Der singende Baum - Paul Friedl - E-Book

Der singende Baum E-Book

Paul Friedl

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Beschreibung

Am Hang des Hohenseng im Bayerischen Wald liegt einsam der Nothalfterhof, daneben erhebt sich eine harfenförmig gegabelte, uralte Lärche, der "Singende Baum". Ein eigentümliches, unerklärliches Schicksal verfolgt die Herren des Hofes seit Generationen, und hängt auf geheimnisvolle Weise mit dem seltsamen "Singen" dieses Baumes zusammen. Die beiden Brüder, die ganz allein auf dem Hof hausen, gelten bei den Leuten als abseitige Sonderlinge. Dennoch hat ein Mädchen aus dem Dorf den Mut, als Frau des jüngeren Bruders in die Einöde hinaufzuziehen. Voll Tapferkeit und Gottvertrauen wächst die junge Bäuerin in ihre schwere Aufgabe hinein. Doch auch sie wird von dem rätselhaften Verhängnis bedroht, das auf dem Hof lastet.

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2007

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: Albert Gruber, Brixen

eISBN 978-3-475-54693-8 (epub)

Worum geht es im Buch?

Paul Friedl

Der singende Baum

Am Hang des Hohenseng im Bayerischen Wald liegt einsam der Nothalfterhof, daneben erhebt sich eine harfenförmig gegabelte, uralte Lärche, der „Singende Baum“. Ein eigentümliches, unerklärliches Schicksal verfolgt die Herren des Hofes seit Generationen, und hängt auf geheimnisvolle Weise mit dem seltsamen „Singen“ dieses Baumes zusammen. Die beiden Brüder, die ganz allein auf dem Hof hausen, gelten bei den Leuten als abseitige Sonderlinge. Dennoch hat ein Mädchen aus dem Dorf den Mut, als Frau des jüngeren Bruders in die Einöde hinaufzuziehen. Voll Tapferkeit und Gottvertrauen wächst die junge Bäuerin in ihre schwere Aufgabe hinein. Doch auch sie wird von dem rätselhaften Verhängnis bedroht, das auf dem Hof lastet.

DIE Märzensonne stand an diesem Vormittag hinter einem Dunstschleier als ein fahlgelber Lichtfleck. In der Frühlingsfeuchte dampften die Äcker auf den Hängen des Vorwaldes, der Bodenrauch verhüllte den Blick zum Donaustrom und über den flachen niederbayerischen Gäuboden hin. Der Wald auf den Vorbergen steckte seine Wipfel in das milchige Geschleier.

Die Birken am Weg hinauf zum Hohenseng trugen das erste frohe Grün, und die Wiesen, die sich über die Buckel breiteten, zeigten die letzten braunen Winterflecken neben den weißen Anemonenbuschen.

Aus einer Mulde ragte der Zwiebelturm der Dorfkirche, und der Klang seiner Glocken zog fern und schwerfällig über die Hügel hinan.

Auf einem Hochacker ging ein einsamer Bauersmann tiefgebückt hinter dem Pflug. Sonst zeigte sich um die verstreuten Höfe mit ihren Obstbäumen kein Leben.

An diesem Vormittag im März schritt die Ursel Findler neben ihrem Kammerwagen her, der nach altem Herkommen ihre Brautaussteuer auf den Nothafterhof, ihre künftige Heimat, hinaufbrachte. Unlustig zogen die Ochsen den großen Leiterwagen, und gemächlich schlenderte der Osl, der Knecht des Dettenbergers im Tal, neben dem Gefährt her.

Steilan ging es, einen rauhen Bauernweg, ausgeschwemmt von den Schneewassern, voller Steine und Grasfilzen, gesäumt von Haselstauden und Birken, Erlen und Faulbeerbäumen. Die herabhängenden Äste streiften ab und zu die Last des Kammerwagens: einen neuen Küchenkasten, eine Bettstelle, die auf dem Wagen aufgebaut war und zwei prallgefüllte Tuchent mit den dazugehörigen Polstern, überzogen mit weiß und rot gewürfeltem Bettzeug, trug. Eine große Kleidertruhe und ein eintüriger Kleiderschrank, der mit dem Küchenschrank Rücken an Rücken stand, vervollständigten das Mitbringsel, mit dem der Findler, der Kleinbauer und Nachbar des Dettenbergers, seine Ursel dem Jakob Nothafter auf dem Hohenseng gegeben hatte. Etliche Geranienstöcke standen freudlos und ohne Blüten auf der Kleidertruhe, und eine Kuckucksuhr hing an einem Nagel an der Seite des braunen Kleiderkastens. Der Osl hatte seinen Ochsen Wintergrünsträußel an die Hörner gebunden und darein die ersten Schlüsselblumen gesteckt.

Von Zeit zu Zeit wechselte der Knecht mit Ursel ein paar Worte oder schimpfte über den schlechten Weg, wenn die hohe Last bedenklich schwankte und die Räder über die Steine polterten. Oder er schätzte, wie weit sie noch bis zum Schinagl, dem Wirt an der Wegteilung, hätten. Mit der Fuhre durften sie bis hinauf zum Nothafter noch fast eine Stunde rechnen, und da tat eine Rast beim Schinagl schon not.

„Geh den Weg zum erstenmal“, meinte die Ursel.

„Kenn ihn vom Holzfahren – ein Schinderweg! Wirst ihn noch oft gehen müssen bis –“, der Osl vollendete den Satz nicht. Er fippte mit der Geißel über die Ochsenrücken.

„Meinst, bis ich ihn einmal runterwärts nicht mehr zu gehen brauch, weil ich gefahren werd? Ja ja, wenn man das wüßt, wann das sein wird!“ setzte sie das Gespräch fort, aber der Knecht ging nicht weiter darauf ein.

Sich abwendend, brummt er: „Ist kein Gered für eine Braut. Um das End brauchst dich net zu kümmern, wirst mit dem Anfang zu tun haben.“

Mit einem schnellen Seitenblick sah er sie an. Wieder klatschte die Peitsche leicht über die Ochsenrücken. Mißmutig ging Osl voran und nahm den Zügel des Handochsen dicht bei dessen Kopf. Heute führte er keine gute Rede, nur gut, daß sie ihm nicht gleich wieder ins Wort gefallen ist. Was geht es ihn an, wenn die Ursel auf den Nothafterhof heiratet! Zerbrechen sich sowieso das ganze Dorf und die Umgebung den Kopf darüber, wie die Findler Ursel und der Nothafter Jakob zusammengefunden haben. Sind keine lange Weil miteinander gegangen, und mit der Heirat geht es schnell. Man merkt ihr gar nicht an, ob es etwa pressieren tat. Wieder sah er mit einem raschen Blick zurück zu ihr, die neben dem Wagen ging.

