Der Sohn der Hagar - Paul Keller - E-Book

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Paul Keller

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Beschreibung

Paul Kellers bestes Buch: Robert, der seine Mutter nie kennengelernt hat zieht als Wandermusiker durch die Welt. Er kommt in das Dorf seiner Eltern und wird im Hause seines ihm unbekannten Vaters aufgenommen. Dieser gibt sich nicht zu erkennen, denn er fürchtet die Ablehnung. Er hatte seinerzeit die Mutter Roberts schwanger verlassen, um eine reiche Frau zu heiraten. - Das sozialkritische Werk fand viel Beachtung und wurde auch verfilmt.

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Paul Keller

Der Sohn der Hagar

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Titel

 

Paul Keller

 

Der Sohn der Hagar

 

 

 

1. elektronische Auflage 2014

[email protected], Basel

Erstes Kapitel

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin, ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn.«

Die Lore sang schön. Und sie selbst war schön. Die Abendsonne, die durchs geöffnete Fenster schien, bestrahlte ihren blonden Kopf, bestrahlte das Nähzeug, das sie in den kleinen Händen hielt, und überzog selbst die blanke Nadel mit einem leichten Goldschimmer.

»Die Luft ist kühl und es dunkelt, und ruhig fließt der Rhein, der Gipfel des Berges funkelt im Abendsonnenschein.«

Der Rhein war dieser schleichen Flur fern; aber das Wasser des großen Teiches funkelte rotgolden auf, das tiefe Leuchten ging über seine stille Fläche und stieg am jenseitigen Ufer den kleinen Berg hinauf, wo der vereinzelte wilde Kirschbaum stand, den die Leute den »Wächter« nannten.

Der »Wächter« stand auf einer kleinen Anhöhe wie auf einem Auslugposten und sah übers ganze Dorf weg und übers ganze Tal. Wenn ein Wetter kam, dann wehrte der »Wächter« mit ausgestreckten Zweigen die Blitze ab, daß sie den Häusern nicht zu nahe kämen.

Seit Menschengedenken hatte es in Teichau nicht eingeschlagen; dagegen zeigten sich gelegentlich die Leute mit leiser Furcht und großem Respekt die kleinen Schmarren und Risse wie auch die tiefe Wunde, die der tapfere, treue Baum durch die Wetterstrahlen erlitten hatte. Und wie ein Vorposten war er, den der Wald ausgestellt hatte, der Wald, der ruhig wie ein schlummerndes Heer den Hügel hinauf im ersten Herbsttraume lag.

»Die schönste Jungfrau sitzet dort oben wunderbar –«

»Sing' nich immerfort! Näh' lieber! Bei dem ewigen Gedudele wird nischt fertig!«

Lore erschrak und stach sich leicht in den Finger. Sie sah ihre Tante, die Frau Gastwirt Anna Hartmann, die so plötzlich in die Wirtsstube getreten war, an und sagte leise, aber mit leichtem Trotz: »Ich näh' ja!«

Ihr Onkel, der Gastwirt Wilhelm Hartmann, der im hohen Schanksims sanft eingeschlummert gewesen war, war durch das Erscheinen seiner Frau jählings erwacht und tat nun, als ob er eifrig Gläser ausspüle. Seine Frau warf einen Blick in seine hölzerne Burg und sagte mürrisch:

»Du könntest lieber amal in a Pferdestall sehn. Es is Zeit zum Füttern, und der Gottlieb wüstet mit 'm Haber, als wenn a gar nischt kostete.«

Darauf verschwand sie. Lore seufzte und zog dann ein schnippisches Mäulchen, Hartmann hörte auf zu spülen, trocknete sich die Hände ab und kam aus dem Schanksims heraus.

»Lore, du kannst singen! Aber sing' leise«, sagte er.

Nach diesem tapferen Ausspruch verließ er das Zimmer, um zu Gottlieb, dem alten Großknecht, in den Pferdestall zugehen.

Einen Augenblick blieb's still in der großen Wirtsstube, dann tönte leise wieder des Mädchens Gesang:

»Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar.«

Sie hat ganz zu nähen aufgehört. Im Glase des offenstehenden Fensterflügels betrachtet sie ihr Bild. O, sie ist schön! Hat auch goldene Haare. Und heißt auch Lore. Wenn sie auf dem Felsen am Rheine säße und die Schiffer zögen vorbei und sähen alle voll Liebe und Bewunderung zu ihr hinauf, das wäre herrlich! Es wären viele: der Bernert Bruno, der Postassistent aus der Stadt, der jeden Sonntag kam, der neue Adjuvant aus der Schule, der Forsteleve, sogar der Gendarm, der Witwer war und fünf Kinder hatte. Lore lachte leise. Dann fast alle Bauernburschen und am Schluß der Berthold – Berthold Hartmann, ihr Vetter. Aber der müßte auf einem Schweinetrog fahren, wie er in Ermangelung eines Bootes draußen auf dem Teich manchmal im Schweinetrog ruderte, wenn er das Bedürfnis hatte, ein kaltes Bad zu nehmen. Denn der Trog kippte immer um.

Lore schrie plötzlich auf. Ein großer dunkler Gegenstand sauste durch das breite Fenster herein, und ehe sie noch feststellen konnte, daß es ein gefüllter Bettstrohsack war, kam schon ein zweiter dunkler Gegenstand durchs Fenster, und dieser zweite war Berthold.

»Berthold – du bist ja – du bist ja ganz verdreht – du erschrickst einen –«

Berthold, der auf dem Strohsack hockte, sagte stolz: »Ja, Lore, das is so! Das is so a feiner Witz, den ich mir ausgedacht hab'! Denn siehste, erst kummt der Sack und dann kommt der Esel.«

Lore mußte lachen.

»Haste dir das wirklich alleine ausgedacht? Das glaub' ich nich«, sagte sie freundlich.

