Der siebte Schwan - Lilach Mer - E-Book

Der siebte Schwan E-Book

Lilach Mer

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Beschreibung

Haben Sie "Alice im Wunderland" und "Die unendliche Geschichte" auch geliebt? Dann müssen Sie "Der siebte Schwan" lesen!

Wie rau der Morgen war, so weiß, so kühl gegen das sanfte Violett der Nacht. So herzzerreißend licht – es ist der Morgen, an dem eine alte Frau ihrer Enkelin ein Geheimnis anvertraut. Ein Geheimnis, das die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Märchen und Träumen verwischt und das Schicksal einer Familie für immer verändert. Denn einst, vor langer Zeit, machte sich ein Mädchen, Mina, hoch im Norden auf, ihre verschwundenen Brüder zu suchen. Sie begegnet Freunden, Feinden und seltsamen Wesen und lernt, über sich selbst hinauszuwachsen.

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Seitenzahl: 681

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Nachwort und Quellen
Danksagung
Copyright
HEYNE〈
Für meine Eltern,die mich immer unter ihren Flügeln bargen;meinen Bruder,der jeden Drachen für mich besiegen würde;für meine ganze wunderbare, einzigartige,hinreißende Familieundfür S.S.P.,einen ganz besonderen kleinen Schwan,ohne den dieses Buchnie geschrieben worden wäre.
Wie rau der Morgen war. So weiß, so kühl gegen das sanfte Violett der Nacht; so harsch und bloß nach den reich gekleideten Träumen. So unnachsichtig klar, wie Glassplitter auf der nackten Haut, wenn sie noch weich und verwundbar war unter den Laken. So herzzerreißend licht, wenn man sterben musste.
Die alte Frau legte den Kopf zurück auf das glatte Kissen. Vom Bett aus sah sie die Frostblumen an der Fensterscheibe, das zarte, rätselhafte Gespinst; eine unlesbare Schrift, die irgendetwas bedeuten mochte. Sie war zu müde, um es herauszufinden. Bald würde die Tochter kommen, es war die Zeit dafür, und mit einem sauberen Tuch darüberwischen; und erst im Gehen nur die sachteste Andeutung machen, dass das Gutshaus neue, dichte Fenster brauchte. Nun, sie würde sich nicht mehr allzu lang mit Andeutungen zufriedengeben müssen.
Von unten, vom staubigen Salon her, konnte die alte Frau sie leise streiten hören, die Tochter und die Enkelin; wie alle Generationen von Frauen streiten, wenn sie zu dicht beieinanderliegen. Ihr war es nicht anders gegangen, ging es heute noch nicht. Mit den Jungen war es nie so schwierig gewesen … Wahrscheinlich gab es niemanden, der sich von der Mutter so sehr unterschied wie die Tochter; so lange, bis die Ähnlichkeit sich über Jahrzehnte hinweg so nah an beide heranschlich, dass sie sich eines Morgens gegenseitig ins Gesicht blickten wie in einen Spiegel.
Sie rief nach ihnen, schwach, aber hörbar, öffnete sogar den Mund dabei, obwohl es überflüssig war: Es gab keine Nische in ihrem Geburtshaus, die sie nicht mit ihren Gedanken erreichen konnte. Aber die Tochter liebte das nicht. Und die alte Frau fühlte sich zu matt, um weiteren Streit heraufzubeschwören. Dabei war es noch nicht so sehr lange her, dass sie die Vorstellung belebt hätte …
Wie unverwechselbar doch Schritte waren. Da kamen sie die Treppe hinauf, feste, bestimmte Schritte in vernünftig flachen Schuhen, und daneben das sorglose Trippeln der ganz jungen, die noch nicht prüfen müssen, wie dauerhaft der Boden ist, auf den sie ihre Füße setzen. Die alte Frau richtete sich auf.
Fast ohne es zu merken, schob sie dabei die linke Hand unter eines der Kissen. Sie war, wie die rechte auch, von feinen, blassen Narben überzogen. Aber der linken fehlte dazu am Ringfinger, da, wo der Nagel war, das oberste Glied.
Sie sah die Verstümmelung nicht gern, ihre Tochter. Sah nicht gerne Dinge, die fehlten, Dinge, die nicht waren, wie sie sein sollten. Und sie hatte nie verstanden, warum die alte Frau ausgerechnet auf dieser Seite ihren Ehering tragen musste.
Das Lächeln kam jetzt leichter als die vielen Jahre zuvor, vielleicht, weil sie ihm schon so nahe war. Sie spürte es deutlich in den Mundwinkeln, und kaum dass die Tür leise geöffnet wurde, grüßte es sie wieder vom Gesicht ihrer Enkelin.
»Großmama, du bist ja schon wach.«
Sie war immer noch stolz darauf, dass es ihr gelungen war, von »Oma« oder, schlimmer noch, »Ömchen« verschont zu bleiben. Ob es wirklich an der neuen Zeit lag, dass alle Wörter immer kürzer wurden? Es war eine gewisse Atemlosigkeit darin, wie sie fand; das aufgeregte Voranstürmen von Kindern, die nicht abwarten konnten, welche Wunder sie hinter der nächsten Biegung erwarten mochten. War man denn zu ihrer Zeit tatsächlich so viel bedächtiger, so viel erwachsener gewesen? Und war es wirklich schon so lange her?
»Alles Liebe zum achtzigsten Geburtstag, Großmama!«
Eine weiche Wange schmiegte sich an ihre knochige, Haarsträhnen, die nach Vanille dufteten und irgendwie, ganz schwach, nach Milch.
»Danke, meine Kleine. Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
»Sehr gut sogar.« Ernsthafte, eifrige, weiherdunkle Augen. »Ich habe wieder die seltsamsten Dinge geträumt. Ein Wassermann kam darin vor, und Elfen, und eine Gans, glaube ich. Schön war es. Und aufregend.«
»So, eine Gans?«
Ihre Enkelin zuckte mit den Schultern. »Etwas Ähnliches wie eine Gans.«
Geschirr klapperte, und die Tür wurde ein zweites Mal aufgedrückt.
»Guten Morgen, Mama«, sagte ihre Tochter und stellte das Tablett vorsichtig auf einem Tischchen ab. »Alles Gute zum Geburtstag. Ich habe dir Kringel gebacken. Für den Kuchen ist es ja vielleicht noch ein bisschen früh.«
Sie kam zum Bett und umarmte die alte Frau, warm, herzlich und distanziert. Nur erwachsene Frauen beherrschten das so vollendet.
»Sieh nur, die Scheiben sind schon wieder von innen gefroren.«
»Ich finde es hübsch«, zirpte die Enkelin. »Außerdem sieht man dann das Auto nicht so sehr. Es passt nicht richtig hierher, finde ich. Eine Kutsche würde dem Haus besser stehen.«
»Eine Kutsche«, die alte Frau lachte leise. »Meine Kleine, in Kutschen ist es zugig und unbequem, und es holpert so sehr, dass man sich gegenseitig auf den Schoß springt.«
»Und das«, sagte die Tochter mit einem halben Lächeln, »auch wenn man sich noch gar nicht richtig vorgestellt wurde!«
»Liebchen, du überraschst mich.« Die alte Frau stützte sich auf die Ellenbogen. »Ironie am frühen Morgen? – Ihr beiden, ich hätte gern, dass ihr euch ein Weilchen zu mir setzt, wenn es euch recht ist.«
Sie fühlte die Wachsamkeit, die plötzlich den Raum erfüllte. Ihre Tochter rückte halbabgewandt die Gegenstände auf dem Tablett zurecht, Kaffeetasse, Kringelteller, all die schönen, unnützen Dinge. »Natürlich, Mama. Wenn du es möchtest.«
»Ich sitze ja schon.« Auf der Bettkante wippte die Enkelin fröhlich mit den Füßen. Vorlaut war sie; aber man konnte es ihr nicht übelnehmen. Das ganze Bett vibrierte unter ihrer Lebhaftigkeit.
Als die Tochter sich einen Stuhl auf der anderen Seite herangezogen und die Hände in den Schoß gelegt hatte, als säße sie in der Kirche, fühlte die alte Frau sich auf einmal befangen. Wie arglos ihre Gesichter waren, selbst das ihrer Tochter, das Sorgen und Misstrauen kannte! Wie sagte man den Menschen, die man so schmerzlich liebte, dass es einen sprachlos machte, dass man sie verlassen würde? War es nicht besser, sie blieben ohne das Wissen, bis die Wirklichkeit alles von allein erledigte?
»Großmama«, wieder lehnte sich die weiche Mädchenwange an ihre. »Was hast du nur? Du siehst so ernst aus. Komm, soll ich dir von der Schule erzählen?«
Sie streichelte sie sanft, aber ablehnend.
»Liebchen.« Ihre Augen suchten nach denen ihrer Tochter, ohne sie zu finden. »Ich möchte, dass du heute den Frost am Fenster einmal Frost sein lässt und stattdessen das Fenster … das Fenster einfach nur öffnest. Könntest du das für mich tun? Ich möchte, dass es heute den ganzen Tag über offen bleibt, und auch noch am Abend. Keine Sorge«, sie kam mit einer entschiedenen Handbewegung den Protesten zuvor, »ich wickele mich warm ein und nehme eine Wärmflasche ins Bett. Und so kalt ist es tagsüber auch nicht mehr. Öffne einfach das Fenster für mich. Ich kann den schweren Riegel nicht mehr bewegen. Und ich möchte … Ich möchte die Schwäne draußen beim Teich gerne hören.«
Jetzt blickten sie sie an, die Augen, hell und klar wie Glas, und zornig, so zornig.