„Wüah!“ schrie er seine Ochsen an.

Hätte einen andern auch haben können. War ein sauberes Leut, groß und kräftig wie ein Mannsbild und doch nicht mannsbilderisch. Fest und sicher schritt sie daher, das runde, gesunde Gesicht gerötet, die vollen Lippen leicht auseinandergezogen, um bei dem steilen Anstieg besser atmen zu können, die braunen Augen sorgend auf die schwankende Last gerichtet. Sie verstand es auch, sich zu gewanden. Die grüngesäumte Strickweste aus brauner Wolle, aus der oben ein weißer Blusenkragen sah, paßte gut zu ihrem dunkelblonden Haar, und der dunkelgrüne gestreifte Rock war sauber, nicht zu kurz und nicht zu lang. Da konnte der schwerfällige, maulfaule Nothafter schon eine Freud haben an einer solchen Bäuerin.

Ihn ging es nichts an, aber seltsam geht es doch wahrlich oft im Leben her!

Die hochhängigen Äcker und Wiesen hörten auf, und der Wald rückte an den Weg heran. Seitlich rauschte jetzt ein Bach, der von oben kam, wo sich der Wald zwischen zwei Riegeln einsenkte. Der Morgennebel zog in zerflatternden Fahnen durch die Bäume. Wasser lief den Steigenden in der Fahrspur des Weges entgegen. Die Ochsenleiber dampften. Aus der Tragtasche nahm die Ursel ein Kopftuch und band es um.

Als der Wald nach einer Weile wieder zurücktrat, wandte sich der Osl um.

„Jetzt sind wir beim Schinagl.“

Ein Bauerngütl stand da und zeigte gegen die Wegseite unter dem weiten Dachvorschuß eine weißgekalkte Wand mit der grüngestrichenen Haustür und zwei kleinen Fenstern. Auf einem Schild war zu lesen, daß es das Gasthaus des Martin Nachtmann sei. Um das Obergeschoß lief eine hölzerne Altane, deren Sprossen an vielen Stellen fehlten. Der an das Haus anschließende Stadel überragte dieses und mußte etwa im letzten Jahr gebaut worden sein, denn die Bretterwände waren erst von der Witterung hellgebräunt. Einige verkrüppelte Apfelbäume standen auf der Wiese um das kleine Gehöft, und ein baufälliger Backofen rauchte. Hier hörte der steile Hang auf, und in der Einbuchtung des Berges hatte sich diese Kleinbauernwirtschaft eingenistet. Der Weg teilte sich, führte links am Hang entlang wieder in den Wald und stieg rechts weiterhin an wie bisher, jedoch nur mehr als grasverwachsene Fahrspur.

„Da hinauf müssen wir noch.“ Der Osl deutete mit dem Peitschenstiel dahin, als er die Ochsen vor dem Bauernwirtshäusel, das der Volksmund „zum Schinagl“ nannte, anhielt.

Sie traten ins Haus und in die niedere Gaststube, deren Fenster hinaus auf den Weg sahen. Drei Tische mit Bänken waren die karge, unfreundliche Einrichtung des Raumes. Nackt waren die frostig hellblau gekalkten Wände, nur in der Ecke hing ein altes Kruzifix mit den verdorrten Palmzweigen des vergangenen Jahres. Ein kleiner Eisenofen stand schief da, und die verrußte Wand hinter ihm zeigte an, daß ihm der Rost schon manches Loch eingefressen haben mußte und deshalb das verbogene Rauchrohr nicht mehr allen Rauch und Ruß abzuziehen vermochte.

Fröstelnd sah sich die Ursel um. „Net einmal Vorhäng haben die Leut.“

Der Knecht Osl sah sie nur grinsend an und schob sich auf eine Bank. Mit der flachen Hand wischte er über den Tisch; im Staub zeichnete sich der Wischer ab. Ursel strich mit den Fingern über die Bank und setzte sich.

Haben woanders auch keine Vorhänge, hatte der Osl sagen wollen. Aber was ging es ihn an? Gar nichts! Das Dirndl konnte einem höchstens leid tun. Weiterer Gedanken enthob ihn die Schinaglin, die aus der Küchel nebenan kam und, langsam und mißtrauisch die beiden musternd, einen guten Morgen wünschte. Dabei sah sie durch die Fenster draußen den Kammerwagen stehen und wurde nun lebhafter.

„Bist gar die künftige Nothafterin? Gell, vom Findler eine! Deine Leut kenn ich, aber daß schon so ein großes Dirndl da ist, hab ich net gewußt.“

Sie hatte die Kucheltür offen gelassen, ein Schwall dampfender Luft drang in die Gaststube. Es roch erdig, und ohne daß der Osl auf den Küchenofen sah, wußte er, dort wurde ein gehöriger Hafen Kartoffeln gesotten. Der Küchendampf beschlug die Fenster und entzog den Kammerwagen den neugierigen Blicken der Schinaglwirtin.

„Eine Brotzeit hätten wir gern“, sagte die Ursel, „müssen die Ochsen ein wenig verschnaufen lassen, ist doch ein schönes Stückl Weg und ein ziemliches Gewicht.“

„Kannst einen Schübel Heu für die Ochsen holen, im Stadel hinten“, wandte sich die Wirtin an den Osl. „Derweil richt ich euch was zamm. Der Martin muß eh hinten sein.“

Sie schien darauf bedacht zu sein, mit der künftigen Nothafterin allein sein zu können, denn sie wartete, bis der Osl aus der Stube war.

„So, du bist also die Nothafterin?“ Bekümmert und mitleidend musterte sie die junge Dirn. Der erbarmende Tonfall in ihrer Stimme machte die Ursel stutzig.

„Wirst es net leicht haben“, seufzte die Schinaglin und steckte die Hände unter die Schürze. Den Kopf ein wenig vorgeneigt, das Gesicht mit der langen Hakennase gespannt, war sie auf jede Frag und Antwort vorbereitet.

„Warum?“ wollte die Ursel nun doch wissen, da sie merkte, wie sehr die andere auf diese Nachfrage wartete.

„Das sind zwei so komische Heilige, die Nothafter! Und ob die sich überhaupt an ein Weiberts gewöhnen – und in dieser Einschicht –.“ Sie schüttelte den Kopf und war bereit, noch mehr von den Bauern auf dem Hohenseng zu erzählen, aber die Ursel kannte sich aus.

