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Mitten ins Herz Wenn Juli nachdenken will, zieht sie sich auf ihre Lichtung zurück. Doch eines Tages ist sie nicht alleine dort. Ein Junge steht vor ihr, plötzlich und unerwartet. Ein Junge wie von einem anderen Stern, so schön und so geheimnisvoll ist er. Ihrer beider Liebe könnte die Welt verändern. Doch darf diese Liebe überhaupt sein? Nach ›Das Lied der Träumerin‹ der neue wunderbare Roman von Bestsellerautorin Tanya Stewner: humorvoll, romantisch, dramatisch, bezaubernd leicht und voller Hoffnung. Achtung, er könnte auch dich verändern!
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Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2024
Tanya Stewner
Ein Sommer voller Liebe und Hoffnung auf eine bessere Welt
Als Juli und Anjano sich auf einer Waldlichtung begegnen, scheint die Zeit stillzustehen: Noch nie hat Juli einen so schönen und geheimnisvollen Jungen gesehen. Hals über Kopf verlieben sich die beiden ineinander. Ihre Liebe könnte die Welt verändern. Juli spürt, dass Anjano ein Geheimnis hat, denn je näher sie sich kommen, desto offensichtlicher wird, dass er kein normaler Mensch ist.
Humorvoll, romantisch, dramatisch, bezaubernd leicht und voller Hoffnung. Achtung, dieses Buch könnte auch dich verändern!
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Tanya Stewner wurde 1974 im Bergischen Land geboren und begann bereits mit zehn Jahren, Geschichten zu schreiben. Sie studierte Literaturübersetzen, Englisch und Literaturwissenschaften in Düsseldorf, Wuppertal und London und widmet sich inzwischen ganz der Schriftstellerei. Ihre Kinderbuchserie »Liliane Susewind« ist ein Welterfolg, der auch fürs Kino verfilmt wurde. Die Autorin lebt mit ihrer Familie am Rhein.
[Widmung]
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Danke
Für Piam
»Ich finde mich ja manchmal selbst ein bisschen seltsam«, sagte ich seufzend.
»Na, das ist doch ein Anfang«, erwiderte Whoopi.
»Viel zu kopflastig. Viel zu analytisch«, fügte ich grübelnd hinzu.
»Sag nicht so was …«
»Ich zerdenke ja praktisch alles!«
»Wenn du deine überschlauen Monologe im Unterricht meinst, dann hast du recht«, sagte Whoopi. »Die sind tendenziell unsexy.«
Da hatten wir den Salat. Ich war unsexy. Überschlau. Aber was sollte ich denn machen? Ich hatte einen IQ von einhundertvierzig. Mein Hirn lief ständig auf Hochtouren und ließ mich Dinge sagen, die völlig gedankenverschwurbelt waren und die außer mir niemand verstand, nicht einmal Whoopi. Und Whoopi gab sich redlich Mühe, mir von A nach B zu C zu folgen, aber falls ich dann unvermittelt zu F sprang, winkte sie meist ab und erfand einen neuen Spitznamen für mich. Zum Beispiel Hypothesenhirni oder so etwas. Aber das war okay. Ich wusste ja, dass ich manchmal ein bisschen seltsam war. Unsexy war allerdings niemand gern.
»Ist doch egal«, sagte Whoopi und wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. Es war ein stickig heißer Tag im Juli, und wir schlurften im Schneckentempo von der Schule zur Bushaltestelle. »Wir gehören halt nicht zu denen, die zu den hippen Partys eingeladen werden. Na und? Antonia und ihre Schätzchen sollen ruhig ohne uns feiern. Die haben ja keine Ahnung, was ihnen entgeht!«
Ich lachte. Wenn die richtige Musik lief, war Whoopi auf der Tanzfläche der absolute Knaller. Zumindest auf dem Teppich in ihrem Zimmer, denn auf eine richtige Tanzfläche hatten wir es bisher noch nicht geschafft.
»Ich glaube, Antonia hat keine Ahnung, wer ich bin, obwohl ich in Physik neben ihr sitze«, sagte ich. »Sie kennt bestimmt noch nicht mal meinen Namen.«
Whoopi zuckte die Achseln. »Du kannst deinen Namen doch sowieso nicht leiden.«
Das stimmte. Mein Name war niedlich. Ich nicht.
Whoopi mochte ihren Namen allerdings auch herzlich wenig. Ihre Mutter hatte sie nach einer Neunziger-Schauspielerin benannt, die weder schön noch besonders aufregend war, und das nahm Whoopi ihr übel. Das und … nun ja, Whoopi. Ein Name, so sexy wie ein Purzelbaum (Zitat Whoopi).
»Trotzdem würde ich gern mal zu einer dieser Partys gehen«, gestand ich. Immerhin kamen zweiundachtzig Prozent der Jugendlichen zwischen vierzehn und siebzehn Jahren auf einer Party mit ihrer ersten Liebe zusammen. Aber das war bei mir sowieso eher unwahrscheinlich. Es war noch nie jemand in mich verliebt gewesen, zumindest nicht seit der Grundschule. (Und dass Leon Kortekamp damals neben mir sitzen wollte, zählte eigentlich auch nicht richtig.) »Ich will nur mal gucken, was die da so machen.«
»Bestimmt was echt Sensationelles«, antwortete Whoopi ironisch. »Also sowieso nicht ganz unser Metier.«
»Was ist denn unser Metier?«, hakte ich sofort nach.
»Klassisches Nerdtum, meine Liebe.«
Ich seufzte wieder.
