Die alte Krone
Die Spree ist ein Heidekind. Ihre Jugend ist arm und ohne
Wagemut, ihre Kraft gering und ihre Lustigkeit schüchtern.
Frühzeitig – als halberwachsen Ding – muß sie in Dienst nach der
anspruchsvollsten Stadt der Welt, nach Berlin, wo man ihr, einer
jungen, billigen, schmucklosen Dienerin, auf die schwachen
Schultern viel Last und Qual ladet.Aber auch sie hat eine grüne Heimat und eine grüne Jugend.
Gar nicht fern von dem schreienden, lachenden, gellenden Berlin
wohnt die große Stille in hohen Föhrenwäldern, ist eine andere
Welt, wohnt ein anderes Volk, ist eine andere Zeit. Gar nicht fern
von dem prangenden Reichtum der glänzenden Weltstadt ziehen arme
Sandwege durchs Land, stehen hohe Farnkräuter an alten Ziehbrunnen;
nur wenige Stunden von dem Mittelpunkt kaltherziger Weisheit,
heißblütiger Genußsucht sieht das Volk auf den Blättern der Pflanze
cerweny drest die Blutstropfen Christi glänzen, saugen die Kinder
süßen Saft aus weißen Birkenstämmen, legen die Leute das
Freundschaftskraut »kokoski« unters verwitterte Strohdach, um am
grünenden oder welkenden Kräutlein zu erkennen, ob das ferne liebe
Leben eines Freundes noch frisch und grün oder im Tode verblichen
sei.Das ist das Land, wo ein kecker Hase, der ins Dorf kommt, den
Leuten ein Feuer verkündet, wo man neun Sünden verziehen bekommt,
wenn man eine Maulwurfsgrille tötet, wo der Mann sich eine
krabbelnde Fledermaus unter die Mütze steckt, um im Spiele Glück zu
haben, wo das Mädchen dem jungen Burschen, dessen Liebe sie
gewinnen will, einen Apfel zu essen gibt, den sie eine ganze Nacht
lang in der Schulterhöhle getragen hat.Das ist das Land Wendei. Keine rote oder blaue Grenzlinie
kennzeichnet das Wendenland auf einem Kartenbild; jahrhundertelang
war es ein Spielball der Brandenburger, Sachsen und Böhmen, und
auch heut noch muß man von der sächsischen Stadt Bautzen die
böhmische Grenze entlang durch die schmale schlesische Lausitz bis
hin in den brandenburgischen Spreewald wandern, wenn man die Wendei
kennenlernen will.Ein anderes Volk als in Berlin, der deutschesten aller
deutschen Städte, die nur wenig Bahnstunden entfernt ist –
ureingesessene Slawen, die in grauer Vorzeit den ganzen Osten
unseres Vaterlandes bis an die Ostsee beherrschten, dann
zurückwichen Schritt um Schritt und die trotz jahrtausendelanger
Abhängigkeit, in die sie alsbald gerieten, sich ihre trotzige
Eigenart in Sprache und Sitte, in Kleidertracht, Häuserbau und
Gemeindeanlage bewahrt haben. Jetzt aber ist Wendenland eine
kleine, zerbröckelnde Slaweninsel im brausenden deutschen Meere,
das an seiner Küste zehrt, seine geistigen Springfluten über das
Land gießt und es bald bis zum letzten Brocken aufgezehrt haben
wird.Sorben, oder – wie sie die Deutschen nennen – Wenden. Eines
von den Völkern, die jahrtausendelang bestehen, ohne eine
Geschichte zu haben, die alt werden, ohne je jung gewesen zu sein,
Blutsverwandte der Tschechen und Schicksalsverwandte der
südslawischen Stämme der Slowenen und Kroaten, die auf den mageren
Ziegenweiden des felsigen Karstlandes ihre Jahrhunderte
verträumten.Kein Hoheslied, kein Heldenbuch, keine steinerne Tafel mit
unvergänglichen Gesetzen, keine Ruhmeshalle mit
Ewigkeitsphysiognomien großer Menschen und großer Geschehnisse
kennzeichnete den Weg, den diese Nationen durch die Geschichte
schritten. Ihre Spur verlief im Sand. Die Weltgeschichte vermerkt
ihre Namen nur in nebensächlichen Fußnoten. Einige Grenzplänkeleien
mit dem großen Karl, dem schlauen Heinrich, dem Markgrafen Gero,
den Meißener Bischöfen, den dänischen Herrschern, nicht viel mehr
von eigener Geschichte.Eine recht dürftige Historie. Geschickte, fleißige Forscher
und Sammler haben dagegen Mythen, Sagen, Märchen, Volkslieder,
Schnurren, Eigentümlichkeiten in Sitte und Brauch getreulich
niedergeschrieben, Dinge, die Zeugnis geben von dem Leben, das
einst im wendischen Völkerwald war. Schmaler, Andree, Schulenburg,
Veckenstedt, Tetzner und andere tüchtige Männer wurden unsere
Lehrer über das Wendentum. Aber es sind nur Einzelheiten,
Forschungsergebnisse, abgerissene Töne und Klänge, die sie
einfangen. Ein ganzes Bild haben sie nicht zusammengestimmt; selbst
die Sage vom König der Wenden liegt bei ihnen in Schutt und
Trümmern.Die deutschen Dichter sind an diesem einsamen Heide- und
Flußwald, an dieser geschichtlichen Trümmerburg vorbeigegangen. Die
Wenden selbst waren immer stille Leute. Kein politischer Alarmruf
ging von ihnen aus, kein kraftvoller Dichter erstand aus ihrer
Mitte. Ein tausendjähriges Volk sind die Wenden, ohne Geschichte,
ohne Literatur, ohne bildende Kunst, kleine Ansätze
abgerechnet.Wenn mich, den Schlesier, das Heidegeheimnis meiner Heimat
reizte, so lag das nahe. Ich bin mit ganzer Liebe an das Werk
gegangen, habe nach den Trümmerbildern, die ich fand, die Sage vom
Wendenkönig rekonstruiert und hoffe, daß mich das deutsche Herz
nirgends, wo zwischen Nationalitäten abzuwägen war, zu einer Sünde
ungerechter Parteilichkeit verführt hat.Kraft, geistige und körperliche Fruchtbarkeit,
Entwicklungsfähigkeit, Wollen zur Höhe, Schätze und Kräfte sonder
Zahl waren auch im Volke der Lausitzer Sorben. Die Kinder Gottes
sind alle zur Herrschaft berufen. Aber den Wenden fehlten die
Führer. Die Könige, die Führer, die Befreier kommen von selbst ihre
lichte Straße daher oder sie kommen nicht, mag das Volk auch
tausend Jahre am Boden knien und rufen: »Tauet Himmel den
Gerechten!«Gegen versagte Gnade, die im Weltplan begründet ist, hilft
kein Wollen, kein Beten, kein Toben. Der Führer kommt nicht, das
Volk verträumt seine Zeit, es altert und vergeht, ohne daß es jung
war. – –Heutigen Tags hat der Donner der Lokomotiven, das Sausen der
Automobile, die durch die Wendei rasen, die Lutchen und andere
Zwerggeisterlein, die Mittagsfrau und die Kobolde vertrieben; der
scharfe Wind geistiger Aufklärung, der schneidend über alles Land
fegt, hat die blauen Traumlichter romantischen Glaubens in den
Herzkammern der Wenden ausgelöscht; die Sucht nach Gold und Lust
hat das Heidevölklein aus seinen stillen Wald- und Wiesenwinkeln
herausgelockt ins breite allgemeine Gefild, in die große Stadt, wo
die jungen Burschen ihre Kraft, die jungen Mütter die Milch ihrer
Brust verkaufen; der moderne Fabrikbetrieb verlangt viele Kräfte;
die malerischen Volkstrachten mit ihrer soliden Pracht haben
vielfach schäbigem modischen Zeug aus billigen Bazaren Platz
gemacht; die wendische Sprache hört mehr und mehr auf: bald wird
die ganze Wendei nichts mehr sein als eine historische
Reminiszenz.Aber in der Zeit, von der dies Buch erzählen will, in den
Jahren 1860 bis 66, da war es doch noch ganz anders. Damals begann
die Zersetzung des Wendentums erst, die jetzt beinahe vollendet
ist.Rot glüht der Wald über die Heide. In den Wellen der stillen
Spree schwimmen die ersten gelben Weidenblätter wie lange, gelbe
Schifflein. Eine kleine Flotte, mit der der junge Herbst spielt.