Unwillig zog sie die Augenbrauen zusammen und sagte ablehnend: „Du meinst vielleicht, ich soll mir’s noch einmal überlegen? Das ist aber überlegt genug. Siehst ja, den Kammerwagen hab ich schon draußen.“

„Na ja, jedes liegt, wie es sich das Bett macht“, tat die Wirtin verärgert, „und junges Volk braucht keinen Rat.“ Heftig wischte sie mit der Schürze den Tisch ab und schlurfte in die Küche zurück.

Mit dem Osl kam der Schinaglwirt in die Stube, und sie setzten sich der Ursel gegenüber an den Tisch. Der Wirt, so lang und mager wie sein Weib, mit einem großen, ungepflegten Schnauzbart, schob den Hut zurück und betrachtete ungeniert die Braut seines Bergnachbarn.

„So so? Du bist also die Findler Urschl? Hast hübsch eine Schneid, muß man sagen.“

Sie gab darauf keine Antwort, holte aus der Tragtasche, die sie neben sich auf die Bank gestellt hatte, ein Taschentüchlein und fuhr sich über das Gesicht. Dann sah sie zum Fenster hinaus. Die Schinaglin brachte zwei Krüge Bier, einen Renken Geselchtes und einen halben Laib Brot und wünschte ihnen einen guten Appetit. Der Osl ließ es sich schmecken, sie jedoch schnitt sich nur ein kleines Schnitzlein Fleisch ab und eine dünne Schnitte Brot. Unablässig musterte sie der Schinaglwirt, dreist und aufdringlich, und wechselte nur ab und zu einen schnellen Blick mit seinem Weib, das am Tisch stehenblieb und ebenfalls kein Auge von der jungen Dirn ließ.

„Wie alt bist jetzt du eigentlich“, fing der Schinagl wieder an.

Spottend lachte die Ursel. „So um die Dreißig.“

Was ging es diesen Mann an, daß sie drei Jahre dazugetan hatte!

„Hättest noch einen andern auch gekriegt“, meinte er.

„Mehr als einen“, tat sie ihm den Gefallen und ging auf seine Rede ein.

„Das mein ich auch“, bekräftigte die Wirtin, neugierig, wie nun der Disput weitergehen würde. Als aber die Ursel nichts weiter sagte, bohrte der Schinagl wieder an.

„Eher schon.“ Und auf den fragenden Blick der Ursel erklärte er: „Ich mein, hättest eher schon einen haben können und net erst mit dreißig Jahren.“

Sie wischte die Brotkrümel auf der Tischplatte zusammen.

„Das ist halt net gangen. Der Franz, weißt, mein Bruder, ist ja jetzt erst zwanzig worden, und allein hätten es die Alten net schaffen können. Da ist an ein Wegheiraten nicht zu denken gewesen.“

„Und da hat es ausgerechnet der Jakob sein müssen? Der Nothafter?“ mischte sich wieder die Schinaglin ein.

Da wurde es dem Osl zu dumm.

„Kann ja euch gleich bleiben“, knurrte er kauend, trank sein Glas leer und reichte es der Wirtin hin.

„Ist uns natürlich auch gleich, geht uns ja nix an. Wollen auch nix gesagt haben“, gab der Schinagl eifrig zu und lenkte sofort auf ein anderes Gerede um, lobte die guten Ochsen des Dettenbergers und sagte, er hätte Lust, sie ihm abzukaufen. Die Wirtin brachte das Bier und wollte in der alten Weise weiterfahren, aber ein schneller Blick ihres Mannes und ein Zucken seiner dichten Augenbrauen wies sie zurecht.

„Net daß wir gegen die Nothafter etwas hätten, durchaus net, aber man redet halt. Sind ja künftig Nachbarn, wenn’s auch noch eine gute Viertelstund hinauf ist. Kommt er dir denn gar net entgegen?“

„Sind ein bissel früher dran“, antwortete die Ursel und versuchte aus den angelaufenen Fenstern zu sehen. „Ich mein, wir fahren wieder.“ Der Osl nickte zustimmend, und sie bezahlte.

„Wirst dich schon einmal sehenlassen“, meinte die Schinaglin zum Abschied, „leicht, daß künftig der Jakob auch geselliger wird. Ist oft eine recht schöne Gesellschaft bei uns.“

„Hast eine saubere Sach“, bemerkte sie noch vor dem Haus und musterte den Kammerwagen eingehend. „Wird sich gut ausnehmen in der alten Hütten.“ Dazu zahnte sie hinterhältig.

Als sie die weit den Berg hinaufreichende Weidetrift hinanfuhren und zurücksahen, standen die Schinaglleute noch vor dem Haus und blickten hinter ihnen her.

„Die meinen es aber gut mit dir“, schmunzelte der Osl.

Verstimmt schwieg die Ursel.

„Gut, daß die Nachbarschaft doch ein bissel weit ist“, fuhr der Knecht fort, doch er erhielt wieder keine Antwort. Nachdenklich schritt sie neben dem schwankenden Gefährt her. Erst nach einer Weile warf sie den Kopf zurück und sah sich um.

„Ach was!“

Zustimmend und verstehend nickte der Osl. „Hast recht, das muß eins alles selber wissen und ausmachen.“

Die Dunstschleier zerrannen, die Sonne brach durch und strahlte auf die Berglehne vor ihnen. Der Hang zeigte noch kein Grün, und die Birken hatten erst die Knospen angesetzt. Steinblöcke ragten überall aus dem Boden, teils mit Moos überwachsen. Wacholderstauden standen verstreut herum, und die dürftigen Wiesenflecke, die von einem Waldrand zum andern reichten, waren mit zusammengetragenen Feldsteinmauern eingesäumt, aus denen Haselstauden und Vogelbeergesträuch wuchsen. In einer Mulde seitlich vom Wege lag ein Bauernhaus, schindelgedeckt, mit braunen Holzwänden und abgeschrägten Giebeln. Zwetschgen- und Apfelbäume standen so dicht darum, daß man nur zur vorderen, erhöhten Steingred vor der Haustür sehen konnte. Ein schwarzer Spitz rannte herüber und verbellte das Gefährt.

„Das sind deine wirklichen Nachbarn künftig, die Eckenriederischen. Haben eine törrische Tochter Kordl, wirst sie vielleicht kennen.“

„Kann mich noch ein wenig dran erinnern, hab sie aber nur als Kind gesehen“, gab die Ursel wieder Antwort. Im Sonnenschein gefiel ihr dieser Berghang am Hohenseng, und der bedrückenden Stimmung, die sie aus dem Wirtshaus an der Wegkreuzung mitgenommen hatte, folgte nun wieder der alte Mut.

