Der Sommer mit dem Erdbeermädchen - Sabine Ludwigs - E-Book

Der Sommer mit dem Erdbeermädchen E-Book

Sabine Ludwigs

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Beschreibung

Ein spannender Sommer. Ein furchtbares Geheimnis. Ein düsteres Verbrechen. Die vierzehnjährige Lina Saisew und ihr Zwillingsbruder Jan sind besonders eng miteinander verbunden. Eines Tages verschwindet Jan. Alles, was in Linas Leben Bedeutung hat - Zuneigung, Vertrauen, Sicherheit -, geht mit ihm. Lina zerbricht. Sie spricht nicht mehr, misstraut Erwachsenen, zieht sich vollkommen zurück. Als Nick gebeten wird, sich um das verstörte Mädchen zu kümmern, sieht er sich schon bald von Mauern aus Absurditäten, Geheimnissen und Ungereimtheiten umgeben. Er beginnt zu ahnen, dass Lina etwas Grauenvolles widerfahren ist. Etwas, das schlimmer und zerstörerischer ist als das Verschwinden ihres Bruders. Nick findet heraus, was Lina passiert ist - und nichts ist mehr wie vorher. Eine bewegende Geschichte über die Verarbeitung eines Traumas, die fesselt, erschüttert und lange nachhallt.

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Ein spannender Sommer. Ein furchtbares Geheimnis. Ein düsteres Verbrechen.

Die vierzehnjährige Lina Saisew und ihr Zwillingsbruder Jan sind besonders eng miteinander verbunden. Eines Tages verschwindet Jan. Alles, was in Linas Leben Bedeutung hat – Zuneigung, Vertrauen, Sicherheit –, geht mit ihm. Lina zerbricht. Sie spricht nicht mehr, misstraut Erwachsenen, zieht sich vollkommen zurück. Als Nick gebeten wird, sich um das verstörte Mädchen zu kümmern, sieht er sich schon bald von Mauern aus Absurditäten, Geheimnissen und Ungereimtheiten umgeben. Er beginnt zu ahnen, dass Lina etwas Grauenvolles widerfahren ist. Etwas, das schlimmer und zerstörerischer ist als das Verschwinden ihres Bruders. Nick findet heraus, was Lina passiert ist – und nichts ist mehr wie vorher.

Eine bewegende Geschichte über die Verarbeitung eines Traumas, die fesselt, erschüttert und lange nachhallt.

Sabine Ludwigs

Der Sommer mit dem Erdbeermädchen

© 2012

© 2015 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag: OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

ISBN 978-3-942672-44-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Über die Autorin

Prolog

Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen

Als ich zum ersten Mal starb, war ich vier Jahre alt.

Beim zweiten Mal vierzehn.

Wie oft kann ein Mensch innerlich sterben?

Wenn der liebe Gott allmächtig ist, dann müsste er das Böse, das Schlimme, das einem Menschen widerfährt, doch eigentlich verhindern.

Das tut er aber nicht.

Ich bin der Beweis.

Also ist der liebe Gott entweder gut, aber nicht allmächtig. Was bedeutet, dass es etwas Mächtigeres als ihn geben muss – und das wäre logischerweise das Böse.

Oder wir sind Gott scheißegal.

1

Nick Ritter ließ seinen Blick ein letztes Mal über das Zeugnis schweifen. Dabei kaute er auf der glatten Innenseite seiner Backe herum, als wäre sie aus Kaugummi.

Das Zeugnis war okay, fand er. Es machte zwar nicht so viel her wie das letzte, in dem er, bis auf zwei Befriedigend in Kunst und Religion, nur Zweier gehabt hatte – diesmal war es umgekehrt. Außerdem stand er in Mathe und Englisch ausreichend. Aber er war ohne Schwierigkeiten in die zehnte Klasse versetzt worden. Und darauf kam es schließlich an. Er hörte mit dem Kauen auf, stopfte das Blatt in seinen Rucksack und verschloss ihn.

Es gongte.

„Auf Wiedersehen und schöne Ferien“, verabschiedete Frau Winter sie in bester Stimmung. Die Klassenlehrerin packte ihre Sachen ähnlich hastig zusammen, wie ihre Schüler es taten.

