Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte - Tatiana Tîbuleac - E-Book

Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte E-Book

Tatiana Tîbuleac

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Beschreibung

Der siebzehnjährige Aleksy verabscheut seine Mutter, denn sie ist hässlich und hat als Mutter versagt. Als sie ihn aus dem Erziehungsheim abholt, will er nichts von ihr wissen. Trotzdem lässt er sich zu einem gemeinsamen Urlaub in Frankreich überreden, Bestechungssumme: ihr Auto. Kaum angekommen in dem kleinen Dorf, in dem er sich fremd fühlt und nur mühsam mit den kauzigen Bewohnern zurechtkommt, erfährt er, wie es in Wahrheit um seine Mutter steht. Ihn verfolgen fortwährend schmerzliche Erinnerungen aus der Kindheit, und die ungewohnte Sorge um die Mutter überschattet sein erstes unbeholfenes Liebesglück. Nach diesem Sommer ist in seinem Leben nichts mehr, wie es einmal war. Tatiana Tîbuleacs preisgekrönter Roman erzählt mit unsentimentalem Witz die berührende Geschichte eines Jungen, der um seine Kindheit betrogen wurde und als Heranwachsender plötzlich Verantwortung übernehmen muss.

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Seitenzahl: 200

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Inhalt

[Cover]

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte

1

An dem Morgen, an dem ich sie mehr hasste als je zuvor, hatte Mutter ihr neununddreißigstes Jahr vollendet. Sie war klein und dick, dumm und hässlich. Die nutzloseste Mutter, die es je gab. Durch das Fenster sah ich sie wie eine Bettlerin am Schultor stehen. Sie umzubringen war mir gerade mal einen halben Gedanken wert. Schweigsam und verschreckt gingen Eltern an mir vorbei. Eine traurige Versammlung von falschen Perlen und billigen Krawatten, hierhergekommen, um die missratenen, vor den Augen der Welt verborgenen Kinder einzusammeln. Sie hatten immerhin die Anstrengung unternommen, die Treppen hochzukommen. Mutter war ich ebenso scheißegal wie die Tatsache, dass ich eine Schule absolviert hatte.

Meinetwegen durfte sie sich ruhig eine Stunde lang quälen. Ich schaute zu, wie sie zuerst nervös wurde und am Zaun auf und ab ging, dann innehielt und beinahe zu weinen begann, wie jemand, dem eine große Ungerechtigkeit widerfahren war.

Auch dann ging ich nicht hinunter. Ich lehnte die Stirn an die Fensterscheibe und blieb dort reglos stehen, bis alle Kinder raus waren – selbst Mars in seinem Rollstuhl, auch die Waisen, auf die jenseits des Tors lediglich Drogen und Kliniken warteten.

Jim, mein bester Freund, winkte und rief mir zu, ich solle mich in den Ferien nicht umbringen. Er war bei seinen Eltern, die ihn sofort als Organspender verkauft hätten, wäre nicht das Gerede der Leute zu fürchten gewesen. Jims Mutter, schön und mit schimmerndem Teint, lachte lange, das Kinn hochgereckt und die Haare in drei Schichten aufgetürmt. Auch unsere psychotische Klassenlehrerin lachte und der Mathematiklehrer sowie die Direktorin – die einzige normale Person in der gesamten Schule. Eigentlich haben wir alle gelacht, als wäre das ein besonders gelungener Scherz gewesen, und weil es ja tatsächlich ein guter Witz war. Es hatte keinen Sinn, sich zu verstellen, wenn wir unter uns waren.

Hinzu kam, dass unsere Lehrer am letzten Schultag über alles gelacht hätten, wenn sie uns nur endlich los waren. Wenn schon nicht für immer, dann wenigstens einen Sommer lang – Zeit, in der etwa die Hälfte von ihnen wieder versuchen würde, eine neue Stelle zu finden. Manch einem gelang es, und dann verlor sich seine Spur. Andere jedoch, die weniger Glücklichen, sahen sich genötigt, Herbst für Herbst wieder vor denselben diabolischen Schülern anzutreten, die sie verabscheuten und vor denen sie Angst hatten. Ich löste mein Gesicht von der Fensterscheibe wie ein verbrauchtes Abziehbild. Endlich war ich frei, und meine Zukunft hatte etwas von der Würde eines geschmückten Friedhofs.