»Wir sind so nerdy, wie man nur sein kann!« Whoopi grinste und präsentierte dabei ihre übergroße Zahnlücke. »Hast du mal in einen Spiegel geguckt, wenn wir zusammen den Flur langzockeln?«
Ich lachte. Whoopi war dreißig Zentimeter kleiner als ich, gerade mal eins fünfzig, und im Doppelpack sahen wir vermutlich tatsächlich aus wie eine Parodie auf den herkömmlichen Nerd: Die eine war klein, moppelig, mit riesiger Brille, langem Zopf und grellbunten Klamotten. Die andere war viel zu groß, dünn auf die kurvenlose Art, chronisch untrendy gekleidet, mit viel zu wilden Augenbrauen, hängenden Schultern und einem Gesicht wie aus Tausendundein Mensch am Bahnsteig. Wir waren ein unspektakulär schräges Gespann. Trotzdem mochte ich uns. In Gegenwart von Whoopi mochte ich mich selbst sogar lieber als allein, was vor allem daran lag, dass sie das Beste in mir zum Vorschein brachte. Und das war nicht die Streberin, die sich in Büchern verkroch und makellose Zeugnisse sammelte, sondern jemand, der manchmal einigermaßen originelle Ideen hatte und hin und wieder sogar ganz witzig sein konnte. Sagte zumindest Whoopi.
»Man muss nur mit Leib und Seele das sein, was man ist«, erklärte Whoopi weise, während wir in den Bus einstiegen und uns wie immer nach ganz hinten setzten. »Dann arrangiert man sich mit der Schublade, in die man gesteckt wird, und findet das Ganze eher lustig.«
»Ja, bei uns in der Nerd-Schublade ist es echt zum Totlachen …«
Whoopi verpasste mir einen Klaps auf den Oberarm. »Unsere Schublade ist die beste von allen! Weil es unsere ist! Und wir sind etwas Besonderes.«
Ich lächelte ergeben. »Du bist wirklich herzerfrischend, Whoopilein.«
Ihr rundes Gesicht strahlte. Dann fragte sie: »Sag mal, warum machst du dir eigentlich einen Kopf darum, was jemand wie Antonia von dir denkt? Das ist dir doch sonst auch egal.«
»Ach, nur so …«
Whoopi blickte mich durchdringend an, dann schnalzte sie mit der Zunge. »Ah! Du denkst, auf einer Party sind die Chancen größer, jemanden zu treffen.«
»Mmpf«, nuschelte ich und verschränkte die Arme. Whoopi war leider eine Meisterin im Kombinieren.
Sie schenkte mir ein ironiefreies Lächeln. »Mach dir keine Sorgen. Er ist irgendwo da draußen. Wenn es Schicksal ist, dass ihr zusammentrefft, dann sorgt das Schicksal auch dafür, dass ihr euch ohne Party über den Weg lauft.«
Ich grinste schief und hoffte, dass sie (wie meistens) recht hatte.
Zwanzig Minuten später schleppten wir uns schnaufend die Treppen in Whoopis Wohnhaus hinauf. Whoopi und ihre Mutter lebten auf der fünften Etage eines extrem hässlichen Hochhauses, in dem ständig der Fahrstuhl kaputt war. Sie hatten eine Fünfzig-Quadratmeter-Wohnung, vollgestopft mit alten Ikea-Möbeln, die so überladen und spillerig waren, dass man jedes Mal, wenn man einen Schrank öffnete, dachte, die gesamte Einrichtung käme aus dem Gleichgewicht und würde dominomäßig umkippen. Trotzdem fühlte ich mich hier zu Hause. In Whoopis Wohnung war irgendwie alles gut. Hier konnte man sich einfach auf Whoopis Bett werfen und sich wohl fühlen … und sich wünschen, dass man nie mehr in sein richtiges Zuhause zurückkehren müsste.
Whoopi schloss die Wohnungstür auf und pfefferte ihre Schultasche auf die Kommode, die gleich hinter der Tür stand und verhinderte, dass man diese komplett öffnen konnte.
»Hallo, Mama!«, donnerte Whoopi, obwohl ihre Mutter den ganzen Tag arbeitete und nie vor acht oder neun Uhr abends nach Hause kam. Whoopi grüßte sie trotzdem jedes Mal, wenn sie heimkam, und nannte das Die stumme Anklage des allein gelassenen Teenagers. Ich hatte Whoopi zwar schon zigmal erklärt, dass es keine stumme Anklage war, wenn sie Hallo, Mama! brüllte, aber Whoopi sagte, es wäre ja dadurch, dass ihre Mutter sie nicht hörte, ein stummer Protest. Das ist natürlich Quatsch, weil es bei dem Wort stumm nicht darum geht, dass jemand dich nicht hört, sondern darum, dass du nichts sagst, aber ich will nicht immer auf allem herumreiten.
»Hallo, Frau Kalouny!«, schrie ich nun, wie immer, wenn ich die Wohnung betrat, und schmiss meine Tasche ebenfalls auf die Kommode hinter der Tür.
Whoopi marschierte zielstrebig in ihr winziges Zimmer, und ich folgte ihr. Ich liebte Whoopis Zimmer. Hier war alles eng, knallbunt und fröhlich.
