum Vorschein, die sie erst wusch und dann abrieb, um sie wieder richtig zu durchbluten. Sie warf sich Wasser ins Gesicht und stöhnte dabei, als sich die Erschöpfung des Tages ihren Weg bahnte. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass man ihr die Strapazen ansah. Sie war keine Schönheit. Nie gewesen. Aber an diesem Tag sah sie besonders erschöpft aus und das ließ sie wesentlich älter erscheinen, als sie war.Essen oder nicht?, fragte sie sich in Gedanken und entschied, dass Essen völlig überbewertet sei. Sie goss sich ein Glas Wasser ein um für den Feierabenddurst gewappnet zu sein, der sie immer traf und nahm sich ein paar dünne Baumwollhandschuhe, die sie anzog, um beim Blättern das Pergament zu schonen. Lesen. Jetzt! Dann setzte sie sich und schlug vorsichtig und zaghaft das Testamentum auf, was sie aus dem Klimaschrank geholt hatte. Ihre Augen flogen nur so über die Schrift um die Stelle zu finden an der sie im Keller das Lesen eingestellt hatte.

„Wenn Luciano da schon gewusst hätte..:“ Oh Mann, wo war ich nur dran? dachte sie.

„Vielleicht hatte Gott … Vielleicht…Vielleicht…..“ Ah ja. Hier! Fand sie schließlich ihre Stelle wieder.

„Die große Krankheit mit den schwarzen Beulen. Von der hatten wir alle schon gehört. Aber von wandelnden Toten? Nein, das ging über mein Verständnis hinaus. Auch wenn ich falsch lag, ich wusste es damals nicht besser“

Und Ellie ließ ihre weiß behandschuhten Finger über das Pergament schweben, um dem Text besser zu folgen. Ihre Haarsträhnen lösten sich und fielen in ihr Blickfeld, was sie aber nur mit einem Pusten über die Lippen quittierte. Sie musste lesen. Anders ging es nicht. Sie musste sich belohnen für den Tag am Restaurationstisch, der ihr wieder mal zeigte, dass sie einen Ischias hatte, der einen Menschen fürchterlich ärgern kann. Sie fixierte die alten Buchstaben und begann wieder abzutauchen in Gottliebs Welt.