Nick verstand das gut. Sie schien ja kaum viel älter zu sein als die aus der Oberstufe. Wenn Frau Winter als Pausenaufsicht über den Schulhof schlenderte, konnte man sie leicht mit einer Schülerin verwechseln. Ihm, Nick, war das schon einmal passiert: Er hatte Frau Winter einen freundschaftlichen Rempler verpasst, weil er glaube, sie wäre Katharina. Zum Glück war Frau Winter nicht verärgert gewesen. Sie lachte lediglich über sein verdutztes Gesicht.

Und nicht nur sie.

Als Nick an Katharinas Lachen dachte, wurden seine Ohren rot. Das merkte er an der kribbelnden Hitze. Drachenohren nannte seine Mutter dieses Phänomen.

Die bekam er andauernd, wenn er an Katharina aus der Parallelklasse dachte, weil ihn das nämlich unweigerlich an seine erste richtige Knutscherei erinnerte.

Das war auf Katharinas Geburtstagsfete im Juni gewesen, zu der sie ihn überraschenderweise eingeladen hatte. Die meiste Zeit stand er abseits und schaute den anderen beim Tanzen zu. Bis Katharina ihn an der Hand in das Getümmel schleifte. Während Bruno Mars „Just The Way You Are“ sang, schmiegte sie ihre Wange gegen seine.

Nach zwei weiteren Songs, von denen Nick nur noch wusste, dass sie definitiv sehr langsam gewesen waren, weil er mit Katharina Klammerblues getanzt hatte, entführte sie ihn aus dem elterlichen Partykeller in den Garten.

In dem Schatten einer Laube, gegen die geweißte Holzwand gelehnt, küssten sie sich. Katharinas Zunge drängte sich zwischen seine Lippen. Sie erforschte das Innere seines Mundes wie ein kleines, neugieriges Tier.

Noch heute, Wochen danach, erinnerte er sich genau an Katharinas Küsse mit dem Pfefferminzgeschmack und an diesen eigenartigen Zustand, in den sie ihn versetzt hatten. Erstmals bekam er eine Ahnung davon, was es hieß, sich unsterblich in jemanden zu verlieben – und er fand es so aufregend, dass er befürchtete, aus seinen Ohren könnten Flammen züngeln, wenn er daran dachte.

Er vermutete, sie mit seiner Unerfahrenheit enttäuscht zu haben. Jedenfalls war es seitdem zu seiner grenzenlosen Enttäuschung zu keiner weiteren Schmuserei mit ihr gekommen.

Das vierklängige Gongen verebbte. Dafür schwollen Stimmengewirr und Gelächter an, wurden lauter und schriller, verdichteten sich zu der typischen Geräuschekakophonie einer Klasse und schließlich, in den Gängen, einer Schule, vor deren Schülern ein langer Sommer lag.

Eine Woge junger Menschen wälzte sich aus dem Gebäude. Nur wenige von ihnen traten den Heimweg zu Fuß an. Ein Teil strebte in Richtung Bushaltestelle, ein weiterer zu wartenden Autos oder wie Nick, Lukas und Marvin zu den Fahrradständern.

„Endlich Ferien!“ Marvin grinste. „Wir fliegen heute Nacht nach Mallorca. Drei Wochen!“

„Und wir in die Türkei“, sagte Lukas. Er war Nicks bester Freund und Stürmer beim SUS Grüne Halde, in dem Nick als Verteidiger spielte.

„Na ja, vielleicht schießt du danach ja wieder ein paar Tore für uns, Luki“, frotzelte Marvin, der Torwart ihres Vereins. „Wäre echt nicht schlecht, Alter!“

„Was soll das heißen?“ Lukas ging zu Marvin hinüber, der in gebeugter Haltung an seinem Fahrradschloss hantierte. „Bin ich etwa der einzige Spieler in der Mannschaft oder wie?“

„Quatsch, Mann. Aber in letzter Zeit hast du einiges verkackt. Und wir haben ewig verloren.“ Marvin richtete sich herausfordernd auf. „Und du bist schließlich Stürmer.“

„Ah ja? Tja, Scheiße, dass wir keinen Torwart haben, der besser hält.“

„Sag ihm, er soll sein Maul nicht zu weit aufreißen, Nick.“

Aber Nick hatte bei dem üblichen Gezänk seiner Freunde bereits abgeschaltet. Er erging sich in einem Tagtraum, in dem er als Stürmer der deutschen Nationalmannschaft (in seinen Träumereien war er stets Stürmer, nicht Verteidiger) unaufhaltsam über das Grün fegte – ja, fegte!