Wir warfen uns aufs Bett, und Whoopi stellte den Fernseher an. Sie war ein bekennender TV-Junkie und schaute täglich mehrere Stunden lang fern, vorzugsweise alte Science-Fiction-Serien wie Star Trek, Stargate und Star Wars (oder war Star Wars das, von dem es nur Filme und keine Serie gab?). Leidenschaftlich gern guckte sie aber auch das Nachmittagsprogramm der Privatsender, also den richtig üblen Mist. Whoopi war der einzige Mensch, den ich kannte, der nicht zufällig in irgendeinen schaurigen Scripted-Reality-Schrott hineinzappte und dann entsetzt wegschaltete, sondern tatsächlich gezielt nach dem Schrott suchte und sogar im Kopf hatte, wann welcher Schrott anfing. Was das anging, hatte meine beste Freundin einen ausgesprochen schlechten Geschmack, und auf den war sie sehr stolz! Oft trug sie selbst gedruckte, farbenfrohe Shirts mit irgendwelchen Z-Promis darauf, deren Namen kein Mensch kannte. Whoopi konnte einem jedoch sagen, in welcher Staffel welcher Show das Shirt-Gesicht mitgemacht hatte, was es für ein perfektes Dinner kochen würde und wie schnell es shoppen konnte. Dabei strahlten Whoopis Augen, und ihre Stimme kiekste ein bisschen vor Glück. Ja, Glück! Fernsehen machte sie glücklich. Und wenn man davon ausging, dass Glück etwas war, nach dem alle Menschen strebten, konnte man nur daraus schließen, dass es eigentlich egal war, wofür man sich begeisterte, Hauptsache, es packte einen so sehr wie der TV-Müll Whoopi.
Star Trek fand ich übrigens selbst ganz okay, aber allem anderen, was Whoopi sich ansah, konnte ich leider überhaupt nichts abgewinnen. Deswegen las ich, machte Hausaufgaben oder grübelte vor mich hin, während Whoopi wie hypnotisiert zum Bildschirm starrte – oder ich aalte mich einfach in Whoopis Glücksblase, die sich auch jetzt um sie herum auf dem Bett ausbreitete und mich zum Durchschnaufen brachte. Hier, auf Whoopis Bett, in Whoopis Welt, konnte ich endlich mal den ganzen Mist vergessen, der sich ständig von hinten in meine Gedanken stahl und sich wie ein fieser kleiner Splitter zwischen den Hirnhälften festsetzte.
»Drama, Baby!«, kommentierte Whoopi mit amerikanischem Akzent und sah mich forschend an. »Warum stöhnst du so?«
»Ich bin entspannt«, antwortete ich und schnaufte gleich noch einmal tief durch. »Kann ja mal passieren.«
Whoopi zog die linke Augenbraue in die Höhe. »Und weswegen noch?«
Ich seufzte. Whoopi konnte man nichts vormachen.
»Spuck es lieber gleich aus. Dann können wir uns danach wirklich entspannen«, schlug sie vor.
»Hm …«
»Immer noch wegen der Party?« Whoopi setzte ihren Röntgenblick auf. »Nee, was anderes …« Ihr Blick intensivierte sich. »Deine Eltern sind bescheuert, alles Kacke, deine Elli?«
Ich schaute sie resigniert an. Das traf es ziemlich genau, obwohl ich keine Ahnung hatte, wer diese Elli war. Whoopi sagte ständig Alles Kacke, deine Elli. Ich seufzte wieder. »Heute Abend sind meine Eltern beide zum Essen da«, erklärte ich, und in meinem Tonfall schwangen hundert ungesagte Dinge mit – der ganze Mist eben.
Mit gekräuselter Stirn wickelte Whoopi das Ende ihres Zopfes um den Finger. »Tischgespräche des Grauens, Teil fünfundsechzig?«
Ich nickte.
Whoopi schien eine Idee zu haben. Sie hob den Zeigefinger. »Du musst ja nicht mit deinen Eltern reden.«
»Haha.«
»Nein, im Ernst!« Auf ihrem Gesicht breitete sich ein schelmisches Grinsen aus. »Wenn sie dich heute Abend was fragen, bellst du einfach.«
»Ich belle?«
»Ja, wenn sie dir blöd kommen, kläffst du wie ein Hund!« Whoopis Augen leuchteten. »Das wäre die ultimative stumme Anklage!«
»Bellen wäre ultimativ nicht stumm!«
»Aber du sagst ja nichts!«
»Schon. Aber stumm –«
»Ach, Pillepalle!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du wärst voll die Rebellin!«
»Ja, klar.« Ich lachte, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf. Allein die Vorstellung war beunruhigend. »Ich glaube, eher nicht.«
Whoopi schnalzte noch einmal mit der Zunge. »Na, dann mach doch, was du willst.«
»Nö!«, entgegnete ich entschieden.
Whoopi lachte. »Dann bell sie platt!« Damit rollte sie sich auf den Bauch und schaute wieder zum Fernseher.
Ich brummte leise. Wie cool wäre es, einfach meine Eltern anzubellen? Aber ich war nun einmal nicht cool, sondern befolgte immer die Regeln. Ich war die, die alles richtig machte, damit sich niemand auf den Schlips getreten fühlte. Vor allem nicht Lehrer … oder meine Eltern.
Verdammt. Alarm! Fieser Splitter zwischen den Hirnhälften!
Zum Glück hatte ich ein Abwehrsystem für unerwünschte Gedanken. Sobald ich bemerkte, dass sich etwas in meinen Kopf geschlichen hatte, das ich da nicht haben wollte, nahm ich einen imaginären Minigolfschläger und schlug den bösen Gedanken wie einen Golfball in ein tiefes Loch. Je nach Schweregrad des Gedankens stellte ich zusätzlich eine Gießkanne auf das Loch, so dass der Ball/Gedanke nicht wieder herauskommen konnte. In meinem Kopf waren meine Eltern schon eine Zillion Mal im tiefsten Golfloch und unter der Gießkanne gelandet. So auch jetzt.
