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Das Mittsommernachtsfest draußen in den schwedischen Wäldern endet für den jungen Friseur Sjögren tödlich. Evaline, die ihn zur Party mitbrachte, ist zuerst enttäuscht über sein plötzliches Verschwinden, bevor sie sich Sorgen macht. Erst Tage später wird die Leiche gefunden, erschlagen mit einem stempfen Gegenstand. Kommissarin Eva-Britt Bixe tappt erst im Dunkeln. Sie hat keinen Anhaltspunkt, und es gibt weder einen Hinweis auf Täter noch auf ein Motiv.Was ist mit Sjögren geschehen? Und wer hat es getan?DIE AUTORINMarianna Berglund, 1960 in Skåne Schweden geboren, debütierte 1989 mit dem Roman "Grusvägsmilen", dann folgte mit "Nebel über dem Fluss", ihr erster Kriminalroman und sorgte international für großes Aufsehen.REZENSION"Der Krimi ist spannend und leicht zu lesen" - Leserin, Lovelybooks.de"Dass Marianne Berglund sich nicht hinter den großen schwedischen Krimiautoren, die sich in den letzten Jahrzehnten einen Namen gemacht haben, verstecken muss, beweist sie mit diesem fesselnden und grandios geschriebenen Roman." - Barometern"Die Glieder der Handlungskette werden elegant aneinander gefügt, und Marianne Berglund erweist sich dabei als scharfsinnige Beobachterin." - Hallands Nyheter"Ein faszinierender Roman um das komplexe menschliche Miteinander und die Geheimnisse, die jeder Einzelne in sich trägt." - Östran-
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Seitenzahl: 518
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Sie wurde von einem überaus störenden Geräusch geweckt, riss die Augen auf und fragte sich, was in aller Welt das sein mochte. Drehte sich auf ihrem Kissen um und starrte in die Nacht, die um diese Jahreszeit gar keine war, sondern nur ein fahler Grauton. Der Wecker zeigte 0.02. Das Zimmer lag in einen milchweißen Schimmer gebadet, und die Möbel schienen wie auf Wasser friedlich auf und ab zu wogen. Es war ein Scharren, was sie geweckt hatte, und es kam vom Fenster her. Eine Fliege, eine nachtaktive Fliege. Ab und zu stand die Welt eben Kopf.
Kommissarin Eva-Britt Bixe reckte sich, rieb sich so gut es ging den Schlaf aus den Augen, strich sich die Haare aus der Stirn, schlug die dicke Decke beiseite und stand widerwillig aus dem Bett auf. Verdammtes Insekt. Der Teppichboden kitzelte unter ihren Füßen, sie glaubte, jeden Knoten und jede Schlinge darin spüren zu können. Man registrierte alles so viel deutlicher, wenn man eine Weile geschlafen hatte, der erste Schlummer hatte alle Eindrücke vom Vortag weggespült. Die Fliege brummte hin und her, ein großer schwarzer Klumpen, gutes Vogelfutter. Sie öffnete das Fenster, der Duft von feuchtem Gras und nasser Erde schlug ihr entgegen. Der Baum stand wie sein eigener Schatten unten im Hof, es hatte geregnet, Tropfen hingen an der Fensterscheibe.
Wie mit Wasser verdünnte Milch, ein Spritzer Honiggelb über dem Rasen dort unten. Schwebende Elfen über einem grünweißen Weiher. Die Blätter mit den glänzenden Tropfen hingen ganz still da. Nur die Fliege zog mit ihrem Hubschrauberdröhnen nichts ahnend in die Welt hinaus, um sich dort auffressen zu lassen.
Eva-Britt Bixe zog das Fenster wieder zu, schloss es aber nicht ganz. Sie wollte den Duft von draußen behalten, ihn mit sich in den Schlaf nehmen. Plötzlich schrie ein Vogel, Blätter raschelten, dann wurde alles wieder still. Vielleicht hatte er die Fliege entdeckt, einen richtigen Leckerbissen, der geradewegs in seinen Schnabel flog.