Langsam begann ich, die Treppen hinunterzugehen. Im zweiten Stock, neben dem Büro der Psychiaterin, blieb ich stehen und schrieb mit dem Schlüssel HURE an die Wand. Wenn mich doch bloß jemand dabei gesehen hätte, es war mein Dank für die Konsultationen in all den Jahren. Aber die Flure waren leer wie nach einem Erdbeben. In unserer Schule gab es keine Flöhe und keine Infektionen.

Im Erdgeschoss hockte Kalo wie ein Hundehaufen – der zweite Freund meines Lebens – und rauchte eine Zigarette, während er auf eine entfernte Tante wartete, die ihn eine Woche lang bei sich behalten sollte. Kalos Mutter war nach Spanien gereist, einen russischen Oligarchen massieren – nach dessen Variante, klar. Außer Kalo wussten alle, womit seine Mutter sich tatsächlich beschäftigte, aber sie schwiegen, denn Kalo war ein guter Junge. Das war er wirklich. Etwas zurückgeblieben, aber gut.

Ich fragte ihn, ob er denn wisse, was er nach der Zeit bei dieser Tante und bis zu unserer Abreise nach Amsterdam tun würde, und er sagte, er werde nichts tun. Wie wir alle, übrigens. Die Niemande werden nichts tun. In all den Jahren, die ich in dieser Schule zugebracht habe, bin ich keinem Mitschüler begegnet, der jemals mit seinen Ferien angegeben hätte – als wären wir nicht bloß alle verrückt, sondern regelrecht aussätzig. Dass man uns erlaubte, die Sommer nicht an der Leine und ohne Maulkorb zu verbringen, musste reichen. Wozu noch einen Ferienaufenthalt auf uns verschwenden? Ich ekelte mich vor Kalo, Jim und mir selbst. Wir waren menschlicher Abfall – Polypen und Zysten, und selbst als solche schon operativ verstümmelt –, hielten uns aber für Nieren und Herzen. Anatomie mochte ich schon immer. Das habe ich wahrscheinlich von Mutter, die Biologielehrerin hätte werden sollen, aber Brezelverkäuferin wurde. Von Vater habe ich nichts.

Ich blieb bei Kalo stehen und rauchte eine mit ihm, denn ich hatte gesehen, wie bedröppelt er war und dass er die Augen abwandte. Dann fiel mir seine ältere Schwester ein, die nach Irland geheiratet hatte, einen Farmer. Ich fragte ihn, warum er nicht für eine Woche zu ihr fahre, statt bei der Alten zu bleiben. Kalo antwortete mir, als redete er mit einem Idioten: Ja doch, er fahre zu ihr, klar, sie habe ihm ja ihr Auto geschickt, denn seine Schwester brenne darauf, den »Irren« im Sommer bei sich zu haben. Als wir auseinandergingen, schlug ich ihm noch mit der Faust auf den Kopf und sagte, wir würden uns in zwei Wochen am Bahnhof treffen, er solle nicht das ganze Geld ausgeben. Kalo antwortete schlicht, er werde dort sein.

Als sie mich erblickte, begann Mutter zu schreien, ich solle mich gefälligst schneller bewegen, denn sie habe nicht fürs Parken bezahlt. Ich zündete mir noch eine Zigarette an und stieg rauchend ins Auto. »Wieder rauchst du Gras, wieder Gras«, hörte ich sie mit sich selbst reden. Ich öffnete das Fenster und spuckte vor das Tor. Hinter uns begann die Schule mitsamt den sieben Jahren, die ich dort blödsinnigerweise verbracht hatte, zu schrumpfen. Es war wie bei einem Glücksspiel. Verändert hatte sich aber nichts. Mika war immer noch tot, und ich wollte immer noch Leute verprügeln.

2

Bis auf ihre sonstigen Mängel war Mutter stets strahlend weiß, als hätte sie sich vor dem Schlafengehen die Haut abgezogen und die ganze Nacht über in einer Wanne voller Sahne eingeweicht. Ihre Haut wies weder eine Falte noch ein Muttermal auf. Sie hatte keinen Geruch und auch keine sonstigen Spuren von Normalität. Mitunter fragte ich mich, ob sie nicht nur ein lebender Klumpen Teig war.