»Mama, was ist denn das wieder für ein Unsinn? Es ist noch viel zu kalt, Schwäne sind Zugvögel!«
»Höckerschwäne nicht!« Das Mädchen hatte, ohne es zu merken, einen Finger gehoben wie in der Schule. Die alte Frau nickte ihm zu.
»Richtig. Die Höckerschwäne hier oben bei uns im Norden fliegen nicht weg, sie bleiben uns treu. Ich weiß, dass welche beim Teich unten sind, ich habe sie gestern schon gesehen, als ihr mich in den Wintergarten gebracht habt. Und ich liebe … ich liebe es, ihnen zuzuschauen.«
Die Tochter sprang auf.
»Ich sehe nicht ein, was das soll, Mama; wieder deine Launen! Es sind nur ein paar große, dumme Vögel dort draußen, mehr nicht. Mehr nicht! Hör auf, immer überall etwas hineinzugeheimnissen.«
Sie drehte sich um, zur Tür hin.
»Bleib hier.«
Ja, sie konnte es immer noch: ihrer Stimme, die das Alter so spröde gemacht hatte, diesen machtvollen Glanz verleihen. Ihre Tochter war stehen geblieben, die Hand auf der Klinke, den Kopf trotzig gesenkt. Die alte Frau seufzte unhörbar.
»Bleib hier, mein Liebchen. Ich bitte dich.«
»Ich will solchen Unsinn nicht hören.« Der Kopf hob sich nicht. Die Blicke der Enkelin sprangen hin und her wie zwei ängstliche Hasen. Die alte Frau streichelte ihr beruhigend den Handrücken.
»Du weißt«, sagte sie, »dass das kein Unsinn ist. Ich rede nur sehr selten Unsinn, und wenn, dann weiß ich es.«
»Unsinn, Blödsinn, dummes Zeug! Ich habe genug davon, hörst du? Für ein ganzes Leben genug. Deine Launen, deine Geschichten … Alles nur Unfug! Und ich will auch nicht«, der Kopf flog hoch, mit brennend blauen Augen, »ich will nicht, dass du ihr das in den Kopf setzt! Sie ist ein kluges Mädchen, kommt gut zurecht in der Schule, hat Freundinnen. Ich will, dass das so bleibt!«
Ein paar Sekunden, in denen nur Atemzüge das Zimmer füllten, heftige, ruhige und angstvolle. Irgendwo in der Vergangenheit schmiegte ein kleines, gehänseltes Mädchen weinend seinen Kopf in Mutters Schoß … Dann richtete die alte Frau sich so gerade auf, wie sie konnte; als sie wieder sprach, war ihre Stimme ganz sanft.
»Jetzt schweigst du besser, mein armes Töchterlein. Hast du vergessen, wer dein Vater war?«
Unwillkürlich blickten drei Augenpaare zu der verblassten Photographie auf dem Nachttisch hinüber, und das Herz der alten Frau füllte sich mit einer Sehnsucht, die kaum noch zu ertragen war. Bald, bald, mein Liebster. Es gibt noch etwas, das ich tun muss …
Sie machte eine Handbewegung, und der schon wieder geöffnete, lippenstiftrote Mund ihrer Tochter schloss sich widerwillig.
»Nein, mein Liebchen, jetzt werde ich ein wenig reden. Und du wirst mich nicht unterbrechen. Auch nicht, wenn ich von Schwänen spreche. Selbst dann nicht, wenn es mir etwa einfallen sollte, von Wassermännern und Nixen zu reden, wie unser kluges Mädchen hier. Ich werde reden, und ihr werdet so freundlich sein, mir ein kleines Weilchen dabei zuzuhören. Und wenn ich fertig bin, meine liebe, schöne, eigensinnige Tochter, dann wirst du hinübergehen und dieses Fenster für mich öffnen. Habt ihr mich beide verstanden?«
Sie nickten, die eine verwirrt, die andere – es war so schwer zu sagen. Zornig? Immer noch, ja; sie war schon zornig auf die Welt gekommen. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sich wie Furcht anfühlte oder wie – Kummer …
»Mama«, flüsterte ihre Tochter. »Mama, tu es besser nicht. Wenn du schon nicht an dein Kind denken konntest, dann denk an meines.«
»Ja«, antwortete die alte Frau leise. »Genau das will ich tun.«
Sie lehnte sich aus dem Bett, an dem warmen jungen Körper der Enkelin vorbei. Die verstaubte Schachtel stand noch immer unter dem Nachtschränkchen; immer noch, nach all den Jahren. Sie zog sie hervor, schob die Hand unter den Deckel. Glattes Holz, kaltes Glas … Sie tastete, bis sie den Mechanismus fand. Ein Geräusch erklang, ein kleines, kratziges Schnarren. Ihre Finger zitterten ganz schwach, als sie den Deckel von der Schachtel hob.
Die Enkelin beugte sich neugierig vor. Die Tochter atmete ein.
Ein hölzernes Kästchen, stumpf von Alter und Staub. Figuren aus geschliffenem Glas darauf, mattes Schimmern im blassen Winterlicht. Sie bewegten sich leicht, stockten, ruckten wieder. Setzten langsam zur allerersten Drehung an.
»Hört«, sagte die alte Frau – oder dachte sie es nur?
»Hört.«
Ein erster Ton schwebte über das Bett hin.
An jenem Tag füllte das Lied der Spieluhr den ganzen Dachboden, und Mina hörte den Besuch nicht kommen. Der Wind, der seit der Nacht von der Schlei herwehte, hatte den letzten Winterhauch vom Dach geblasen. Die Maisonne schien hell durch das schmale Giebelfenster; Staub rieselte in glitzernden Fäden von den Balken. Die zirpenden Töne wiegten sich darauf, und die kleine, sehnsüchtige Melodie drang in jede Nische.
Mina hielt die Spieluhr fest an die Brust gedrückt, während das Lied sie umfing. Bunte Lichtflecken sprangen von den Glasresten auf dem Deckel; die Figuren, die einmal daraufgestanden hatten, waren längst abgebrochen. Nur ein paar Kristallsplitter, immer noch festgeleimt, und etwas wie ein Frauenfuß in einem gläsernen Schuh drehten sich, wenn man die Kurbel aufzog – langsam, gemessen, Runde um Runde. Die Lichtflecken huschten über Minas Gesicht, so leuchtend, dass sie die Augen beinahe ganz schließen musste: Morgenrot, Sommernachtsviolett, Traumblau. Tanzende Damen …
Damen, die sich in ihren schönsten Kleidern drehten, langsam, gemessen, Runde um Runde, in einem Ballsaal, der irgendwo hinter den schrägen Wänden lag; hinter den Kommoden, denen Beine fehlten, den Kisten mit ausgemustertem Geschirr ohne Henkel und den geduldig wartenden, leeren Schrankkoffern. Damen, deren Haare hochgesteckt waren mit funkelnden Diademen, wie das, das verbogen um den kopflosen Hals einer Schneiderpuppe lag. Damen, die Tücher aus Perlen und Federn von ihren Schultern wehen ließen, ohne Mottenlöcher, ohne zerrissene Säume, während sie die schönen Köpfe neigten. Nie wurden sie müde, dem immer gleichen Lied zu lauschen, die zarten Füße im immer gleichen Takt zu bewegen. Die Spieluhr spielte, und die Damen tanzten, und das Seidenpapier in den leeren Hutschachteln flüsterte im Luftzug.
Einzweidrei, einszweidrei, wie die Mädchen unten an der Küchentreppe, wenn im Salon das Grammophon aufgezogen wurde. Mit der freien Hand hielt Mina einen Zipfel ihres kurzen Rocks ausgebreitet; der glatte Stoff schimmerte sanft. Auch wenn es nicht für ein Ballkleid reichte, er umgab sie wie eine Blüte, während sie sich drehte, immer noch drehte, obwohl ihr längst schwindelig war. Jedes Mal, wenn das Uhrwerk mit einem Schnarren zum Stehen kam und sie es wieder aufzog, ohne anzuhalten, sagte sie sich selbst streng: Nur diese eine Runde noch. Nein, Mina, sei vernünftig. Nur einmal noch, und dann Schluss.
Aber es war nie Schluss. Nicht, wenn die Staubkörnchen die Luft so sehr zum Funkeln brachten und die Kleider der Lichtdamen so hell strahlten.
Vielleicht lag es auch an ihrem eigenen schweren Atem, dass sie die Kutsche unten auf dem Vorplatz nicht über die Kieselsteine knirschen hörte. Sie wusste, dass sie unschicklich keuchte – wie die Kettenhunde draußen, wenn sie sich über die Kaninchen aufregten. Ihre Wangen glühten sicher wie bei einem aufgeregten Kind, und die sorgfältig gelockten Haarsträhnen über ihren Ohren waren zerzaust und verschwitzt. Ein Stück flatterndes, loses Schleifenband berührte sie immer wieder an der Schulter.