„...Auch wenn ich falsch lag, ich wusste es damals nicht besser. Ich roch den Wein in Micheles Becher und dachte wie grauenvoll der Anblick gewesen sein musste, der ihm die Sprache verschlagen hatte. Das Licht des Feuers tanzte über sein regungsloses Gesicht und er starrte immer weiter in die Flammen, die unhörbar über das Holz züngelten. ‚Verstehe ich euch recht, Herr Saltonato? Tote die wandeln, kreuzten euren Weg?‘ ‚Luciano. Nennt mich einfach Luciano. Und ja. Ihr habt recht gehört. Tote, die wandeln. Auferstanden von den Toten, könnte man denken, aber es ist anders Bruder Amadeus. Sie bewegen sich zwar, aber dennoch nicht wie lebendig. Stetig möchte ich es nennen, wie angespornt oder angetrieben von einer Gier. Denn das sind sie, wie wir feststellen mussten. Ihre Augen sind leer und trüb und dennoch führt sie ihr Weg zu den Lebenden. Zurück zu den Liebenden, die sie einst begruben und betrauerten. Ihr Gang scheint mir eher schlurfend als so, wie wir sonst einhergehen. Langsam und ohne rechte Aufmerksamkeit. Allerorts war es dasselbe. Wo wir auf sie stießen war es immer wieder gleich. Leere Augen, schlurfender Gang und ein steter Weg zu den Lebenden. In einem Dorf am Fuße der Alpen sahen wir sie das erste Mal. Marienstein ist wohl sein Name, glaube ich. Als wir dort Ende des Monats des Julius oder Heuerts, wie ihr ihn nennt, ankamen lag ein stinkender Rauch über dem Dorf, der von einem Scheiterhaufen herrührte der aus mindestens fünf Leibern bestand. Ich konnte ein Kind erkennen und wenigstens eine Frau. Die Gesichter zu Fratzen verzerrt, die Glieder verdreht und verkohlt und immer noch qualmend. Bei zweien waren die Köpfe seltsam verformt, als wären sie eingeschlagen worden. Die Menschen beäugten uns argwöhnisch, als wir uns näherten. Uns war klar, dass wir in einem kleinen Bauerndorf keine Abnehmer für feine Gewürze oder noch feinere Glaswaren finden würden, aber Unterkunft. Ein Strohlager und etwas Vernünftiges zu Essen statt unseres Reiseproviants. Wie ihr unschwer erkennen könnt, ist unser Wagen zu klein um als Schlafplatz und als Transportmittel zu dienen. Deswegen brauchen wir ab und zu einfach eine Unterkunft, wenn wir nicht den ganzen Weg über unter dem Himmel oder unserer kleinen Plane auf dem Boden nächtigen wollen. Wir saßen erschöpft und eingesunken auf unserem Kutschbock und machten wohl keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Aber als wir sie ansprachen erleichterten sich ihre Mienen. Später erfuhren wir auch warum. Denn die Auferstandenen reden nicht. Sie geben wohl Geräusche von sich, aber können nicht reden. Nicht, dass sie eine Kutsche lenken würden, und man uns deshalb für solche hätte halten können, aber was erscheint uns verständlich, wenn wir Angst haben? Man begrüßte uns und wir gaben uns als Händler zu erkennen, die Speis und Logis bräuchten. ‚Hier? Ausgerechnet hier? In Marienstein? Ihr kennt euch wahrlich nicht aus in dieser Gegend, oder?‘, warf mir einer der älteren Männer entgegen, die um den Scheiterhaufen standen. ‚Was denkt ihr, was hier grade passiert? Dass wir unsere Toten als Leuchtfeuer für vorbeireisende Schiffe anstecken, statt sie zu begraben? In den Alpen? Sagt an; was denkt ihr?‘ Und ich wusste keine Antwort darauf. Auch in Bavaria9 begrub man seine Lieben. Soviel war auch mir bekannt. ‚Ein Überfall vielleicht‘, mutmaßte ich wohlwissend, dass ich falsch liegen würde. ‚Wiederkehrer! Sie sind alle Wiederkehrer.‘, sagte der Mann mit einem traurigen Ton in der Stimme. Nicht ängstlich oder wütend, nein unsagbar traurig. Auf meine Frage was er damit meine, erwiderte er, dass dies die Toten der letzten Woche seien und man sie nicht noch einmal wandeln sehen möchte. Dass zwei von den kohlenden Körpern bereits wiedergekehrt seien. Oh, Bruder Amadeus. Ich sehe den gleichen ungläubigen Blick, den auch wir damals hatten. Wiederkehren? Aus dem Totenreich? Auferstehen? Ist es nicht das, was wir uns wünschen? Mehr Zeit mit den Liebenden? Ist das nicht eine Art des Paradieses? Für manch einen gewiss. Für andere ist der Tod nur ein Ende des Leides. Aber dennoch: stellt euch vor wie unser Herr Jesu aufzuerstehen und wieder unter den Lebenden zu wandeln.‘

Luciano starrte mich an, als erwarte er eine Antwort meinerseits, die ich ihm nicht geben konnte. Auferstehen, Wandeln, Wiederkehren aus dem Totenreich. Dem Fegefeuer entrinnen. Dinge die wir predigten wurden wahr? Mir schien fast, als wollte mein Herz aus dem Halse klopfen, aber irgendetwas besorgte mich. Tief in seinen Augen war ein Schimmer, der nicht vom Feuer herrührte. Ein Glitzern und Funkeln das mich zweifeln ließ. Entweder log dieser Mann oder etwas anderes war nicht in rechter Ordnung. Ich fragte ihn, was es denn mit den Wiederkehrern auf sich haben mochte. Er setzte zum Reden an, doch stockte sein Atem kurz.