Weiden den ganzen Fluß hinab, auch auf den Moorwiesen, die sich
lang im Abendsonnenschein dehnen. Torf schläft in der schlammigen,
quabbeligen Erde, saures Gras wächst darüber, und zahllose
Wollblumen wiegen leicht die Perückenköpfe. Hoch und ragend aber
steht der Föhrenwald. Das Auge blickt tief hinein; denn die Stämme
sind schlank, die Föhre duldet kein Unterholz. Wie ein Heer von
Kriegern stehen die Stämme und sind alle rot wie in blankes Kupfer
gepanzert.Und erst die Kronen! Wie Burgen türmen sie sich in der Luft;
das Abendsonnengold vermischt sich dem dunklen Grün, und die Burgen
haben alle Wände und Dächer von grünroter Patina
bedeckt.Alt, ehrwürdig, kostbar ist das alles.Kein Laut. Nur irgendein schwarzgefiederter Burgwart gibt
manchmal den Brüdern ein Signal, die draußen auf der Wiese noch
nach Beute suchen.Der erste Stern taucht auf.Da treibt der Gänsehirt seine schnatternde Herde
heim.Das zweite Sternlein erglimmt.Ein alter Wende blinzelt hinauf, erkennt sein Zeichen und
treibt zehn Schweinchen, die er aufs Feld geführt hatte, in den
Stall.Das dritte Sternlein schimmert im Osten.Da singt der Schafhirt zur Heimkehr.Ein vierter Stern ersteht leuchtend am Himmel.»Geht ein, Rote, Schwarze, geht ein!« ruft der Kuhhüter und
strebt nach dem Dorfe.Das fünfte Sternlein strahlt friedlich hernieder. Da hören
die Kinder auf zu spielen, schließen sich den Herden an und helfen
sie heimführen.Draußen, wo die stille Spree schläfrig zwischen den Weiden
rinnt und wo die alte Landstraße weit hinausführt – Gott weiß,
wohin! –, wird es nun ganz still, und wie der Mond aufsteigt,
findet er nichts Lebendes auf den weiten Wiesenplänen als ein paar
Birken, die die weißen schlanken Leiber biegen und die herrlichen
Lockenköpfe zu leisen Liedern zierlich bewegen. –Eine Wolke verhüllt das strahlende Himmelslicht, und dunkle
Schatten legen sich auf das Gelände und auf die alte Landstraße,
die weit hinausführt, Gott weiß, wohin.Da schleicht durch die Schatten der Waldbäume ein Gespenst.
Es hat einen brennenden Leib, greift mit zuckenden Armen irr in der
Luft herum, dehnt sich zur Höhe, kauert sich zu Boden, huscht zu
den Birken, verbirgt sich hinter den Weiden, schaut ins Wasser,
springt wieder über die Wiese und zittert plötzlich entsetzt empor,
als ein zweites brennendes Gespenst ihm nahe kommt.Da gibt es eine wilde Jagd weit über den Moorgrund. Das erste
Gespenst duckt sich zusammen, versteckt sich, wird aufgescheucht,
jagt davon, schlägt Zacken wie ein gehetztes Wild, springt zwischen
die Bäume, und das zweite setzt ihm nach, langt nach ihm mit
gierigen, flackernden Händen. – Horch! Ein Knarren kommt die
Landstraße daher. Ein Wagen wird sichtbar. Darin sitzen Menschen.
Ganz langsam geht das Pferd, fast unhörbar auf dem grasbewachsenen
Wege. Der Kutscher hebt seine Peitsche und weist nach den
brennenden Gespenstern.»Ty newetko pormorski!«»Fluche nicht, Lobo!« sagt die eine Frau, die im Wagen sitzt,
leise und ängstlich. »Gott schütze uns! Es sind Jakub und Merten.
Gott sei ihnen gnädig!«»Gott sei ihnen gnädig!« brummt auch der eingeschüchterte
Knecht.Da recken sich die Gespenster, langen noch einmal mit
brennenden Armen hinauf gen Himmel und verschwinden. Langsam
schleicht das Fuhrwerk weiter. Nun, da es eine Wegbiegung erreicht,
atmet die Frau auf und sagt zu der jüngeren Begleiterin, die neben
ihr sitzt, im Flüsterton: »Es waren Jakub und Merten. Jakub hat
seinen Vater Merten, der bei ihm im Auszug war, mit einem Strick
erdrosselt, weil er ihm zu lange lebte, und dann hat ihn der
Gewissensteufel geplagt, und da hat er sich mit demselben Strick
erhängt. Jetzt irren die armen Seelen über dem Moor. Hast du
gesehen, wie der Vater den Strick in der Hand hält und den Sohn
damit treibt?«Das Mädchen schmiegt sich fröstelnd an die Alte.»Ich fürchte mich«, sagt es leise.»Es ist unsere böse Gegend hier, Hanka«, fährt die Ältere
fort. »Um alles will ich hier nicht sein zur Abendzeit. Und wir
wären längst daheim, wenn sich Lobo, der Liederlich, nicht
betrunken hätte.«Der Kutscher hört die Anklage und brummt für sich. Langsam
schleicht das Gefährt dahin. Wer will in verrufener Gegend den
bösen Jäger wecken oder in rascher Fahrt dem Nachtfuhrmann
begegnen? Ist nicht selbst der himmlische Fuhrmann, dessen Wagen am
Firmament steht, auf zu rascher Fahrt an eine Mauer der Hölle
angefahren, so daß die hintere Achse aus dem Quadrat wich und sich
die Deichsel für alle Ewigkeit verbog?Langsam schleicht das Gefährt. Neue Wiesenflächen tauchen
auf. Die alte Bäuerin sagt furchtsam, beklommen: »Hanka, erschrick
nicht; aber ich muß es dir sagen: Hier ist noch eine böse Gegend;
hier wohnt die Todesgöttin Smjertniza. Gott schütze uns!«
…In einem Nebelschloß wohnt die Todesgöttin Smjertniza. Sie
ist immer in weißen Kleidern. Die Tür ihres Hauses ist zweifach
verriegelt, mit einer Menschenhand und mit einem Menschenfuß. Aber
ob sich auch die Menschen mit Hand und Fuß gegen die Tür ihres
Schlosses stemmen – wenn sie ihre Lichter entzündet, schiebt sie
die Riegel zur Seite und geht über die Felder bis zu den Dörfern.