Aus den Achselhöhlen wuchsen Mutter zwei wie Rugbybälle aussehende Brüste, die in verschiedene Richtungen wiesen, und auf dem Kopf das reinste Puppenhaar, das sie zu einer Art Sirenenschwanz geflochten trug. Ihr Sirenenschwanz machte mich fertig, auch war er bevorzugter Gesprächsgegenstand bei den Jungs meiner Schule.

»Die heiße Sirene« nannten sie alle und pissten sich an vor Lachen, wenn sie mich abholen kam. Vater nannte sie »dumme Kuh«. Seine neue Frau nannte er »Kielbasa«, nur ich musste sie »Mutter« nennen.

Bis auf den heutigen Tag, da ich beinahe ebenso alt bin, wie sie es in jenem Sommer war, ist mir keine schlechter gekleidete Frau mehr begegnet. Nicht einmal in den zwei Jahren nach dem Unfall, als ich neben einem fischverarbeitenden Betrieb im Norden Frankreichs lebte. Stellen Sie sich über hundert hässliche Frauen vor, die sich jeden Tag anziehen, um Krabben, Krevetten, Langustinen und anderes widerwärtiges Zeugs umzubringen. Mutter zog sich noch schrecklicher an. Sie war noch hässlicher. Sie hatte Hosen, Blusen und darunter noch viel elendere Klamotten an als die ganze Fabrik, die Angestellten und die stinkenden Schalentiere zusammengenommen.

Wenn es denn möglich gewesen wäre, hätte ich sie in weniger als zwei Sekunden gegen jede andere Mutter auf der Welt eingetauscht. Selbst gegen eine Säuferin, auch gegen eine, die mich jeden Tag geschlagen hätte. Ihr Besoffensein und die Schläge hätte nur ich allein zu ertragen gehabt, während ihre Hässlichkeit und der Sirenenschwanz niemandem verborgen blieben. Die Jungs in der Schule sahen sie. Die Lehrer sahen sie und die Leute in unserem Londoner Viertel. Am schlimmsten aber war, dass Jude sie sah.

An manchen Abenden, wenn ich nach den Unterrichtsstunden nach Hause kam – ich sagte auf dem ganzen Weg kein Wort, während sie ununterbrochen Blödsinn redete –, konnte ich sie nicht mehr ertragen. Mir war danach, sie in die Waschmaschine zu stecken und sie im Kochwaschgang durchzuschleudern. Sie in die Tiefkühltruhe zu sperren und dort dann zerstückelt wieder herauszuholen. Sie zu verstrahlen. In den Augenblicken, da ich noch die lachend verzerrten Gesichter meiner Klassenkameraden vor Augen hatte und Jude, die sich ihre schweinischen Scherze peinlich berührt mitanhören musste, wünschte ich mir Mutter tot.

Ich wusste, dass alle über mich lachten. Dass mich die Jungs anspuckten, wenn ich an ihnen vorbeiging, und dass Jude mich verachtete. Dass ich ein Niemand war, und dass man mich eher für wohlerzogen gehalten hätte, wenn ich mich zum Teufel noch mal ertränkt oder aufgehängt oder erschossen oder sonst wie abgemurkst hätte. Denn es gab nichts, das mir nicht etwa überlegen gewesen wäre: dem widerwärtigen Produkt einer Weißhaut.

3

An Vaters Beitrag wollte ich gar nicht erst denken. Schon der Gedanke an Vater verursachte mir Brechreiz. Vater war Mutter entkommen, indem er sie für eine Polin mit einem Zungenpiercing verließ. Er hatte sich scheiden lassen, denn sie umzubringen, was er vorgezogen hätte und auch schneller gegangen wäre, hätte ihn ins Gefängnis gebracht. Vater hätte mich auch umgebracht, wenn ihm nicht klar gewesen wäre, dass ich ohnehin recht bald sterben würde.

Die Scheidung verlief schnell und brachte ihm nur Vorteile. Mutter hingegen, dumm wie sie war, meinte gesiegt zu haben. Eine ganze Woche lang rief sie immerzu ihre einzige Freundin an, eine Verkäuferin, und erzählte ihr, wie sie das unglückselige Trampeltier zerschmettert habe, und zwar bloß, weil ich ihr zugesprochen wurde. Nur Großmutter hatte etwas kapiert, sagte Mutter aber kein Wort. »Nun freut auch sie sich mal«, sagte sie zu mir, »lass ihr die Freude.«

Ich will mir lieber nicht vorstellen, wie sich Vater gefreut hat, als er das Urteil des Richters vernahm. Ich glaube, der hat sich angepinkelt vor Freude. In einer Sekunde zwei Leute loszuwerden, für deren Tod du bezahlen würdest, war ein zu großes Glück, selbst für einen Lkw-Fernfahrer.