Sie gähnte, kroch unter die Decke, stapelte die Kissen zurecht und machte es sich bequem. Schmiegte die Wange an den weichen, kühlen Stoff. Mittsommernacht, dachte sie. Um diese Zeit war der Campingplatz am Oststrand das pure Chaos, und in der Stadtmitte fand eine Seeschlacht statt. Im Moment war ihr das allerdings egal, sie hatte dienstfrei, und zum ersten Mal seit Wochen konnte sie sich ein ganzes Wochenende lang ausruhen, einfach nur ausruhen. Sie versuchte, noch eine Weile wach zu bleiben, um diesen Zustand wirklich auszukosten. Das eintönige Tropfen, das von draußen zu hören war, und das sie in normalen Fällen um den Verstand gebracht hätte, wirkte jetzt beruhigend. Bald würde die Dämmerung am Fenster hochwandern. Der Mittsommertag erwachte immer noch einmal zum Leben, ehe er einschlief. Draußen geschah alles Mögliche, doch Eva-Britt Bixe wollte nur schlafen, die Stunden des Wochenendes lagen vor ihr wie eine Unendlichkeit, sie reckte sich noch einmal genüsslich im Bett und schlief dann ein, die Wange tief in ihr Kissen gebohrt. Sie hatte den Telefonstecker herausgezogen, das Mobiltelefon ausgeschaltet. Nicht ein einziges Klingeln sollte sie wecken dürfen.
Der Stein war grau, kompakt und schwer, lag aber seltsam leicht in der Hand. Er war aus der Mauer gefallen, vor einen der alten Apfelbäume.
Der Stein hatte dort gelegen, und sie hatte das als Zeichen aufgefasst. Er hatte auf sie gewartet, war vor langer Zeit von seinem Platz gekullert und hatte ebenso lange darauf gewartet, dass sie kam und ihn aufhob. Die Zeit wusste es, die Zeit lag in Schichten aufeinander und wusste, wann der richtige Augenblick gekommen war, sie wusste, worauf sie gewartet hatte.
Jetzt ruhte der Stein sicher und glatt in ihrer Hand.
Als sie zurückgekommen war, hatte sie seine Umrisse gesehen. Schon vom Weg her hatte sie ihn auf der Veranda bemerkt, geschützt vor dem Regen, unter dem Vordach. Sie hatte gestaunt und hatte Angst gehabt, mit keinem Gedanken hatte sie die Möglichkeit in Betracht gezogen gehabt, dass er immer noch dort sein könnte. Und deshalb hatte sie den Stein aufgehoben. Diesmal sollte er sie nicht hindern können. Sie würde ihm zuvorkommen.
Schweigend ging sie jetzt über das Gras. Noch immer tat es ihr überall weh, ihr Mund brannte und schmeckte nach Blut. Es würde lange dauern, bis dieser Geschmack verflogen war. Der Regen prasselte auf den Boden. Die Wolken hatten sich geöffnet, ein Spalt klaffte dazwischen. Durch diesen Spalt jagten die Blitze. Bestimmt konnte er nichts hören. Er würde sie nicht bemerken, diesmal nicht.
Er hatte Schutz auf der Veranda gesucht. Als der Regen herunterprasselte und das Gewitter sich genau über seinem Kopf befand, war sein Blick plötzlich und wie von der Vorsehung geleitet auf die Hütte gefallen, die an die fünfzig Meter von ihm entfernt stand.
Jonas Sjögren hatte beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Was für eine idiotische Idee, dachte er jetzt, als er ein wenig atemlos auf der fremden Veranda stand und hörte, wie der Regen auf das Dach trommelte. Vorhin, als er das Fest verlassen hatte, hatte er sich auf diesen Spaziergang fast gefreut. Er war ein wenig wirr im Kopf gewesen, vielleicht deshalb.
Mittsommer. Einmal im Jahr kam dieser Tag mit seiner ganz eigenen Magie. Obwohl er selber eher fand, es sei ein Abend wie jeder andere – nur ein wenig heller, aber schließlich gab es viele helle Abende. Noch war viel von diesem Sommer übrig, der bisher schon schrecklich heiß gewesen war, auch wenn sich ausgerechnet an diesem Abend dunklere Wolken am Himmel zeigten. Ein graulila Deckel über den Tannenwipfeln in der Ferne. Er hatte jemanden darüber klagen hören, als er vor das Haus gegangen war, um sich eine Zigarette anzuzünden. Und dann hatte plötzlich der Gastgeber neben ihm gestanden. Hatte einfach nur dagestanden und ihn wütend angestarrt.