Die Menschen sehen sie nicht. Die Tiere sehen sie. Aber der Mensch,
dem sie begegnet und den sie meint, stirbt nach drei Tagen
…Drüben liegt die Wiese mit dem dunklen Waldrand.»Schau geradeaus, Hanka! Geradeaus! Schau nicht
hinüber!«Lobo, der Kutscher, hält durch Zurufe die Pferde zu noch
langsamerem Gange an. Wie unter angstvollem Zauberbann schleicht
der Wagen dahin.Da schallt Hundegebell übers Feld. Die Frauen horchen
erschreckt auf.»Es ist Tyra, unser Hund!« sagt Lobo. »Ich kenne ihn an der
Stimme. Er hat sich losgerissen von der Kette.«Zwei Tiere jagen aus dem Busch am Wegrand, ein Reh, ein Hund
dahinter. Sie springen dicht vor dem Gefährt auf die Straße. Die
Pferde bäumen auf. Das Reh bleibt zitternd stehen. Der Hund steht,
keucht. Die Pferde stehen. Die alte Frau schreit gellend
auf:»Die Smjertniza, die Todesgöttin!«Drüben über der Wiese, weit drüben steht das Nebelschloß –
Lichter blitzen drin –, eine weiße Gestalt löst sich von dem
Schlosse los –»Die Smjertniza! Die Tiere – sehen – sie –«»Ty newetko pormorski!« flucht da der Knecht, schlägt auf die
Pferde wie rasend, die Pferde gehen durch, jagen die Straße
entlang, springen über einen Graben querfeldein auf ein Dorf zu
–Beim Eingang des Dorfes schlägt der Wagen um – zerbirst an
einem Prellstein – die Insassen fliegen heraus – Pferde reißen sich
los, jagen davon –Schreiende Leute kommen gelaufen. Sie richten Lobo, den
Knecht, und Hanka, das Mädchen, die wenig verletzt sind, auf und
tragen die Bäuerin, die am Sterben ist, nach ihrem
Gehöfte.Wie ein Herrensitz ist das Gehöft des Scholta[1]Hanzo. Hoch ragt das
schindelgedeckte Wohnhaus, das nach wendischer Art mit der schmalen
Giebelseite der Dorfstraße zugekehrt ist. Die Dorfstraße ist
ziemlich weit vom Hause entfernt. Eigener Zufuhrweg, Teich und
Anger liegen zwischen ihr und dem Gehöft; das wendische Angerdorf
ist breit und geräumig angelegt. Muster von Lindenblättern, mit
Sternen durchwirkt, schmücken den Giebel des Hauses, ein Kreuz
schaut ernst aus dem Blattgerank, und ein Spruch, der darunter
steht:»Durch Gott und eigene KraftHaben wir's geschafft«zeigt an: hier wohnen starke, selbstbewußte Menschen. Es ist
eines der wenigen Bauernhäuser der Wenden, die groß, geräumig und
von einem gewissen Luxus sind. Ein Mann hat es gebaut, der ein
Withas[2]werden wollte, der aber doch ein Bauer blieb. Eine hohe
Mauer, ein festes Tor schließen den Hof und den Vorgarten ab, der
steinerne Stall, die hölzerne Scheune ragen darüber empor. Der
Großgarten trennt das Gebäude vollends von jeder unmittelbaren
Nachbarschaft.Es ist spät. Um diese Stunde wacht sonst im Gehöft kein
Mensch mehr, es sei denn ein Wächter in unsicheren Zeiten, wenn
Brandleger in der Gegend auftauchen.Heute aber sitzen unter dem zweiten Hauptgebäude, das dem
Wohnhaus gegenüber liegt, in einem Laubengang zischelnde Leute,
Knechte und Mägde des Großbauern. Sie hocken auf niederen
Schemelchen oder kauern am Boden und schauen hinüber nach den
erleuchteten Fenstern.»Ich hab' schwarze Holzklötzer in der Spree schwimmen sehen«,
sagt ein Knecht.»Und ich hab' weiße Männer fahren sehen in einem Kahn«, sagt
eine Magd.»Es meldet sich immer an«, sagt ein drittes.Dann Stille.»Erzähl' es noch einmal, wie es war, Lobo!«»Es war ganz einfach«, sagt einer. »Lobo war
besoffen!«»Hognity kjandros« – fährt Lobo auf den Sprecher los. Aber
der wehrt ihn gemütlich ab.»Ich bin kee abgefaulter Baier, ich bin höchstens a
abgefaulter Schläsinger.«»Cerwiško! Aas!« fährt der Wende abermals auf und geht auf
den Deutschen zu.»Ruhe! Tormy gótuju. Die Wolken türmen sich!« mahnt ein alter
Wende. »Drüben liegt die sterbende Frau. Ruhe!«Ein Weilchen Stille.Dann: »Erzähl' es noch einmal, wie es war, Lobo!«Und Lobo erzählt von den Feuermännern, von dem Hund und dem
Reh, von der Todesgöttin Smjertniza.»Ich dachte, es wär' Tyra, unser Hund. Es hat mich aber
genarrt, es war nicht Tyra. Es war auch kein richtiges Reh. Es
waren Tiere von der bösen Meute.«»Gott schütze uns!«Tiefe Stille. In den niederen Wendenstirnen arbeiten die
Gedanken. Der Riesenarm des Ziehbrunnens streckt sich drohend zum
Himmel.Da flattert eine Gestalt über den Hof. Eine Magd ist es, die
aus dem Herrenhause kommt.»Wie geht es, Anna, wie geht es der Frau?«Die Magd macht eine klagende Gebärde. Dann sagt sie
flüsternd:»Wir wollen die Probe machen.«Sie zeigt ein Stück Speck.»Du hast ihr die Fußsohle damit gerieben?«Die Magd nickt.Da stehen alle wie auf ein heimliches Kommando auf, gehen auf
den Zehenspitzen und schleichen den Stall entlang bis zur
Hundehütte. Tyra fährt knurrend aus dem Schlafe, beruhigt sich
aber, als er die bekannten Gesichter sieht.Die Magd wirft ihm das Speckstück hin.»Zeig' es an, Tyra, zeig' es an! Friß!«Der Hund beschnuppert den Speck und läßt ihn
liegen.Da geht ein leiser Schreckensruf durch die kleine
Schar.»Er frißt ihn nicht! Die Frau muß sterben.«»Tyra ist krank!« wendet der deutsche Knecht ein. »Er frißt
schon zwei Tage lang nichts.«Sie sehen ihn zornig an und schleichen nach dem Laubengang
zurück.»Die Frau muß sterben!«»Sie ist erst fünfzig Jahre. Sie könnte noch viel arbeiten.