So also stand es um Mutter an dem Morgen, an dem sie ihr neununddreißigstes Jahr beendete.

Ich hätte sie zur Schrottverwertung gebracht und bei den Haaren begonnen. Eine Sache aber passte nicht ins Gesamtbild dieser Geschichte – ihre Augen. Mutter hatte ein Paar dermaßen schöne grüne Augen, dass es wie ein krasses Versehen aussah, sie auf ein so aufgedunsenes Gesicht zu verschwenden.

4

Mutters Augen waren ein Versehen.

5

Schließlich kamen wir irgendwann zu Hause an, und ich ging gleich auf mein Zimmer. Mir war es seltsam vorgekommen, dass Mutter über die gesamte Wegstrecke geschwiegen hatte, aber ich dachte, es habe mit Großmutter zu tun, die in der Nacht zuvor ins Krankenhaus gekommen war. Um zu spüren, dass sie geboren worden war, hatte Mutter an diesem Tag eine Sahnetorte gebacken und zehn Flaschen Bier gekauft. Ich sagte ihr nicht ohne eine gewisse Genugtuung, ich hätte kein Geschenk für sie besorgt. Sie sagte, das mache ihr nichts aus. Ich beneidete sie für ihre Fähigkeit, offensichtliche Sachverhalte zu ignorieren. Ich hasste sie, Vater hasste sie, ihre einzige Verkäufer-Freundin hasste sie. Mika war tot. Trotzdem, schau an, sie hatte eine Torte gemacht und Bier gekauft. Wenn doch wenigstens Großmutter zu Hause gewesen wäre, aber sie war es nicht, und das bedeutete, dass niemand, aber auch absolut niemand im gesamten Universum bereit gewesen wäre, auch nur zwei Cent für sie aufzubringen, zu ihrem Geburtstag oder für ihr Leben überhaupt, wenn wir schon davon reden.

Ich fing an, das Geld für Amsterdam zu zählen – das tat ich jeden Tag, als würde es sich allein schon durchs Zählen vermehren. Es war alles da, aber bei Weitem nicht so viel, wie ich mir gewünscht hätte. Von Großmutter konnte ich keines mehr klauen, denn sie hatte das Schloss ausgewechselt, wahrscheinlich auch das Versteck geändert, und sie hatte mir klar gesagt, dass sie Sex und Drogen nicht finanziere. Während ich an andere Möglichkeiten dachte – allesamt strafbar –, klopfte Mutter an die Tür und rief mich zum Essen. Ich sagte, sie solle sich wegscheren, ich hätte keinen Hunger, sie aber rief, sie habe Bratäpfel.

Das charakterisiert Mutter am allerbesten: Sie wusste, wie sie Leute rumkriegte. Dazu kam, dass ihr schwachsinniges Gesicht immer auch einen Ausdruck kindlicher Verwunderung bewahrte, der alle entwaffnete und ihr jahrelang dazu diente, tonnenweise billige Nahrungsmittel zu astronomischen Preisen zu verkaufen. Selbstverständlich folgte ich ihr. Bratäpfel waren meine Schwachstelle.

Der Geburtstagstisch sah aus, als hätte jemand eine Girlande an einer Mülltonne festgemacht. Auf einer neuen Wachstuchtischdecke mit Mohnblumen – Großmutter hatte kürzlich in ihrem Geschäft neue Ware bekommen – war allerlei ekelerregender Fraß platziert: Pastete aus Fischleber, saure Gurken, luftgetrocknete Salami mit Fettklumpen, gebackene Hähnchenflügel in Mayonnaise, in Essig eingelegte Heringe, mit einem Wort – alle ihre bevorzugten Speisen. Sie war offenbar auch beim Kalinka vorbeigegangen – dem russischen Lebensmittelladen, in dem ihre Freundin Kasza arbeitete – und hatte sich dort mit Wodka eingedeckt.