Sie wusste auch, dass sie die Schuhe hätte ausziehen sollen. Es war immer besser, die Schuhe auszuziehen, bevor man anfing zu tanzen; am besten schon, wenn man die kleine Bodenluke, die so sehr knarren konnte, minutenlangsam, mit angehaltenem Atem, wieder hinter sich geschlossen hatte. Das Schlafzimmer der Eltern lag unter diesem Teil des Dachbodens. Zwar hielt sich tagsüber normalerweise niemand dort auf. Wenn der Mutter schwindelte, wie so oft, ruhte sie auf dem kleinen Sofa im Damenzimmer, ein Fransenplaid über die Knie gebreitet, das Kristallfläschchen mit dem scharfen Riechsalz auf einem Tischchen neben sich. Mina war nicht sicher, wie krank man sein musste, um tagsüber im Schlafzimmer bleiben zu können; wahrscheinlich so sehr, dass man morgens gar nicht erst aufstehen konnte. Wenn Vaters schwere und Mutters zögernde Schritte die Treppenstufen zum Quietschen gebracht und die Mädchen die Waschkrüge geleert hatten, verstummte das obere Stockwerk für gewöhnlich bis zum Abend. Dann fühlte es sich an wie in einem fremden Haus, und die Luft auf dem Flur dort schmeckte seltsam staubig und abgestanden, wenn man nach oben schlich.
Immerhin, es konnte einer jener Tage sein, an denen in den Schlafkammern gewischt wurde. Es konnte sein, dass plötzlich Stimmen durch die Ritzen der Bodendielen nach oben steigen würden, ein Summen, ein tuschelndes Gespräch; das Geräusch des Staubwedels aus Pfauenfedern und Elfenbein, der an die Verzierungen des Kleiderschranks stieß. Wenn man dann nicht rechtzeitig aufmerksam wurde, dauerte es nicht lange, bis die Bodenluke schwungvoll aufgestoßen wurde und vorwurfsvolle Blicke unter einem runden, weißen Spitzenhäubchen die Spieluhr zum Verstummen brachten.
»Gnä’ Fräulein sind ja schon wieder hier oben.«
Dann wurde man von der Mamsell am Handgelenk gepackt, kaum dass es einem gelungen war, die Uhr mit dem Fuß unter einen alten Hocker zu schieben; wurde gepackt und unerbittlich nach unten gezogen wie ein unartiges Kind, ganz gleich, wie alt man war. Ins Damenzimmer zur Mutter, wo Handarbeit wartete. Ins Schulzimmer im anderen Flügel, wo Französischaufgaben an der schwarzen Tafel Kreidestäubchen elegant zu Boden rieseln ließen …
Nein, mit den Schulaufgaben war es ja nun vorbei. Mademoiselle mit ihrem Hütchen und den winzigen Spitzentaschentüchern; Mademoiselle, die so sanft lächelte und deren kleine Finger wie Vogelkrallen kniffen, wenn man tagträumte; Mademoiselle, die Mina alles beigebracht hatte, was eine junge Dame wissen musste, war vorgestern in die Kutsche gestiegen. Leise weinend, wie man es erwarten konnte, aber doch nicht so sehr, dass ihre blassen, kurzsichtigen Augen sich unschicklich gerötet hätten. Inzwischen war sie sicher längst zu Hause im vornehmen Paris angekommen. Ob die weltgewandten Mädchen dort sie noch eine Weile an ihre ungeschickte norddeutsche Schülerin erinnern würden?
Keine drückende, enge Schulbank mehr für Mina. Keine dunkle Schürze, die den Kreidestaub anzog, so dass man schon unordentlich aussah, wenn man sich nur hingesetzt hatte. Keine Hausaufgaben, die einen von den stillen, verblichenen Wundern des Dachbodens fernhielten. Stattdessen … die Konfirmation, in ein paar Tagen schon. Der Herr Pastor, der sie geduldig sonntagnachmittags den Katechismus gelehrt hatte und der beim Sprechen mit dem Kopf wackelte, würde ihr in der Kirche seine alte zerbrechliche Hand auf den Scheitel legen. Es würden Psalmen gesungen werden, während sie vorne stand, hübsch zurechtgemacht wie eine Braut in ihrem ersten langen schwarzen Kleid. Von all den umliegenden Gütern würden die Nachbarn kommen, aus Kappeln, Missunde, Lindaunis, vielleicht sogar aus Schleswig, um ihr zu gratulieren. Danach Kaffee und Kuchen für alle, zu Hause im Salon; unten in der Küche wirbelten sie schon seit Tagen deswegen. Und dann … ja, was?
Mina merkte, dass sie aus dem Takt kam. Die Absätze ihrer Knöpfstiefel schlugen laut und unrhythmisch auf die rissigen Bodendielen. Die bunten Lichtflecken stolperten über die alten Möbel, als sie versuchte, wieder in die Melodie zurückzufinden. Einszweidrei, einszweidrei … Es half nichts, die Lichtdamen flogen durcheinander wie Murmeln, und Mina konnte beinahe ihr empörtes Raunen hören. Die Spieluhr rutschte ihr halb aus dem Arm, sie schnaufte und schnarrte in der Schieflage. Das Lied wurde langsam, immer langsamer, bis die Töne so weit auseinanderlagen, dass sie keinen Sinn mehr ergaben. Erst da hörte Mina den anderen Takt, den anderen Rhythmus. Er kam nicht aus der Dachkammer. Da waren Schritte auf der Bodentreppe. Und draußen wieherte plötzlich ein Pferd.
Sie erschrak, ließ die Spieluhr fallen, und mit einem hässlichen Klirren schlug sie auf die Bodendielen. Die Musik verstummte. Ein neuer Splitter brach ab, als sie die Uhr mit der Stiefelspitze anstieß, heftig genug, dass sie unter eine alte Kommode mit drei Beinen rutschte und dort im Schatten liegen blieb. Die Bodenluke knarrte. Mit fliegenden Fingern versuchte Mina, sich die Haare zu glätten.
»Hier sind Sie, Fräulein Wilhelmina …«
Ein Hut stieg aus der Luke empor, schwarz schimmernde Seide, und auf den Brillengläsern darunter brach das Sonnenlicht. Die Augen waren nicht zu erkennen; aber der Mund im grauen Backenbart krümmte sich in amüsierten Winkeln, und Mina knickste, ganz schwach vor Erleichterung.
»Verzeihung, Herr Doktor«, sagte sie, immer noch atemlos. »Ich wusste nicht, dass Sie schon angekommen sind. Ich habe wohl die Zeit vergessen.«
Er lachte freundlich, während er sich ganz durch die schmale Luke zwängte. Einen kurzen Moment lang spürte Mina, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn er nicht heraufgekommen wäre; wenn er die Luke nur für sie offen gelassen und bei der Treppe gewartet hätte. Es war ihr Dachboden, ihr Versteck. Licht und Töne schienen noch in der Luft zu schweben, fast greifbar wirklich. Und auch sie gehörten ihr.
Mina verscheuchte den Gedanken sofort. Es war der Doktor, nicht die Mamsell. Er würde sie nicht am Arm packen und nach unten zerren. Er würde sie nicht verraten.
Ein liebenswürdiger Herr, der Doktor, auch wenn man sich immer ein wenig klein fühlte vor seinen funkelnden Brillengläsern und nie wusste, was er wirklich dachte. Sie kannte ihn, solange sie sich erinnern konnte. Oft wurde er zum Essen eingeladen, zu Minas Geburtstagen oder zum Sommerpicknick; einer der wenigen Gäste, die zum Gutshaus kamen. Eine Art Hausfreund, so sagte man wohl dazu. Zu ihrem letzten Geburtstag hatte er ihr hübsche Anziehpuppen aus Papier geschenkt und damenhafte Haarnadeln mit Wachsblumen. Der Doktor mochte sie.
Sie beeilte sich trotzdem, das lose Schleifenband wieder zu befestigen, während er sich umsah.
»Recht staubig haben Sie es hier«, bemerkte er, und seine Mundwinkel krümmten sich noch mehr. Er trat an eines der weißen Laken heran, unter dem eine Garnitur mottenzerlöcherter Morgenmäntel darauf wartete, in Putzlumpen zerrissen zu werden. »Aber das Licht ist zum Zeichnen natürlich einmalig an einem solchen Tag. Wenn auch die Blumenwiese im Garten vielleicht einen noch schöneren Ausblick bieten würde.«
Mina griff hastig nach dem Zeichenblock, der auf einer alten Staffelei beim Fenster stand. Schon vor Wochen hatte sie eine der Gewächshausrosen darauf begonnen, eine halbe Blüte, ein paar angedeutete Blätter. Sie leistete gute Dienste, wenn man nach stundenlangem vergeblichen Mamsellrufen von irgendwoher auftauchte. Wenn man sie vorzeigte, war man ein braves, anständiges Mädchen, das sich still mit Mädchendingen beschäftigte. Der Vater strich einem kurz über den Kopf, dass es in den straff gebundenen Schleifen ziepte, und die Mutter lächelte matt und legte ihre kühle, schmale Hand für einen Augenblick über die eigene, während die Standuhr tickte und das Mädchen mit der Suppenschüssel wartete. Niemand kam dann darauf zu fragen, ob man vielleicht den ganzen Nachmittag wieder auf dem scheußlichen alten Boden verbracht hatte …
»Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich erst die Rose beenden soll oder gleich mit der Baumkrone dort drüben anfange. So habe ich wohl eine Stunde nur überlegt und schließlich gar nichts getan«, sagte sie und lächelte entschuldigend.
Der Doktor nickte.
»Es ist nicht immer einfach, ein Backfisch zu sein. Der kleine Kopf so voll mit so vielen verschiedenen Dingen. Aber das findet sich mit der Zeit, meine Liebe, glauben Sie es mir. Das findet sich und ordnet sich alles, wenn man erst erwachsen ist. Wenn aus der kleinen Wilhelmina das Fräulein Ranzau geworden ist.«
Er ließ den Zipfel des Lakens fallen, den er mit zwei Fingern angehoben hatte. Mit der anderen Hand vollführte er eine elegante Geste zur Luke hin, wie ein Tanzherr, der seine Dame zu Tisch geleiten will.