„Ist dem Schinagl sein bester Kunde gewesen, der Eckenrieder“, erzählte der Osl weiter. „Wenn er sich im Dorf drunten seinen Schlag aufgelegt hatte, dann legte er beim Schinagl noch den Rest dazu. Der wenn net soviel Wald gehabt hätt, dann müßt er längst ein armer Mann sein. Ich glaub, er hat eh nur noch eine Kuh im Stall.“

„Ich weiß net einmal, wieviel der Nothafter Wald und wieviel Stückel Vieh er hat. Ich glaub, er hat mir von zwei oder drei was gesagt“, bemerkte sie.

„Der Nothafter? Hat, soviel ich weiß, zwei Küh und eine Kalbin. Aber da und da“, er zeigte mit dem Peitschenstiel nach rechts und links, „und über den Berg hinaus gehört ihm der ganze Wald. Die Nothafter lassen aber lieber die Bäum noch wachsen. Sie schlagen net viel.“

Der Hund des Eckenrieders blieb zurück, und an einer Wasserauskehre, einem Graben, der quer über die Fahrt lief, hielt der Osl an und ließ die Ochsen verschnaufen. Warm schien die Sonne auf die Hänge. Der Nebelschleier hatte sich gesenkt und lag drunten im Tal wie ein weißer See.

„Von da hat man eine schöne Aussicht ins Dorf hinunter, hinaus bis zur Donau und weit ins Gäu“, erklärte der Knecht, und dann wandte er sich plötzlich der Ursel zu und fragte verwundert: „Und du bist noch gar net daheroben gewesen? Auch net mit dem Jakob? Anschauen hättest dir’s aber doch erst sollen, leicht bist enttäuscht und –“

Trotzig und verschlossen sah sie ihn aus halbgeschlossenen Lidern an. „Hab’s net für notwendig gehalten, und hab keine Zeit gehabt.“ Dann löste sich der Trotz in ihrem Gesicht, und sinnend auf das nebelverhangene Tal zurückschauend, gab sie zu: „Kannst recht haben.“

Der Osl hatte sich schon abgewandt, um die Ochsen wieder in Gang zu bringen. Nun aber, da sie einlenkte, hatte er noch eine Frage. „Den Simon kennst ja? Dem Jakel seinen Bruder?“

„Hab ihn bloß beim Kirchgang gesehen und noch kein Wort mit ihm geredet.“

Kopfschüttelnd nahm Osl den Zügel auf und trieb die Ochsen an.

War das ein sonderbares Weibsbild! Will wo einheiraten und hat sich erst gar nicht umgesehen, kennt ihren künftigen Schwager noch gar nicht, weiß nicht einmal, wo der Hof steht, in dem sie dann ihr Lebtag wirtschaften soll. Das möcht er schon wissen, wie die zwei, der Nothafter Jakob und die Findler Ursel, zusammengefunden haben! Das ganze Dorf möcht es wissen, ist doch niemandem etwas aufgefallen, bis der Aushang in der Kirche und in der Gemeinde erfolgt ist.

„Wüah!“ Osl schnalzte mit der Geißel; das Echo kam knatternd vom Wald herüber.

„Da kommt er“, rief er über die Schulter zur Ursel zurück. Sie trat einen Schritt seitlich, um an ihm vorbei den Weg aufwärts sehen zu können. Richtig, da kam ihnen der Jakob entgegen! Ihr wurde leichter ums Herz.

Er war ein hochgewachsener Mann, mit braunem, bartlosem Gesicht, in das schon die Runen des Vierzigjährigen und des harten Berglebens gezeichnet waren. Durch schmale Schultern wirkte sein Körper noch länger, ebenso die Arme, die beim Bergabgehen schlenkerten. Die Füße staken in halbhohen Stiefeln, und die braune Manschesterhose zeigte Spuren der Arbeit. Die Joppe mit grünen Aufschlägen wirkte halb sonntäglich, und der dunkelgrüne Filzhut war sichtlich neu. Das Hemd trug er am Hals offen. Das Gesicht mit der schmalen Nase war sympathisch, wozu auch ein heiter wirkendes Zwinkern um die Augen beitrug. Seine Stimme klang tief und hart wie bei Leuten, die wenig reden, aber sie hatte einen warmen Unterton. Und das heitere, etwas verlegene Lächeln, mit dem er sie begrüßte, wischte die unguten Vorzeichen der letzten Stunde weg.

„Grüß euch! Ich hätt denkt, ich komm euch noch bis zum alten Kreuz entgegen, derweilen seid ihr schon gleich heroben.“ Der Ursel drückte er fest die Hand, und seine dunkelgrauen Augen strahlten eine innere Freude aus. Dem Osl nickte er zu.

„Wir sind auch schon eingekehrt da drunten bei diesen komischen Wirtsleuten“, plauderte sie.

„So so!“ sagte er nur. Dann ging er neben ihr her und nahm ihr die Tragtasche ab. Da fiel ihr ein, er hatte keinerlei Neugierde für die Ladung des Kammerwagens gezeigt, sondern diesen nur mit einem flüchtigen Blick gestreift. War ihm das Nebensache? Das sollte es aber nicht sein. Es war ihr Erspartes und das, was die Eltern, fast über ihre bescheidenen Verhältnisse hinaus, gegeben hatten. Wie sollte sie seine Interesselosigkeit dafür auffassen?

„Jetzt paß auf“, redete er neben ihr, „jetzt siehst bald unsern Hof. Das Haus steht wohl bald dreihundert Jahr, ist ganz aus Holz. Der Stall ist net groß, stehen bloß etliche Stückel drin. Der Stadel ist vom Vater noch baut worden, vor etwa zwanzig Jahr. Nun weißt, es ist kein Herrschaftshaus, aber es ist was dran, und ist keins ringsum, das so gut baut wär wie das unsre.“

Das Wiesengelände, das nun, zum Nothafterhof gehörig, begann, ließ erkennen, daß es gut bewirtschaftet wurde. Das Wasser war in Gräben abgefangen und verteilt, und wo es über die Grasnarbe sickerte, begann sogar schon der Graswuchs. Auf einem Acker, der bis an den Weg heranreichte und sich bis zum Wald hinüberzog, stand der Pflug. Der Jakob mußte ihn eben verlassen haben, um ihnen entgegenzugehen. Ausgeschwemmte Löcher im Weg waren mit Gestein von den Feldern aufgefüllt, und ein ordentlicher Schrenkenzaun lief neben der Fahrt her. Sogar die grauen Feldsteinmauern um die Wiesenflecken machten einen geordneten Eindruck, und die Rainstauden standen, als wollten sie sich dieser Ordnung würdig erweisen. Bei einer herrlichen Gruppe von drei schlanken, weißen Birken stand auf einem Steinsockel ein Eisenkreuz. Hier machte der Weg, der bislang fast immer schnurgerade vom Tal heraufgeführt hatte, die erste Biegung, und dann lag vor ihnen, noch durch eine Hangwiese entfernt, der Nothafterhof.