Er räusperte sich und fing dann an genauer zu schildern: ‚Wiederkehrer sind keine Kinder Gottes mehr.‘ ‚Häretiker‘ entfuhr es mir. ‚Blasphemie Luciano! Ihr leugnet Gott und das Leben nach dem Tode?‘, aber er hieß mich mit einer Handbewegung zuzuhören. ‚ Häretiker? Ihr nennt mich einen Ketzer? Wenn sie es doch noch sein sollten, so hat unser Herr uns wohl verflucht und verdammt. Der Mann in Marienstein war der Schmied des Dorfes. Der einzige Handwerker unter Bauern und der einzige, der beherrscht genug war nicht aufzugeben oder fliehen zu wollen. Er war scheinbar der Rückhalt der Familien, die mit ihm blieben. Er erklärte uns, dass seit einiger Zeit die Tote, die man begrub nicht in der Erde blieben. Ja, lacht nur. So genau sprach er zu uns. Michele war genauso ungläubig wie ich und auch ihr jetzt. Aber wenn im Kirchgarten die Erde klopft, weil Begrabene an die Särge schlagen und ihr diese Geräusche hören könnt, so denkt ihr um. Wir hörten genau das. Man legte uns nahe weiter zu ziehen, aber als wir kund taten bleiben zu wollen, wenigstens für eine Nacht, so hieß man uns auf den Friedhof zu gehen. Wir sahen Gräber wie überall. Grabkreuze wie es sich für gute Christen ziemte. Aber wir sahen aufgebrochene Hügel. Von Gräbern die seit Monaten verschlossen waren. Immerhin war es schon der Monat des Augustus und manche Kreuze zeigten den des Janus als Zeit des Abschieds. Es hieß, die Toten seien den Gräbern einfach entstiegen. Aus den Särgen, durch die Erde zurück auf die Erde. Und da hörten wir das Scharren und Klopfen in zweien der Gräbern. Da war noch ein Geräusch, was ich aber da noch nicht erkannte. Ein Stöhnen. Ein durchdringendes Stöhnen was die Wiederkehrer begleitet und was einem durch Mark und Bein dringt, wenn man ein einziges Mal mit ihnen zu tun hatte. ‚Sie töten, Herr Luciano. Sie töten die Lebenden und machen so neue Wiederkehrer. Oder sie essen sie.‘ Amadeus, ihr könnt euch nicht vorstellen wie sehr sich mir dieser Satz eingebrannt hat. Mir klingt jede Silbe davon noch im Ohr und ich habe den Blick und das Gesicht des Schmiedes immer noch vor Augen. ‚Wenn ihr immer noch bleiben mögt, so bleibt. Wenn nicht, sei Gott mit euch und beschütze euch auf eurem Weg.‘ Auch das werde ich nie vergessen. Nicht den seltsamen Ton mit dem der Schmied dabei sprach, noch die Frau die neben ihm weinte und sich an seinen Arm klammerte. Wie ich erfuhr war es ihrer beiden Tochter, die in dem Haufen vor sich hin qualmte. Sie wurde verbrannt, damit sie nicht mehr zurückkommen kann. Oh Nein, Amadeus. Diese Wesen sind nicht dem jüngsten Gericht entsprungen. Sie scheinen vielmehr direkt aus der Hölle zu uns gekommen zu sein. Wir blieben in Marienstein. Zwei Nächte nur. Aber die zweite sollte uns verändern und Michele verstummen lassen.