»Was zum Teufel machst du denn hier?«, hatte er gefragt, dieser Gastgeber, den er überhaupt nicht kannte. Mit einer polternden, unangenehmen Stimme.
Und Jonas Sjögren war hilflos gewesen, stumm und ratlos. Ein nachlässig abgestelltes Glas rollte lautlos durch das Gras, etwas Trinkbares versickerte im trockenen Boden, etwas Goldgelbes, Glitzerndes.
»Mach, dass du wegkommst, klar?«
In einer Mittsommernacht war alles möglich. Zauber und Magie und Elfen über dem Wasser. Was für ein Unsinn. Er hatte die Kippe ins Gras geworfen, die Hände in die Taschen gebohrt und war gegangen, während er die Augen des Mannes im Nacken spürte. Nein, hier wollte er nicht bleiben. Der Kies knirschte freundlich unter seinen Schuhen. Ein Spaziergang mitten in der Nacht würde seinen Kopf auslüften, diese kleine Wanderung, die er in einer guten Stunde hinter sich bringen könnte. Ein Spaziergang, nichts weiter, kein Problem. Er war ein gesunder, durchtrainierter Mann.
Die Nacht war hell und warm, der Wald duftete würzig und das Schweigen zwischen den hohen Bäumen erschien ihm als willkommener Kontrast zu dem Lärm des Festes, das er eben verlassen hatte. Gesichter, Lachen und Parfümgeruch, Gläser, die achtlos abgestellt wurden, auf Tischen, auf dem Boden, auf dem Kiesweg unterhalb der Treppe, wo sie in der nie ganz schwarzen Nacht geraucht hatten.
Aber dann hatte, wie gesagt, der Regen eingesetzt. Zuerst hatte er gedacht, er könne einfach weitergehen, auf das Wetter pfeifen und hoffen, dass es nicht schlimmer werden würde. Eine alberne Hoffnung. Denn die Tropfen wurden stärker, bald war der Donner zu hören, ein leises Grollen, und dann gab es nur noch Wasser, Licht und Krach. Er rannte los, der Regen peitschte auf den Kies. Aus den Wolken wurden in ununterbrochener Folge scharfe Blitze geschleudert.
Und da hatte er die Hütte entdeckt. Die schwarzen Augen der Fenster hatten ihn aufgefordert, dort Schutz zu suchen. Hier bist du in Sicherheit, sagten sie, hierher kommt der Regen nicht, hierher kommt gar nichts. Es war wie eine Eingebung, dachte er, als habe dieses Häuschen auf ihn gewartet, oder als habe das Gewitter den schlimmsten Donner zurückgehalten, bis er die Ecke erreicht hatte, von der aus das Haus zu sehen war. Wundergläubige hätten jetzt wohl gesagt, das hier sei vorherbestimmt gewesen, alles gehöre in einen großen Zusammenhang. Beseelte Dinge, Steine und Bäume, das Wesen der Natur, das sich in dieser Mittsommernacht manifestierte, in der alles passieren konnte. Er selbst fand, er habe einfach ein Schweineglück gehabt.
Vor der Tür der Hütte lag eine offene Veranda. Auf dem Boden standen einige Pelargonien und ein mit Kippen gefüllter Aschenbecher. Scheinbar alles normal – doch etwas stimmte hier nicht, es stimmte ganz und gar nicht, und plötzlich und ohne Vorwarnung traf ein betäubender Schlag seinen Hinterkopf. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Als er die Augen wieder öffnete, schob sich ein schwarzer Vorhang vor seine Blicke. O verdammt, er war doch nicht allein, jemand hatte sich von hinten unbemerkt an ihn herangeschlichen. Er presste die Handflächen auf die groben Bretter und versuchte, sich hochzustemmen. Bis ein weiterer Schlag seinen Hinterkopf traf, und diesmal tat es so weh, dass er einige Sekunden lang nicht mehr wusste, wo er sich befand und warum. Als er diesmal die Augen öffnete, war das Licht verschwunden. Nichts war da, alles war leer, er sah nichts. Seine Finger fühlten sich an wie gelähmt. Als habe er keinerlei Gewalt mehr über sie. Und das Seltsamste von allem war, dass der Schmerz, den er zuerst im ganzen Kopf verspürt hatte, jetzt verflogen zu sein schien.