»Ah!«, murmelte Whoopi, während sie gebannt auf den Bildschirm starrte. Inzwischen lief kein Laienschauspieler-Driss mehr, sondern irgendein Promimagazin. Whoopi griff nach einer Tüte Chips und tauchte blind mit der Hand hinein. »Wie findest du ihn eigentlich?«
»Wen?«, fragte ich und streckte meine Füße aus.
»Den Bieber.«
»Butzemann?«
Whoopi kicherte. »Justin Bieber, du Nuss!«, sagte sie und verpasste mir einen kleinen Ellbogencheck.
Ach so, der Typ im Fernsehen. »Äh, süß?«, erwiderte ich, nachdem ich ihn mir angesehen hatte.
»Falsch!« Whoopi schüttelte streng den Kopf. »Wir finden Justin Bieber doof! Verstanden? Egal, wie süß er ist.«
Ich zog die Brauen hoch. »Also findest du ihn süß?«
»Neiiin!« Whoopi biss krachend in eine Handvoll Chips und grummelte irgendetwas Unverständliches.
Grinsend ließ ich mich in Whoopis Kissen zurücksinken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und guckte mir den nächsten Beitrag an. Ein überkandideltes Starlet erzählte, dass es sich am liebsten schöne Wörter eintätowieren ließ. Stolz deutete sie auf Phantasie am Oberarm, Schmetterling an der Fessel und fabelhaft am Handgelenk.
Whoopi grunzte. »Was für eine Hohlfrucht.«
»Armes Ding«, bemerkte ich.
Whoopi hob wieder den Zeigefinger. »Ja, und Schmetterlinge sind eigentlich Raupen! Krabbelnde Würmer!«, erklärte sie ernst. »Nur später.«
Ich nickte eifrig, und wir schauten wieder zum Bildschirm. Es war die Faszination des Grauens, die einen hinsehen ließ – wie bei einem Verkehrsunfall. Als der Bericht über das arme Starlet mit dem Wurm an der Hacke (nur später) zu Ende war, setzte Whoopi sich auf und fragte mich nachdenklich: »Wenn du dir ein Wort eintätowieren lassen müsstest, welches würdest du nehmen?«
»Radium.«
Whoopi stöhnte theatralisch.
»Oder Polonium!«, begeisterte ich mich, denn ich war ein großer Fan von Marie Curie, einer Wissenschaftlerin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die die chemischen Elemente Radium und Polonium entdeckt hatte. »Radium und Polonium stehen für Entdeckergeist, Emanzipation, Brillanz!«, rief ich mit angemessenem Enthusiasmus und reckte die Faust in die Höhe.
Whoopi schaute mich an wie eine Mutter ihr wasserbombenwerfendes Kind. Ihre Augen lächelten allerdings. »Und wohin lässt du dir das tätowieren?«, fragte sie.
»Auf die Stirn.«
»Klar doch.«
»Und du?«
Whoopi überlegte. »Das schönste Wort, das ich kenne, ist Pommes.«
Ich kicherte.
Whoopi nickte jedoch ernsthaft. »Ich lasse mir Pommes in verträumter Poesiealbum-Schrift quer über den Bauch stechen«, sagte sie und strich sich über die liebe, runde Wampe. »In meiner Lieblingsfarbe – Neongrau!«
Ich machte ein Quiekgeräusch. »Dann lass ich mir auch mein Leibgericht eintätowieren!«, gluckste ich. »Auf meinem Bauch prangt dann in Hardrock-Prunkschrift das coolste Wort aller Zeiten: Müsli.«
Whoopi musste so sehr lachen, dass sie sich vornüberkrümmte und ihre Nase in der Chipstüte verschwand, die sich dann aufblähte und zusammenzog, als würde Whoopi hyperventilieren. Das brachte mich wiederum dazu, zu blöken wie ein Esel, während Whoopi Chipskrümel aushustete.
Als wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten, war das Promimagazin vorbei und eine Kochshow begann. Kochshows fand ich sogar einigermaßen interessant, immerhin konnte man da etwas fürs Leben lernen, aber in diesem Moment schaltete Whoopi schon zu irgendeiner Sitcom um, in der ein Nerd namens Leonard versuchte, bei einer hübschen Blondine namens Penny zu landen. Er war viel cleverer als sie, aber sie war trotzdem die Tolle. So was nervte mich! Wenn man die Menschen dieser Welt vor die Wahl stellen würde, ob sie lieber extrem hübsch oder extrem intelligent wären, würde sich unter Garantie eine überragende Mehrheit für eine perfekte Nase entscheiden. Zirka 96,5 Prozent, würde ich schätzen, vielleicht mehr. Aber na ja, wer stellte einen schon vor diese Wahl, etwa eine Fee mit Zauberstab? Hm. Wenn es solch eine Fee gäbe und sie mich vor die Wahl stellen würde, dann würde ich mir zugegebenermaßen möglicherweise auch ein hübsches Gesicht wünschen. Wenigstens leihweise. Nur für einen Tag. Ausprobieren würde ich nämlich schon gern mal, wie es ist, wenn die Leute einen ansehen und direkt mögen, einfach so, weil ihnen gefällt, was sie sehen.
Aha, erwischt! Ich war also wirklich kein Nerd mit Leib und Seele, sondern wohl vielmehr jemand, der manchmal gern anders wäre, als er ist, aber am liebsten natürlich jemand wäre, der genauso sein will, wie er ist, aber das nicht ist und deswegen eben gezwungenermaßen so ist, wie er ist.