Ein massiges, aber niederes Waldbauernhaus, die Balkenwände fast schwarz vor Alter und Witterungseinfluß, mit einem breiten, flachen Dach. Stall und Stadel stießen seitlich an das Wohnhaus. Fast dicht am Hause aber ragte ein grauer Fels auf, wuchs aus dem Boden und stieg bis zur doppelten Höhe des Hauses empor. Auf dem Felsen stand ein einzelner Baum, eine hohe Lärche von seltsamem Wuchs.

„Das ist der Hof“, sagte der Jakob.

„Dieser Baum, dieser schöne Baum –“, aber flüsterte die Ursel nur atemlos.

Etwa anderthalb Meter über dem Boden hatte sich die Lärche gegabelt, und zwei schlanke Stämme strebten gegen den blauen Himmel, zwei Bäume, die nur einen Fuß hatten.

„Ja, der Lärchbaum –“, antwortete der Jakob nur, wandte aber den Blick nicht vom Hof. Ein Hahn saß auf dem Hofzaun und schrie einen Willkomm. Der Jakob fragte nicht mehr, wie ihr die zukünftige Heimat gefalle, sondern ließ sie selber schauen. Der Wagen hielt vor der Auffahrt zum Stadel.

„Wenn es dir recht ist, stellen wir alles für heut nur in die Tenne und richten uns nach der Hochzeit erst ein?“ fragte er sie verlegen.

Sie stand und sah sich die Gebäude an. Das Wohnhaus hatte einen geräumigen und sauber gehaltenen Vorplatz, der Aufgang zur Haustür war von großen Steinblöcken gefügt. Die Fensterrahmen waren weiß gestrichen und gaben dem alten ehrwürdigen Bau viel Anheimelndes, ja Festliches. In einen riesigen Steintrog röhrlte aus hölzernem Rohr der Hausbrunnen. Zwei Kirschbäume breiteten ihren Schatten über die Hausfront. Eine Bank bezeugte, daß man hier gut sitzen und in die Welt im Tal und überm Donaustrom schauen konnte. Der Stall war aus Granitbruchsteinen, der Zugang zu ihm sauber. Im Hofraum zwischen Haus, Stall und Stadel lag nichts herum. Ursel umfing das alles mit einem erleichterten Aufatmen und wandte sich Jakob mit leuchtenden Augen zu.

„Wie du meinst, mir ist es freilich recht. Muß heut noch viel anderes tun.“

Der Nothafter öffnete das Scheunentor, und zusammenhelfend luden sie den Kammerwagen ab und stellten alles in die sauber gekehrte Tenne.

„Alles ist da so ordentlich“, sagte die Ursel anerkennend.

„Ja, beim Nothafter da ist Geld und ist Sach“, scherzte der Osl schwitzend, „ist ein alter Bauernadel.“

„So, jetzt geht’s in die Stuben“, lud sie der Jakob ein, als sie abgeladen hatten.

An der Haustür legte er der Ursel die Hand auf die Schultern und meinte entschuldigend: „Der Herrgott segne deinen Eintritt, aber es ist halt eine alte Stuben, alt wie alles hier.“

Sie streichelte ihm mit der Hand über die Wange und sagte bewegt: „Amen!“

Sie stand zum erstenmal in dem Raum, in dem ihr Leben und ihr Schicksal sich nun erfüllen sollten. Ihr Blick wanderte durch die große Stube. Eine alte Kommode stand links von der Tür. Dann begann eine Wandbank und lief an den beiden Wänden der Fensterseiten entlang. Ein mächtiger Tisch mit zweifingerdicker Ahornplatte und massigen, schräggestellten runden Füßen stand in der Ecke unter einem auffallend großen Kreuz mit geschnitztem Herrgott. Zwei Hinterglasbilder hingen an der Wand. Zwischen den beiden nach dem Tal gerichteten Fenstern war ein großer Spiegel, und um ihn rankte sich ein Zweig aus künstlichen Rosen und Blättern. An der rechten Wandseite nahm ein großer unterteilter Kasten, hellblau gestrichen und mit Rosensträußen bemalt, einen ziemlichen Platz ein. Eine Tür führte in eine Nebenstube, und dann folgte in der Ecke der Ofen, neu gemauert und gekachelt mit braunen, glänzenden Kacheln.

Die breiten Bodenbretter ließen ahnen, von welch mächtigen Bäumen sie stammen mußten, und die Tragbalken der rauchschwarzen Decke waren gleich mächtig und mit Einschnitten verziert. Der Raum wirkte in seiner Einfachheit und mit dem alten Hausrat sehr heimelig. Ursel mußte an ihre früheste Jugend denken und an die große, unvergeßliche Stube bei der Großmutter drüben in Grafling.

„Alsdann, jetzt sitzen wir uns halt nieder“, brachte sich der Jakob wieder in Erinnerung. Er griff mit zwei Fingern in den Weihwasserkessel neben der Tür, über dem auf einem Hinterglastaferl die Armen Seelen im Fegefeuer abgebildet waren, und besprengte die Stirn der künftigen Nothafterin. Sie machte das Kreuzzeichen.

Der Osl nahm am Tisch Platz und legte den Hut auf die Bank, und der Jakob holte aus dem hellblauen Kasten mit den Rosensträußen Flasche und Gläser.

Die Ursel aber stand noch immer und fragte zögernd: „Ist da – niemand –“

Der Jakob wandte sich ab und sagte entschuldigend: „Ach ja, freilich – der Simon ist noch da, weißt ja, mein Bruder, wir sind die einzigen auf dem Hof – ja – seit die Nanni – die Schwester, voriges Jahr gestorben ist.“

„Wo ist denn der Simon?“ wollte sie wissen.

Betreten wandte sich der Nothafter nun ihr zu, und mit einem verlegenen Blick auf den Knecht erklärte er: „Weißt – das hab ich dir ja gesagt, er ist ein wenig seltsam. Nicht daß du meinst, es fehlt ihm was – nein –, aber ein wenig leutscheu ist er, und da braucht er seine Weil, bis er – naja – bis er halt einmal warm wird.“

Da setzte auch sie sich an den Tisch.