Es ist ein Finalspiel der Weltmeisterschaft gegen die „Three Lions“. Im ausverkauften Westfalenstadion sind die Augen aller auf Nick Ritter gerichtet. Die Anfeuerungsrufe der Fans werden nur von der sich überschlagenden Stimme eines Sportreporters übertönt: „Und da läuft er! Ritter, Nick Ritter, die Hoffnung der Nation, mit der 13 auf dem Trikot, seiner Glückszahl. Er lässt Rooney mit Leichtigkeit hinter sich. Lampert spielt er ebenfalls aus. Es ist un-glaub-lich, was der entfesselte Ritter mit den Engländern anstellt, un-glaub-lich! Der Abwehrkern von John Terry und Ashley Cole bricht unter der Wucht von Ritters Lauf zusammen, ja, er zersplittert regelrecht. Die deutschen Fans sind außer Rand und Band. Ritter ist jetzt vor dem Tor der Inselkicker. Und er zeigt keine Nerven! Ein kurzer Blick, ein Schuss … der Ball fliegt … fliegt … unhaltbar für David James! Tooor! Tooor! Der Dortmunder Ritter holt in seiner Heimatstadt ein weiteres Mal den WM-Titel für Deutschland!“

Und dann das Blitzlichtgewitter, seine Mitspieler, die ihn auf Schultern tragen, das Wogen der schwarz-rot-goldenen Fahnen die geschwenkt werden, die Sprechchöre der Fans: „Nihick! Nihick! Nihick!“

Der frenetische Jubel verhallte, als Lukas ihn anstieß. „Ey, merkst du noch was?“

Nick blinzelte. „Ach, halt die Klappe, du Lauch“, entgegnete er gutmütig. „Und du auch, Marvin. Ihr habt sie ja nicht mehr alle! Wir pöhlen in derselben Mannschaft. Ich hab’ echt keinen Bock, mir euren Mist reinzuziehen.“

Er stieg auf sein Rad und wartete, bis die zwei ebenfalls auf ihren Rädern saßen. Zu dritt ging es los, und je weiter sie das Schulgebäude hinter sich ließen, desto besser fühlte sich der Sommer an.

Marvin bog nach einigen Metern rechts ab. Er klingelte Sturm. „Bis dann!“, grölte er. „Macht’s gut, Leute!“ Nick und Lukas ließen zum Abschied ebenfalls ihre Klingeln ertönen und johlten: „Bis dann, Alter!“

Nach einigen Minuten kamen sie in ihre verkehrsberuhigte Gegend. Die Straße beschrieb einen weiten Bogen, bevor es bergab ging und die Räder noch mehr an Fahrt aufnahmen.

Luki legte sich rasant in die Kurve zur Zechengasse. Er raste in irrwitzigem Tempo unter den ausladenden, Schatten spendenden Kastanien dahin.

An den Fahnenmasten, die in den meisten Vorgärten standen, wehten die schwarz-gelben BVB-Fahnen der Borussiafans neben deutschen Nationalflaggen und einigen türkischen. Aber das Meer von schwarz-gelben Fahnen überwog bei Weitem! Der Stolz über den Deutschen Meistertitel, den ihre Jungs frühzeitig geholt hatten, war überall in Dortmund spürbar.

Hüseyin Yilmaz, der, sehr zum Verdruss der meisten Anwohner, den letzten bevölkerten Taubenschlag in der Siedlung unterhielt, ließ eben einen Schwarm aufsteigen. Sein Sohn Okan war eine Klasse unter Nick und Lukas. Die zwei Jungen drosselten das Tempo, als sie Yilmaz’ Garten passierten, und grüßten lauthals. Yilmaz winkte.

In gemächlicherer Geschwindigkeit rollten die Jungen mitten auf der Straße weiter, Lukas vorneweg.