»Wenn ich dann bitten darf …«
Mina lachte und folgte der Bewegung. Sie setzte die Füße auf die schmalen Stufen der Bodentreppe, ohne hinzusehen; im Schlaf hätte sie sie gehen können, seit sie einmal mitten in der Nacht hinaufgeschlichen war, um zu beobachten, wie der Vollmond durch die Zweige der Buchen schien. Sie hob den Kopf, vielleicht, um dem Doktor noch eine scherzhafte Bemerkung zuzuwerfen. Er wartete mit dem Rücken zum Fenster, geduldig, immer noch lächelnd. Aber wie ein sonderbares Häkchen stand, dicht über den spiegelnden Brillengläsern, eine kleine, steile Falte auf seiner Stirn, die nicht zu dem Lächeln passte. Fremd, eigentümlich. Sie verwirrte Mina den einen Moment, den sie sie sah, bevor sie sich wieder in Glätte auflöste. Beinahe wäre Mina gestolpert.
Im Speisezimmer war das Licht von draußen gebändigt durch schwere Vorhänge. Alle Kerzen brannten am Deckenleuchter über dem Esstisch; Silberlöffel glänzten matt auf milchweißen Servietten. Frieda, das Stubenmädchen, das gar nicht Frieda hieß, aber nun einmal die Nachfolgerin einer ganzen Reihe von Friedas war, stand wie immer hinter den Eltern, dicht bei dem Glasschrank mit den Porzellanfiguren. Über ihren breiten, schwarz verhüllten Schultern spannten sich weiße Schürzenspitzen wie klägliche Engelsflügelchen. Wenn sie achtlos das Gewicht verlagerte, klirrten die Schäferinnen und Barocktänzer, die Blumenkörbe und verspielten Kätzchen hinter ihr im Schrank, die Mutter seufzte leise, und der Vater zog eine Augenbraue hoch. Dann stieg Frieda das Blut leuchtend rot in die Wangen, bis hinauf zu den feinen blonden Härchen, die unter ihrem Häubchen her vorspitzten. Mina fühlte ein unbestimmtes Mitleid mit ihr, wie mit all den Stubenmädchen. Sie waren da, und auch wieder nicht; man bat sie um ein neues Glas Wasser, eine zweite Scheibe Kuchen, sie traten aus dem Nichts und verschwanden wieder darin, ohne mehr zu hinterlassen als einen schwachen Hauch von Seife und Kleiderstärke. Und manchmal, spätabends, hörte man sie in der Mädchenkammer weinen.
An diesem Tag klirrten die Schäferinnen kaum. Vielleicht, weil der Doktor mit am Tisch saß, gar nicht ernst, und ohne jene eigentümliche Falte auf der Stirn Scherze machte und den Braten lobte? Zwischen den Gängen diskutierte der Vater lebhaft mit ihm über die letzte Jagd. Mutters Gesicht trug einen Hauch von Farbe, und sie drängte den Gast sanft, von jedem Gericht mehrere Nachschläge zu versuchen. Er ließ es sich mit einem Lächeln gefallen, halb entschuldigend, halb behaglich.
»Vielen Dank, Gnädige Frau, es ist auch wirklich zu köstlich … Ja, vielleicht auch noch einen kleinen Tropfen Sauce …«
Mina schwieg die meiste Zeit über, wie es sich gehörte. Aber der Doktor richtete immer wieder kleine, freundliche Bemerkungen an sie, wie er es schon seit einer Weile bei solchen Gelegenheiten tat, seit sie keine geringelten Kniestrümpfe mehr tragen musste und ihre Röcke angefangen hatten, die Knie zu umspielen.
»Und die junge Dame, glücklich, der Schulzucht entronnen zu sein? Ja? Das ist verständlich. Obwohl Mademoiselle vielleicht nicht allzu streng war, möchte ich meinen. Wenn ich da an die Dorfschullehrer denke, was die Kinder dort auszuhalten haben! Das sind Zustände, Fräulein Wilhelmina, Zustände …!« Er ließ sich noch einen Löffel Preiselbeerkompott reichen. »Man muss die Obrigkeit mit der Nase darauf stoßen, wie rückständig es auf den Dörfern zugeht. Natürlich«, er neigte sich liebenswürdig dem Gutsherrn zu, »nur dort, wo die Herrschaft sich nicht so umfassend kümmert, wie es bei Ihnen der Fall ist. Kinder verhungern, weil ihre Mütter nicht wissen, wie sie sie vernünftig zu füttern haben! Alte und Schwachsinnige verkümmern vor den Haustüren! Wenigstens arbeiten die provinzialen Heilanstalten ordentlich, sonst wäre es noch schlimmer. Auch wenn sie leider immer noch nicht überall gut angenommen werden.«
Er seufzte, und nach einer kleinen Pause nickte der Vater. Sein Hals in dem hohen weißen Kragen wirkte dabei steif, und er erwiderte nichts.
»Die einfachen Menschen«, sagte der Doktor, »sperren sich gegen den Fortschritt, gegen die vernünftige Ordnung der Dinge. Und gegen die Wissenschaften. Dabei gibt es unerhörte Fortschritte. Wenn man nur einmal die Phrenologie betrachtet …«
Neben Mina ließ die Mutter ihr Besteck langsam sinken, als wäre sie schon satt.
Mina lächelte, ohne es zu zeigen. Die Wissenschaften … Sie waren das Steckenpferd des Doktors. Stundenlang konnte er begeistert über Dinge mit fremdartigen, langen Namen referieren, die höchstens der Vater verstand. Auch jetzt röteten sich seine Wangenknochen über dem Bart, und seine Stimme wurde scharf und strahlend.
»Man weiß heute so viel über den Menschen, sein Gemüt, seine Physis und wie beides miteinander in Verbindung steht. Es gibt neue Methoden und Heilmittel. Und die Entwicklungen auf dem Gebiet der psychischen Chirurgie …«
Das Messer der Mutter fiel klirrend auf den Tellerrand. Mina hob verwirrt den Kopf. Die Mutter nestelte an einer der Servietten, hielt sie vor den Mund und hustete schwach und entschuldigend. Das Stubenmädchen fuhr mit den Händen in die Schürzentaschen und suchte nach dem Riechfläschchen; aber der Doktor winkte ab.
»Lass nur, Mädchen, es ist gleich wieder gut. Du bringst die Gnädige Frau nur in Verlegenheit. Ist es nicht schon wieder besser, Teuerste?«
Er beugte sich über den Tisch und sah der Gutsherrin forschend ins blasse Gesicht. Sie nickte schwach, den Mund noch hinter der Serviette verborgen. Ihre Augen über dem grellweißen Tuch wirkten sehr blau; blau und irgendwie … Das Wort drängte sich plötzlich von selbst in Minas Gedanken. Irgendwie ängstlich? Besorgt? Nicht matt und vage wie sonst, sondern mit einem eigenartigen Glanz darin, wie von verschluckten Tränen. Mina lächelte ihr zaghaft zu, aber es schien nicht so, als ob die Mutter es bemerkte. Ihr Blick blieb auf den Doktor gerichtet, der sich mit einem befriedigten Nicken wieder zurückgelehnt hatte.
»Ja, mit der Gesundheit ist es so eine Sache«, sagte er, als wäre nichts geschehen. »Man darf nicht unvorsichtig sein, aber auch nicht zu sehr besorgt; es ist beides falsch, auf das rechte Maß kommt es an. Bei Ihnen, Fräulein Wilhelmina, scheint ja alles in der üblichen Ordnung zu sein, wenn ich mich nicht sehr irre?«
Und er fing an, sie eingehend nach ihrem Gesundheitszustand zu befragen. Mina war viel zu sehr daran gewöhnt, um sich darüber zu wundern. So war es immer, wenn er kam; er blieb nun eben ein Doktor. Sie schluckte die kurze Verwirrung hinunter und antwortete ihm freimütig auf seine Fragen nach Kopfschmerzen, Temperaturen; aber auch nach den Büchern, die sie las, den Stücken, die sie auf dem Klavier spielte, den Pflanzen im Garten, die sie besonders liebte. Der Körper, erklärte er immer wieder, hing mit dem Geist untrennbar zusammen, viel mehr, als die meisten Menschen sich klarmachten. Eine plötzliche Vorliebe für melancholische Melodien konnte auf eine Grippe hindeuten, lange bevor irgendein körperliches Anzeichen sichtbar wurde. Fieber konnte durch den Anblick und den Geruch beruhigender Pflanzen gelindert werden.
Die Mutter nickte dazu, sagte aber nichts. Sie hielt die Serviette noch immer in der Hand.
»Nun«, sagte der Doktor schließlich und legte seine breiten Hände vor sich auf den Tisch, auf deren Rücken die Haare bereits grau wurden, »es scheint mir alles so zu sein, wie ich es vorzufinden gewöhnt bin, junge Dame. Dann entlasse ich Sie aus meinem peinlichen Verhör; Sie haben sicher noch die eine oder andere Rose zu zeichnen, wenn Ihre Eltern nichts dagegen haben?«
Er zwinkerte ihr zu, als sie hinausging.
Im Flur bei der Treppe war es kühl und hell. Minas Absätze klickten auf den glatten Fliesen, als sie zu der Kommode ging, auf der sie den Zeichenblock abgelegt hatte. Sie würde vielleicht wirklich eine Stunde ins Gewächshaus gehen und der Rose endlich auf dem Papier zur Vollkommenheit verhelfen, bevor sie im Leben ganz verblüht war. Für den Dachboden war später noch Zeit. Die Eltern würden mit dem Doktor noch lange beisammensitzen, und Mamsell war mehr als beschäftigt, das Gästezimmer noch säuberlicher als sonst herrichten zu lassen. Es gab keinen Grund zur Eile; kein Grund, ihr Glück herauszufordern, auch wenn sie sich um die Spieluhr ein wenig Sorgen machte.