‘ Der Blick den Luciano hatte, während er von Marienstein erzählte blieb mir ebenso im Gedächtnis, wie ihm der Blick des Schmiedes. Er war fast leer. Starr. Voller Angst, Hoffnung und Zweifel zugleich. So als erzähle er etwas, was er aus weiter Ferne beobachtet und das ihm Angst einflößt. Mir war ohnehin kalt an diesem Abend, aber etwas besonders Kühles kroch mir unter die Kutte und ich rückte näher an das runterbrennende Feuer heran. Ich hielt meine Hände über das Gemisch aus Glut und Flammen und saugte die Wärme in mich auf, ohne dass sie Wirkung zeigen konnte. Nein, ich erschauderte innerlich so stark dass ich mich wohl hätte verbrennen mögen und trotzdem gefroren hätte. So ganz anders als ich dachte war es an dem Feuer. Nicht so warm und trocken und heimelig. Ich ängstige mich. Bisher waren die Nachrichten aus dem Süden über die große Krankheit immer weit entfernt. Man hörte von jemandem der jemanden getroffen hatte, der jemanden kannte, der dort war. Man hörte von einer Pestilenz, die um sich griff und einen sterben ließ. Schnell, qualvoll und sicher. War man ergriffen, so war man fast sicher des Todes. Manche blieben verschont, und niemand wusste warum. Aber dies hier war etwas anderes. Etwas völlig anderes. Man starb und kehrte zurück? Man sollte auferstehen in Gottes Reich. Jugendlich schön, ohne Krankheiten und voller Freuden in einem ewig währenden Leben. Aber diese kehrten zurück um zu töten und zu fressen? Verwirrung in meinem Kopf. Ein kleiner, wachsender Teil in mir wollte dem Mann glauben. Der größere Teil, derjenige welcher die Schriften studiert hatte, der die Heilige Schrift kopiert hatte, der seit Kindheitstagen nichts kannte außer Gottgefälligkeit, derjenige schrie in mir. Häresie! Ketzerei! Ungläubige! Wie konnten sie es wagen an Gott zu zweifeln? An seiner Gnade und Barmherzigkeit? Wie nur? Sie kamen immerhin aus dem Land der Kirche. Italien. Nicht dem fernen Orient, den Ländern der Mauren und falsch Geleiteten. Und immer wieder zweifelte ein Teil in mir. Dieser kleine Teil. Der schwarze Tod, der aus dem Orient über uns hereinbrach, war wie eine Geißel für die Menschheit. Dieses andere Übel war dann wohl der Todesstoß für sie. Wenn die auferstehen würden, die an den Beulen starben und sich in Bewegung setzen mochten; wie sollten wir uns schützen? Zweifel in mir. Wohin flüchten? Wenn uns der Tod nachlief und uns einholen würde. Uns buchstäblich verfolgte. Wohin? Zweifel, Zweifel in mir. An Schlaf war nicht zu denken. Trotz dass Michele an diesem Abend Wache hielt, fühlte ich mich in Gefahr. Mehr als ich es jemals zuvor gefühlt hatte, fühlte ich die Nähe des Todes. Nicht nur meines, sondern den aller, die ich kannte.“