„Achtung, Auto!“, rief Nick hinter ihm. Ein nicht unüblicher Warnruf in der ehemaligen Bergmannssiedlung, in der man mitten auf der Straße pöhlte, skatete oder sonst was tat. Luki zog mit seinem Rad rechts rüber, bis der dunkle BMW, aus dem Technomusik hämmerte, vorbeigefahren war und in einem Carport verschwand.

Schließlich bremsten sie vor einem aufwendig restaurierten Steigerhaus, das Nicks Vater, der in einer ähnlichen Siedlung aufgewachsen war, in den neunziger Jahren gekauft hatte.

Lukas Familie wohnte in dem Gebäude nebenan. Es war eines von den roten, modernisierten Backsteinhäusern, das sich hinter den Rhododendren im Vorgarten zu verstecken schien. Die Siedlung war nach und nach umgestaltet und auf den neuesten Wohnstandard gebracht worden. Den alten Baumbestand und die großen Gärten hatten die Planer erhalten, weswegen die Häuser heiß begehrt waren.

Wie meistens blieben die Freunde auf dem Bürgersteig stehen und unterhielten sich noch ein bisschen. Dabei beobachteten sie, wie Herr Guth seinen Cockerspaniel Nero mitten auf dem Bürgersteig einen Haufen machen ließ.

„Schweinehund“, sagte Lukas laut genug, dass Herr Guth es hören musste. Nick kicherte nervös über diese Kaltschnäuzigkeit. Er wusste nicht, ob Luki den Hund oder den Mann meinte. Aber Guth, ein ehemaliger Zollbeamter, reagierte sowieso nicht, der hatte ein dickes Fell. „Die Hundekacke leg’ ich ihm auf seine Matte“, fuhr Lukas ungerührt fort, „aber glatt! Das macht mein Alter auch immer.“

„Echt? Ich find’s voll eklig, Scheiße aufzusammeln.“

„Nicht ekliger als sie liegen zu lassen, bis irgendwer reintritt.“

„Auch wieder wahr.“

„Wann fahrt ihr eigentlich in Urlaub?“

„Morgen.“

„Und wohin?“

„Black Forest.“

„Black Forest? Wo ist das? In Amerika?“

„Quatsch, in Deutschland, Blödmann. Wir fahren wieder in den Schwarzwald.“

„Ach so. Klingt langweilig.“

„Ist ganz in Ordnung da.“

„Wie lange?“

„Drei Wochen.“

„Wie wir.“

„Hm.“

„Kriegst du Ärger wegen des Zeugnisses?“

„Glaub’ ich nicht. So schlecht ist es ja nicht. Aber Genörgel werde ich mir anhören müssen. Und du?“

Lukas nickt. „Dasselbe in Grün. Von meinem Alten. Du weißt ja, wie er ist.“

„Klar.“

„Und bestimmt darf ich eine Zeit lang nicht zum Training.“

„Bescheuert.“

„Voll bescheuert!“ Lukas spuckte aus.

„In der Zehnten strenge ich mich mehr an.“

„Ich auch.“

„Okay.“

„Na dann, tschüss, Nick. Schöne Ferien.“

„Dir auch. Mach’s gut, Alter.“

Lukas schob sein Fahrrad weiter und verschwand in seiner Einfahrt.

Nick brachte sein Rad in den Fahrradschuppen, stieg dann die Stufen zur Haustür hinauf und schloss auf.

Im Flur roch es nach Essen. Nach Tomatensoße mit Knoblauch. Er hoffte, dass seine Mutter Spaghetti Bolognese gekocht hatte.

Eine schwere Wolke schob sich vor die Sonne. Nick schaute aus dem Flurfenster. Mit einem Mal wirkte alles düsterer, grau und fast bedrohlich.

Unwillkürlich dachte er an einen alten Schwarz-Weiß-Film, den er sich neulich mit seiner Mutter angesehen hatte. Er brachte den Titel nicht mehr genau zusammen. „Es geschah am hellen Tag“ oder so. Ein Film über einen Kindermörder, der sich kleine Mädchen holte. Auf jeden Fall war es darin ähnlich bleiern gewesen.