»Nu je, der Gottlieb hat mir a bissel gehulfen beim Ausdenken. Aber daß ich a Strohsack hier reinschmeißen wullte, das is mir ganz alleine eingefallen.«

»Wo kommst'n eigentlich jetz mit dem Strohsack her?«

Berthold zog ein mürrisches Gesicht.

»Ach, die Christel! Die schimpft ja immerfurt uff mir rum. Alle sechs Wuchen muß ich mir a Strohsack neu stuppen. Und jetz, da sind sechs Wuchen reichlich rum. 's hat doch aber keenen Zweck, wo ich jetz zu a Soldaten kumm. Aber wart' ock, wenn ich vum Militär zurück bin, da muck ich uff! Da laß ich mir von der Christel nischt mehr sagen, wo sie doch bloß meine Schwester is. Da stupp ich mir a Strohsack 's ganze Jahr nich.«

»Nu, da wärste ja a recht feiner Schweinigel!«

Berthold versank ins Nachdenken.

»Weeßte Lore, später da wird alles viel feiner. Wenn ich amal heirat', da koof' ich Madratzen. Die fein'n Leute haben überhaupt keene Strohsäcke. Da gibt's nischt zu stuppen. Denkste, der Kaiser stuppt sich 'n Strohsack? Denkt nich dran! 'ne Madratze hat a. Und weeßte, Lore, wen ich mit meiner feinen Ausstattung heirat'?«

Lore wiegte kokett den Kopf.

»Die Hillner Liese, die hat zehntausend Taler.«

Berthold schüttelte sich heftig: »Nee, die nich, die hat mir zu a schiefes Maul.«

»Nu, dann vielleichte die Mitguden. Die hat gar fünfzehntausend.«

»Fünfzehntausend hat se, und sechzehn Jahr is se älter als ich. Ich mag se nich«, sagte Berthold.

»Na, da wirste die Fischer Selma nehmen. Die hat zwar bloß sechstausend, aber sie is hübsch und jung.«

»Die Fischer Selma nehm' ich auch nich. Denn die hat schon ein'n andern, und das paßt mir nich. Nee, ich werd' dir's sagen. Du mußt's aber ganz für dich behalten.«

Er legte den Mund dicht an das Ohr des Mädchens. »Dich Heirat' ich!«

»O je, Berthold, mit meinen zweitausend Talern! Was würd' da deine Mutter sagen?«

»Wenn ich vom Militär zurück bin, muck' ich uff. Stupp keen Strohsack nich mehr und heirat', wen ich will. Laß mir nischt mehr gefall'n. Ich nehm' dich, Lore, da paß nur mal uff!«

Da in diesem Augenblick draußen Frau Hartmanns scharfe, herrische Stimme hörbar wurde, warf Berthold seinen Strohsack wieder zum Fenster hinaus und setzte ihm eilig nach.

Lore seufzte. Der Berthold war ein starker, hübsch gebauter Bursche. Nur dumm war er. Und seine Mutter würde auch eine Heirat mit ihr nicht zugeben. Die wollte viel Geld.

So kam das Mädchen wieder ins Träumen, schaute ins Fensterglas und betrachtete ihr blondes Bild. Da zogen wieder alle, die in sie verliebt waren, an ihrem geistigen Auge vorüber. Nur der Gendarm mit seinen fünf Kindern war ausgeschaltet.

»Ich sage Ihnen, Hartmann, nischt wie Ärger!« Mit dem zurückkehrenden Gastwirt trat ein Mann ein: Dr. Friedlieb, Gutsbesitzer, praktischer Arzt, Amtsvorsteher und Dorfreformer. Er war Mitte der vierziger Jahre, hatte ein offenes Gesicht, gutmütige, etwas unter den Brauen versteckt liegende Augen und zeigte in seinem Äußern die ganze Vielgestaltigkeit seines Berufes: Er hatte eine blasse Stirn, aber ein robust rotes Gesicht, trug eine goldene Brille und einen Stock mit silberner Krücke, hatte aber langschäftige Stiefel und einen dicken Bauernanzug an, seine Wäsche war tadellos, aber auf seinem Kopfe saß eine filzige Tuchmütze. Verdrossen warf er die Mütze auf einen Stuhl.

»Nischt wie Ärger, nischt wie Borniertheit!«

»Der Herr Dokter ärgern sich ooch gleich immer zu sehr«, sagte Hartmann.

»Soll man sich da nich ärgern? Gleichgültig sein, schlafmützig, tranig? Was? Meine ganze Dokterei bringt mir n'Quark! Weil ich eben nich wie manche von meinen Kollegen 'n Interesse dran Hab', daß die Leute krank sind, nee, daß sie gesund bleiben. Verflucht noch eins, wozu hab' ich denn den Gesundheitsverein gegründet? Wozu halt' ich jeden Sonnabend hier 'n populär-wissenschaftlichen Vortrag? Wozu verbreit' ich nützliche Bücher? Daß so 'ne alte Schwarte, wie die Scherwenken, bei sechzehn Grad Celsius 's Fenster zu hat? In einer Pestluft sitzt? Rausschmeißen müßte man so 'ne alte Schachtel aus 'm Gesundheitsverein. »Jes, jes, Herr Dukter, ich hab' doch a so sehr Zahnreißen!« »Renommieren Sie nich, olle Lichtscheuche!« sagte ich, »Sie haben doch gar keene Zähne mehr!« »Nee, nee, Herr Dukter, aber Wurzeln hab' ich – Wurzeln! – – Sehn Sie, Hartmann, und weil das alte Weib Wurzeln hat, macht sie kein Fenster auf, läßt sie keine Luft rein!«

Hartmann ging nach dem Schanksims.