Das nur zur Info, liebe Antonia.
Deine Juli.
Als ich nach Hause kam und die Mahagoniholztür hinter mir zufiel, umschloss mich die Hausatmosphäre augenblicklich wie eine eisige Wolke. Draußen herrschten über dreißig Grad, aber in diesem Haus schien jeder Kubikmeter frostig und klamm, bis zum Rand gefüllt mit den schweren, kalten Gefühlen der Bewohner. Es war ein schickes Haus, sogar das schickste in diesem schicken Viertel. Aber die Designermöbel, der Marmorboden, die hässlichen teuren Gemälde – das alles war so leblos und dumpf wie unsere kleine, schreckliche Familie. Am liebsten wäre ich auf der Stelle wieder zu Whoopis Wohnung zurückgefahren, in der keine Zehntausend-Euro-Skulpturen im Weg standen, wenn man aufs Klo wollte.
Ich hasste es, dass wir reich waren. Meine Eltern machten nichts, aber auch gar nichts Sinnvolles mit ihrem Geld! Sie stellten nur überflüssiges, teures Zeug auf und hatten zwei dreckschleudernde SUVs und einen unbequemen Porsche in der überbreiten Garage stehen. Das machte mich manchmal richtig wütend, denn meine Eltern verschwendeten keinen einzigen Gedanken an die Leute, denen es weniger gutging, und daran, dass der Reichtum der Welt verdammt ungerecht verteilt war.
»Da bist du ja, Engel!«, rief meine Mutter und kam mir entgegengestöckelt. »Na, wie war die Schule? Warst du noch bei Whoopi?«, zwitscherte sie und strich mir eine Strähne meiner dunkelbraunen Locken hinters Ohr. »Willst du dir nicht mal eine Spange in die Haare machen? So fallen sie dir doch ständig ins Gesicht!«
Nein, ich wollte keine Spange. Meine schulterlangen Haare behinderten manchmal zwar ganz erheblich meine Sicht, aber sie verdeckten auch mein abstehendes rechtes Ohr. Man musste Prioritäten setzen.
»Oh«, sagte meine Mutter und sah aus, als hätte sie plötzlich etwas Übelriechendes vor der Nase. »Du hast zu dem hübschen Rock Turnschuhe angezogen.«
»Ja.«
»Aha.« Ihr kritischer Blick wanderte an mir herauf und wieder hinunter. »Du hast doch auch Ballerinas, oder?«
»Schon. Du hast mir ja welche gekauft.«
»Ja, aber angezogen hast du sie noch nie.« Sie betrachtete wieder meine Füße. »Was ist denn mit deinen Chucks? Mit Chucks ginge es vielleicht, aber diese Turnhallentreter …«
Ich fand Chucks einfach tierisch unbequem.
Meine Mutter stieß einen Es-ist-zwecklos-Seufzer aus und strich mir noch einmal die Haare hinter die Ohren. »Das Essen ist gleich fertig«, sagte sie in dem für sie typischen Plauderton. »Es gibt Lammlachse. Die magst du doch so gern, nicht wahr?«
Nein, Mama, die magst du gern, dachte ich, sprach es aber natürlich nicht aus.
»Papa ist in seinem Zimmer. Er kommt gleich runter.« Damit rauschte meine Mutter in die Küche und brutschelte vor sich hin, während ich meine Haare wieder nach vorn strubbelte, die Turnschuhe auszog, in meine bereitgestellten rosafarbenen Puschen schlüpfte und mich zögerlich an den bereits perfekt gedeckten Tisch im Esszimmer setzte. Konnte ich noch irgendwie entkommen? Ich könnte sagen, ich hätte schlimme Migräne. Ich litt so oft an Kopfschmerzen, dass sie mir diese Ausrede vielleicht glauben würden.
Aber da kam schon mein Vater. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe und wappnete mich. Im nächsten Augenblick betrat er den Raum wie ein Monarch, hocherhobenen Hauptes und mit einem Blick, der den vermeintlichen Untertanen gebot, sich zu verneigen. Ich verneigte mich nicht, aber meine ohnehin hängenden Schultern sackten noch ein wenig mehr nach vorn.
»Juli«, sagte er.
»Papa«, sagte ich.
Dann setzte er sich, legte die Hände bedächtig rechts und links neben den Teller und nickte. Ich legte die Hände auch rechts und links neben den Teller.
»Wie läuft es in der Schule?«, fragte er nach einer unangenehmen Pause.
»Gut«, antwortete ich.
»Wie sind deine Noten? Gut?«
»Nein, sehr gut.«
Er nickte wieder. »Gut.«
Wir schwiegen. Mein Vater schaute ins Leere und schien mit den Gedanken weit weg zu sein, seine Aura war allerdings voll präsent und ließ mich ehrfürchtig in der Rolle des gehorsamen Töchterchens verharren.
»Ich habe diese Woche Mathe und Erdkunde zurückbekommen«, erzählte ich dann. »Beides Einsen.«
»Mhm«, machte er abwesend.
»Erdkunde war eine wirklich schwierige Arbeit. Soziale Ungleichheit und sozialpolitische Lösungsansätze«, erklärte ich und hoffte, damit seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich hatte mich vorher intensiv mit dem Thema beschäftigt und mich in Studien eingelesen, die eigentlich Uni-Material sind.« Zugegebenermaßen, weil mich das Thema wirklich interessierte, aber das behielt ich für mich.
»Ja, so ist das«, kommentierte mein Vater tonlos. »Von nichts kommt nichts.« Das war sein Leitspruch. Den hatte er mir schon im Kindergartenalter eingeimpft.