Eine Gänsehaut zog sich über Nicks Arme. Leicht zwar, aber deutlich an den aufgerichteten, dunklen Flaumhärchen zu erkennen.

Erst als die Sonne sich wieder durchsetzte und an Kraft gewann, verschwand Nicks Beklommenheit, wie solches Unbehagen, das einen manchmal überfällt, es bei Sonnenlicht eben tut.

2

In der Diele verstärkte sich der Duft von Bolognesesoße. Nicks Magen knurrte gebieterisch, also warf er den Rucksack in sein Zimmer und ging in die Küche, wo er sich eilig die Hände über der Spüle wusch.

Seine Mutter, lässig in Jeansrock, geblümtem Shirt und Flip-Flops, stand mit dem Rücken zu ihm am Herd und rührte in einem Topf. Jetzt drehte sie sich um. „Nick, da bist du ja! Na, alles im grünen Bereich?“

„Klar.“ Er nickte und trocknete sich ab. „Mann, hab’ ich einen Kohldampf. Ich konnte schon im Hausflur riechen, was es gibt.“ Bevor er sich in der Essecke niederließ, küsste er seine Mutter auf den Kopf, wie er es gewöhnlich tat, wenn er heimkam. Er überragte sie bereits um fünfzehn Zentimeter.

Sie lächelte, stellte das Schälchen mit dem frisch geriebenen Parmesankäse und den Korb mit dem warmen Brot auf den Tisch. Danach füllte sie die Teller. „Dein Vater ist auch schon da. Er ist kurz in der Garage.“

Nick verteilte gerade noch mehr Parmesan über seine Nudeln, als sein Vater hereinkam. „Hallo, Nick.“ Auch er wusch sich die Hände und inspizierte den Käseberg auf Nicks Teller. „Grundgütiger, dir wird bestimmt schlecht“, prophezeite er und setzte sich. „Und – wie sieht es mit deinem Zeugnis aus?“

„Äh“, machte Nick. „Kommt schon, das wisst ihr genau. Es ist ganz okay. Eigentlich.“

„Eigentlich.“ Sie tauschten einen dieser beredten Blicke, mit denen sie sich auf geheimnisvolle Art und Weise miteinander zu verständigen schienen. Jedenfalls waren sie nach so einem Elternblick, wie Nick es nannte, meist einer Meinung.

„Nach dem Mittagessen wagen wir uns daran. Deiner Mutter schlagen schlechte Nachrichten ja bekanntlich auf den Magen“, flachste sein Vater und griff nach dem Brot. „Mir dagegen verdirbt nichts so schnell den Appetit! Ich kann eigentlich immer essen. Aber wir wollen ein wenig Rücksicht auf sie nehmen, oder?“ Er zwinkerte Nick dabei zu und fügte an, dass die Noten nach dem, was sie am letzten Elternsprechtag erfahren hatten, wohl kaum eine Überraschung bieten würden.

„Is’ so“, bestätigte Nick, dankbar, dass seine Eltern, anders als Lukis beispielsweise, sich nicht gleich auf das Zeugnis stürzten, um ihn danach ordentlich in die Mangel zu nehmen, sondern es wesentlich gelassener angingen.

Das rührte daher, weil seine Großeltern mütterlicherseits – beides Lehrer – ihre zwei Töchter praktisch in Lauerstellung erwartet hatten und ein Riesentamtam veranstalteten, falls die Noten nicht ihren Vorstellungen entsprachen. Was im Grunde meistens der Fall gewesen war: Die Zeugnisse konnten ihnen nie gut genug ausfallen.

Als unerträglich hatte seine Mutter das empfunden und sich früh geschworen, es anders zu machen, sollte sie je Kinder haben.

Also saßen sie nur zusammen und unterhielten sich über nichts Besonderes. Es war Sommer, er hatte endlich Ferien und die Spaghetti Bolognese schmeckten wunderbar. Er nahm sich zweimal nach. Trotzdem schaffte er noch grüne Götterspeise mit Vanillesoße zum Nachtisch.

Nick konnte sich keinen Ort vorstellen, der gemütlicher und schöner und heimischer war als diese Küche!