Sie muß noch lange nicht in den Auszug. Was stirbt sie
schon?«»Man sollte es ihren Söhnen nach Breslau
schreiben.«»Sie haben vielleicht jetzt keine Ferien.«»Ty bamlak! Braucht man Ferien, wenn die Mutter stirbt? Und
überhaupt, richtige Studenten haben immer Ferien.«»Der Großbauer will morgen früh einen Brief an die Söhne
schreiben.«»Ja, und indes vergehen die drei Tage, die ihr die Smjertniza
noch läßt, und die Söhne kommen zu spät.«»Wie Gott will!«Der eine Knecht entkorkt eine Branntweinflasche, nimmt einen
tiefen Schluck und reicht die Flasche weiter.»Wie Gott will!« sagt der letzte, als er getrunken
hat.»Und nun müssen wir alle neue weiße Trauerkleider
haben.«»Die kauft der Großbauer.«Als die Mägde von den neuen Kleidern hörten, mischte sich in
ihren jungen Herzen mit der Trauer um die Frau ein heimliches
Entzücken.»Grinst nicht so vergnügt, ihr eitlen Frauenzimmer«, fuhr der
alte Knecht Kito sie an. Er war sonst der lustigste Patron trotz
seines Alters; aber heute war er völlig gebrochen.»Erzähl' es noch einmal, Lobo, wie es war.«»Wir wissen es schon!«»Nein, wie es dort war, in dem Dorfe, von wo ihr
kamet.«»Es war gut. Es gab viel zu essen. Drei Tage sind wir dort
gewesen. Es gab reichlich zu essen; nur der Schnaps war etwas zu
wässerig. Es war kein Rum darin.«»Und dann fuhr das fremde Mädchen mit?«»Sie ist eine Verwandte vom Großbauern, freilich, das Wasser
von der siebenten Windel. Und sie heißt Hanka.«»Warum hat die Frau die Reise gemacht, zwei Tage mit dem
Wagen hin, drei Tage dort, zwei Tage mit dem Wagen zurück? Mit der
Eisenbahn fährt sie nicht. Eine ganze Woche war sie fort, jetzt in
der Arbeitszeit.«»Sie kann tun, was sie will, sie ist die Frau. Und es sind
Verwandte. Das fremde Mädchen bleibt jetzt hier.«»Ja, sie wird den Juro heiraten, den Erbsohn«, sagte eine
junge Magd, »denn sie ist aus dem könig –«Eine Hand preßte sich dem Mädchen auf den Mund, und alle
Wenden sahen auf den deutschen Knecht.Der stand auf und machte eine abweisende
Handbewegung.»Tut nicht so albern! Ich weiß soviel wie ihr!«Er entfernte sich langsam und ging über den Hof.Die anderen fielen über die junge Magd her.»Wie kannst du, Worsla, du Plappermaul? – Vom König spricht
man nicht! Noch dazu, wenn ein Fremder dabei ist. Das ist das
heilige Geheimnis!«Das hübsche junge Mädchen brach in Tränen aus.»Ich wußte es nicht. Ich glaubte, er gehört zu
uns.«»Er ist ein guter Kerl,« sagte einer, »aber er ist ein
Deutscher.«»Ein hognity kjandros ist er«, lallte Lobo, der bereits
wieder betrunken war.»Sie ist verliebt in Wilhelm,« sagte giftig eine Magd; »sie
hat ihm drei Haare vom Nacken und ein Stück Haut vom Knie in den
Osterkuchen gebacken. Nun ist er in sie vernarrt.«»Es ist nicht wahr«, schluchzte Worsla, »es ist nicht
wahr!«»Ruhe!« kommandierte der alte Kito. »Heute ist keine Zeit für
Liebessachen!«Es entstand eine Pause. Man hörte nichts als gelegentlich den
glucksenden Ton, wenn einer Branntwein trank.Da sprach der Alte:»Ich will nicht, daß die Frau stirbt. Sie ist noch jung und
sie ist gut. Vor dreißig Jahren bin ich mit ihr auf den Hof
gekommen. Ich will nicht, daß sie stirbt. Ich werde sie anräuchern.