»Und meine Lehrerin meinte, sie hätte noch nie eine derart brillante Aufschlüsselung von Spezialwissen gelesen wie in meiner Arbeit«, schob ich hastig nach. Mir war bewusst, wie peinlich das war. Aber ich konnte nicht anders.
»Mhm«, machte mein Vater wieder und wirkte nun richtiggehend gelangweilt. Ungeduldig drehte er sich zur Küche um, und in mir zuckte ein winzig kleiner Wutfunke auf.
Kurz darauf stakste meine Mutter mit einem Tablett aus der Küche, lächelte mich an, ignorierte meinen Vater und stellte eine Platte mit nett angerichteten, blutenden Lammlachsen, eine Schale mit gedünstetem Gemüse und eine mit petersiliengespicktem Kartoffelgratin auf den Tisch.
»Das Gemüse habe ich in dem neuen Dampfgarer gemacht. Das erhält die Vitamine«, schwatzte sie los und begann einen Vortrag über Gemüse im Allgemeinen und Vitamine im Speziellen, während mein Vater und ich wortlos zugriffen und mit gesenkten Blicken zu essen begannen.
Nachdem über Gemüse beim besten Willen nichts mehr zu sagen war, sprach meine Mutter davon, dass bei solchen Temperaturen wie heute die Ozonwerte stark erhöht wären und ihr Wartezimmer schon am Vormittag voll mit Patienten gewesen wäre, die Atemprobleme und Kreislaufstörungen gehabt hätten. (Meine Mutter war Hals-Nasen-Ohren-Ärztin und hatte eine Privatpraxis in der Stadt.) Unermüdlich plapperte sie weiter – dass man bei solch einer Hitzewelle keinesfalls Sport machen dürfe. Dass Sport aber prinzipiell total wichtig wäre. Vor allem für den Körper. Aber auch für den Kopf! Und so weiter und so weiter. Sie war fast noch peinlicher als ich, wie sie krampfhaft versuchte, die Illusion eines normalen Tischgesprächs aufrechtzuerhalten. Dabei sah sie mich immer wieder an, und zwei- oder dreimal hörte ich mich »Ach so« oder »Hab ich auch schon mal gehört« murmeln. Mein Vater war derweil vollauf mit seiner Mahlzeit beschäftigt und hob nicht ein einziges Mal den Blick.
Bis er ihn dann doch hob. »Ich mag keine Lammlachse«, sagte er und sah meine Mutter einen winzigen Augenblick lang abschätzig an. Dann tupfte er sich mit der Serviette den Mund ab.
Meine Mutter sog zischend die Luft ein. »Ach, wirklich?«, fragte sie spitz. »Seltsam, dass dein Teller leer ist.«
»Lammlachse mag ich nicht«, sagte er, als sei dies ein Faktum aus dem Geschichtsbuch, das jeder kennen müsste.
Das starkgeschminkte Gesicht meiner Mutter verdunkelte sich, und in diesem Moment wäre ich am liebsten aufgesprungen und fortgerannt. Aber natürlich blieb ich sitzen.
»Ich habe die Lammlachse für Juli gemacht!«, versetzte meine Mutter mit eiskalter Stimme. »Anders als du kümmere ich mich nämlich um die Bedürfnisse unserer Tochter.«
Wenn das so wäre, dann wüsstest du, dass ich blutendes Fleisch widerlich finde!, schoss es mir ärgerlich durch den Kopf, und ich merkte, dass der Wutfunke von eben plötzlich zu einer kleinen Flamme wurde.
»Unsere Tochter ist gut versorgt«, erwiderte mein Vater herablassend. »Darum habe ich mich gekümmert.«
»Ach, nur weil du sie in deiner Lebensversicherung an meiner Stelle als Begünstigte eingesetzt hast, denkst du, dass sie gut versorgt wäre?«
Ihr schert euch doch beide einen Dreck um mich!, dachte ich sauer. Wütend. Zornig. Ich war mit einem Mal richtig zornig.
»Das geht dich nichts an«, entgegnete mein Vater kühl. Dann, lauernd: »Woher weißt du, dass ich die Lebensversicherung habe umschreiben lassen?«
Meine Mutter setzte ihr undurchdringliches Pokerface auf. »Ich habe meine Quellen.«
Mit vorgeschobenen Schultern saß ich da und wunderte mich über das Feuer in meinem Bauch, ein lichterloh brennendes Wutfeuer. Es brachte mich dazu, ganz langsam die Schultern zurückzunehmen.
»Ich weiß noch einiges mehr«, sagte meine Mutter mit gefährlich leiser Stimme. »Zum Beispiel, dass –«
Es reichte! Genau jetzt reichte es!
»Wuff!«, bellte ich.
Die Köpfe meiner Eltern fuhren herum. »Wie bitte?«, fragte meine Mutter verdutzt.
Der Blick meines Vaters bohrte sich in meinen. Streng, tadelnd, irritiert.
Meine Wangen wurden schlagartig glühend heiß. Aber die Wut war größer als die Scham. »Wuff! Wuff, wuff!«, kläffte ich wie ein explodierender Dackel. »WUFF WUFF WUFF!«
Meiner Mutter klappte der Unterkiefer herunter.
Mein Vater starrte mich sprachlos und mit tiefer Falte zwischen den Augenbrauen an.