Bei der Haustür strich der schwarz-weiße Kater herum. Er kam selten herein, obwohl die Mutter Katzen liebte und nur die struppigsten aus dem Haus verbannte. Sein dunkler Rücken glänzte schöner als Seide, er trug helle Strümpfe an drei Beinen und hatte große, seelenvolle Augen in der Farbe von Sherry. Trotzdem war etwas Wildes an ihm, etwas, das so ganz anders war als die weißen und rosafarbenen Kätzchen im Porzellanschrank. Man traute ihm ohne weiteres zu, in der Scheune mit den Stallkatzen Jagd auf kleine Mäusekinder zu machen.
»Willst du mir wohl aus dem Weg gehen, wilder Geselle?«, sprach Mina ihn an. »Was tust du überhaupt drinnen, bei der herrlichen Sonne? Musst du nicht einer schönen Katzendame den Hof machen?«
Der Kater maunzte leidvoll. Vielleicht hatte seine Liebste ihn im Stich gelassen? Seine Krallen klickten wie Minas Stiefelabsätze auf den Fliesen, als er zu ihr herüberkam und sich an ihren Beinen rieb. Sie bückte sich und strich ihm über den Rücken, und er schnurrte, tief und laut wie ein Wasserkessel, bevor er zu kochen beginnt. Es war ein so einladendes, behagliches Geräusch, dass Mina sich auf den Boden setzte und ihn streichelte, während er mit den Pfoten ihren Rocksaum knetete.
Erst nach einer ganzen Weile schob sie sie sanft beiseite. Das Licht hatte sich verändert; wenn sie sich nicht beeilte, würde die Sonne hinter dem Hausdach stehen, und im Gewächshaus wäre nicht mehr genug Licht, um die Rose vernünftig zu zeichnen. Der Kater blinzelte sie träge an. Mit einem Gähnen, das all seine nadelfeinen weißen Zähne über der rosa Zunge zum Schimmern brachte, legte er die Pfoten zurück auf ihren Rock. Mina lachte leise.
»Eigensinnig wie alle Katzen, was? Nun komm schon.« Sie drückte gegen die weißbestrumpften Pfoten, aber er hatte die Krallen ausgefahren und tief in den dünnen Stoff gebohrt.
»Lass los, ja? Ich verspreche dir …«, sie sah einen Moment nachdenklich in die Luft. Katzen mochten Milch, aber in der Küche unten im Keller hatte Mina nichts verloren. Vielleicht stand eine Kanne für den Nachtisch-Kaffee in der Anrichte, ganz hinten im Flur?
Sie streichelte den runden Kopf. »Ich verspreche dir ein schönes Schlückchen Milch, wenn du mich aufstehen lässt, werter Herr Kater.«
Die großen Augen betrachteten sie aufmerksam. Noch einmal wurde das Mäulchen aufgerissen, und die Zähne blitzten in der Nachmittagssonne. Dann glitten die Krallen mit einem ganz feinen, zarten Geräusch aus dem Rockstoff; der Kater reckte sich, bis er beinahe doppelt so lang war wie sonst, und stand auf. Mina streichelte ihn noch einmal, bevor sie sich erhob.
»Lieb von dir.« Sie musste wieder lachen, während sie hinter seinem hocherhobenen Schwanz, wie ein Wegweiser, den Flur zurückging. Mamsell würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie sie dabei ertappte, wie sie mit der Katze sprach.
Sie kamen an der Tür zum Speisezimmer vorbei, und mit einem Mal blieb der Kater stehen, ohne jeden Grund, wie es die Art von Katzen ist; so plötzlich, dass Mina stolperte. Im Fallen streckte sie unwillkürlich die Arme aus, die Fliesen klatschten hart und kalt gegen ihre Handflächen, und Schmerz schoss die Gelenke hinauf bis in die Schultern. Sie fand sich auf allen vieren wieder.
»Du kleines Biest!« Zitternd atmete sie aus. »Was soll denn das? Ich dachte, wir hätten uns auf die Milch geeinigt?«
»Das können Sie nicht wissen«, sagte eine Männerstimme.
Mina erstarrte. Der Kater war an der Stelle stehen geblieben, wo er sie zu Fall gebracht hatte, reglos, ungerührt. Jetzt setzte er sich langsam und sah sie an.
Die Esszimmertür war nicht ganz geschlossen. Wahrscheinlich war Frieda wieder nachlässig gewesen; die spaltbreit offenen Türen überall waren einer der Gründe dafür, dass es im Gutshaus ständig zog. Mina richtete sich langsam auf, bis sie auf den Fersen saß. Sie wischte die Hände am Rock ab. Die goldenen Kateraugen verfolgten jede ihrer Bewegungen.
»Was …«, sagte sie sehr leise.
Dann sprach die Männerstimme wieder, und sie erkannte, woher sie kam.
»Sie vermuten es nur«, sagte der Vater im Esszimmer. »Sie haben keine Beweise. Es gibt keine Anzeichen …«
Jemand lachte verhalten. »Keine Anzeichen? Mein lieber Herr Ranzau!« Es war die Stimme des Doktors. Sie klang freundlich, angenehm wie immer. Aber eine Spannung lag darin, ein Unterton, der Mina fremd berührte; fremd wie die kleine, kurzlebige Falte auf seiner Stirn. »Das Mädchen verbringt ganze Tage auf diesem Dachboden, ich habe es heute selbst gesehen! Es ist so weltvergessen, dass es nicht einmal wahrnimmt, wenn das ganze Haus nach ihm sucht, um den Besuch zu begrüßen! Halten Sie das für normales Benehmen?«
Kälte kroch von den Fliesen empor. Mina spürte, wie sie sich die Hand auf den Mund legte, ohne zu wissen, warum. Die Augen des Katers ließen sie nicht los.
»Nun, wenn Sie es so sehen wollen…«Im Speisezimmer seufzte der Vater. Etwas knarrte, eine Stuhllehne vielleicht. Einen Augenblick herrschte Stille.
»Mein bester Herr.« Der Doktor sprach ganz ruhig. »Ich bin mir bewusst, was diese Erkenntnis für Sie bedeuten muss. Es ist ja auch noch nichts gesagt, nichts entschieden. Aber die Anzeichen – die Anzeichen sind da, klar und deutlich. Wir können sie nicht ignorieren und hoffen, dass sie von selbst verschwinden. Das ist bereits einmal fehlgeschlagen.«
»Ich verstehe Sie durchaus«, sagte der Vater. »Und Sie wissen, dass ich Ihre … Befürchtungen grundsätzlich teile, Doktor Rädin. Es ist nur … vor allem für meine Frau … Wissen Sie, wir hatten so gehofft …«
Minas Beine wurden langsam taub. Ihr Atem strich über ihre Handfläche, zitternd und lautlos; aber da war etwas anderes in der Luft, ein leiser, beständiger Ton. Etwas so Schmerzliches, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb.
Die Mutter weinte.
Etwas in Mina erschrak, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Die Mutter weinte! Leise, herzzerreißend.
»Meine Kleinen«, schluchzte die Mutter. »Meine armen, armen Kleinen …«
Verständnislos starrte Mina die Tür an.
Im Speisezimmer wurden Stühle gerückt, und schwerer Stoff raschelte. Mina wusste so genau, als ob sie es sehen könnte, dass der Vater aufgestanden war und sich hinter Mutters Stuhl gestellt hatte, ganz nah, ohne sie zu berühren.
»Ich weiß, liebe Gnädige Frau, ich weiß.« So sanft, die Stimme des Doktors. So sanft und so kühl. »Es ist schwer, ich weiß. Aber man muss daran denken, was das Beste ist. Nicht nur für … sie. Auch für die kleine Wilhelmina, seinerzeit.«
»Ja«, sagte der Vater tonlos. »Wir mussten das Beste tun. Damals. Wir mussten Wilhelmina schützen. Wenn ich nur daran denke – diese schreckliche Geschichte mit der Schlange …«
Mina blinzelte verwirrt, aber sie kam nicht dazu, irgendeinen Gedanken zu fassen.
»Sie haben gesagt, es geht ihnen nicht gut!« Es war beinahe ein Schrei, den die Mutter ausstieß, nur schwächer. »Und sie sind schon so lange … Und Sie lassen uns nicht mehr zu ihnen! Wie kann es das Beste sein?«
»Meine Liebe«, sagte der Vater hilflos, »aber du weißt es doch – wie sie sich aufführten die letzten Male … diese … diese Anfälle, diese Tobsucht …« Ein Schaudern brachte seine Stimme zum Zittern.