Noch ehe die Sonne aufgeht, werde ich auf den Kirchhof gehen und
Gras abschneiden von einem Kindergrabe. Und ich werde dabei zählen:
neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. So werde
ich zählen. Und am Morgen werde ich das Gras anzünden und die Frau
beräuchern. Das wird ihr helfen. Das wird ihr helfen, oder – oder
…«Er machte eine Handbewegung. Starr blickte er vor sich hin
und fuhr dann fort:»Ich bin alt. Ich weiß nicht, ob ich zurückkomme, oder ob
mich die Toten dort behalten. Zeit ist es längst. Es gibt auch
Leute, die mir das Leben nicht mehr vergönnen. Wenn eines mit mir
auf den Kirchhof gehen will, so soll er es sagen. Er darf aber auf
dem Wege kein Wort sprechen.«Sie duckten sich alle zusammen, als ob plötzlich ein eisiger
Wind sie gefaßt hätte.Nur die junge Magd Worsla sagte:»Vater Kito, ich gehe mit dir. Du bist sonst so lustig und
immer gut.«Der Alte nickte und sah sie an.»Wenn sie – wenn sie mich dort behalten, dann lege mir gleich
zwei Steine auf die Augen.«Schritte klangen über den Hof. Wilhelm, der deutsche Knecht,
kehrte zurück.»Will keiner einspannen und nach dem Doktor fahren?« fragte
er.Sie wehrten alle ab. Der Arzt bringe den Tod. Der Bader sei
bei der Frau, die Smjertniza sei auf dem Felde, der Doktor solle
fortbleiben.Der Deutsche wurde wütend.»Gebt mir den Schlüssel zum Pferdestall!« rief er
zornig.»Hognity kjandros!« fuhr Lobo auf.Da erhielt er eine Ohrfeige, daß er taumelte.Mit Mühe wurden die beiden auseinandergebracht. Aber
vergebens versuchte der deutsche Knecht, den Schlüssel zum
Pferdestall zu erlangen.»So werde ich nach der Stadt laufen.«»Das Hoftor ist zu. Den Schlüssel bekommt er
nicht!«Wilhelm lächelte verächtlich. Aber er fuhr zusammen, als er
leises Weinen hörte. Worsla, die junge Magd, hob die Hände zu
ihm.»Geh nicht! Die Smjertniza geht um! Geh nicht! Es ist nicht
nötig! Ich gehe mit Kito zum Friedhof. Wir holen heiliges Gras von
einem Kindergrab. Da räuchern wir die Frau an, und sie wird gesund
werden.«Sie streckte ihm, alle Scheu vergessend, beide Hände hin, er
aber wehrte sie unwirsch ab und sagte:»Du bist auch so eine Gans!«Ging über den Hof und schwang sich über die Mauer.Die weiten Matten des Riesengebirges sind dort am breitesten
und schönsten, wo der große Elbstrom seine Quellen hat. Runde
dichte Knieholzgebüsche sind über den kurzen Rasen verstreut wie
dunkelgrüne Kränze.Ein leichter milder Abendwind ging über die sich weit
hindehnende Elbwiese und erquickte einige Wandersleute, die, vom
Gipfel des Hohen Rades herkommend, sich am Boden
lagerten.»Kolossale Fläche«, sagte ein stattlicher Fünfziger und ließ
die fröhlichen, stahlgrauen Augen rundum schweifen.»Grandiose Fläche! Und das liegt nun alles hier oben
viertausend Fuß hoch und hat keinen Zweck.«»Aber, Papa, das ist doch so schön!« entgegnete ihm seine
schlanke Tochter; »sieh mal, wie sich diese weiten Wiesen hindehnen
und eine so friedlich schöne Brücke sind zwischen den zwei großen
Gebirgskämmen …«»Jawohl«, unterbrach sie der Alte sarkastisch und mit
imitiert flötender Stimme. »Diese epische, ruhige Breite, nur hin
und wieder unterbrochen durch die Lyrismen winziger märchenhafter
Knieholzwälder, deren Baumstämmchen nur so groß sind wie die Kinder
und so verträumt sind wie die Kinder.«»Papa!«»Tja! Herrschaften, denken Sie nu ja nicht etwa, die Stelle
von der epischen Wiese und von den lyrischen Kniehölzern is von
mir. Keine Spur! Hier steht sie, die diese Stelle gedichtet hat –
meine Tochter Elisabeth von Withold. Es hört sich großartig an
sowas. Man kann sich zwar nischt dabei denken, aber es klingt nach
was!«»Papa, du hast …«»Ich habe jar nischt. Dein Papa ›hat‹ nie! Nämlich spioniert!
Er hat sich lediglich erlaubt, direkt auf dem Wege ein Notizblatt
zu finden, das seine poetische Tochter verloren hatte und das er
hiermit submissest zurückerstattet, weil er keine Verwendung dafür
hat.«»Gnädiges Fräulein, die Stelle von der epischen Ruhe dieser
großen hohen Wiesenflächen und ihrer lyrischen Unterbrechung durch
die kleinen Büsche mit ihren bizarren Zwergstämmchen und den
wunderlichen Kronen ist herrlich. Bitte, schenken Sie mir das
Blatt!«Der das sprach, war ein junger, schlanker Mann. Der Alte
lachte fröhlich.»Bravo, Herr Juro, bravo! Man hört Ihnen gleich an, daß Sie
Ackerbau studieren und künftiger Scholta und Großbauer im
Wendenland sind. Jawohl, das ist unsere moderne Landwirtschaft! Der
Landwirt stellt sich an die Wiese und phantasiert von epischer Ruhe
und lyrischer Unterbrechung, und die Ochsen zu Hause verhungern und
die Wirtschaft geht sachte zum Deibel.«»Lieber Vater …«»Lieber Sohn?! Sei du man stille! Denn du bist erst der
rechte!«Heinrich von Withold, ein zweiter junger Mann, nickte seinem
Vater gemütlich zu und pfiff eine kurze musikalische
Sentenz.»Pfeif nur, Bürschel, pfeif nur! War wohl wieder von dem
verrückten Kerl, von dem Wagner? Ich sage – einmal und nicht
wieder!«Niemand fragte, was er meine. Alle wußten, er meine, einmal
habe er eine der neuen Wagnerschen Opern angehört und tue das nie
wieder.»Auf keinen Fall!« fuhr Herr Withold zornig beteuernd fort.
»Jetzt – was soll ich machen, daß der Junge, der Heinrich da, sich
viel mehr mit musikalischen Faxen abgibt, als daß er
Volkswirtschaft und Agrikultur studiert, wofür ich ihn,
Himmeldonnerwetter, nach Breslau zur Universität geschickt habe?!
Was soll ich machen?«»Ach, wir können die Kinder nach unserm Sinn nicht formen. So
wie Gott sie uns gab, muß man sie halten und lieben,« entgegnete
Heinrich, der Jüngling. »Siehst du, Papa, diese Verse sind auch
dichterisch, zwar nicht von meiner Schwester Elisabeth, aber von
Goethe, von Johann Wolfgang von Goethe.«»Affe!« sagte der Alte. (Er meinte seinen Sohn Heinrich,
nicht Goethe.) »Affe!« wiederholte er, »ihr habt Glück, daß ihr so
einen schafsgutmütigen Vater habt, sonst – Donnerschlag ja …! Ich
amüsier' mich schon immer, wenn ich so 'ne Visitenkarte von einem
Studenten sehe: ›stud. med.‹, ›stud. jur.‹, ›stud. phil.‹, ›stud.
agric.‹ und was da alles draufsteht. – Da sag ich mir immer, das
erste ›stud.‹, das is das, was der Kerl im allgemeinen nicht macht,
und das, was dahinter kommt, das is das, wovon er sich ganz
besonders drückt. Herr Gott, dahier stehen zwei Studenten, cives
academiae, wie es so stolz heißt – Herr Juro und Herr Heinrich,
mein vielbegabter Herr Sohn; beide sollen in Breslau Agrikultur
studieren, beide sollen ja einmal große Güter übernehmen. Gut!
Kommen wir also hier an diese kolossalen Bergwiesen. Müßte man
denken – halt – Studenten des Ackerbaues – halt! – was werden die
machen? Werden sich gewiß hinstellen und sagen: Bis zu dem Gebüsch
da soundsoviel Huben, bis zur Baude soundsoviel Huben und so
weiter. Und dann: Verflixt ja, wenn ich diese Prachtwiesen unten im
Gelände hätte – das Kroppzeug von Knieholz rodete ich aus – Klee? –
Ruchgras? – Luzerne? – Zum mindesten Buchweizen? – Wollen mal
sehen! – Aber die Wiesen liegen nu mal hier oben. Viertausend Fuß
hoch. Nichts zu machen mit Talbepflanzung. Aber mit
Almenwirtschaft, zum Donnerwetter, mit rationeller Almenwirtschaft!