„Einen guten Kronwittern“, der Jakob lächelte, „eigene Ernte, denn das wirst schon gemerkt haben, die Kronwittbirl wachsen uns ins Haus.“

Der Schnaps machte den Osl dann gesprächiger, und so kam bald ein wenig Unterhaltung zustande. Die Ursel aber ließ sich nicht lange halten und wollte zum Mittag wieder daheim sein. Auf die Begleitung des langsamen Ochsenfuhrwerkes wollte sie verzichten, weshalb der Osl noch eine Weile länger blieb.

Der Jakob geleitete sie noch bis zum Weg hinaus.

„Alsdann, übermorgen bin ich zeitig genug drunten, und vorgerichtet ist ja alles. Sag einen schönen Gruß an deine Leut!“

Sie reichten sich die Hände, und sie ging. Wo der Weg vom Hof abkurvte, bis er bei den Birken mit dem Kreuzstein steil abwärts führte, wandte sie sich noch einmal um. Als sie vom Hof wegging, hatte sie jemanden holzhacken gehört, und nun sah sie, daß hinter dem Stadeleck hervor ihr einer nachsah.

Der leutscheue Simon!

Hager und langgesichtig wie der Jakob und auch so groß gewachsen, stand er gebückt und zog, als sie sich umwandte und er sich bemerkt sah, schnell den Kopf zurück.

Es war ihr nicht wohl beim Gedanken daran, daß dieser Simon, den sie noch gar nicht kannte und der ein Eigener sein mußte, von übermorgen an zu ihrem Haushalt gehören sollte. Wird etwa doch nur ein Sonderling und kein gefährlicher Narr sein, hoffte sie und blieb eine Weile vor dem Eisenkreuz auf dem Steinsockel stehen. Es trug die Jahreszahl 1803 in den Sockel gemeißelt, stand also schon weit über hundert Jahre und hatte sicher eine eigene Geschichte.

Eine Lerche stieg aus einem Winterkornacker in die Sonne.

Der Nothafterhof zeigte nur noch den Dachgiebel. Auf dem hohen Felsen stand, sich hoch aufreckend, die Zwillingslärche, starr und still; die schwachen, aber langen Äste mit den fiederigen Nadelbüscheln schoben sich ineinander.

„Ein seltsamer Baum“, flüsterte die Ursel und fing wieder zu gehen an. Bergab kam sie schnell vorwärts. Der Morgennebel war nun verschwunden, und unter ihr lag das Tal in der Sonne, das Dorf mit der Kirche und den roten und grauen Hausdächern, die rundherum verstreuten Höfe, die Hügel der auslaufenden Vorberge und hinter diesen das breite Band des silberglänzenden Stromes. Unendlich weit ging dann die Fläche des Gäubodens, bis in dunstiger Ferne noch ein dunkler Waldstreifen zu erkennen war.

Sie mußte aber auf den Weg achten. Bis zum Zwölfeläuten konnte sie daheim sein. Den Nachbarhof des Eckenrieders streifte sie nur mit einem Blick. Sie hätte ihn völlig übersehen, wenn nicht der schwarze Spitz wieder kläffend an den Weg gekommen wäre. Auf der Hausgred bemerkte sie eine Weibsperson. Ob das die törrische Kordl war?

Viel wird sie ja mit diesen Nachbarn nicht zu tun haben. Hoffentlich nicht! Auf diesem Berg mußte es allein schöner sein, und an einem Heimgarten und unnützem Gered lag ihr nichts.

Beim Schinagl an der Weggabel vorbei beschleunigte sie die Schritte und vermied es, hinzusehen. Dann kam wieder der Wald, und der Hochbach rauschte neben dem Weg und bog wieder ab.

Die Felder und Wiesenflächen weiteten sich über die flachen Talhügel. Rechts reichte noch ein Birkenwäldchen bis an das nun tief in das Land einschneidende Sträßlein, zu dem der Bergweg geworden war. Wo der Birkenberg zu Ende ging, stand am Weg ein stubenhohes Holzkreuz mit einem aus Blech geschnittenen und bemalten Heiland. Davor eine verwitterte und vermorschte schiefe Betbank.

Niemand war Ursel bis jetzt auf dem Heimweg begegnet, aber als sie den Hohlweg verließ und zum alten Kreuz kam, stand dort ein junger Mann, der ihr nun einige Schritte entgegenkam.

Das Blut schoß ihr jäh ins Gesicht, und sie biß sich auf die Lippen. Der Mann, mittelgroß, von kräftiger, untersetzter Gestalt, mit einem frischen Gesicht, lebhaften blauen Augen und einem schmalen Schnurrbärtchen, stellte sich ihr nun in den Weg und sprach sie ohne Gruß an.

„Urschel, was machst denn du für Dummheiten!“

Fest sah sie ihn an und blieb stehen. „Dummheiten? Das sind keine Dummheiten, möcht ich dir gesagt haben.“

Er fuhr sie an: „Freilich ist das eine Dummheit, wirst es schon noch inne werden.“

Fast um einen Kopf größer, stand sie vor ihm und sah ihn nur geringschätzig und abweisend an. Seine Wangen wurden blaß vor Zorn.

„Du kannst doch net diesen – den Nothafter heiraten! Das ist ja ein alter Mann und –“

Sie schnitt ihm die Rede ab. „Konrad, das ist meine Sach! Und wirst doch net glauben, ich wüßt net, was ich tu? Der Jakl ist vierzig Jahr alt, und ich bin von dreißig auch nimmer weit weg. Was soll da dran sein!“

Er sah zu Boden und stieß mit der Schuhspitze an die Steine im Wege.

„Urschel, das ist doch kein Zusammenstand!“

„Du bist dreiundzwanzig! Wär das ein Zusammenstand zwischen uns zwei?“

„Eher schon!“ rief er heftig, und beschwörend fuhr er fort: „Urschel, ich kann’s net glauben. Ich kann’s net glauben! Alleweil hab ich gemeint, du tätest es dir noch überlegen. Wenn ich auch einmal kein Waldbauer bin, aber meine Sach liegt im Tal, ist ein schöner Hof, hab die Dorfschmieden dabei, dreimal soviel Küh im Stall wie der Nothafter – und bin denn ich ein unrechter Mensch? Kannst mir was nachsagen? Ich glaub net!“

„Ich sag dir auch nix nach.“

„Bin ich dir zu gering, oder kannst mich net leiden? Hast nix dagegen gehabt, wenn ich zu euch in die Stuben kommen bin, hast niemals merken lassen, daß ich keine Aussichten hätt bei dir, hast doch gewußt, warum ich alleweil zu euch kommen bin. Hab dich doch sellmals nach dem Tanz gefragt, wie es dir als Bäuerin auf dem Ranzingerhof gefallen tät – ich kenn mich einfach nimmer aus. Vierzehn Tag bin ich jetzt weg, und in der Zeit machst du mit dem Nothafter die Heirat aus?“

Sie sah ihn an, erschreckt und verwundert.