In der Mitte thronten der Teller mit den Bratäpfeln und ein Drei-Liter-Einmachglas mit Pfirsichkompott für mich. Die Äpfel waren gut, ich aß vier davon. Das Kompott war von Großmutter eingelegt worden, also hatte sie keinerlei Verdienst daran. Den Rest habe ich nicht angerührt.

Ich blieb länger am Tisch sitzen, als ich vorgehabt hatte. Auch fühlte ich mich doch nicht so ganz wohl, sie hatte schließlich von überhaupt niemandem etwas geschenkt bekommen. Nun hatte sie gewiss auch nichts verdient, aber sie war immerzu aufmerksam, kaufte allen stets schöne Blumen und teure Geschenke, selbst für Vaters unverschämte Verwandtschaft. Wir saßen herum wie bei einer Totenwache.

Mutter redete auch wieder Unsinn über Dinge, von denen sie nichts verstand: die Rechte von Emigranten, Wiedergeburt, erneuerbare Energie. Am liebsten hätte ich ihr die Zunge abgebissen oder sie ihr herausgerissen und durch den Fleischwolf gedreht. Die einzige Möglichkeit, Ruhe zu bewahren, bestand darin, aus dem Fenster zu schauen – was ich auch schon seit einer halben Stunde tat. Jemand hatte vor unserem Haus eine Tüte mit Sahne fallen gelassen, und jetzt sah man ringsum weiße Fußspuren. Das kam mir sogar schön vor, als hätte es geschneit. Oder als wären ein paar Schneemänner ausgeflippt und hätten so lange vor unserer Tür aufeinander eingeprügelt, bis sie geschmolzen waren. Jedenfalls war es eine angenehme Veränderung. Gewöhnlich sah ich morgens, wenn ich hinaustrat, nichts als Zigarettenstummel und tuberkulös-schleimige Spucke. Großmutter sagte, die Leute spuckten häufiger vor unsere Haustür, weil wir die Reichsten in Haringey seien. In gewissem Sinne hatte sie recht, obwohl es auch etwas albern von ihr war – wir waren in diesem Viertel einfach nicht beliebt. Sie hielt alle Leute für reich, die Salami auf den Tisch brachten. Außerdem war sie beinahe blind, sah also die Dinge nicht so klar.

Ab einem bestimmten Moment wurde Mutter seltsam: Sie brachte ihre Sätze nicht mehr zu Ende, legte längere Pausen ein und fing an, die Speisen vom Tisch zu räumen, obwohl sie noch nicht alles bis auf den letzten Knorpel in sich hineingestopft hatte. Etwas hatte sich in ihr verändert, aber ich begriff nicht, was es war. Ich dachte, sie habe schließlich verstanden, wie peinlich diese verkrampfte Feier mit uns beiden war, die wir hier versucht hatten, wie eine glückliche Familie auszusehen.

Ich sagte trocken »Herzlichen Glückwunsch!« zu ihr – auch das war schon zu viel – und stand auf, um zu gehen. Mutter aber hatte mich nicht gehört. Sie holte die Torte aus dem Kühlschrank, die wie ein riesenhafter Hühnerschiss aussah, und bat mich, mit ihr zusammen die Kerze auszupusten. »Komm, Aleksy, komm, es kann das letzte Mal sein«, lachte sie. Immerhin hatte sie so viel Anstand, nur eine Kerze anzuzünden, obwohl sie, selbstverständlich, alle vierzig gekauft hatte. Für den Fall, dass die eine sich nicht anzünden ließ. Dann veränderte sich Mutters Gesicht plötzlich, und sie sagte, wir hätten etwas sehr Wichtiges zu besprechen.

Es war schon fast eine ganze Stunde vergangen, in der nur sie allein gesprochen hatte, und ich wusste noch immer nicht, was davon zu halten war. Klar war, dass sie nicht bei Sinnen war. Mir stellte sich nur die eine Frage, ob ich möglicherweise von dieser Situation profitieren könnte. Ich sagte ihr, ich wolle in der Nacht darüber nachdenken, und ging in mein Zimmer. Am Morgen saß sie immer noch am Küchentisch, sie hatte den Kopf auf der Tischplatte liegen und schlief, ihre Hände waren von der Torte verschmiert, und sechs leere Flaschen umstanden sie im Halbkreis.

Ich war einverstanden.