Aber der Dackel war fuchsteufelswild. »Rrrrr«, knurrte er und kläffte abermals. »WUFF WUFF WUFF WUFF!« Es tat überraschend gut, das zu tun. Wahnsinnig gut. Ich konnte den ganzen Mist endlich einmal herauslassen. Und sie hörten mich! Sie nahmen mich und meine Wut wahr. Ich bellte noch einmal. Und noch einmal.
Dann sagte mein Vater kühl: »Ich glaube, Juli sollte jetzt besser auf ihr Zimmer gehen.« Der Gebrauch der dritten Person drückte die größtmögliche Verachtung aus. Zusätzlich schaute er aus dem Fenster. Ich war unwürdig.
Aber in diesem Augenblick machte es mir nichts aus. Wie berauscht erhob ich mich. Als ich am Tisch vorbeiging, schnappte ich noch einmal in Richtung meiner Eltern wie ein bissiger Köter mit Tollwut.
Meine Mutter schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Mein Vater schaute wieder aus dem Fenster, diesmal mit missbilligend verzogenen Mundwinkeln. Aber egal. Das war es wert gewesen. Die ultimative Teenager-Rebellion!
Vielleicht war ich ja doch ein kleines bisschen cool.
Der kleine Teich lag ganz still da, und doch kräuselte sich die tiefgrüne Oberfläche hauchfein im Wind, als wollte mir das Wasser zuwinken. Dieser Ort war gut, freundlich. Mein Lieblingsort. Meine Lichtung. Mein Teich.
Nach dem Gespräch, ha, nein, nach dem Gebell mit meinen Eltern hatte ich mir rasch meine Schuhe angezogen, meine Tasche geschnappt und war blindlings aus dem Haus in die Hitze gerannt. Zu Whoopi war es zu weit, mindestens eine Stunde mit dem Bus, auf dem Handy hatte ich sie auch nicht erwischt. Also war ich durch den nahe gelegenen Wald gelaufen, zu meiner Lichtung, meiner Zufluchtsstätte, die versteckt zwischen zwei Waldhügeln und einem Weizenfeld lag und wohin sich nie eine Seele verirrte. Nur meine verirrte Seele kam immer wieder her. Denn hier konnte ich mich einfach ans Teichufer setzen, mich gegen meinen Lieblingsbaum lehnen und grübelnd vor mich hin starren.
Ich stützte meinen Kopf in die Hände. Die Euphorie, die mich beim Bellen überkommen hatte, war mittlerweile verflogen und hatte einem Gefühl von tiefer Beschämung Platz gemacht. Was hatte ich nur getan? Ich hatte gekläfft! War das nicht unglaublich kindisch? Idiotisch? Erbärmlich?
Und dann das Gesicht meines Vaters …
Mein ganzes Leben lang hatte ich versucht, meinem Vater zu gefallen und die Rolle der von ihm gewünschten Tochter zufriedenstellend auszufüllen, ihn stolz zu machen, falls das überhaupt möglich war. Doch heute war die Wut plötzlich größer gewesen als mein tief verwurzeltes Papa-Programm. Ich wusste nicht, wieso. Aber was auch immer der Grund gewesen war – es war eine absolute Katastrophe! Falls ich mir durch meine Schulerfolge jemals ein winziges bisschen Anerkennung bei ihm erarbeitet hatte, hatte ich sie heute verspielt.
Und dann diese Bemerkungen über die Lebensversicherung. Wenn mein Vater meine Mutter tatsächlich als Begünstigte hatte löschen lassen …
Nein, Mist!
Schnell holte ich den imaginären Minigolfschläger heraus und schlug den unerwünschten Gedanken, der sich da gerade in mein Hirn geschmuggelt hatte, in das tiefste aller Löcher. Anschließend stellte ich die Gießkanne drauf.
Der fiese Gedanke lag im Loch, aber das Schamgefühl über meine Bell-Attacke und die Angst, etwas nicht Wiedergutzumachendes getan zu haben, waren noch da und lagen mir schwer im Magen. Für unerwünschte Gefühle hatte ich allerdings ebenfalls ein Abwehrsystem: Ich schob sie unter einen braunkarierten Teppich. Dafür hob ich eine Ecke des Teppichs hoch, stopfte die Gefühle darunter und ließ sie ruckzuck wieder fallen. Manchmal trampelte ich auch noch auf ihr herum. Leider krochen die Gefühle aber oftmals trotzdem wieder unter den Seiten hervor. Unerwünschte Gefühle waren nämlich sehr viel schlimmer als unerwünschte Gedanken! Vielleicht fand ich das aber auch nur, weil ich mich in meinem Kopf besser auskannte als in meinem Herzen. Whoopi hatte mir übrigens schon öfter geraten, doofe Gefühle ebenfalls mit dem Minigolfschläger wegzuschlagen, aber diese Vorstellung erschien mir ein bisschen verrückt.
Beklommen hob ich den Kopf. Über meinem Teich stand die Hitze. Mücken tanzten mühsam in ihr auf und ab und schienen wenig motiviert, noch lange durchzuhalten. Es war einfach kein Abend zum Tanzen.
Da hörte ich plötzlich ein Geräusch. Es klang wie ein dumpfer Stoß, begleitet von einem unterdrückten Aufschrei, als ob jemand einen Schlag in den Magen bekommt und vor Überraschung und Schmerz nach Luft schnappt.
Erschrocken fuhr ich herum.
Da war nichts.
Die hohen Gräser und Wiesenblumen hockten satt und schläfrig in der Abendsonne und schienen nichts bemerkt zu haben. Auch die Mücken tanzten müde, aber unbeeindruckt weiter.