„Konrad, du bist doch fast um fünf Jahr jünger wie ich! Glaubst denn, das hätt gut getan? Ich wär einmal fünfzig geworden, alt und abgerackert, mit Kindern und der Sorg um den Haushalt, und du wärst dann in den besten Jahren gestanden. Die Heirat hätt dich reuen müssen! Und weißt schon, wie es nachher in einer solchen Ehe ausschaut! Einen jüngeren hätt ich nie genommen. Wie das ist, hab ich daheim kennengelernt, und bei uns tät das auch net anders werden.“

Er sah nicht mehr auf und wandte sich ab. Sie knöpfte ihre Strickweste zu, nur um etwas zu tun, obwohl ihr von dem raschen Abstieg vom Hohenseng heiß geworden war.

„Ich hab dich gern gehabt und hab dich noch gern – kann nix dafür“, stieß er fast zornig hervor, „aber das ist eine Herzenssach, und bei dir hat das Herz net viel mitzureden.“

„Das kannst du net wissen“, antwortete sie gepreßt.

Mit einem Ruck kehrte er sich wieder ihr zu und faßte sie am Arm. Seine Augen flammten sie an, sein Mund verzerrte sich.

„Überleg dir’s noch einmal, Urschel, du rennst in dein Unglück! Du kannst doch net da droben leben in der Einschicht! Das gibt es ja gar net! Weißt denn net, der Nothafterhof ist doch ein Unglückshof? Fürchtest dich denn net, mit den zwei Sonderlingen zu hausen? Und der eine soll dein Mann sein? Dieser Holzstock! Dieser Waldschröttling! Sag mir nur grad, wie das zugangen ist, daß ihr zwei zusammengefunden habt! Da lacht ja die ganze Welt!“

Sie schüttelte seine Hand ab.

„Laß mich gehen, ich hab keine Zeit mehr. Wir sind ausgehängt, der Kammerwagen ist gefahren, und übermorgen ist die Trauung. Glaubst, da könnt ich noch zurück? Selbst wenn ich wollt? Ich will aber auch net und bin froh, wenn ich einmal da droben bin, meine Arbeit und meinen Frieden hab.“

Da verlor er die Fassung. Die Augen wässerten ihm. Er knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. Die Arme hochwerfend wies er nach dem alten Holzkreuz. „Und wenn übermorgen da einer hängt, dann wirst dir den Hochzeitstag doppelt merken und deiner Lebtag keine ruhige Stund mehr haben.“

„Dann wär’s mit uns zwei auch so nix Rechtes geworden. Red nicht so was Dumms!“ entgegnete sie und ging. Er hielt sie nicht mehr zurück.

„Renn zu“, rief er ihr nach, „renn nur zu und in dein Unglück! Wirst noch an mich denken.“ Seine Stimme kreischte und schlug um wie zu einem Weinen. Daß auch ihr nun die Tränen über die Wangen rannen, sah er nicht mehr.

Aus der Talmulde wuchs der Zwiebelturm der Dorfkirche über den Feldern auf, und das Mittagläuten klang über die Vorwaldhügel hin.

Zwischen Wiesenhängen führte das Sträßlein in das Dorf.

Breitdachige Bauernhäuser standen rund um Kirche und Dorfplatz, und im weiteren Umkreis saßen noch einige Höfe und Kleingütl in den Hangfluren. Vor dem Dorf einem Seitenpfad folgend, strebte die Ursula Findler dem elterlichen Haus zu, einem kleinen Bauernanwesen neben dem zum Dorfe fließenden und vom Berge kommenden Hochbach. Ein brauner, langhaariger Dackel stürmte ihr entgegen, umsprang sie bellend und folgte ihr ins Haus.

Die Findlerin richtete gerade zum Essen an, und am Tisch saßen bereits der Findler und sein Bub vor den Tellern.

„So, bist schon da?“ brummte der Findler, als die Ursel in die Stube trat. Er war ein rüstiger Fünfziger mit einem blonden, abstrebenden Schnurrbart und festem, ebensolchem Haar. Gebückt, faltig und ergraut trug die Findlerin die Suppe auf. Zehn Jahre war sie älter als ihr Mann, ein verdrossenes und verbittertes Weib. Daß ihre Familie bei ihr oft Ärger und Zank genossen, wußte das ganze Dorf.

„Der Ranzinger Konrad ist dagewesen“, biß sie scharf und schnell auf die Ursel los.

„Hab ihn schon getroffen“, erwiderte diese, stellte ihre Tasche auf der Wandbank ab und zog die Strickweste aus.

„Ja, und was hat er gesagt?“ forschte die Mutter.

„Net viel und nix Schönes.“ Unlustig und abwehrend, mit verschlossenem Gesicht, setzte sich die Ursel an den Tisch.

„Ein anderer Mann wär er gewesen als dieser Holzzapfen da droben. Ich versteh überhaupt nix mehr. Aber ich hab dir’s gesagt: Komm uns ja net, wenn’s dann nicht stimmt! Geheiratet ist geheiratet.“

„Was fängst denn schon wieder an!“ mischte sich der Vater ein.

Doch als hätte die Findlerin nur darauf gewartet, schimpfte sie los, wie sie es schon seit vierzehn Tagen tat, steigerte sich immer mehr in Zorn, fing zu schreien an, belegte ihren Mann mit den unflätigsten Namen und wiederholte in allen Variationen, was sie ihm seit Jahren schon oft. und fast täglich vorschrie: er sei ja kein Mannsbild, sonst tät er etwas dagegen und kümmere sich um seine Kinder, das sehe man wieder an dieser Heirat der Ursel, und er werde noch alles und alle zugrunde richten.

Der Findler legte den Löffel hin und verließ die Stube. Der Franzl folgte ihm. Sie standen vor dem Haus und hörten schweigend das Belfern der Alten an, das sich nun über die zurückgebliebene Ursel ergoß.

„Heut hat die Alt wieder eine narrische Grantigkeit“, sagte der junge Findler respektlos zu seinem Vater.