Er wollte schreien, konnte es aber nicht, und wer hätte ihn hören sollen? Vor seinem inneren Auge flackerte ein vages und bleiches Bild auf. Er sah, wie er vorhin noch über einen Weg gegangen war, wie seine Beine sich bewegt hatten. Es war ein schöner, kurvenreicher Weg gewesen, mit gröberem Kies in der Mitte, feinerem außen, Gras am Rand, dahinter Tannen. Kilometer von strömendem Regen. Ein Blitz hatte den Himmel erleuchtet, und der Donner war wie Steine durch den Wald gerollt. Ja, daran erinnerte er sich. Auch wenn das Bild verschwommen war und alles schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien, obwohl es doch nur wenige Minuten her sein konnte.
Er merkte, dass er auf dem Bauch lag, in einer seltsam verkrümmten Haltung, die Arme starr und unbeweglich. Er versuchte nicht mehr, sich aufzurichten. Ein Gewicht schien sich auf ihn gelegt zu haben, und das Letzte, was er noch wahrnahm, war ein langes, tiefes Grollen. Dann verschwand auch dieses Geräusch, und alles wurde so still, wie es das nur nach dem Sturm sein kann, wenn die Gewitterwolken wie graue Fetzen über den Himmel gezogen sind, in einer stillen Mittsommernacht, in der alles möglich ist, noch dazu, ohne dass man weiß, warum.
Evelina Palm saß rauchend auf dem Sofa. Ungeduldig, die Zigarette zwischen zwei Fingern. Fast hätte sie sie auf dem Boden ausdrücken mögen, wenn es hier nicht so elegant und ordentlich gewesen wäre. Aber eigentlich war ihr das schnurz. Und ihr Boden war es schließlich auch nicht. Also ließ sie die Kippe fallen und trat sie mit ihrer Sandale aus. Ein schwarzer Fleck zeigte sich auf dem hellen Holz.
Sie war als Letzte übrig geblieben. Die anderen Gäste hatten sich einer nach dem anderen verzogen. Eigentlich hätte sie es ihnen nachtun sollen. Eigentlich hätte sie sogar überhaupt nicht herkommen dürfen, aber niemand hatte doch voraussehen können, dass der Abend zu einem solchen Fiasko werden würde.
Ja, verdammt, dachte sie. Was für ein tolles Scheißmittsommerfest!
Im Haus war es jetzt verhältnismäßig still, während sie hier in dieses sicher viel zu teure Sofa versunken saß. Bosse verkaufte Bilder wie andere Leute Gummibärchen. Immer malte er sie von derselben Stelle aus, im Obergeschoss, mit Aussicht auf See und Wald. Im Moment war Annie dort oben, ihre Schritte waren zu hören, rasch und wütend, auf dem alten Dachboden, wo ein Stück Dach entfernt und auch ein Fenster ersetzt worden war, damit es jedes Mal dasselbe Motiv sein konnte. Nicht die geringste Variation gebe es auf seinen Bildern, sagten manche. Nuancen, meinten die eher Wohlwollenden. Ein ständiges Spiel mit Farbtönen, so, wie auch die Natur sich veränderte, langsam und schrittweise. Er selbst schien sich um die Kommentare der anderen nicht zu scheren, so lange er seine Werke für viel größere Summen verkaufen konnte, als sogar die Wohlwollenden für angemessen erklärten. Jetzt saß er ihr gegenüber und zog gierig an seiner Pfeife. Und oben im Obergeschoss lief, wie gesagt, Annie hin und her, mit Schritten, die die Dachbretter lauter als sonst knacken ließen. Evelina hätte gern gewusst, warum Annie so böse war. Warum sie und Bosse sich diesmal gestritten hatten.
»Du hast ihn doch nicht gesehen, oder?«, fragte Evelina und schaute mürrisch zu Bosses mit Pantoffeln bekleideten Füßen hinüber, die lässig auf dem Tisch lagen. Bei dieser Hitze!