»Woll'n Sie nich vielleichte 'n Gilka, Herr Dokter?«

»Nee – 'n Mampe! Mir is ganz schlecht um 'n Magen von dieser scherwenkischen Luft. Sagen Sie mal, Hartmann, wie steht's denn jetzt mit 'm Winkler-Maurer?«

»Ach, da fragen der Herr Doktor lieber gar nich erst!«

»Natürlich frag' ich! Sauft er noch so? Hartmann, Sie haben doch aber auch immer gewissenhaft die Chemikalien, die ich Ihnen gegeben hab', in die Flasche getan, aus der Sie dem Winkler einschenken? Wir woll'n ihn retten, ohne daß er's merkt. Verekeln müssen wir ihm den Fusel.«

Hartmann kam aus dem Schanksims heraus.

»Bitte, ein Mampe! Herr Dokter, mit dem Winkler is es schrecklich. Ich hab' immer Ihre Medizin, die ihm's Saufen verekeln soll, in eene Fünfliterflasche getan und ihm daraus eingeschenkt. Eenmal hab' ich mich vergriffen und eene Flasche mit reinem Kornbranntwein erwischt und ihm ein Liter verkauft.«

»Verdammt ja, das wird ihm wieder geschadet haben!«

»Nee, den reinen Schnaps hat a zurückgebracht und gesagt: von seiner Sorte wollt' a haben, die schmeckt ihm viel besser.«

Dr. Friedlieb trank empört seinen Mampe aus.

»Noch 'n Mampe, Hartmann, noch einen – das sind ja – das sind ja – Viecher! Die – die saufen schließlich auch Petroleum! Hartmann, ich geb's auf! Da is ja mit dem allerbesten Willen nischt anzufangen.«

Hartmann zuckte die Achseln.

»Ja, der Winkler-Maurer is undankbar. Ihre Schwester, die Fräul'n Jettel, hat erst jetzt wieder seinen fünf Kindern Winterstrümpfe gestrickt.«

Der schon sehr verärgerte Dr. Friedlieb fuhr auf.

»Meine Schwester, die is – die is – o Hartmann, wenn sie nich meine Schwester wär', würd' ich sagen, sie is 'ne Gans. Eine Riesen-Patent-Ausstellungs-Fettgans! Strümpfe strickt sie! Für Winkler-Maurers Kinder! Damit nur ja dem Kerl die Sorge für seine Familie ganz abgenommen wird, damit er den letzten Heller für Ihren Giftfusel übrig hat. Herrgott ja, die Jettel! Die Frauenzimmer haben ja alle keinen Verstand, aber gar die Jettel – von Verstand, Einsicht, nich die Spur! Ihre Lieblingskatze füttern, die ›Christliche Jungfrau‹ lesen und für die Winklerkinder Strümpfe stricken, das is so ihr Fall, das is so ihr ganzes Menschentum.«

»Sie meint's eben gut, Herr Dokter, mit ihren Almosen.«

»Gut? Almosen sind Mumpitz, mein Lieber! Das müßten Sie doch endlich einsehen. Sind ein ganz elendes Flickwerk! Was ist denn einer Familie damit gedient, daß sie neue Strümpfe bekommt? Bleibt sie nich auch mit neuen Strümpfen im Elend? Nee, mein Bester, Almosen sind 'ne faule Ausrede, sind 'ne Gewissensbeschwichtigung, sind 'ne Bemogelei unserer selbst. Gesunde Lebensbedingungen schaffen, Verhältnisse gestalten, daß niemand 'n Almosen nötig hat, das is das Richtige! Zum Beispiel in diesem Falle dem Manne das Saufen abgewöhnen.«

»Das hat aber eben seine gewissen Schwierigkeiten!«

»Stimmt! Aber das Schwierige allein lohnt sich zu tun. Na sehn Se mal, Strümpfe stricken kann jedes, das is keine soziale Fürsorge. Und was unser Landrat tut, Verfügungen erlassen und uff sozialen Kongressen lange Reden halten, oder blecherne Zeitungsartikel loslassen, das steht noch unterm Strümpfestricken. Das erfüllt keinen andern Zweck, als daß der Landrat endlich mal 'n Adlerorden vierter kriegt. Nee, Hartmann, jeder muß selber eingreifen, jeder in seinem Kreise. Aber nich immer ausflicken, zukleistern oder gar andern die Faulheit und Liederlichkeit stärken, Wege zeigen, Fundamente bauen. Bring'« Se mir jetzt 'n Gilka!«

»Mir scheint, es is Musik im Dorfe«, warf Lore dazwischen.

Dr. Friedlieb wandte sich um: »Ach, Lore, Sie sind auch da? 'n Abend! Hab' Sie gar nich gesehn. Musik meinen Sie? Warten Sie mal! Ich hör' nischt. Seit ich die verfluchten Polypen im Ohre hab' –«

»Ja, ich hör's auch,« meinte Hartmann, »das werd'n Bettelmusikanten sein.«

»Lore! Lore! Lore! Es sind Bettelmusikanten im Dorfe«, schrie Berthold Hartmann draußen im Hofe und trabte nach der Straße.

Im gleichen Augenblicke öffnete sich die Stubentüre und Christel Hartmann, ein etwa vierundzwanzigjähriges Mädchen, trat kurz ein: »Vater, es scheinen Bettelmusikanten zu kommen.«

Gleich darauf erschien durch eine zweite Tür Frau Hartmann.