Schande und schade um so herrliche Flur! Jawohl, so müßte man
denken, würden zwei Studenten sagen, die Ackerbau studieren. Ach,
du oller Döskopp! Einer spricht von epischer Breite und lyrischer
Unterbrechung und einer pfeift 'ne Melodie, nach der nicht mal sein
letzter Pferdeknecht tanzen mag.«»Herr von Withold, Sie haben ganz recht. Was mich angeht, so
befinde ich mich sicher an ganz falschem Platze. Ich habe eben für
die Landwirtschaft nicht das mindeste Talent.«»Na, Juro, so schlimm wird ja das nicht sein. Hauptsache, Sie
geben sich Mühe. Seh'n Sie mal, das schöne Gut wartet doch auf Sie!
Ein Rittergut können Sie aus der alten wendischen Scholtisei
machen, wenn Sie's vernünftig anstellen. Ihr Großvater und Ihr
Vater haben ja kolossal zugekauft. Wie groß ist denn Ihr
Väterliches jetzt?«»Ich weiß es nicht«, sagte Juro achselzuckend.»Sie – Sie wissen das nicht? Ja, erlauben Sie mal, das – das
ist arg! Studiert Ackerbau und weiß nicht mal, wie groß das
väterliche Gut ist. – Das ist ja unglaublich! Als ich so alt war
wie Sie, kannte ich auf unserem Gute sozusagen jedes Rind, jedes
Schaf, jeden Hahn persönlich mit seiner ganzen Lebens- und
Familiengeschichte. Und Sie wissen nicht mal – ja, dann ist's
allerdings am besten, Sie hängen die Geschichte an den
Nagel.«»Ich möchte wohl, wenn ich es könnte.«»Aber Mensch, Christ, Bürger, Sie haben doch Traditionen zu
erfüllen! Sie können doch nicht mir nichts dir nichts eine so
wunderbare Sache fahren lassen. Donnerwetter, bei Ihnen ist ja von
Bauernwirtschaft gar keine Rede mehr, das ist doch ein großes Gut!
Ja, Mensch, wollten Sie denn lieber ein ärmlicher Stubenhocker
sein, als über eigenen Grund und Boden schreiten als freier Mann,
dem niemand auch nur ein Wörtlein zu sagen hat, der lebt wie ein
König?«»Wie ein König der Wenden!«»Red' mir nicht hinein, Heinrich! König der Wenden, das
gibt's nich! Das is eine von den vielen alten Sagen, die die Wenden
haben. Unsere Wenden sind gute Preußen, haben ihren König in
Berlin, wie andere Preußen, ihren Bramborski Kral. Aber ein König
in seiner Art ist jeder freie Landwirt, und nur er, alle anderen
bis zum Minister und General hinauf sind abhängige
Diener.«Er nahm einen Schluck aus der Reiseflasche und fuhr fort:
»Und Heimat – ist Heimat gar nichts mehr? Irgendein Tand, den man
leichten Herzens aufgibt? Sehen Sie, Juro, Ihre Wendenheimat ist
schön! Nicht lauter Kernboden – nein, viel Sand und auch Moor
dazwischen. Aber doch gutes, treues Land, auf das man sich immer
noch verlassen kann. Ja, und ich – ich bin ja eigentlich ein
Fremder dort zu Lande. Na, schütteln Sie nich den Kopp! Ich bin ein
deutscher Rittermäßiger, der sich im Wendenland sein Gut gekauft
hat. Ja, ich kann mich nicht beschweren, die Wenden sind gute
Leute. Saufen ja 'n bissel – das tun wir auch – sind auch sonst
nicht gerade große Säulenheilige – das sind wir auch nicht –, aber
sind fleißige Arbeiter und ehrliche Leute. Juro, ich bin ein
Deutscher, aber ich möcht aus dem Wendenland nicht raus; es is mir
zur Heimat geworden, wenn ich mir auch jetzt noch mit jedem
wendischen Wort die Zunge verrenke. Und Sie – Sie sind doch ein
geborener Wende!«Juro ließ den Kopf sinken und zupfte mit den Fingern an dem
kurzen Grase. Der Wind spielte leicht mit seinen schlichten blonden
Haaren, und eine tiefe Röte bedeckte seine Wangen. So sprach
er:»Ach, Herr von Withold, Sie wissen nicht, woran Sie da
rühren. Das sind ja die Kämpfe, die ich seit vielen Jahren führe
mit meiner Mutter, mit meinem Vater, mit mir selbst, auch mit
meinem Bruder Samo. Daß ich für die Landwirtschaft kein Talent und
kein Interesse habe, ist ja von meiner Nationalität ganz unabhängig
und hat damit gar nichts zu tun. Ich studiere ja auch in der
Hauptsache Medizin und höre nur nebenbei einige landwirtschaftliche
Vorlesungen. Was mich grämt, ist aber, daß sie mich zu Hause alle
als einen Abtrünnigen ansehen, als einen, der sein Wendentum verrät
und ein Deutscher wurde.«Der junge Mann stand auf. Eine große Erregung überkam
ihn.»Ich will's ja nicht leugnen, ich bin ein Deutscher in meinem
Herzen. Aber ich wehre mich dagegen, daß ich das Wendentum verraten
haben soll. Was sind die Wenden noch? Ein winziges Häuflein,
eingesprengt ins große deutsche Volk. Und wie ist ihnen zu helfen?
Dadurch, daß sie sich feindselig und eigensinnig absperren? Dann
müssen sie verhungern, vor allen Dingen auch geistig verhungern.
Wir haben keine große Nationalliteratur, keine nationale Kunst,
keine nationale Wissenschaft, keine großen nationalen Schulen,
nicht einmal nationale Geschäftsbetriebe. Auf unseren Walddörfern
sitzen wir in Armut, und wenn einer hinauskommt und nichts kann als
seine wendische Sprache, die niemand versteht, dann wird er ein
Helot, und das ganze Volk wird ein Helotenvolk werden. Das will ich
nicht, dagegen wehr' ich mich, eben weil ich die Meinigen liebe,
und darum müssen wir, die selbst zu schwach sind, uns an ein
stärkeres und reicheres Volk anschließen, müssen wir eine Sprache
haben, die ins weite Land klingt und auf vielen Märkten und in
vielen Hörsälen verstanden wird.«Er hielt inne und blickte hinunter ins tiefe Elbtal, das den
preußischen und den böhmischen Kamm des Riesengebirges trennt.
