Die alte Krone
Die
Spree ist ein Heidekind. Ihre Jugend ist arm und ohne Wagemut, ihre
Kraft gering und ihre Lustigkeit schüchtern. Frühzeitig – als
halberwachsen Ding – muß sie in Dienst nach der anspruchsvollsten
Stadt der Welt, nach Berlin, wo man ihr, einer jungen, billigen,
schmucklosen Dienerin, auf die schwachen Schultern viel Last und Qual
ladet.Aber
auch sie hat eine grüne Heimat und eine grüne Jugend. Gar nicht
fern von dem schreienden, lachenden, gellenden Berlin wohnt die große
Stille in hohen Föhrenwäldern, ist eine andere Welt, wohnt ein
anderes Volk, ist eine andere Zeit. Gar nicht fern von dem prangenden
Reichtum der glänzenden Weltstadt ziehen arme Sandwege durchs Land,
stehen hohe Farnkräuter an alten Ziehbrunnen; nur wenige Stunden von
dem Mittelpunkt kaltherziger Weisheit, heißblütiger Genußsucht
sieht das Volk auf den Blättern der Pflanze cerweny drest die
Blutstropfen Christi glänzen, saugen die Kinder süßen Saft aus
weißen Birkenstämmen, legen die Leute das Freundschaftskraut
»kokoski« unters verwitterte Strohdach, um am grünenden oder
welkenden Kräutlein zu erkennen, ob das ferne liebe Leben eines
Freundes noch frisch und grün oder im Tode verblichen sei.Das
ist das Land, wo ein kecker Hase, der ins Dorf kommt, den Leuten ein
Feuer verkündet, wo man neun Sünden verziehen bekommt, wenn man
eine Maulwurfsgrille tötet, wo der Mann sich eine krabbelnde
Fledermaus unter die Mütze steckt, um im Spiele Glück zu haben, wo
das Mädchen dem jungen Burschen, dessen Liebe sie gewinnen will,
einen Apfel zu essen gibt, den sie eine ganze Nacht lang in der
Schulterhöhle getragen hat.Das
ist das Land Wendei. Keine rote oder blaue Grenzlinie kennzeichnet
das Wendenland auf einem Kartenbild; jahrhundertelang war es ein
Spielball der Brandenburger, Sachsen und Böhmen, und auch heut noch
muß man von der sächsischen Stadt Bautzen die böhmische Grenze
entlang durch die schmale schlesische Lausitz bis hin in den
brandenburgischen Spreewald wandern, wenn man die Wendei kennenlernen
will.Ein
anderes Volk als in Berlin, der deutschesten aller deutschen Städte,
die nur wenig Bahnstunden entfernt ist – ureingesessene Slawen, die
in grauer Vorzeit den ganzen Osten unseres Vaterlandes bis an die
Ostsee beherrschten, dann zurückwichen Schritt um Schritt und die
trotz jahrtausendelanger Abhängigkeit, in die sie alsbald gerieten,
sich ihre trotzige Eigenart in Sprache und Sitte, in Kleidertracht,
Häuserbau und Gemeindeanlage bewahrt haben. Jetzt aber ist
Wendenland eine kleine, zerbröckelnde Slaweninsel im brausenden
deutschen Meere, das an seiner Küste zehrt, seine geistigen
Springfluten über das Land gießt und es bald bis zum letzten
Brocken aufgezehrt haben wird.Sorben,
oder – wie sie die Deutschen nennen – Wenden. Eines von den
Völkern, die jahrtausendelang bestehen, ohne eine Geschichte zu
haben, die alt werden, ohne je jung gewesen zu sein, Blutsverwandte
der Tschechen und Schicksalsverwandte der südslawischen Stämme der
Slowenen und Kroaten, die auf den mageren Ziegenweiden des felsigen
Karstlandes ihre Jahrhunderte verträumten.
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