6

Nach neun Stunden Fahrt, bei der wir neunmal anhielten, damit Mutter an der Autobahn, in das Distelgestrüpp am Rand, in den öffentlichen Bedürfnisanstalten sowie auf die Fensterscheibe eines Kleinbusses kotzen konnte, in dem alte Leute mit Krücken zum Meer hin aufgebrochen waren, und einmal, um die in einer Plastikflasche zwischen ihren Knien gesammelte Kotze wegzukippen, waren wir angekommen. »Im Paradies«, quietschte sie und klatschte in die Hände, während ich zu überschlagen versuchte, wie lange ich bräuchte, um mit dem Auto zurück nach Paris zu gelangen, von dort mit dem Zug nach London, um dort dann am Freitag Jim und Kalo am Bahnhof zu treffen. Ich hatte ein paar Euro und ein paar Pfund dabei, aber ich war bereit, zu stehlen, mich zu prostituieren oder sonst was für eine Straftat zu begehen, nur um von dort wegzukommen.

Mutter stieg als Erste aus dem Auto, sie kotzte zum vierzehnten Mal und bückte sich, um die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe zuzuschnüren. Gemächlich, den gewaltigen Hintern wie eine überreife Aprikose in die Höhe gereckt, unmittelbar vor die Nase des Chauffeurs. Ich konnte es nicht glauben. Diese Kreatur, nach der sich sämtliche Regisseure absurder Filme auf der Welt verzehrten, war meine Mutter. Und sie spielte nicht einmal irgendeine Rolle.

Der Chauffeur war entzückt. Es sah so aus, als hätte er nie einen anderen Wunsch gehabt, als am helllichten Tag ein Paar Damenunterhosen zu studieren, ohne dabei verhaftet zu werden, und nun hatte er die Gelegenheit dazu. Elendes Drecksschwein. Ich wollte zuschlagen.

»Du zählst bis hundert, und der Wunsch, zuzuschlagen, verschwindet«, hatte die Psychiaterin zehnmal zu mir gesagt, aber auch sie hatte nicht wirklich Ahnung, denn einmal habe ich mir gleich nach der Konsultation beim Versuch, eine Cola aus dem Automaten rauszukriegen, die Hand zu Brei geschlagen. Die Cola kam nicht raus, der Bus war schon da, ich hatte es eilig. Ich habe bis drei gezählt und dann draufzuhauen begonnen, bis die ganze Haltestelle rot war. Damals wurde ich nur deshalb nicht eingesperrt, weil der Polizist die Schuldirektorin kannte und diese auf irgend so einen Posten im Rathaus kandidierte.

Wenn ich die Augen geschlossen hatte, verstörte mich Mutters Stimme nicht so sehr. Ich begann, in Gedanken zu zählen. Wir befanden uns irgendwo im Norden Frankreichs, ich wusste nicht genau, wo, aber ich fühlte mich, als hätte ich soeben das gesamte Universum durchquert. Bis zu diesem Augenblick hatte unsere Reise lediglich all das bestätigt, was mir über Frankreich sowieso bekannt war. Vom Autofenster aus hatte ich nur weiße Kühe gesehen, beinahe schrottreife Peugeots und Traktoren mit Anhängern, die Mist transportierten. Und dann gab es da noch die Musik dieses perversen Chauffeurs. Mutter aber wirkte, als wäre sie an eine Steckdose angeschlossen. Wenn sie nicht kotzte, rief sie immerzu: »Fantastisch, fantastisch!«

Ich warf mich ins Gras. Ich befand mich mitten auf einem Feld mit irgendwas, und erst ganz in der Ferne, etwa einen halben Kilometer weiter, konnte man eine Art menschlicher Behausung sehen – wahrscheinlich unser Ziel. Wie sollten wir unser Gepäck dorthin schaffen? Diese Frage war schon zu viel für mich, ebenso wie die ganze Reise. Mutter sprach mit dem Chauffeur über Geld, und ich sah, dass sie mit ihm zu schäkern versuchte. Wenn ich noch nicht gekotzt hatte, dann allein deshalb, weil mich ein paar fingergroße Ameisen befallen hatten, die ich nicht loswurde. Diese verdammten Mistviecher begannen, wie wild an mir hochzukriechen und sich unter meinen Klamotten auszubreiten. Ich ekelte mich immer schon vor Insekten, also begann ich, wie ein Irrer zu brüllen und alles auszuziehen, was ich am Leib hatte. Der Chauffeur konnte sein Glück nicht fassen. Noch ein paar Unterhosen für umsonst.