»Mach' endlich, daß du fertig wirst, Lore, 's scheinen Bettelmusikanten zu kommen.«

»Ach nee!« sagte Dr. Friedlieb, »das is unser Neuestes.«

Zum Überfluß kam Gottlieb, der alte Großknecht, aufgeregt herein und wollte etwas vermelden, aber Dr. Friedlieb schnitt ihm die Rede ab:

»Schweigen Sie, Gottlieb, man sieht's Ihnen an. Ihnen scheint, es kommen Bettelmusikanten.«

Zweites Kapitel

Es war Abend geworden. Um einen schweren Tisch, über dem eine mächtige Petroleumlampe brannte, saßen vier fremde Musikanten: ein großer Mann mit grauem Bart und dem unverkennbaren Ausdruck des ehemaligen Soldaten, zwei Kriegsdenkmünzen auf der Brust, ein zweiter, von langer dünner Figur, dann ein brauner schwarzgelockter und endlich ein fünfundzwanzigjähriger Mann mit einem blassen, hübschen, fast weiblich weichen Gesicht.

Eine große eiserne Pfanne mit dampfenden Bratkartoffeln und eine Riesenschüssel mit abgerahmter Milch standen auf dem Tisch. Aus diesen zwei Gefäßen löffelten die hungrigen Fremden ihr Nachtmahl. Der alte Gottlieb Peuker aß mit ihnen.

»Also Sie sind Großknecht hier?« fragte ihn der Kriegsmann.

Gottlieb lachte.

»Grußknecht und noch vieles andre. Zum Beispiel Nachtwächter. Wenn Sie bis um zehne munter bleiben, könn'n Se mich uff meiner Pfeife musezieren hör'n. Eins, zwei, drei – bis zehne!«

»Na, hör'n Se mal, wenn Se bei Tage Großknecht sind und in der Nacht Nachtwächter, wann schlafen Se denn da?«

Gottlieb lächelte pfiffig.

»Ja, das hat noch keener rausgekriegt. Aber ich schlaf'! Dadruff verlassen Se sich! Ja, sehn Se, das sind aber noch lange nich alle meine Posten. Ich bin beispielsweise ooch Totengräber.«

»O misericordia!« sagte der Schwarze.

»Was spricht der?« fragte Gottlieb verwundert, »das is wohl a Böhmake?«

»Nee, mein Lieber,« sagte der Große geringschätzig, »da haben Se eben gar keenen Sprachverstand nich; das is 'n Italiener: Signor Maestro Potello da Milano. Ja gelt, da gucken Se aber? Sie müssen nich denken, daß wir so 'ne ganz gewöhnliche Kapelle sind. Ich z. B. heiß Steiner, bin Unteroffizier gewest, hab' Königgrätz und Paris mitgemacht, und sehn Sie sich amal unsern Waldhornisten an, der war bei der Husarenkapelle, der is der, der immer bei a Konzerten een Ton fünf Minuten lang aushält, ohne Atem zu holen. Sie könn'n sich freu'n, daß Se uns für a nächsten Sonntag engagiert haben. Wir werden Ihn'n eine pickfeine Kirmsmusik machen.«

»Das freit mich wirklich,« sagte Gottlieb höflich, »denn sehn Se, ich bin nämlich ooch Tanzmeester.«

Sämtliche Musikanten lachten laut auf.

»Siebzig Jahr is a,« sagte Steiner, »Großknecht is a, Nachtwächter is a, Totengräber is a und Tanzmeester is a. Totengräber und Tanzmeester, das reimt sich ja so grandios zusamm'n!«

»Reimt sich ganz gutt, Herr Unteroffizier,« sagte Gottlieb milde, »das hat sugar was Tröstliches an sich. Sehn Se, die Teichauer sind lustige Leute. Wenn nu aber eener gesturben is und im Sarge uff a Kirchhof getragen wird, und a sieht so, wie die ganze Gemeinde zwee und zwee hinter ihm hergeht, und vurneweg sieht a 'n alten Tanzmeester gehn, und a hört die Musike blasen, na, da denkt a sich halt, 's is eegentlich gar nich su schlimm, daß ich begraben werd', 's bluß so 'ne Art Polonaise.«

»A spricht wie a Buch«, sagte der Lange, Dünne anerkennend.

»Gerade so wie der Hellmich,« sagte Steiner, »der Hellmich macht ooch immer solche Gleichnisse.«

»Heeßen Sie – heeßen Sie Hellmich?« fragte Gottlieb überrascht, ja betroffen und sah den jungen Waldhornisten an.

»Hellmich, ja – wundert Sie das so?«

»Och nee – nee – 's gibt ja viele Hellmiche, 's is a recht verbreiteter Name.«–––

»Na, jetzt kommen Se mal mit rein, Hartmann, jetzt woll'n wir uns mal die Kunden kaufen; jetzt werden se wohl fertig sein mit 'm Essen.«

Dr. Friedlieb, der bisher im Honoratiorenstübchen nebenan gesessen hatte, erschien mit Hartmann im Gastzimmer. Er stellte sich an den Tisch, setzte eine bedrohliche Miene auf und musterte mit funkelnden Blicken die Fremden. »Ihr also seid die Musikanten?« fragte er barsch. Keiner antwortete.

»Ob ihr die Musikanten seid, will ich wissen?« Da drehte sich Steiner würdevoll um und sagte in vornehmem Tonfall und nicht ohne Ironie:

»Mein Herr, wir heißen nicht Ihr, wir heißen Sie! Denn wir sind Künstler.«

»Bummler seid ihr!« schrie Dr. Friedlieb. »Fechtbrüder, Landstreicher! Und ich – ich bin der Amtsvorsteher! Verstanden?«

Da erhob sich Steiner.

»Herr Amtsvorsteher, wir haben ein'n Gewerbeschein! Den hab' ich, denn ich bin der Kapellmeister.« Er brachte eine alte Brieftasche hervor, der er den Gewerbeschein entnahm.

»Hier, Herr Amtsvorsteher! Es ist bei uns alles in Ordnung. Außerdem heiße ich Steiner, bin Unteroffizier und hab' Königgrätz und Paris mitgemacht. Mein Instrument is Tuba.«

Sprach's, setzte sich und löffelte wieder seine Milch.