»Diese Dinge brauchen Zeit. Viel Zeit.« Die freundliche Stimme des Doktors ließ Gänsehaut über Minas Arme kriechen. »Und manchmal ist der Versuch zu helfen alles, was möglich ist. Man muss die Bemühungen eben fortsetzen, immer weiter fortsetzen, und die Hoffnung nicht aufgeben. Und dann gibt es Phasen, die besser sind, und Phasen, die auf den ersten Blick nicht ermutigend scheinen. Aber sie gehen vorbei, Gnädigste. Sie gehen immer wieder vorbei. Und sie sind stark. Sie sind immer noch stark genug, um weiterzukämpfen, glauben Sie mir.«
»Aber nicht Mina! Nicht Mina!« Jetzt schrie die Mutter wirklich. »Sie ist ein Mädchen, sie ist zart! Und sie ist nur … ein wenig verträumt, ein wenig weltfremd! Das sind viele in ihrem Alter! Und sie war so viel krank als Kind, Sie wissen das, Doktor. Allein, so oft, mit den Büchern und den Bildern … Sie ist nicht … sie ist nicht verrückt! Ich weiß es! Ich weiß es!«
Niemals in ihrem Leben hatte Mina ihre Mutter schreien hören. Niemals hatte sie auch nur die Stimme erhoben, selbst dann nicht, als Frieda die kostbare Tänzerin aus hauchzartem Porzellan beim Abstauben in tausend Scherben zerbrach. Tränen sprangen Mina in die Augen, zitterten erschreckt an ihren Wimpern. Und dort, wo sie auf ihre Wangen fielen, breitete sich Eiseskälte aus.
»Ich weiß es doch …« Die Mutter wiederholte es immer noch. Aber ihr Schreien war zu einem Flehen verebbt, und ohne wirklich zu verstehen, welcher Kampf im Esszimmer ausgetragen wurde, wusste Mina, dass die Mutter ihn verloren hatte. Die ruhige Stimme des Doktors schlang sich begütigend um die letzten, nur noch gehauchten Worte.
»Ein Mutterherz liebt manchmal zu sehr, um klar sehen zu können. Diese Dinge erfordern einen kühlen, männlichen Verstand. Sie müssen uns vertrauen, meine Gnädigste. Mir und Ihrem werten Gatten. Wie schon einmal. Wir werden das Richtige zu tun wissen.«
»Du weißt, meine Liebe«, die Stimme des Vaters klang gepresst, »es ist nun einmal das Leiden in deiner Familie. Wenn du an deine liebe Schwester Elisabeth denkst … Nicht, dass ich dir nur den geringsten Vorwurf machen würde! Aber wir müssen den Dingen ins Auge sehen. Und wenn Mina … Nun, sie ist ein Mädchen. Sie ist formbarer, fügsamer, als Jungen sind. Vielleicht …«, er zögerte, wie hoffnungsvoll, »… vielleicht müssen wir sie nicht einmal fortgeben. Wenn der gute Doktor bereit ist, sich um sie zu kümmern?«
»Nun«, sagte der Doktor in das Aufschluchzen der Mutter hinein, das nur noch ganz schwach zu hören war. »Ich bin selbstredend bereit, mich in jeder nur erdenklichen Weise zu kümmern. Aber eine gründliche Untersuchung wird erforderlich sein. In einer geeigneten Institution. Bald.«
»Aber, Dr. Rädin«, der Vater sprach hastig, »ihre Konfirmation findet in einigen Tagen statt …«
»Natürlich, natürlich. Und ich danke auch noch einmal ergebenst für die Einladung! Wir werden das große Ereignis selbstverständlich abwarten. Danach … bald. Sie haben beim letzten Mal zu lange gewartet; das wissen Sie, Herr Ranzau. Machen Sie denselben Fehler jetzt nicht noch einmal.«
»Bitte, Herr Doktor«, es war ein letztes, ein allerletztes hoffnungsloses Aufbäumen, und die Stimme der Mutter brach bei jeder Silbe. »Meine Kleinen … Wäre es nicht … nicht vielleicht möglich, dass wir sie … nur einmal … Wenn es ihnen doch so schlechtgeht …«
»Wir werden darüber nachdenken«, sagte der Doktor nachsichtig und mit so eindeutiger, überwältigender Unehrlichkeit, dass Mina nach Luft rang. »Wir werden sehen. Fassen Sie sich, Gnädigste. Der Herrgott wird unsere Wilhelmina in ein paar Tagen ganz besonders unter seinen Schutz nehmen; beten Sie, dass die sanften Flügel seiner Englein den Verstand des lieben Mädchens ganz unmerklich zur Ruhe bringen. Es ist im Augenblick alles, was Sie tun können.«
Die Mamsell fand Mina auf den Knien im Flur, mit hängendem Kopf und geschwollenen Augen.
»Herrje, mein Fräulein, sind Sie gestürzt? Haben Sie sich wehgetan? Diese fürchterlichen glatten Fliesen! Die Schneiderin wartet im Damenzimmer mit dem Kleid für Ihren großen Tag. Können Sie aufstehen?«
Ihre Hand war warm und hart an Minas Oberarm, als sie ihr half, sich aufzurichten. Die Beine schmerzten bis hinunter zu den Knöcheln. Aber der Schmerz war seltsam weich und dumpf, wie in Watte gehüllt. Sie ließ sich von Mamsells Stärke hochziehen, machte einen Schritt, dann noch einen, mechanisch, wie die Puppe, die der Vater ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Vielleicht ragte auch ihr ein Schlüssel aus dem Rücken … Es war gut, dass alles so fern war, die Gefühle, die Gedanken, denn sonst hätte sie vielleicht angefangen, wild zu lachen bei dieser Vorstellung. So musste sie sich nicht einmal auf die Lippen beißen. Mamsell führte sie behutsam den Flur hinunter, und die Beine waren ihr so steif geworden, dass sie sogar hinkte.
Der Kater war verschwunden.
Sie war wie ein böser Traum, die Stunde im Damenzimmer. Ein kalter, fremder Traum, ohne Anfang und Ende. Dinge geschahen um Mina herum, ohne sie zu berühren. Worte streiften sie, ohne sie wirklich zu meinen, und sie antwortete, reagierte, ohne mehr als nur Bruchstücke zu verstehen. Ihre Bewegungen fühlten sich langsam an und schwer; das Ertrinken mochte so sein, in dem grünen Forellenteich hinter dem Haus, mit vollgesogenen Kleidern und eiskalten Fingern. Und doch streckte Mina gehorsam den Arm, wenn die Schneiderin darum bat; drehte sich auf dem kleinen hölzernen Podest so herum und so herum, beugte den Nacken, hob das Kinn. Die Spielzeugpuppe mit dem Metallschlüssel im Rücken …
Sie spürte die Stecknadeln nicht, die die kleine, verhuschte Schneiderin unter tausend Entschuldigungen immer wieder versehentlich in ihre Knöchel stach. Und selbst wenn sie sie gespürt hätte, selbst wenn ihr Ströme von Blut die Beine hinuntergelaufen wären, bis ihre Schuhe überquollen wie bei Aschenputtels Schwestern – sie hätte nicht eine Miene geregt. Jede überflüssige Bewegung, jede Bemerkung würde den Alptraum nur verlängern. Alles, was es gab, war, stillzustehen, Gedanken und Gefühle im eisernen Zaum zu halten und manchmal einen leisen, nicht allzu schmerzvollen Seufzer von sich zu geben, damit das aufgeschlagene Knie nicht vergessen wurde. So wunderte sich weder die Schneiderin noch die Mamsell über ihr schweigsames Betragen. Seltsam, wie dieser Teil ihres Verstandes noch funktionierte, ganz unabhängig von allem anderen; wie eine aufgezogene Feder, die ablief, mit sanfter, unerbittlicher Gewalt, gleich, ob die Uhr, in der sie steckte, auch zerbrochen war.
Als sie endlich wieder im Flur stand, kam es ihr vor, als hätte sie in der ganzen Stunde im Damensalon kein einziges Mal geblinzelt. Ihre Augen waren wund, es kratzte in ihnen wie von Sandkörnern. Das lange Kleid, das sie immer noch trug, raschelte trocken. Ihr Konfirmationskleid. Es passte noch nicht recht, fühlte sich seltsam an, als sie über die glatten Fliesen zurückging. All dieser steife Stoff über ihren Beinen, der schwere, gestickte Saum, der ihre Knöchel bei jedem Schritt berührte, nicht unfreundlich, aber ungewohnt. Ihr längster Rock bisher, der Faltenrock für die Kirche am Sonntag, hatte kaum ihre Waden gestreift. Aber sie hatte sich wohl darauf gefreut, oder nicht? Ein erwachsenes Kleid zu tragen. Die Haare aufzustecken. Kleine Perlen in ihre Ohrläppchen zu hängen. Eine Knöpftaille zu tragen, irgendwann später; dieses unnachgiebige Kleidungsstück, das den Körper in eine Art strahlende Rüstung verwandelte. Ihnen gleich zu werden in ihrer uneinnehmbaren Schönheit, den bunten Damen aus Licht …
Blanker Schrecken erfasste sie, als sie diesen Gedanken in sich aufspürte. Nicht der Dachboden! Niemals wieder der Dachboden! Sie durfte nicht an ihn denken, ihn sich nicht vorstellen, den glitzernden Staub, die sanften, schweigsamen Polster der alten Möbel, das Leuchten der Abendsonne, wenn sie die schräge Kammer mit Rot und Gold erfüllte – still, still! Der Dachboden hatte sie verraten. Der Dachboden würde sie ins Unglück bringen wie die wilden jungen Männer die armen Mädchen, von deren leblosen Körpern im Fluss ein Wispern manchmal bis ins Kinderzimmer stieg. War nicht der Dachboden schuld daran, dass der Doktor … und der Vater! … solche … Dinge über sie dachten? Dachten, sie wäre womöglich …
»Verrückt«, hauchte sie in die kühle, unbewegte Luft. Es war niemand da, der es hätte hören können. »Verrückt …« Das Wort schmeckte fremd. »Verrückt, verrückt, verrückt.« Wenn man es schnell hintereinander sagte, verlor es jeden Sinn. Dann blieben nur die beiden Silben, in der Mitte durch den Gleichlaut aneinandergehakt. »Verrückt …« Sie schlug sich auf den Mund, sehr fest, und schmeckte mit einer seltsamen Befriedigung das Blut auf ihrer Zunge. Das hast du nun davon, du verrücktes Ding!