„Schau dir auf das Maul, ist alleweil noch deine Mutter“, wies ihn dieser grob zurecht.

„Na ja“, raunzte der Bursche, „aber wenn ich dran denk, daß übermorgen die Ursel weggeht und leicht dann ich das alles aushalten muß, da graust mir.“

Der Findler zuckte nur die Schultern und schlenderte über die Wiese zum Bach. Ihm war alles schon gleichgültig. Ändern konnte er die Frau nicht mehr, und das lange Zusammenleben mit ihr hatte ihn gleichgültig und mürbe gemacht. Er konnte verstehen, daß die Ursel aus dem Hause trachtete, und da wird sie wohl nach dem ersten Besten gegriffen haben, der ihr die Heirat anbot. Ihm war das gleich. Unrecht war der Nothafter Jakob nicht, und leichter war mit einem Sonderling auszukommen als mit einem bösen Weib. Er wünschte sich nur, er könnte selber mit hinaufziehen auf den Hohenseng, um dem ewigen Streit zu entgehen. Der Bub, der Franz, durfte ja nicht daran denken, mit einer Schwiegertochter zu kommen, denn die würde es keine drei Tage aushalten.

Der Bach schoß rauschend über das Bettgestein zum Dorf; so hörte es der Findler nicht, wie sich seine Frau hatte hinreißen lassen und ihrer Tochter auf einen bloßen Einwand hin, sie müsse ja doch einmal heiraten, und der Nothafter wäre ihr recht, die Schüssel durch das Fenster schmetterte.

BALD hatte sich auch der Osl wieder auf den Weg gemacht und war zu Tal gefahren. Einen Fünfer Trinkgeld hatte ihm der Nothafter Jakl noch zugesteckt. Der Kronwittschnaps war ihm etwas in den Kopf gestiegen, so ließ er die Peitsche lustig knallen und pfiff sich ein Liedel, das mit dem Quietschen und dem Poltern des Wagens zu einem weit vernehmbaren Lärm zusammenklang. Dadurch übersahen auch die Schinaglleute die Rückfahrt des leeren Kammerwagens nicht, und als der Osl das Wirtshaus erreichte, stand der Schinagl wie von ungefähr am Wegrand.

„Kehrst net noch ein bissel zu? Heut hast dein Tagwerk schon hinter dir“, redete er den Knecht an.

„Kann net, sollt schon längst daheim sein“, lehnte dieser ab.

„Hat sich einen reichen Hochzeiter ausgesucht, die Findler Urschl“, bohrte der Schinagl an.

„Hat auch recht gehabt, in einer Fretten ist sie selber aufgewachsen, und da will sie es halt einmal schöner haben.“

Der Schinagl wiegte den Oberkörper und suchte sichtlich nach dem rechten Wort, um die Frage anzubringen, was sich nun da oben alles abgespielt habe.

„Hat der Jakl wohl schon eine große Freud auf den Hochzeitstag“, meinte er so nebenbei.

„Na ja, kann schon sein.“

„Wie er nur zu diesem Findlerdirndl kommen ist, das muß ganz dumm zugegangen sein.“ Der Bergwirt grinste.

Der Osl zuckte die Schultern. „Weiß es auch net, und für die ganze Pfarre ist das eine Überraschung gewesen. Mich geht’s nix an.“

„Wo fast schon die Hochzeit mit der Kordl vom Eckenrieder ausgemacht war!“ fuhr der Schinagl mit einem falschen Blick scheinheilig fort.

„Mit der Kordl? Geh, das glaub ich doch net!“

„Wenn ich dir’s sag! Weiß es doch, weil die Kordl mein Geschwisterkind ist.“ Der Schinagl zündete sich eine Zigarette an und reichte auch dem Osl eine hin. Das hatte er nun losgebracht, und wenn es der Knecht nur daheim beim Dettenberger erzählte, genügte das schon, um die Runde im Dorf zu machen. Ganz zurückstellen durfte man sich nicht lassen, drum mußte es so aussehen, als hätte auch die Kordl Nothafterin werden können, wenn –! Na ja, das „Wenn“ würden die Dörfler sich selbst ausmalen.

„So, die Kordl?“ Der Osl steckte die geschenkte Zigarette in Brand und blies den Rauch in den Tag. Dann schmunzelte er. „Ist ja noch einer droben, der Simon! Vielleicht paßt der für die Kordl besser. Sehenlassen hat er sich net.“

Der Schinagl wurde hellhörig. „So? Hat er sich net sehenlassen?“

Das war wenigstens etwas, und was der Knecht da sagte, war eigentlich gar nicht dumm. Wenn die Kordl – wenn man sie mit dem Simon zusammenspannen konnte, war noch nicht alles verdorben! So wie die Dinge da droben bei diesen Einschichtern lagen, mußte der Simon soviel wert sein wie der Jakl. Diese Gedanken nahmen den Bergwirt so gefangen, daß er vergaß, sich vom Osl zu verabschieden, und vornübergebeugt seinem Haus zuging.

„Schlawiner!“ brummte der Osl hinterdrein und setzte sein Fuhrwerk wieder in Gang.

Was hatte jetzt der von ihm wollen? Der hatte doch schon auf ihn gewartet? Also, die Kordl hätte Nothafterin werden können? Oder sollen! Und so dumm wird der Jakl nicht gewesen sein, sich mit einem törrischen Frauenzimmer einzulassen. Dem Herrn Onkel geht nun die Heiraterei mit der Findler Ursel gegen den Strich. Ja, ja, wenn die Kordl halt Nothafterin geworden wäre, dann hätte der Herr Onkel schon etwas profitieren können: Brennholz und dazwischen auch einmal einen guten Baum. Und wenn er einmal dem Nothafter ein Reh weggeschossen hätte, das wäre auch nicht sehr schlimm gewesen. War ja der einzige Hof, zu dem eine eigene Jagd gehörte. Und weil sie der Jakl wenig ausübte und der Simon wahrscheinlich überhaupt nicht, so wär das eben etwas für den Schinagl, bei dem es sowieso öfter einmal eine Rehpartie gab.

Ach was, ihn, den Osl, ging das nichts an!

Lustig schnakelte seine Peitsche durch den Wald. Über dem Rumpeln des Wagens überhörte er das feine Singen des Mittagläutens.

Der Jakl hatte dem abfahrenden Ochsengespann noch eine Weile nachgesehen und war dann hinter den Stadel gegangen. Der Simon hielt im Holzmachen nicht inne und achtete nicht auf seinen jüngeren Bruder, der eine Weile stumm vor ihm stand.

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