»Hätte ich ihn sehen sollen?«
Schlaffe müde Augenlider, Worte, die zähflüssig aus seinem Mund tropften. Dazu ein Lächeln, aber das galt nicht ihr, sondern ihm selbst. Er lächelte immer auf diese Weise in sich hinein.
»Was ist denn so komisch?«
Evelina konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Dass du auf einen Trottel wartest, der gar nicht da ist.«
»Er ist mit mir hergekommen, und jetzt ist er verschwunden.«
»Du solltest deine Typen sorgfältiger aussuchen, Evelina.«
»Im Moment habe ich nur einen Typen, und zwar diesen.«
»Das ist aber eine schlechte Wahl.«
Jetzt lächelte er wieder, und diesmal hatte er dazu sogar die Pfeife aus dem Mund genommen, so dass seine Zähne zu sehen waren. Wenn er nicht so aasig gelächelt hätte, dann hätte Evelina Bosse dieses eine Mal sogar zustimmen können – dass sie eine schlechte Wahl getroffen hatte, dass eine schlechtere kaum möglich gewesen wäre. Denn wie sollte man das sonst nennen, wenn er einfach verschwand, vor ihren Augen, vermutlich mit irgendeiner Frau, die er gar nicht kannte, und die er aufgelesen hatte, wie man einen Grashalm aus dem Boden zieht.
Naja. Vor ihren Augen, das war wohl etwas übertrieben. Dann würde sie ja nicht hier sitzen und Bosse Fragen stellen, die sonst absolut unter ihrer Würde gewesen wären.
»Du weißt also nicht, wo er hingegangen ist?«
Bosse lachte vor sich hin und erhob sich vom Sofa. Streckte sich und gähnte.
»Fahr nach Hause, Lina. Worauf wartest du denn noch?«
Ja, worauf? Dass er wie ein Springteufelchen hinter dem Türpfosten auftauchte, um ihr dann um den Hals zu fallen?
Sie litt sonst nie unter Schwermut, aber jetzt fühlte sie sich wie gelähmt. Sie hatte nicht einmal gesehen, dass er gegangen war. Das war wirklich übel, wenn sie es sich genauer überlegte. Eine Sauerei, Evelina Palm so zu behandeln.
»Ja, dann werd ich wohl nach Hause fahren«, sagte sie. Fauchte sie. Sprang auf und wünschte, sie hätte mehr als nur eine Kippe auf dem Boden ausgedrückt. Das wäre Bosse nur recht geschehen, denn auf irgendeine Weise hatte sie das Gefühl, dass er an allem schuld war.
»Danke für die nette Einladung«, murmelte sie dann, während sie sich die Tasche über die Schulter warf und auf die Tür zuging, die noch immer weit offen stand, nachdem alle anderen Gäste hinausgetorkelt waren.
Sie lief zu ihrem alten grünen Wagen, der ein Stück entfernt im Gras stand. Als sie die Tür öffnete, hörte sie einen lauten Donner. Sie ließ sich auf den Sitz fallen, hatte das Gefühl, noch immer den Duft seines Rasierwassers wahrnehmen zu können. Einen unverkennbaren Hauch von Zitrone. Aber vielleicht war das ja auch Einbildung. Was wusste denn sie. Vielleicht hatte ihr eifriges Gehirn die gesamten Ereignisse dieser Nacht zusammenphantasiert. Und vielleicht wollte ihr Gedächtnis sie an der Nase herumführen.
Nun legte das Gewitter richtig los, ein Wolkenbruch zwang sie dazu, einige Minuten am Wegesrand stehen zu bleiben. Als das Schlimmste vorüber war, fuhr sie schneller, mit Wut im Bauch. Der nasse Kies spritzte hinter ihr hoch, der alte Sitz ächzte und jammerte. Für einen kurzen Moment glaubte sie, jemanden am Straßenrand stehen zu sehen, jemanden, der zur Hälfte im Straßengraben verschwunden war. Aber die Scheinwerfer jagten hastig und trügerisch über den Boden, die wolkenverhangene Dunkelheit war kompakt, und auf nichts war wirklich Verlass. Vielleicht war es nur ein Schild gewesen, irgendeine Abzweigung. Er jedenfalls war es nicht. Sie fluchte und biss sich in die Lippe. Sah noch einen Blitz, diesmal jedoch in der Ferne.