Dessen ungeachtet hatte er heute den unbestimmten Eindruck, es wäre etwas nicht in Ordnung. So, als ob seine Eltern sich zwar mit ihm unterhielten und ihm zuhörten, aber mit ihren Gedanken woanders wären, ganz weit weg. Selbst als das Geschirr abgeräumt war, sie alles wieder in Ordnung gebracht hatten und er schließlich sein Zeugnis auf den Tisch legte, schien das so zu sein.

Wie vorhergesehen, waren sie nicht begeistert über die Verschlechterung seine Zensuren. Sie machten aber auch kein Drama daraus. Gut, es gab Ermahnungen und sie forderten klipp und klar, dass er seine Freizeitaktivitäten zugunsten der Schule einschränkte –was er ohnehin vorgehabt hatte und ohne Umschweife versprach.

In Mathe, meinte Nicks Vater, würden sie sich ernsthaft um Nachhilfe bemühen. Aber in Englisch sollte er sich einfach öfter auf den Hintern setzen und pauken. „Da müssen der Fußballverein und deine Band eben hinten anstehen, Junge. Statt Gitarrensoli und Rockmusik sind Englischvokabeln und Grammatik angesagt.“

Doch das war‘s und Nick glaubte schon, er wäre entlassen, da bat seine Mutter ihn, noch sitzen zu bleiben. „Wir möchten noch eine Sache mit dir besprechen.“

„Okay.“ Es klang gedehnt. „Gibt es ein Problem?“

Wieder tauschten sie einen Elternblick.

„Ein Problem?“ Sein Vater antwortete zögerlich. „Nicht direkt. Jedenfalls nicht hier bei uns. Lass uns ausreden, dann erfährst du alles.“

Und seine Mutter fuhr fort: „Also gut. Marion und Thomas haben ein Mädchen bei sich aufgenommen. Sie ist vierzehn Jahre alt und heißt Lina Saizew.“

„Aha.“

Marion und Thomas, die Schwester seiner Mutter und deren Mann, unterrichteten beide an einer Sonderschule. Nick verbrachte stets einen Teil seiner Ferien bei ihnen, und zwar sämtliche Ferien, und er liebte es bei den beiden zu sein.

Er wusste, dass sie keine eigenen Kinder bekommen konnten. Vermutlich war es seiner Tante und seinem Onkel deswegen ein besonderes Anliegen, Kinder und Jugendliche in Notsituationen als Pflegeeltern zu betreuen.

Sie waren in der sogenannten Bereitschaftspflege. Was bedeutete, dass ihre Gäste, wie sie es nannten, nur vorübergehend bei ihnen untergebracht wurden, bis sie in eine feste Pflegefamilie, ein Heim oder auch wieder nach Hause kamen.

Viele von ihnen hatten Schlimmes erlebt, worüber Nick sich noch nie richtig Gedanken gemacht hatte. Diesmal war es also eine Lina Soundso.

„Ja, und?“, fragte er.

„Lina ist von zu Hause weggelaufen, einen Tag, nachdem ihr Bruder spurlos verschwunden ist“, sagte seine Mutter. „Man nimmt an, sie wollte ihn auf eigene Faust suchen. Zwei Wochen lang lebte sie in Abrisshäusern und U-Bahn-Stationen. Sie hatte keinen sicheren Platz zum Schlafen und nichts Anständiges zu essen. Tagelang war sie auf sich gestellt. Schließlich griff eine Streife sie in einer Kleingartenanlage auf.“

Sein Vater übernahm an dieser Stelle: „Lina wollte nicht mit ihnen fahren. Sie sprach kein Wort. Aber sie trat und schlug aus Leibeskräften nach den Polizisten. Also brachten sie Lina in ein Krankenhaus, wo sie sich ein wenig beruhigte und man feststellte, dass sie weder Alkohol noch Drogen genommen hatte.

Lina schien also in Ordnung zu sein. Aber als ihre Mutter und ihr Stiefvater kamen, um sie abzuholen, erlitt sie einen hysterischen Schreikrampf.

Sie holten einen Psychologen, und der war der Ansicht, dass es für Lina besser sei, wenn sie vorerst nicht in der Wohnung lebt, in der sie alles an Jan erinnert. Das ist ihr Zwillingsbruder, der nicht mehr nach Hause kam … Der Verlust ist zu schlimm für Lina.