Dr. Friedlieb war verblüfft.

»Is das ein kniffliger Kerl!« sagte er mit schlecht verhohlener Anerkennung. »Nu hör'n Sie mal, Tubamann, Sie gehn recht fein um mit der weltlichen Obrigkeit.«

»Wir haben ein'n Gewerbeschein, wir sind ehrliche Künstler, wir zahlen unsre Steuer, und deshalb lassen wir uns nicht ihrzen«, sagte Steiner grob.

»So?« sagte Dr. Friedlieb und schob sich einen Stuhl an den Tisch. »Na, ich kann ja auch Sie sagen. Sie Stromer!«

Steiner machte ein empörtes Gesicht.

»Herr Amtsvorsteher, Sie dürfen uns nicht beleidigen, wir haben nichts verbrochen.«

Friedlieb starrte ihn an, Hartmann brummte etwas dazwischen; schließlich sagte der Doktor im Tone der Überraschung:

»Tja – tatsächlich – hätt' ich nich geglaubt – der Kerl hat Ehrgefühl!«

Es entstand eine Pause, in der der Doktor die Musikanten scharf musterte; schließlich fragte er: »Also hör'n Sie mal, Sie feinfühliger Kapellmeister, ich muß Sie mal was fragen! Was waren Sie denn früher? Sie müssen doch mal irgendwelchen anständigen Beruf gehabt haben. 's geht doch nich, daß einer zu weiter nischt auf die Welt kommt, wie Königgrätz und Paris mitzumachen und hinterher Tuba zu blasen und Amtsvorstehern kiefig zu kommen.«

»Früher war ich herrschaftlicher Kutscher«, sagte Steiner mit Stolz.

Friedlieb zog eine Grimasse.

»Herrschaftlicher Kutscher is nischt Reelles! Das is so'n windiger, aufgeblasener Heidiposten. Da wundert mich's nich, daß Sie da so nach und nach – Kapellmeister geworden sind. Und der Lange, Dünne, was war der früher?«

»Ich war Bäcker,« antwortete der Angeredete, »und ich heiße Schulze.«

Dr. Friedlieb stand erfreut auf.

»Bäcker waren Sie? – Bäcker? Und Schulze heißen Sie? Das is anständig! Beides! Bäcker is was Großartiges! Das Nützlichste auf der Welt is der Bauer, und die Fortsetzung, die Vollendung, sozusagen das Komplement zum Bauer is der Bäcker. Verstehen Sie das, Schulze? Verstehen Sie aber auch, daß es Sünde und Schande von Ihnen is, mit einem so schönen Namen und so nahrhaften Handwerk als Landstreicher in der Welt rumzututen?«

»Herr Amtsvorsteher, wir müssen bitten – –«

»Halten Sie das Maul, Sie oller Königgrätzer! Jetz red' ich endlich amal. Bäcker! Schulze! Das geht nich länger so! Das muß anders werden mit Ihnen! Sie müssen die Bummelei aufstecken! In die Backstube rein! Arbeiten! Brot schaffen! 'n ehrlicher, seßhafter Kerl sein! Jawohl seßhaft! Da liegt der Hund begraben! Nomadenleben taugt nischt, und die zigeunerische Künstlerei hol der Deiwel! Nomadenleben is unmoralisch! Sehn Sie, Schulze, Sie haben Glück! Tuten da so in Ihrem Dusel in eine anständige schlesische Gemeinde rein und treffen da 'n Mann, der.. na ja, der's gut mit Ihn'n meint. Was macht der? Er amüsiert sich nich etwa über Ihre Tanzstückel, a schenkt Ihn'n nich etwa zehn Pfennige, a strickt Ihn'n nich etwa Strümpfe, a erlaßt nich etwa 'ne Verordnung über Sie und kriegt dafür 'n Adlerorden vierter, nee – a kriegt Sie moralisch am Kragen und steckt Sie in die Backstube. A hat die ganze Zeit, wo Sie hier bei gedeckter Tafel geschlampampt haben, nebenan in der ungemütlichen Bude gesessen und sich gesagt, daß er als vernünftiger Mensch und Amtsvorsteher Bettelmusikanten nicht dulden darf. Mein lieber Schulze! Uns fehlt 'n Bäcker. Wir haben sechzehnhundert Seelen im Dorfe, die alle Brot und Semmeln brauchen. Was meinen Sie, was das für'n Geschäft wär'! Sie müssen sich bei uns etablieren. Jawohl, Sie müssen sich etablieren.«

Schulze lächelte wehmütig.

»Herr Amtsvorsteher, dazu hab' ich keen Geld.«

»Ach was, Geld! Geld findet sich schon! Für den Anfang würd' ich Ihn'n was besorgen. Natürlich nur, wenn Sie 'n anständiger, arbeitsamer Kerl sein wollen.«

Schulze besann sich ein bißchen, dann sagte er langsam: »`n anständiger Kerl bin ich! Aber ich kann meine Kollegen nich im Stiche lassen.«