Ellie stockte der Atem. Von was bitte schrieb der Mann? Dass er über die große Pestepidemie aus den 1340er Jahren schrieb war klar, aber was sollte das mit den wandelnden Toten? Wenn das Dokument nicht so alt wäre, könnte man meinen jemand hat nach einem Kinobesuch schlecht gegessen und geträumt, dachte sie noch.Wandelnde Tote. Wie in einem der Filme von Romero? Wohl kaum. Aber was hatte es mit dem Dorf auf sich? Marienstein am Alpenrand? Völlig unbekannt. Und auch Hergendorf, was wohl scheinbar in der Nähe von Blaubach gelegen haben musste ist mir nicht bekannt ging es ihr durch den Kopf. Das war eine Arbeit für den nächsten Tag. Sie würde mal einen Besuch in die Bibliotheken der beiden großen Städte in der Nähe machen. In Köln und Bonn.

V

Ellie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Gerd erkannt sofort was los war, als sie aus der Stadtbibliothek in Bonn zurückkehrte. „Nichts zu finden über Hergendorf?“ fragte er, die Antwort kennend. „Nein. Kein Wort. Wie gestern in Köln auch; nicht einmal ein Hinweis oder eine Randbemerkung. Als hätte es das nie gegeben. Vielleicht spinnt sich der Bruder da auch was zusammen, oder es ist ein Synonym für ein anderes Dorf. Was weiß ich? Langsam macht mich das verrückt. Einerseits scheint da eine historische Bombe zu ticken, andererseits lässt sich das meiste davon nicht mal ansatzweise verifizieren. Und nach irgendeinem Saltonato aus Mailand zu forschen dürfte nicht viel bringen, wenn schon die hiesigen Leute nicht auffindbar sind. OK, die blaubacher Aufzeichnungen sind zumeist verschwunden, das war uns vorher klar. Aber ich hatte schon damit gerechnet hier was mehr zu finden, vor allem als ich die Mengen an Schriften sah dort Unten.“ „Das ist wohl wahr. Ich dachte auch ‚Das war’s. Yes. Alles was sie jemals über Blaubach wissen wollten endlich freigelegt.‘ Aber hey, ist denn das Testament von diesem Amadeus so wüst? Gibt das nichts her? Also was die Herkunft der Bücher angeht, oder der Leute, oder oder? Du hast doch was gesagt von umdenken müssen.“ „Ja, habe ich. Aber auch davon dass es stimmen müsse, was er schreibt. Und davon, das zu verifizieren, sind wir weit entfernt. Vielleicht in einem der nächsten Bände. Keine Ahnung. Ich werde mich nach dem Essen wieder dran setzen und weiterlesen“ Innerlich konnte sie es kaum erwarten, sich wieder über die amadei‘schen Texte her zu machen, aber das sollte Gerd nicht merken. Was wenn alles nur ersponnen war? Der Kujau des 14. Jahrhunderts? Oder eine Art Orson Wells, der die Leute mit fiktiven, aber überzeugenden Geschichten verängstigt? Nein, Gerd sollte nicht merken wie viel Angst sie hatte, dass sich das Ganze als Lug und Trug entpuppte. Das Essen war eine Qual für sie und zog sich gefühlt, ewig in die Länge. Sie hockten wie so oft in einem der Restaurants in der Nähe der Blaubachruine und aßen zu Abend. Wie üblich ein Steak oder ähnlich proteinhaltiges Etwas auf dem Teller des Herren, eine Portion Salat mit Putenstreifen oder ohne, für die Dame. Sie stocherte darin herum und dachte, dass sie beide wohl ein tolles Klischeepärchen abgeben würden. Sie lächelte Gerd an, war aber eher abwesend. Er nahm es kauend zur Kenntnis und aß zufrieden, wie er es immer tat. Ihm konnte kaum etwas den Salat verhageln, solange es am Ende des Arbeitstages etwas leckeres, ehemals Vierbeiniges auf Geschirr angerichtet gab. Ihr Hotel lag etwas abseits der Hauptstraße die an Blaubach vorbei in Richtung des Siebengebirges führte und Ellie war froh, als sie endlich auf dem Zimmer war. Sie holte ein Paket aus ihrer Tasche, das sie von der Ruine – präzise aus dem Konservierwagen- mitgebracht hatte. Sie legte es auf den Schreibtisch am Fenster und fing an das Tuch, was das darin befindliche Besondere umgab, auszuwickeln. Ein dunkles, ledereingebundenes Buch kam zum Vorschein, was nicht wirklich etwas in ihrem Zimmer zu suchen hatte. Aber sie musste weiterlesen. Mit einer Portion Salat im Bauch zur Stärkung, einem Glas rheinischen Rotweins zur Entspannung und einem Kissen im Rücken zur Vorbeugung von Schmerzen durch überlanges Lesen bewaffnet, gab sie sich daran wieder ins Mittelalter zu entfleuchen.