Steil fallen die Felsenwände des böhmischen Krokonosch hinab zum
Fluß. Juros Blicke schweiften hinüber zum böhmischen Land. Und er
sprach das, was in seinem jungen Grüblerherzen sich in vielen
einsamen Stunden gebildet und immer wiederholt hatte, was er wie
sein eigenes Evangelium konnte:»Anschluß an ein glücklicheres Volk, als wir sind, denen das
Schicksal durch alle Jahrhunderte die Größe und Selbstherrlichkeit
versagt hat! Kapitulation in Ehren! Aussöhnung mit gegebenen
Notwendigkeiten, Aussöhnung, die uns nicht schändet, die uns
vorwärts führt. Heimatsuchen in weitem Gefild, Heimatsuchen, das
meinen stillen, gutmütigen Brüdern und Schwestern nicht
schwerfallen wird … Aber nicht dort drüben, nicht bei den
Tschechen, die unsere Vettern heißen, die viel glücklicher waren
als wir, in viel reicherem Lande wohnen und die doch trotz aller
Großmannssucht den Weg zu einer hohen Staffel der Menschheit nicht
fanden. Wir wollen Deutsche sein, im Deutschtum vorwärtskommen und
ehrlich mithelfen, das, was uns am Deutschtum nicht gefallen kann,
zu ändern und zu bessern.«Der alte Withold reichte Juro gerührt die Hand, und der Mund
des jungen, leidenschaftlich erregten Wenden zuckte.Im Silberlicht des Mondes spielte die junge Elbe auf der
Bergwiese. Und sie plauderte harmlos wie alle Bächlein, die mit
Gräsern spielen und mit lachendem Glick-Glack und Hopp-Schlock über
wichtigtuende Hölzchen wegsetzen, die sich ihnen neckend in den Weg
legen. Das spielende Königskind, das zu Großem berufen ist, zur
Beherrscherin weiter Lande und mächtiger Städte, tändelt hier in
seiner Jugendheimat, lacht, tanzt und plaudert wie ein armes
Wiesenwässerchen, das im nächsten Dorfteich mündet.Aber eine ungestörte Jugend haben Königskinder nicht. Alte
Leute, die von ihrer großen Mission wissen, nehmen sie von Zeit zu
Zeit vom Spielplatz weg, bekleiden sie mit Größe und Würde, mit
Brokatgewändern und goldenen Kronen, trichtern ihnen ein trutzig
und altklug Sprüchlein ein und stellen sie so dem Volk zur
Schau.»Seht da, das Königskind! Seht die Würde und Größe, die in
ihm ruht!«Also geschieht es auch mit der jungen Elbe. Ihre Wässerchen
werden in einem großen Wasserbehälter aufgefangen, der dicht an
einem felsigen Abgrund liegt, und wenn der ganze Behälter voll ist
und wenn genug Volk da ist, das geneigt ist, seinen Tribut zu
entrichten, dann zieht der Wärter, der Gouverneur des jungen
Königskindes, eine Schleuse, und das Kind, das eben noch silbern
lachte, spricht plötzlich mit donnernden Herrscherworten, entrollt
seinen tausendfaltigen Demantmantel, steigt mit Riesenschritten
hinab ins Tal.Freilich, es ist nur ein höfisches Theater, es ist nur, um
dem Volk ein Schaustück zu stellen. Kaum ist das Königskind im Tal
angelangt, so zieht es den wallenden Demantmantel wieder aus, hört
auf, seinen eingelernten Donnerspruch zu sagen, und spielt tändelnd
wieder wie andere Kinder. – –Einsam lag die Gebirgsbaude an der Felsschlucht, wo der alte
Wärter am Wasserbassin lehnte und wartete, ob er um ein Stücklein
Trinkgeld den »Elbfall« noch einmal »ziehen« können würde. In der
Baude saßen Gäste, lachten beim böhmischen Wein. Ein Fiedler
spielte, sein Weib schlug die Gitarre. Sie sangen »Gott erhalte
Franz den Kaiser« und »Heil dir im Siegerkranz«.Die drei Künstlermenschen, das Geschwisterpaar Withold und
der junge Wende Juro, wanderten draußen durch den lichten Abend,
sahen den Himmelskuß des Sternenlichtes auf den Stirnen der Berge,
sahen das tiefe dunkle Elbtal hinab einen weißen Nebelschwaden
fahren, der war wie ein silberner Kahn auf dunklem Strom. Als die
drei zu einem schmalen, steinigen Fußsteig kamen, der in die
Elbschlucht führt, sagte Heinrich zu Juro und Elisabeth:»Steigt ein Stücklein da hinab. Ich gehe hinüber zum Wärter,
er muß den Fall noch einmal ablassen. Das wird schön aussehen jetzt
im Mondenschein.«Da standen Juro und Elisabeth erst zögernd still, dann gingen
sie beklommen den dunklen, schmalen Felsenweg hinab. Sie waren
jung. Sie waren Träumer. Sie liebten sich, und ihre Seelen waren
unverdorben. Da war die herzschlagende Scheu in ihnen, die bange
Furcht und doch auch die schmerzliche Sehnsucht: jetzt in dieser
lichten Abendstunde möge die Zeit gekommen sein, wo das goldene Tor
zum Allerheiligsten ihrer Seele aufspringen und sich das Wunder
offenbaren würde, das wohlgehütet da wohnte – ihre
Liebe.Langsam stiegen sie den holprigen Pfad hinab, und wenn der
Mann dem Mädchen die Hand reichte, dann glühten die Hände
ineinander wie im Fieberfeuer, oder sie trafen sich kalt wie in
Schreck und Angst.Als sie endlich stehenblieben, war ein Baumstamm zwischen
ihnen, aber sie fühlten ihre Nähe, und es war, als ob tausend
weiche Wunderfäden sich um sie und den Stamm rankten und sie in
weltferne Wonnen einspännen. Ein Nachtvogel huschte vor ihnen auf;
sonst war alles in tiefer, feierlicher Ruhe.Da kam ein Plätschern, ein Rauschen, dann ein Brausen, und
donnernd fiel eine Silberflut vor ihren Augen durch die Nacht, und
eine Siegeshymne dröhnte an ihr Ohr. Eine Fülle von Schönheit,
Größe, Kraft ward vor ihnen aufgetan, ein Siegesjubel, ein
jauchzender Glaube an Glück und Freude durchschütterte sie
…Der Strom überdröhnte den Schlag ihrer Herzen, und sie lagen
sich in den Armen zum ersten langen heißen Kuß.Sie sprachen kein Wort. Den ganzen großen jubelnden Inhalt
ihrer Herzen sang der silberne Fluß in gewaltiger
Melodie.Erst als der Strom versiegte, als ein dünnes Rinnlein einen
leisen Epilog zu dem großen Schauspiel sprach, da erwachten sie zur
Menschensprache und gaben sich in stammelnden Fragen und wirren
Antworten, mit leisem Seufzen und glückseligem Lachen Kunde von
ihrer Liebe.»Ich gehöre dir für immer und ewig!«Diese Worte sprach Juro fest und mit feierlichem Ernst. Es
war ein Gelöbnis, das aus der Gegenwart herauswuchs und an keine
Kämpfe der Zukunft dachte.Der Wendensohn und das deutsche Mädchen hatten sich verlobt.