»Nee, das kann a nich,« fuhr Steiner dazwischen, »da könnte jeder komm'n!«

»Quatscht mir nich – quatscht mir nich dieser durchgegangene, umgeschmissene, verunglückte Kutscher wieder dazwischen? Warten Sie doch, Mensch, bis Sie drankommen! Sie sehen doch, daß jetzt ich die Leine in Händen hab'. Bäcker! Schulze! Sie sehen, ich mein's gut! Ich tu meine soziale Fürsorgepflicht, weiter nischt. Ich will nich so'n oller Duselmichel und Phrasenhengst sein wie se alle sind. Es ist mein Prinzip, daß ich immer, wenn ich irgendwo 'n Karren im Dreck sitzen seh', mich nich hinstelle und dem Karren 'ne schöne Rede halte, nee, daß ich 'n rausschieben helfe. Ich möcht' Ihn'n gerne helfen. Wie wird's Ihn'n denn allen vieren gehn, wenn jetzt der Winter kommt? 's kommt diesmal 'n sehr strenger Winter. Gestern hab' ich einem Mäuseloche nachgegraben. Tief, sehr tief, und das bedeutet immer 'n strengen Winter. Sehn Se, die Mäuse sind schlau, die sehn sich vor. Aber Sie? Sie werden mit zerrissenen Stiefeln im Schnee- und Eiswasser rumpatschen, in einem erbärmlichen dünnen Anzug den ganzen Tag in Wind und Wetter auf der Straße leben, wandern, immer wandern von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, ungemütliche, geizige Leute finden, kaum was Warmes essen und nachts in einem kalten Stalle schlafen. Das alles hab' ich mir jetzt da drin überlegt. Und wenn ich Sie aus diesem Leben rausreiß', das is doch vernünftig! Oder meinen Sie nich, Sie umgekippter Kapellkutscher?«

Steiner war ob dieser Rede mit einem Male sehr gerührt. Er bekam einen roten Kopf und schlug die Augen nieder. »Ja, hungern – hungern und frieren werden wir schon – das is schon richtig – und das Reißen hab' ich auch schon wieder.«

»Das Reißen hat a! Wird 'n Wunder sein! Bei dem Leben! Komm'n Sie morgen mal zu mir, ich werd' Sie mal untersuchen. Ich bin nämlich von Hauptberuf nich Amtsvorsteher, sondern Arzt.«

»O mio dio! Io sono anche molto malato!« Dr. Friedlieb starrte den Schwarzgelockten an.«Was? – Wie? – Wieso?! – Was sagen Sie? Sie sind wohl nich von hier?« »Che ha detto?«

Steiner gewann seine Haltung wieder und nahm eine überlegene Miene an.

»Das is nämlich een Italiener, Herr Doktor! Der spricht italienisch. Und er heißt Signor Maestro Fernando Potello da Milano.«

Dr. Friedlieb geriet in einen Zustand der Verblüfftheit. Aber er schüttelte ihn bald ab.

»Italiener? – Echter Italiener? – Nee, ich gloobe, das is Schwindel. Wir haben drinnen in der Stadt 'n Kaufmann, der will 'n Englander sein. ›How do you do?‹ kann er sagen und ›what is the matter?‹ Der Kerl is nämlich 'n paar Jahre in London und in Hamburg Kommis gewesen. Dort hat a sich so 'n paar Phrasen angelernt, und nu tut a, als ob er keen Wort Deutsch mehr verstünd'! Dabei stammt das Schaf aus Ratibor. Aus unserm schlesischen Ratibor, wo der Schnupftabak herkommt. Nee, nee, echte Ausländer sind selten. Wenn's hoch kommt, ist der Schwarze aus Breslau.«

»Nee, aus Zwickau in Sachsen is a«, verschnappte sich Schulze, der Bäcker, was ihm einen strafenden Blick Steiners, seines Chefs, eintrug, weshalb er gleich verbessernd hinzusetzte: »Aber a hat sehr lange in Italien gearbeit', a is nämlich Bildhauer.«

Dr. Friedlieb grunzte vor Vergnügen.

»Aus Zwickau is a! Ach herrjemersch! A sächsischer Italiener! Hab' mir doch gleich sowas gedacht. Da sitzt nu der Held von Königgrätz! Blamiert! Aber Ihnen, Sie verschwindelter Italiano, Ihn'n werd' ich auch 'ne Stelle besorgen. Drin in der Stadt, 'ne halbe Stunde von hier, is 'n Bildhauer, der sehr hübsche preiswerte Denkmäler macht. Ich hab' öfter mal in meiner ärztlichen Praxis Gelegenheit, ihn zu empfehlen. Da kann a mir jetzt auch mal 'n Gefallen tun und Sie anstellen.«

»N ganz richt'ger Pildhauer bin ich Se nämlich eegentlich gar nich«, sagte der Italiener verlegen.

»Was? Erst is a keen richt'ger Italiener und jetzt is a ooch nich amal a richt'ger Bildhauer? Das ist frech! Was is er denn da eigentlich?«

»Goofmann, Herr Amtsvorsteher! Goofmann! Ich hab' nämlich immer so mit Kipsfikürchen gehandelt. Und in Idalchen bin ich Se wirklich gewäst.«

Dr. Friedlieb schlug die Hände zusammen.

»Goofmann is der Kerl! Goofmann in Kipsfikürchen! Und wie heißen Sie? Das mit dem Signor Potello, das is doch erst recht Schwindel.«

»Nu, uff deitsch heeß ich Se eegentlich Bohl. Bohl mit 'n harten B! Ja, so heeß ich Se aber werklich!«

»Also Pohl! Und is Kaufmann! Das heißt, eigentlich bloß so 'n Rumträger! So 'n Gips-Nauke! Ja, aber egal, ich werd' Sie unterbringen. Der englische Kaufmann muß Sie nehmen. Der wird der einzige sein, der so verrückt ist, das zu tun. Denn er macht in Sensation, und eine Sensation sind Sie, Pohl!«

»O grazie mille! Grazie, signore! Sono un Italiano perfetto e sero un buono mercante!«

»Quatschen Sie nich, Pohl! Die Sache mit Ihnen ist abgemacht! Nu aber Sie, Steiner! Sie sind 'n Angstkind. Was mach' ich mit Ihnen? Krieg anzetteln und Sie nach Königgrätz schicken, kann ich nich, 'n herrschaftlichen Kutscher brauch' ich nich, und nich amal als Schwindelmeier sind Sie zu gebrauchen. Vorläufig werde ich Sie mal in meiner eigenen Wirtschaft als Faktotum anstellen.«

»Herr Amtsvorsteher, ich muß sehr bitten, ich bin kein Faktotum«, sagte Steiner beleidigt.