Doch am anderen Ende der Lichtung sah ich etwas zwischen den Gräsern aufblitzen, etwas Weißes. Abrupt erhob ich mich und spähte mit zusammengekniffenen Augen über die Lichtung. War da jemand?
Mein Puls beschleunigte sich. Auf meiner Lichtung war noch nie, nie, nie jemand gewesen! Und wenn es nach mir ging, würde ich auch für immer die einzige Zutrittsberechtigte bleiben.
Geduckt und mit vorsichtigen Schritten überquerte ich die Wiese, schlich wie eine Tigerin durchs hohe Gras. Was immer da auf meine Lichtung geplatzt war, ich wollte es erst einmal begutachten, bevor es mich sah.
Nach ein paar weiteren Schritten hatte ich mich nahe genug herangepirscht und erkannte etwas mehr. Ein strahlend weißes Hemd, einen Rücken.
Ich zuckte zurück und ging in die Hocke.
Jawohl, da war jemand.
Das gefiel mir ganz und gar nicht.
Unvorhergesehene Dinge, die schlecht einzuordnen waren, konnte ich nicht leiden – und dass ich mich angepirscht hatte, verstärkte irgendwie den Eindruck, dass etwas ausgesprochen Ungewöhnliches vor sich ging. Sonst hätte ich mich ja nicht anpirschen müssen.
Während die eine Hälfte meines Gehirns sich fragte, was an diesem Gedanken nicht stimmte, wog die andere meine Möglichkeiten ab. Dabei stellte sie insgesamt elf Hypothesen auf (von denen keine wirklich tragfähig war, da ich einfach nicht genügend Informationen über die Hemd-Person hatte) und spielte mir währenddessen einige wenig hilfreiche Szenarien vor, die von Kidnapping im Wald bis zur Ankunft einer fremden Spezies auf unserem Planeten reichten.
Ganz ruhig, Juli.
Am besten wäre es wahrscheinlich, einfach mal genauer hinzuschauen. Vorsichtig reckte ich den Kopf, bis ich die Person wieder sehen konnte. Den breiten Schultern nach war es ein Mann. Ein Mann, der im Gras saß oder vielmehr lag, mir den Rücken zuwandte und ganz offensichtlich Probleme beim Luftholen hatte. Er hustete immer wieder und versuchte, tief durchzuatmen, was jedoch zu neuerlichen Hustenanfällen führte.
Ich zog den Kopf wieder ein. Er hatte Husten. Was bedeutete das? Wie war es dazu gekommen, und wenn ja –
Ganz ruhig, Juli!
Langsam streckte ich wieder den Kopf vor und linste durch die Gräser. In diesem Moment setzte sich der Mann auf, und ich konnte sein Gesicht sehen. Er war jung. Vielleicht siebzehn oder achtzehn. Und er sah gut aus. Verdammt gut.
Atmen, Juli!
Er hatte hellblondes, leicht gewelltes Haar, das ihm weich und locker über die Schultern fiel.
Er hatte lange Haare! Das war doch total out, oder? Fand ich es trotzdem gut? Am liebsten hätte ich Whoopi angerufen und sie gefragt, wie wir lange Haare fanden.
Da kam eine leichte Brise auf und wehte sanft durch die glänzende Pracht. Ahhh! Ja, ich mochte lange Haare. Ich liebte lange Haare.
Zu allem Überfluss hatte der Typ eines dieser Gesichter, die man einfach nur anstarren möchte. Und das tat ich. Er war der schönste Mensch, den ich je gesehen hatte.
Der Junge hatte mich noch nicht bemerkt. Mit geschlossenen Augen saß er da und konzentrierte sich anscheinend aufs Atmen. Seine Hände lagen auf seinem Brustkorb, als wollten sie ihn stützen. Was war bloß mit ihm? Hatte er vielleicht einen Asthma-Anfall? Oder war er allergisch gegen die Gräser hier? War heute wieder Pollenflug? Und falls ja: Konnte ich ihn irgendwie stoppen?
JULI!
Ach, verflucht.
Jetzt mal ganz rational. Die Situation war irgendwie sonderbar. Er war sonderbar. Sein strahlend weißes Hemd war bei genauerem Hinsehen sehr seltsam geschnitten. Um die Schultern herum weit und am Bauch eng. Das betonte durchaus ansehnlich seine schlanke Taille, aber bei H&M hatte er das Teil sicher nicht gekauft. Außerdem sah der Stoff seiner Hose aus wie eine Mischung aus dunkler Jeans und hellem Samt. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Ich hockte wie erstarrt im Gras und umklammerte meine Knie. Was machte er hier?
Da öffnete er die Augen und fuhr sich mit beiden Händen durch sein Traumhaar. Ich kauerte keine drei Meter von ihm entfernt, aber seitlich, und so sah er mich nicht. Mit besorgter Miene blickte er sich auf der Lichtung um. Sein schönes Gesicht verriet deutlich, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Noch einmal holte er ächzend Luft, dann stand er auf.
Whoopi hätte an dieser Stelle bestimmt unanständig durch ihre Zahnlücke gepfiffen. Ich war jedoch zu nichts dergleichen in der Lage.
Er war groß. Größer als ich, jede Wette, und die Art, wie er dastand, war zutiefst beeindruckend. Aufrecht, stark und irgendwie furchtlos. Wie vorteilhaft der Schnitt seiner Klamotten war, wurde außerdem jetzt erst richtig offensichtlich.
Er ließ den Blick über den Teich und die großen Silberpappeln am Rande der Lichtung wandern und wandte ihn dann nach oben. Mit den Augen suchte er den Himmel ab. Suchte er nach Pollen? Oder nach seinem Raumschiff?