Am Fuß der Treppe musste sie stehen bleiben. Das Kleid war so lang, dass sie nicht einfach hinaufgehen konnte wie sonst. Sie musste den Saum raffen, um sich nicht mit den Schuhspitzen darin zu verfangen. Wie machte man es noch? Vorsichtig nahm sie die erste Stufe. Nein, noch nicht hoch genug – aber auch nicht zu hoch, auf gar keinen Fall zu hoch! Mademoiselles Ermahnungen zwitscherten in ihren Ohren. Nur nicht die Knöchel zeigen oder gar den Rüschensaum des Unterkleides! Kleinfingerbreite Abstände entschieden über schicklich und unschicklich, über leichtes Mädchen oder junge Dame. Sie versuchte es noch einmal und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass es ihr immer noch so wichtig erschien. Wer würde sich für ihre Rocklänge interessieren, wenn man sie fortschaffte in eine … eine Institution? Wenn man sie – fortschaffte.
Das Wort blieb lange haften, sie musste sich konzentrieren, um es wieder aus dem Kopf zu bekommen. Im ersten Stock angelangt, fiel ihr einen Moment nicht ein, was sie hier oben sollte, mitten am Tag. War das auch eines von diesen … diesen Anzeichen? Würde sie von nun an immer mehr vergessen, was man ihr aufgetragen hatte, wie sie hieß und wo sie wohnte, bis sie hilflos herumirrte wie die Alte mit dem Lumpenkopftuch, die die Mamsell manchmal vom Vorplatz wegführen musste? Aber nein – sie wusste es wieder: Sie musste in ihr Kinderzimmer gehen. Das Stubenmädchen wartete, um ihr wieder in die Alltagskleider zu helfen und das schöne neue Kleid in eine Leinenhülle zu stecken. So eine Hülle wie die, die die wunderbaren Ballkleider oben verbargen, die glänzenden, schimmernden, leuchtenden Stoffe voller kleiner Löcher und loser Nähte …
Sie merkte, dass sie in die falsche Richtung ging. Das Kinderzimmer lag links hinunter. Warum ging sie nach rechts, zum Ende des oberen Flurs? Da war nichts, was sie etwas anging. Nichts, bis auf die unscheinbare weiß getünchte Holztür, und die staubige, enge Treppe dahinter … Wie konnte es sein, dass sie die Klinke in der Hand spürte? Wie war es möglich, dass die alten Stufen unter ihren Schuhen knarrten, dass der lange Saum den Staub vom Holz wischte? Warum stiegen ihre Beine schneller und schneller, als wüssten sie nicht, dass das, was oben auf sie wartete, von nun an ein verbotener Ort war? Nein, es durfte nicht mehr sein, dass das späte Nachmittagslicht von draußen so weich auf ihre Augenlider fiel! Es durfte nicht sein, dass die Umrisse der verbannten Kommoden sie so vertraut begrüßten, ohne jeden Arg, dass die verstaubten Gesichter in den angestoßenen Goldrahmen ihr so zulächelten wie einem lang vermissten Freund, dass die …
Die Bodenluke schlug hinter ihr zu, und in der Dachkammer warf Mina sich auf einen Stapel alter Leintücher und weinte.
Sie weinte, bis sie keine Luft mehr bekam, bis die Tücher unter ihr nass waren und bis sie sich endlich, in einem Zipfel, die Nase putzen musste, so laut und unmissverständlich wie ein Kutscher. Erst da ließ das Schluchzen allmählich nach. Nach einer Weile setzte sie sich auf, strich das Kleid vorsichtig glatt, wischte sich mit den Handrücken über die Augen. Ihr Blick fing sich in einem alten, gesprungenen Spiegel, der schräg in einem Winkel lehnte. Langsam ließ sie die Hände sinken.
Wie hässlich sie so aussah. Die Augen rot und verschwollen, die Oberlippe aufgesprungen. Die sanften Haarwellen der ausgekämmten Mädchenlocken zerrupft, wie Vogelnester über ihren Ohren. Der traurige Rest einer Taftschleife, passend zum Kleid. Unansehnlich. Unappetitlich. Und sie wusste ohnehin, dass sie keine Schönheit war.
Mina seufzte und zog den Spiegel zu sich heran. Seltsamerweise tat es gut, sich mit ihrem unbefriedigenden Äußeren zu beschäftigen, auch wenn es natürlich angenehmer gewesen wäre, im Schmerz von der eigenen Lieblichkeit getröstet zu werden. Aber mit der Lieblichkeit war es nicht allzu weit her. Ihre Stirn war zu breit, die Augen zu schmal, die Nase zu lang und die Lippen zu dünn. Zum Abschluss ein festes, jungenhaftes Kinn: ein Fuchsgesicht, wie Mamsell einmal festgestellt hatte, ohne zu wissen, dass Mina sie hören konnte. Ein Fuchsgesicht. Sie zwang sich zu einem Lächeln, drehte den Spiegel leicht, und etwas blitzte auf, blendete sie beinahe. Ein Funkeln, dicht neben ihrem Gesicht, ein Blinken in den Schatten unter einer alten Kommode. Die Spieluhr, weit nach hinten gerutscht.
Ein scharfer Schmerz am Zeigefinger, als sie sich hinkniete und nach dem kleinen Kästchen tastete, aber sie packte zu, anstatt zurückzuzucken. Da war sie. Noch kahler als sonst, noch verbogener die Scharniere. Das Licht, das die Kristallsplitter warfen, glänzte nur noch schwach.
Mina atmete aus. Sie fasste nicht nach der kleinen Kurbel, die den Musikmechanismus in Gang setzte. Stattdessen öffnete sie den Deckel der Spieluhr.
Die Schublade darunter hatte einmal Schmuck enthalten. In den staubigen grünen Samt gepresst waren Abdrücke wie von Ringen: flache Kreise von den schlichten, kurze, halbrunde Linien und scharfe Zacken von denen, die Edelsteine getragen hatten. Rechts oben, ganz am Rand, der Rest einer Verzierung, von einem Anhänger vielleicht; ein durchbrochenes Muster wie die Eisenranken des Zauns, gerade noch zu fühlen, wenn man mit der Fingerspitze darüberstrich. An dieser Stelle ließ der Samt sich anheben. Das fand man schnell heraus, wenn man ein neugieriges kleines Mädchen mit geschickten Fingern war. Und wenn man dann zufällig eine lange, dünne Nadel hatte – aus einer der runden Schachteln etwa, zwischen flüsterndem Seidenpapier und einzelnen Stoffblumen, die nach Staub und Puder rochen -, dann konnte man sie in das mäusehaarschmale Loch schieben, das zum Vorschein kam. Und dort, wo nichts war, öffnete sich eine zweite Schublade von selbst, und die Kristallreste auf dem Deckel zitterten, wenn sie heraussprang.
Es hatte Zeiten gegeben – viele Zeiten -, da war die Kuppe an Minas rechtem Zeigefinger von den Druckstellen der alten, abgebrochenen Hutnadel übersät gewesen wie von winzigen Mückenstichen. Es war nicht leicht, den richtigen Winkel zu finden, in dem man in das Loch stechen musste. Sie hatte es immer und immer wieder versuchen müssen, bis es ein weiteres Mal gelang. Es wäre zu gefährlich gewesen, die Spieluhr offen stehen zu lassen; ab und zu wurde eines der Mädchen auf den Boden geschickt, um irgendein altes Ding zu holen, das vielleicht doch noch einen Dienst versehen konnte. Und zulassen – nein, zulassen konnte sie sie auch nicht.
Denn in der geheimen Schublade unter dem alten Schmuckfach wohnten die Zwillinge.
Das Medaillon, in dem sie steckten, war zugeklappt gewesen, als sie es zum ersten Mal fand; seitdem hatte sie es immer offen gelassen, auch wenn die geheime Schublade geschlossen war. Sie hatte oft genug die Dorfjungen unten auf der Straße beobachtet, um zu wissen, dass es nicht gutgehen konnte, wenn zwei von ihnen sich immerfort in die Augen sehen mussten, auch wenn es Geschwister waren. Und wer konnte sagen, wie lange sie schon so gelegen hatten? Sicher war selbst das wurmstichige Holz einer Schubladenunterseite eine willkommene Abwechslung für sie.
Denn sie liebten es, Dinge zu betrachten.
Im ersten, flüchtigen Erstaunen hatte Mina geglaubt, dass es dasselbe Bild war, oder vielmehr, zwei Bilder von demselben Jungen, zwölf, dreizehn Jahre alt. Dieselben dunklen Haare mit derselben Welle über der Stirn. Dieselben verschmitzten Augen. Dasselbe Lächeln, so sanft und brav, eingefangen in dem winzigen Moment, bevor es in Lachen zerstäubte; wie beim Gärtnerjungen, wenn er sich im Blumengarten die Sorten erklären lassen sollte, deren Emailleschilder er vorher vertauscht hatte. Ein fügsames, wissendes Lächeln – ein Moment gedankenlosen, reinen Glücks – und dann die Prügel, die Schläge, die bis in den Flur hallten …
Die Zwillinge waren klüger. Sie ließen es niemals hinaus, das Lachen, verbargen es in den Mundwinkeln; doch hierin unterschieden sie sich: Der linke ließ das Lächeln aufsteigen und dann in einem kleinen, nach unten gebogenen Häkchen enden, der rechte hielt es mit einem Grübchen gefangen. Und über je einem Mundwinkel stand, halb vom Schatten der Wange verborgen, ein kleines, dunkles Mal. Einmal rechts; einmal links.