»Nee, aber 'n dummes Luder sind Sie! Mensch, seien Sie doch froh, wenn ich Sie nehme. Sie glauben wohl, das is so leicht? Nee, mein Lieber, da is noch meine Schwester und Mitbesitzerin Jettel, bei der ich Sie erst sozusagen durchsetzen muß, denn die wird nischt davon wissen wollen. Wird Ihn'n höchstens 'n Paar Strümpfe stricken und 'n Kapitel aus der »Christlichen Jungfrau« vorlesen. Na, davon würden Sie nich viel haben. Aber ich setze Sie durch! Sie bleiben bis auf weiteres bei mir. Basta!« – Während der Verhandlungen des Dr. Friedlieb mit den Musikanten hatte Christel Hartmann den Tisch abgeräumt und sich dann zu ihrem Vater und dem alten Gottlieb Peuker gesetzt, die sich ein Lauscherplätzchen auf der Bank gesucht hatten, die rund um den großen Kachelofen lief. Christel Hartmann war ein schlankes Mädchen mit etwas blassem Gesicht. Zwei große, tiefleuchtende Augen machten sie schön. Nun lag ein Lächeln um ihren schmalen Mund, als sie Dr. Friedlieb sich so um das Wohl der Musikanten bemühen sah. Ihr Vater stieß sie oft in die Seite. Er amüsierte sich über den Doktor. Und selbst Gottlieb vergaß auf das Stündchen Schlaf, das er sich sonst gönnte, ehe er auf die Wache zog und schmunzelte immerzu.

Dr. Friedlieb rieb sich die Hände.

»Also drei hätten wir untergebracht! Oho, Herr Landrat, man kann's auch so machen! Rumschnauzen, Einsperren und dann mal offiziell volksfreundlich sein, das macht das Kraut nicht fett. Aber – aber der Vierte! Also, hör'n Sie, junger Mann, jetzt kommen Sie dran. Was sind Sie denn?«

Der junge Waldhornist lächelte melancholisch. »Ich, Herr Amtsvorsteher? Ich bin ein Pechvogel.«

»'n Pechvogel? So! – Ja, das is nich gerade viel, was Sie da sind. Da muß ich mal weiter fragen. Was waren Sie denn früher, eh' Sie 'n Pechvogel wurden?«

»Ich bin schon als Pechvogel auf die Welt gekommen.«

»Haben Sie gehört, Hartmann? Als Pechvogel auf die Welt gekommen! Verrückte Kerls, diese Musikanten! Und gerade der Jüngste und der, der am anständigsten aussieht! Das ist ja int´ressant! Also erzählen Sie mal: wieso und warum als Pechvogel auf die Welt gekommen?«

»Herr Amtsvorsteher, das werd' ich wohl doch nicht so vor allen Leuten sagen. Das ist gar keine lustige Sache.«

»Lustige Sache! Was heißt lustige Sache! Glauben Sie, ich bin überhaupt für lustige Sachen? Sie denken wohl, ich mach' Ihnen hier 'n Theater vor? Nee, ich nehm' die Sachen sehr ernst. Überhaupt Ihre! Also sehn Sie mal, lieber Freund, warum woll'n Sie denn hinterm Berge halten? Wir sind ja unter uns; vor den drei lumpigen Personen auf der Ofenbanke und vor mir brauchen Sie sich doch nicht genieren. Und sonst sind doch bloß Ihre Freunde da.«

»Herr Amtsvorsteher, es is da wirklich mit meinen Erlebnissen nich viel Staat zu machen. Eh' ich hier zur Kapelle kam, hatte ich vom Militär aus vier Jahre Festung.« Dr. Friedlieb drehte sich mit einem Ruck um seine Achse.

»Vier – vier – Jahre sagen Sie? Na erlauben Sie mal, da müssen Sie ja was Schönes ausgefressen haben.«

»Ja, ich hab' ein'n Unteroffizier mit 'm Seitengewehr gestochen.«

»Mensch! Tot – totgestochen?«

»Nee – tot nich! A war bald wieder munter.«

»Aber Sie sind wohl – Sie sind wohl des Deiwels? Warum machen Sie denn solche Zicken?«

Das Gesicht des Waldhornisten wurde finster.

»A hatte öffentlich – was – was Unverschämtes über meine Mutter gesagt.

»Über die Mutter – ach! So ein – so ein Lump! Na ja, aber Stechen – Stechen is auf alle Fälle gegen's Gesetz. Haben Sie denn die ganzen vier Jahre absitzen müssen, Sie armer Kerl?«

»Nein, das letzte hat mir der Kaiser geschenkt.«

»So! – Aber doch drei Jahre! Drei lange Jahre! Und dann direktement zu den Bettelmusikanten? Was waren Sie denn, ehe Sie zum Militär gingen?«

»Landwirt. Aber meine Leute wollten nichts mehr von mir wissen, als ich von der Festung kam.«

»Da hatten also Ihre Eltern 'ne Bauernwirtschaft?«

Ein schwerer Schatten legte sich über das Gesicht des jungen Mannes. Er kämpfte offensichtlich, ob er weitere Auskunft geben sollte. Dann raffte er sich auf.

»Ich hab' gar keine Eltern. Ich war bloß a angenommenes Kind. A Findling! Aus Gnade und Barmherzigkeit angenommen und bei der ersten Gelegenheit wieder rausgeworfen.«

»Kannten Sie denn Ihre richtigen Eltern nicht?«

»Nein! Von meinem Vater weiß ich nichts. Meine Mutter is gestorben – als ich – als ich auf die Welt kam. Bei einem – einem Weizenfelde haben Bauersleute – die Mutter tot gefunden – und mich – den Neugeborenen – auch gerade – gerade am Absterben.«

Totenstill war's in der Wirtsstube. Nur der Nachtwind klopfte leise ans Fenster, und die Lampe flackerte einmal auf. Träg ging die Uhr.