»Merrrrrsiii«, hörte ich Mutters sirupartige Stimme, die auch einen brünstigen Iltis noch in die Flucht geschlagen hätte. Dann sah ich, wie sie dem Perversling drei Scheine hinhielt – die Bezahlung für den Weg von Paris bis in dieses Loch hier –, und endlich waren wir beide allein.

Mutter fing an, mich auszulachen, was mich entsetzte, denn wenn sie lachte, war sie noch um einiges hässlicher. Ihre kleinen weißen Zähne waren aus ihrem Mund auf ihr wulstiges Doppelkinn gewandert und ihre schönen Augen zwischen den Falten ihres fetten Gesichts verschwunden, das sich mit der Geschwindigkeit von Puzzleteilen veränderte. In solchen Momenten sah Mutter wie ein glückliches Monster aus, während ich darauf wartete, dass ihr ein Ohr aus dem Mund fiele und ihr die Zunge aus dem Nasenloch flösse.

Ich betete, dass dieser Tag möglichst bald zu Ende ginge. Dass die Erde aufbräche und Mutter irgendwo in den Tiefen verschwände. Oder ich. Oder ich wenigstens in sie hineinschlüpfen könnte, zurückgeboren würde und, wenn ich nicht mehr war – so weit davonrennen könnte, wie mich die Füße trügen.

7

Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Haus kam und worüber ich mit Mutter sprach oder ob ich überhaupt mit ihr sprach. Am nächsten Morgen erwachte ich in einem riesigen Bett, das wie eine Arche aussah, mit am Kopf- und Fußende eingeschnitzten Tauben. Das Erste, woran ich mich deutlich erinnere, wenn ich an jenen Sommer denke, ist – wie ein Titel – das Mädchen mit dem verkürzten Bein. Sie trug ein schwarzes Kleid, das mit violetten Totenköpfen bedruckt war, und versuchte, ein Plakat auf die Schlagläden an meinem Fenster zu kleben. Das Mädchen hieß Varga, und sie war eine Waise aus Tschechien, die ein paar Jahre später ein Auge verlieren und ein Kind vom Dorfbuchhändler bekommen sollte. Diese Dinge habe ich aber erst sehr viel später erfahren, etwa zehn Jahre nach diesem Morgen, als wir uns ein weiteres Mal trafen und über alles lachten, allerdings nicht sehr laut.

Varga wäre vor Schreck beinahe ohnmächtig geworden, als sie mich in dem Haus, das sie für verlassen gehalten hatte, das Fenster öffnen sah. Sie verfluchte mich kurz und rannte dann asymmetrisch, das Kleid im Wind flatternd, davon. Das nasse, mit stinkendem Kleister eingeschmierte Plakat hatte sie liegen lassen. Auf das Papier, das zu einer Vorstellung einlud, hatte man zwei hässliche Marionetten gezeichnet und den Titel der Veranstaltung gedruckt: »Der Schlaumeier und der Bösewicht«. Tot umfallen will ich, wenn ich so etwas erfinde. Es war eine Vorstellung für Kinder, und sie wurde an jedem Sonntag auf dem Straßenabschnitt vor dem Rathaus gezeigt. Ich habe sie nie gesehen, es reicht schon zu wissen, dass es sie gab.

An jenem Morgen – das klebrige Plakat in der Hand und die flatternd davonrennende Varga im Sinn – empfand ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Art allgemeiner Hoffnungslosigkeit, eine gewaltige Sinnlosigkeit und eine Leere, die vor meinen Augen zu wachsen begann, sich aufblähte und derart beängstigende Formen annahm, dass ich wusste, ich würde niemals in der Lage sein, sie mit etwas oder jemandem aufzufüllen.

Ich ging und suchte Mutter.

Bevor ich das Zimmer verließ, sah ich meine Kleider, sie lagen übereinandergehäuft auf einem Stuhl. Das heißt, dass ich von dem Zeitpunkt an, als gestern die Ameisen über mich hergefallen waren, und bis jetzt nur in Unterhosen herumgelaufen war. Zu meiner Überraschung störte mich dieser Gedanke genauso wenig wie der, dass mich fremde Menschen so gesehen hatten. Ich war über Nacht zu Mutter geworden.