Außerdem scheint sie aus irgendeinem Grund ihren Eltern die Schuld für Jans Verschwinden zu geben. Auf jeden Fall muss Lina zur Ruhe kommen, zu sich selbst finden, sagte der Psychologe. Deswegen gibt es vorläufig eine absolute Kontaktpause zu Frau Saizew und ihrem Freund. Und stell dir vor, Lina hat während der gesamten Begutachtung nicht aufgehört zu schreien. Obwohl sie ihr ein Beruhigungsmittel gegeben haben. Kannst du dir so was vorstellen?“

„Nicht wirklich.“

Nicks Mutter holte tief Luft, bevor sie wieder das Wort ergriff. „Sie haben das Jugendamt eingeschaltet, und die haben Marion und Thomas gebeten, sich um Lina zu kümmern. Als sie Lina abholten, hat sie noch immer geschrien. Marion sagt, es war das Schrecklichste, was sie je gehört hat. Es waren hohe, schrille Töne. Wie wenn Lina furchtbare Schmerzen hätte. Dann, von einem Augenblick zum anderen, war sie still. Seitdem ist sie bei Marion und Thomas auf dem Mühlenhof. Und seither hat sie keinen Ton mehr von sich gegeben.“

„Was soll das heißen? Ist sie verrückt geworden?“

„Nein, sie ist nicht verrückt geworden, Nicolas Ritter. Ich möchte nicht, dass du in dieser Weise über Lina redest“, wies seine Mutter ihn nicht unfreundlich zurecht. Dabei sprach sie seinen vollständigen Namen aus, wie sie es nur tat, wenn ihr eine Sache sehr ernst erschien.

„Okay. Tut mir leid. Ich habe es nicht böse gemeint. Ich kapier’ nur nicht, was das mit mir zu tun hat. Kann ich deshalb nicht zu Marion und Thomas?“

„Doch. Vorausgesetzt, du willst überhaupt hin, denn Lina wird ebenfalls da sein.“

Das war neu. Er hatte bisher keinen der Mühlenhof-Gäste kennengelernt, nie war jemand während seiner Besuche dort untergebracht gewesen. Aber selbst wenn: Es handelte sich bloß um Kinder und Teenager. Er war weder ihr Babysitter noch ihr Aufpasser und ihnen zu nichts verpflichtet. Notfalls könnte man sich einfach aus dem Weg gehen. Wo also war der Haken?

Vorsichtig fragte er: „Weshalb sollte ich nicht wollen?“

„Weil es eine schwierige Situation ist. Der Psychologe sagt, das Mädchen hat eine schreckliche Sache erlebt. Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann: Ein enges Familienmitglied ist spurlos verschwunden. Niemand hat etwas gesehen. Niemand etwas gehört. Jans Stiefvater sagt, Jan wollte nur sein Fahrrad in die Garage stellen und seitdem ist er weg. Es gibt keine Spur, die verrät, was geschehen ist.“

Sie holte abermals tief Luft und fuhr fort: „Nur ungefähr zwei Prozent aller vermissten Kinder tauchen nach gut vierzehn Tagen nicht wieder auf. Und Jan wird jetzt seit beinahe vier Wochen vermisst. Man muss nicht allzu gut in Mathe sein, um sich auszurechnen, was das bedeuten könnte. Seine Familie ist fix und fertig. Alles, was sie wissen wollen, ist, was passiert ist. Ob er noch lebt.“

Nick versuchte, sich das vorzustellen. Er schaffte es nicht. Er sah nur Bilder wie aus einem Thriller vor sich, in dem Kinder auf rätselhafte Weise verschwanden und entweder nie oder tot gefunden wurden. Geschrumpft, bleich, manchmal schrecklich verkrümmt. Mit Erde im Haar und auf den geschlossenen Lidern.

Umgebracht von einem Familienmitglied, einem Bekannten oder einem Fremden. Wie dieser Junge, Timo, den sie Anfang des Jahres nach fünf Monaten tot im Wald gefunden hatten. Den Namen und das Gesicht im Fernsehen würde Nick wohl lange nicht vergessen.