„Als zur blauen Zeit vor Sonnenaufgang das Feuer gänzlich niedergebrannt war, stand Michele auf und ließ mich allein sitzen. Die ganze Nacht schien er ins Dunkel gelauscht zu haben. Luciano hingegen hatte sich schlafen gelegt und wenigstens einige Stunden Ruhe gefunden. Ich war zu aufgewühlt gewesen um ein Auge zuzumachen. Meine Gedanken kreisten um das was ich gehört hatte und kaum glauben konnte. Luciano hatte noch mehr erzählt über Marienstein. Dass von den einstmals über 50 Menschen dort nur noch ein knappes Dutzend lebte. Der Rest war entweder geflohen oder verstorben. Dass es mehrere Begegnungen mit den Gehenden vor ihrem Eintreffen gab und sie hernach eine miterlebten. Das erste Mal trafen die Dörfler Monate zuvor auf einen Wiedergekehrten, der aus dem Wald über das Feld zu ihnen kam. Ohne zu wissen wie gefährlich sie sind ging einer der jungen Bauern auf den Fremden zu um ihn zu begrüßen. Stolpernd und stöhnend kam er auf den Arbeiter zugewankt und reagierte nicht auf Zurufe. Man erzählte Luciano dass man die Gier in seinen trüben Augen lesen konnte. Alle, außer dem jungen Bauern. Immer schneller stolperte er mit ausgestreckten Armen auf den Bauernburschen zu, wie Luciano schilderte, und als dieser erkannte dass der Fremde ihn anfallen wollte, versuchte er ihm auszuweichen. Vergeblich. Wie ein wildes Tier verbiss sich der Fremde im Arm des Dorfbewohners, den dieser zur Abwehr gehoben hatte. Fleisch wurde herausgerissen und gierig verschlungen. Man erzählte wie die Schreie des Mannes über das Feld bis in das Dorf drangen. Andere Dorfbewohner kamen hinzu und versuchten den Fremden festzuhalten. Der aber biss wie ein wildes Tier um sich. Schnappte wie ein Fisch nach dem Köder und versuchte mit seinen blutigen Zähnen noch mehr Fleisch zu erhaschen. Drei Männer hielten ihn unter Kontrolle bis der Schmied – Hagen war sein Name- dem Spiel ein Ende setzte und ihn zu Boden schlug. Er schwang seinen Schmiedehammer und mit voller Wucht schlug der kräftigste Mann des Dorfes, dem Fremden die Brust in Stücke. Keiner der Dorfbewohner wäre nach diesem Schlag aufgestanden, kein Mensch wäre es, und das wussten sie alle. Aber dieses menschenähnliche Wesen knurrte nur und schaute Hagen mit einer Gier an, die nur ein ausgehungertes Raubtier zeigt. Er kauerte auf dem Boden und kein menschlicher Laut, kein Wort kam aus seinem Mund. Keine Geste, die man deuten konnte und kein Blick, der etwas auszusagen hatte. Trübe Augen und fletschende Zähne waren alles, was die Leute sahen, die nicht dem angefallenen Mann halfen. Dieser schrie wie verrückt und gebärdete sich wie ein Tier in der Falle. Luciano war nicht bei dieser Begegnung, aber die Inbrunst, mit der er mir erzählte wie der Bauer aufsprang und dem Wesen, dass ihn so zugerichtet hatte immer wieder ins Gesicht trat, sagte mir, dass er das nicht nur aus Erzählungen kannte. Er musste solche Wut und solchen Hass selbst gesehen haben. Wie er erzählte, riss der Schädel des Auferstandenen unter den wütenden Tritten auf, wie ein fauliger Apfel und ergoss sich unter dem zuckenden Korpus. Dann lag er still. Als wäre nie etwas gewesen. Ohne seine blutigen Zähne wäre es fast friedlich gewesen. Fast.

Die zweite Begegnung war mit eben jenem Bauern. Luciano konnte sich nicht seines Namens entsinnen, aber es war der Bauer der so schmerzlich mit dem Fremden Bekanntschaft gemacht hatte. Der Schwager Hagens, des Schmiedes.