– – –Heinrich kam, merkte sogleich, was geschehen sei, drückte dem
Freund und seiner Schwester die Hand und übernahm es, oben auf dem
Wiesenplan die Verwirrung der beiden jungen Leute durch seine
Munterkeit zu verbergen.Die Eltern und alle anderen Gäste waren aus der Baude
gekommen, und nun wurde im Freien eine große Polonaise geschritten,
zu der der Böhme und sein gitarreschlagendes Weib gar lieblich
musizierten.Ein später Wanderer kam vom Hohen Rad herüber. Er war schon
weit gegangen, hatte in vielen Bauden Einkehr gehalten und überall
dieselbe Frage getan. Nun wies ihn die Spur, der er folgte, nach
der Elbfallbaude, die da endlich vor ihm lag. Er hörte Musik, sah
tanzende Gestalten, hörte ein deutsches Lied singen und blieb
stehen. Den Hut hielt er in der Hand, der Mond bestrahlte seinen
Kopf.Schlichtes, schwarzes Haar, in die Stirn gekämmt, etwa wie es
die Russen tragen, breite Wangen, zwei kleine dunkle, bewegliche
Augen. Die Figur klein, aber kräftig, ein wenig krummrückig, so daß
der Hals kurz, gedrückt erschien. Er war jung, ohne recht jung
auszusehen, über dem scharf und energisch geschnittenen Mund war
kein Barthaar zu sehen.Wieder tönte das Lied herüber. Da kniffen sich die kleinen
Augen zusammen, und der Fremde sprach in fremder
Sprache:»Tolle Deutsche auf slawischem Boden!«Im Weitergehen summte auch er ein Lied:»Kde domov muj?«Es war das tschechische Heimatlied: »Wo steht mein
Vaterhaus?«So kam er an die Baude heran. Mit finsterem Blick schaute er
dem fröhlichen Tanze zu, blickte er besonders auf Juro, der mit
Elisabeth tanzte und die Ankunft des Fremden gar nicht
bemerkte.Da faßte ihn dieser am Arm, hielt das Paar an.»Hör auf zu tanzen!«Er sagte es in der fremden Sprache.Juro wandte sich ihm bestürzt zu.»Was – was ist? – Samo – du? – Du – Samo? – Ja – was – was
willst du denn?«»Daß du aufhörst zu tanzen!«»Was fällt dir ein? – Wo kommst du her? – Kennst du denn
Fräulein von Withold nicht, die Tochter von Herrn von Withold aus
unserem Nachbardorf?«Der Fremde machte Elisabeth eine leichte, mürrische
Verneigung.»Ich habe mit meinem Bruder zu reden«, sagte er
kurz.»Samo, ich verbitte mir diesen Ton! Ich verbitte mir, daß du
mich hier mitten im harmlosen Tanz überfällst.«»So tanze weiter! Indes liegt unsere Mutter daheim im
Sterben!«»Du bist – du bist wohl wahnsinnig?«Der andere reichte ihm ein Depeschenblatt hin.»Mutter tödlich verunglückt –«»Samo – was – was – das ist ja nicht möglich – o Gott, Samo,
das ist doch nicht wahr? Sag doch, was das ist – sag doch, was du
weißt –«»Ich weiß, daß ich das Blatt in Breslau bekam, daß ich
hierhergefahren bin und daß ich dich den ganzen Tag gesucht
habe.«Juro brach in ein mühsam unterdrücktes Schluchzen aus und
wollte sich dem Bruder an die Brust werfen. Der wehrte ihn
ab.»Hol deine Sachen und komm!«Eine Weile stand Juro fassungslos da, indes seine Hände das
böse Blatt zerknitterten, dann wandte er sich zu
Elisabeth.Die stand mit todblassem Gesicht neben ihm. Die anderen
drängten heran, die Musikanten brachen das Spiel ab, eine kurze
Auskunft wurde gegeben, eine Flut bedauernder Worte wogte
durcheinander.Da ging Juro nach der Baude, holte sein geringes Reisegepäck.
Als er vor Elisabeth zum Abschiednehmen stand, sagte er leise zu
ihr:»Nun bleib mir treu! Jetzt brauche ich dich mehr als
früher!«Sie wollte etwas sagen, aber ihre Lippen zuckten nur. Doch
sie drückte ihm die Hand.Bald darauf wanderten die beiden Brüder der preußischen
Grenze zu.Drüben im Wendenland kämpft die verunglückte Frau mit dem
Tode.»Es geht zu Ende! – Nehmt mich aus dem Bett! Holt frisches
Stroh. – – – Weine nicht so sehr, Hanka! – Wenn ich tot bin, weine
nicht auf meinen Sarg – – sonst müßte ich kommen und dich zu mir
holen – –«Eine lange, bange Pause. Dann fährt die Kranke fort: »Kommt
Juro? – Habt ihr ihm geschrieben? – – Ich muß noch mit ihm reden –
– und ich will ihn sehen –«Der alte Scholta tritt ans Bett seiner Frau.»Juro kommt und auch Samo kommt.«Die Kranke lächelt und reicht ihrem Gatten die
Hand.»Hanzo! Ich danke dir, daß du mich zu deiner Frau genommen
hast! Das war eine Gnade von Gott!«Über das scharfgeschnittene, bartlose Gesicht des alten
Wenden geht ein tiefer Schmerz; aber er sagt nichts als: »Gott
helfe dir!«Die Frau richtet den Blick nach der Wand, wo der Glasschrank
steht. Er ist aus gelbgestrichenem Kirschbaumholz und hat eine Tür
mit drei Glasscheiben, durch die man ein Gewirr bunter Dinge steht.
Da sind Porzellan- und Glasgefäße vom Ahn und Urahn her. An alle
knüpfen sich Familienerinnerungen, auf manchem steht ein alter
Name, eine alte Jahreszahl, ein alter Segensspruch, der noch immer
wirkt, wenn man ihn liest. Da sind noch die Tabaksdose und die
Korallenkette, die der Alte Fritz den Urgroßeltern geschenkt hat,
als er einmal in der Scholtisei gerastet hat; da ist Großvaters
eiserner Ehering vom Jahre 1813. Wie die Kaffeetassen glitzern mit
ihren goldenen oder hellroten Aufschriften! Dazwischen liegt ein
altes Stück Holz. Es stammt von der uralten Hejka, der Hammerkeule,
die der erste Scholta der Familie als Zeichen seiner Macht führte,
mit der er sich verteidigte, als er in bösen Zeitläuften des langen
Krieges von Kroaten überfallen wurde. Die Kroaten erschlugen ihn,
[...]