Es war nur ein Leberfleck, aber er war ungewöhnlich geformt. Wie ein Blatt oder ein geschwungener Strich. Oder wie eine Vogelfeder.
Wenn man erst diesen Unterschied entdeckt hatte, war es leicht, mehr zu finden: Wimpern, einmal gerade, einmal geschwungen. Ein Wangenknochen, der hier einen weichen Halbmondschatten, dort ein scharfes Schattendreieck auf die blasse Haut zeichnete. Sommersprossen.
Aber das spiegelverkehrte Mal war am deutlichsten. Und hinter dem Lächeln, an dem es endete, diesem freundlichen, gutmütigen Photographenlächeln … etwas anderes. Etwas wie nachdenkliche Neugier. Oder Herausforderung?
Mina atmete noch einmal aus, lang und tief. Sie streichelte mit einer Fingerspitze über die Ränder des Medaillons, zögernd zuerst, dann sicherer. Die seltsame Stimmung in den beiden Jungenlächeln erinnerte sie jetzt ein wenig an den Ausdruck des schwarz-weißen Katers, wenn sie ihn im Garten vor einem Mauseloch warten sah; bedächtig, versonnen, Stunde um Stunde, und nur die Schwanzspitze zuckte hin und her. War es dieses Lächeln gewesen, was sie vor langer Zeit zum ersten Mal dazu gebracht hatte aufzustehen, wenn die Spieluhr spielte – sich zu drehen mit den schönen bunten Damen an den Wänden, ganz im gleichen Takt, einszweidrei, einszweidrei …? Der Blick aus der geheimen Schublade schien immer anerkennend zu sein, wenn sie tanzte; wenn anfangs das einfache weiße Rüschenkleid um ihre dicken Kinderbeinchen wehte und später dann die Faltenröcke, die jedes Jahr eine halbe Handbreit länger wurden.
Wie viele Stunden sie mit den beiden verbracht hatte! Die Mamsell hatte sich immer gewundert, dass Mina nie mit ihren Puppen sprach, sie nur kämmte und anständig anzog und wohl auch mit ihnen auf dem Teppich im Wintergarten spielte; aber nie ihre Sorgen mit ihnen teilte, ihre kleinen Kinderkümmernisse. Sie hatte nicht gewusst, dass die Zwillinge viel bessere Zuhörer waren als jedes noch so kunstvoll bemalte Porzellangesicht. Und sie antworteten auch, auf ihre Weise. Ihr Ausdruck war niemals derselbe, wenn man ihnen etwas erzählte. Er veränderte sich wie das Licht, das in die Bodenkammer fiel. Manchmal, wenn die ersten Abendschatten durch den Raum strichen, wirkten sie so lebendig – winzige Miniaturen von Jungen, nicht größer als eine Kinderhand -, und es war beinahe unheimlich, dass sie nicht aus dem Medaillon hervortraten. Sie hätte sie in die Schürzentasche stecken und heimlich überall mit hinnehmen können, ins Schulzimmer, auf die Terrasse, zum Essen.
Mina erinnerte sich, dass es Tage gegeben hatte, wo sie ernsthaft überlegte, ob sie etwas von dem Essen aus dem Speisezimmer auf den Boden schmuggeln sollte. Einen kleinen Kuchen, eine Handvoll Kekse mit Marmeladenfüllung vielleicht. Wenn man ein Küchlein auf ein Stückchen Stoff legte, genau vor der offenen Spieluhrenschublade, vielleicht, vielleicht wäre es dann verschwunden gewesen, wenn man ein paar Stunden später wiederkam.
Am Ende war es gerade dieser Gedanke gewesen, der dazu geführt hatte, dass sie die geheime Schublade nicht mehr so häufig öffnete. Er war beunruhigend. Beunruhigend, weil sie sich damals beinahe sicher gewesen war, dass es so sein würde – dass auf dem Stückchen Stoff nur noch Krümel liegen würden, wenn sie die Zwillinge das nächste Mal besuchte. So sehr sie glaubte, dass die beiden ihr wahrhaftig zuhörten, wenn sie ihnen von ihren Sorgen erzählte – so sehr sie sich auch wünschte, sie in der Schürzentasche herumtragen zu können -, etwas daran, etwas an der Vorstellung, hinaufzukommen und den Kuchen verschwunden zu sehen, war nicht gut.
Sie hatte lange ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie sie seltener und seltener in ihrer Schublade besuchte; obwohl sie es nicht übelzunehmen schienen. Immer lächelten sie ihr entgegen, wenn die Hutnadel den geheimen Mechanismus aufspringen ließ, und sie glaubte zu fühlen, dass sie sich freuten, wenn sie die Spieluhr aufzog und die sehnsüchtige kleine Melodie durch die Dachkammer schwebte. Wie lange mochte es jetzt her sein, dass sie sie zum letzten Mal berührt hatte?
Die Oberflächen der Photographien waren staubig, trotz der Schublade. Mina beugte sich vor und blies sanft darüber. Unter der Wärme ihres Atems bewegte sich das Papier ein wenig. Sie wollte das Lächeln der Bilder erwidern. Aber es gelang ihr nicht.
»Ich bin hier«, flüsterte sie. »Ich, Mina. Es tut mir leid, dass ich euch alleingelassen habe. Ihr beiden in eurer alten Schublade. Ihr armen – ihr armen Klei…«
Sie stockte.
Wortfetzen echoten in ihrem Kopf.
Meine armen Kleinen … das Beste … für Wilhelmina …
Sie starrte die Photographien an.
Schweigend lächelten sie weiter zu ihr auf, jeder auf seine ganz eigene Art. Vielleicht warteten sie darauf, dass sie weitersprach. Vielleicht sahen sie tief in ihren Kopf hinein mit ihren Papieraugen, lasen die seltsamen, rätselhaften Worte, die das Blut dort pochen ließen, dumpfer jetzt, aber unüberhörbar weiterhin. Meine armen … für Mina …
Plötzlich hatten sie einen neuen Klang bekommen.
Mina sah auf die Spieluhr hinunter, das glatte Holz, den zerschlissenen Samt. So vertraut seit Kindertagen, und doch – sie gehörte ihr nicht, nicht wahr? Sie hatte sie nur gefunden, an irgendeinem Nachmittag. Hier oben, auf dem Dachboden.
Wer hatte sie hinaufgebracht?
Der Gedanke dachte sich von selbst, zum allerersten Mal.
Wem hatte sie gehört?
Mina berührte die Spieluhr, aber sie gab ihr keinen Halt mehr. Ihre Finger glitten ab, streiften über die Splitter auf dem Deckel, die einmal Figuren gewesen sein mussten, zart und glänzend und zerbrechlich. Ganz ähnlich vielleicht wie die Figuren in Mutters Porzellanschrank.
Wer hatte die Spieluhr auf den Dachboden gebracht?
Minas Herz klopfte. Sie schüttelte heftig den Kopf, aber die Gedanken rannen nicht einfach aus ihren Ohren wie Wasser nach dem Baden. Sie dachten sich weiter.
Wem hatte das kleine Kästchen gehört? Wer hatte die geheime Schublade gekannt? Wer hatte die Photographien hineingelegt, die Schublade geschlossen und sie verborgen? Verborgen – vor wem? Und warum?
Meine armen Kleinen …
»Nein«, flüsterte Mina. »Nein, das kann nicht sein. Das ist doch nicht möglich …«
Sie wedelte sich mit der flachen Hand Luft zu, wie es die Mutter tat, wenn sie versuchte, sich zu beruhigen. Es nützte nichts. Die Gedanken wirbelten durcheinander wie Rauchschwaden im Wind. Vermischten sich mit etwas, etwas Dunklem, das aus ihrem Innern aufstieg; ungerufen, ungewollt. Vage, schwache Laute. Ein Klagen, wie sie es aus dem Esszimmer gehört hatte. Und es war – dieser Gedanke kam ganz aus der Tiefe -, es war nicht das erste Mal gewesen.
Das klagende Geräusch war lauter gewesen, damals, wann? – viel lauter. Es hatte in all den Zimmern des Gutshauses gehallt. Dinge, die umgestoßen wurden, polterten darunter, bis hinauf, hinauf in den ersten Stock, zwischen den zierlichen Holzsäulen des Treppengeländers hindurch, wo ein kleines Mädchen sich zusammenkauern konnte, ohne gesehen zu werden … Eine Männerstimme, die unverständliche, beruhigende Worte sprach. Ein Kinderschrei im Flur, ganz kurz nur, wie abgerissen. Die Haustür, die zuschlug. Und dann nur noch das Klagen, das Weinen, unerträglich, untröstlich, stundenlang; immer schwächer und schwächer, bis es heiser und schließlich unhörbar wurde und doch weiter über allem schwebte, lange in die Abenddämmerung hinein …
Mina. Kleine Mina.
Zitternd atmete sie aus. Die Erinnerung füllte ihren Kopf, eine dunkle, wirbelnde Wolke. Sie verstand nicht, was es war, das sie sah, was es bedeutete; warum es sich so anfühlte, als müsste sie darunter ersticken. Nur eines wusste sie, mit einer großen, kalten Klarheit: Sie war nicht das Kind gewesen, das geschrien hatte, damals, im Flur.
Aber es war auch keine fremde Stimme gewesen.
Mina …
Waren das die Balken, die ihren Namen knarrten und knackten? Ein Vogel, der auf dem Dachfirst raschelnd sein Gefieder putzte?
Schweigend schimmerten die Photographien zu ihr auf.