Dr. Friedlieb schluckte ein paarmal und wurde feuerrot. »Ja – sehn Sie – wenn ich sowas – sowas geahnt hätte, da hätte ich Sie nich gefragt. Wahrhaftig nich! Seien Sie nich böse auf mich!«

Vom Ofen her klang schweres Atmen.

Der Waldhornist hob den Kopf.

»Ach, Herr Amtsvorsteher, ich seh' schon, daß Sie ein guter Herr sind, sonst hätt' ich's ja nicht erzählt. Und dann – ich hab' mir von meiner Kindheit an soviel anhören müssen, da wird einem das bissel Ehrgefühl abgehärtet. Bloß damals, als es der Unteroffizier so roh ins Bierlokal reinbrüllte, da hab' ich mich vergessen.«

Dr. Friedlieb reichte dem Waldhornisten die Hand.

»Sie! – Ich bin 'n königlich preußischer Beamter, aber den – den hätt' ich auch – na ja, ich will Sie nich aufhetzen. Aber daß Sie mir's erzählt haben, daß Sie Vertrauen zu mir hatten, das soll Sie nich reuen. Donnerwetter, müßte unsereiner 'n Mistfink sein, wenn man sich da nich drum kümmerte. Wenn man so 'ne Sache nich wieder einzurenken versuchte. Der Deiwel hol alle woll'nen Strümpfe!«

Ganz mild und freundlich wandte er sich wieder an den jungen Musikanten.

»Also Landwirt? Verstehen Sie die Bauernwirtschaft ordentlich?«

»O ja! Ich bin ja dabei aufgewachsen.«

»So! Na sehn Sie, das is 'n Lichtblick! Landwirt is das beste, was Sie sein können. Is was ganz anderes wie Kutscher oder Gipszigeuner, is noch mehr wie Bäcker. Ich freu' mich, lieber Freund, ich freu' mich, daß Sie Landwirt sind. Ja, Hartmann, da kommt mir 'n guter Gedanke. Ihr Berthold wird doch jetzt zu 'n Achtunddreißigern eingezogen. Sehn Sie mal an, da hätten Sie an dem jungen Manne gleich 'n seinen Ersatzmann für Ihre Wirtschaft.«

Hartmanns Gesicht verfinsterte sich.

»Wie? – Wieso? – Ersatzmann?– Ich? – Nee, das geht nich! Na, sehn Sie mal, Herr Dokter, nehmen Sie mir das nich übel, aber erstens, der –-der dort, der is doch ganz raus aus der Arbeit – und dann vier Jahre – und dann hauptsächlich, im Winter brauch' ich niemanden-«

»Der Herr Doktor hat ganz recht!« sagte nun Christel Hartmann eifrig, »wenn der Berthold fort ist, brauchen wir jemanden; der Gottlieb is schon alt –«

»Nu, das möcht' ich meenen, daß ich alt bin und daß wir jemanden brauchen«, sagte Gottlieb Peuker. »Alleine mach' ich's nich mehr.« Er atmete schwer.

»Aber 's geht nich«, wehrte sich Hartmann. »Und dann, was würde auch meine Frau –«

»Herr Doktor, bemüh'n Sie sich nur nicht meinetwegen«, sagte der Waldhornist dazwischen. »Der Herr Gastwirt braucht mich nicht, und wenn man nicht gern genommen wird, ist's besser –«

»Aber, verehrter Herr Doktor, Sie werden einsehen –«

»Ich nies' auf Ihre Verehrung, Hartmann! Da hätt' ich Sie höher eintaxiert. »Meine Frau« – natürlich, wer sich vor der Frau fürchtet! – Aber Sie, junger Freund, lassen Sie nich 'n Kopf hängen. Ich bring' Sie schon unter. Sie bring' ich ganz bestimmt unter. Sie zuerst! 's gibt 'ne ganze Menge anständige und gefällige Leute hier in der Gemeinde. Jawohl, Hartmann, immer husten Sie! Meinetwegen könn'n Sie 'n Keuchhusten kriegen, 's wird auch ohne Sie gehen. Morgen sprechen wir über Ihre Sache, junger Mann. Wie heißen Sie denn?«

»Winter, das heißt, eigentlich heiß' ich Hellmich – Robert Hellmich.«

»Hell – – Hellmich?«

Hartmann, der Gastwirt, war rasch herangetreten und starrte dem Musikanten ins Gesicht. Dabei verfärbte er sich, fing an zu zittern und wich schrittweise zurück. Er bot das Bild jähen Schreckens.

»Hellmich!« wiederholte er stammelnd.

Es sahen ihn alle verwundert an. Da trat Gottlieb, der alte Knecht, zu ihm. Der versuchte zu lachen.

»Was sull er nich Hellmich heißen? Es gibt tausend Hellmiche. Aber ich hab' dir was vergessen zu sagen, Hartmann, das fällt mir jetzt eben ein. Unser Schimmel scheint nämlich wieder die Kolik zu kriegen. Wir möchten bald amal nach dem Pferde sehen. Ja, es is nötig!«

Hartmann faßte sich gewaltsam.

»Der Schimmel – ah! Ja, natürlich, warum sollten Sie nich Hellmich heißen! Ich bin ja ganz konfuse, weil mir der Herr Doktor – der Herr Doktor das so übel nimmt. Na, Gottlieb, gehn wir zum Schimmel! Gehn wir! Natürlich – natürlich, es gibt viel Hellmiche.«

Und er ging mit dem Knecht hinaus.

»Was hatte das zu bedeuten?« sagte Dr. Friedlieb verwundert. Sie zuckten alle die Achseln. Nur Christels sonst so bleiches Gesicht war blutrot.