Erst, als sie endlich zu Hause war und unter die Decke kroch, hörte der Regen auf. Endlich, dachte sie. Sie schaltete die Nachttischlampe aus, und das Zimmer wurde von der Straßenlaterne draußen beleuchtet. Die Stille nach dem Regen war angenehm.
Es war schon lange nach Mitternacht. Die Frau und der Mann saßen im Garten hinter dem Haus. Auf dem Tisch stand eine brennende Kerze. Die Mittsommernacht war in den Mittsommertag übergegangen, und die Wolken am Himmel lockerten sich langsam auf.
»Du bist lange weggeblieben«, sagte die Frau.
Der Mann sah sie an, sie konnte seinen Blick nur ahnen. Glaubte zu sehen, wie er auswich. Aber sicher war sie sich nicht.
»Ich war hier«, sagte er. »Unten im Schuppen.«
»Da war kein Licht«, sagte sie. »Hast du im Dunkeln gesessen? Was hast du gemacht?« Sie sah seine Hände an. »Hast du gemalt?«
»Gemalt?«, fragte er überrascht.
»Ja. Hast du?«
»Nein, heute Abend nicht. Wieso fragst du?«
»Nur so. Hat mich eben interessiert.«
Sie ließ sich in den Holzstuhl zurücksinken.
»Das hier ist der längste Tag im Jahr«, sagte sie. »Oder die kürzeste Nacht.«
»Nicht ganz«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Der längste Tag im Jahr ist schon drei Tage her.«
»Seltsam«, murmelte sie.
Wieder glitt ihr Blick zu seinen Händen.
»Was denn?«
»Ich dachte ... ich meine, ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen, dass du dort unten sitzen könntest.«
»Ich aber«, sagte er.
Sie schaute zum Himmel hoch.
»Das Gewitter ist jetzt vorbei, du kannst ganz beruhigt sein, das Unwetter hat sich verzogen.«
Erst nach vier Tagen beschloss Evelina Palm, in Erfahrung zu bringen, was eigentlich passiert war. Wohin der Typ verschwunden war. Erst am Dienstagmorgen also schluckte sie ihren Stolz hinunter und schaute auf dem Weg zur Arbeit an seinem Frisiersalon vorbei. Sie hielt die Hände wie Scheuklappen an ihre Schläfen und schaute durch das Fenster. Drinnen war alles leer. Kein Mensch zu sehen, Stühle und Spiegel im Dunkeln. An der Tür hing ein weißer Zettel mit der Aufschrift »Geschlossen«, er hing an zwei dünnen weißen Fäden.
Evelina Palm wollte an diesem Morgen nicht zu spät in den Laden kommen, in dem sie für einen ihrer Ansicht nach erbärmlichen Lohn arbeitete. Gelinde gesagt. Die Gewerkschaft hätte getobt, aber Evelina Palm war nun einmal kein Mitglied irgendeiner Gewerkschaft, weil sie fand, es gebe wichtigere Dinge im Leben. Außerdem war gerade das eine Voraussetzung dafür gewesen, dass sie diesen Job bekommen hatte. Mieses Gehalt für einen miesen Job. Aber sie biss die Zähne zusammen, Arbeitsstellen wuchsen zur Zeit ja nicht auf den Bäumen.
Jetzt hatte sie lange genug wie eine Idiotin vor dem Laden gestanden und die silbernen Mobiles angestarrt, die an ihren Plastikfäden still hinter dem Fenster des Frisiersalons hingen. Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass hier geschlossen sein würde, als sie diesen Umweg geplant hatte. Sie hatte zur Tür hineinschauen und hallo sagen wollen. Einfach so. Und Jonas hätte sich dann eilig und überrascht umgedreht, mit einer Erklärung auf der Zunge, die er nicht laut aussprechen konnte, weil Kundschaft in dem Stuhl saß, hinter dem er mit Schere, Kamm und Haarspray in der Hand gerade stand. Evelina hatte nur hallo sagen wollen, hier bist du also, wir haben uns ja doch gefragt, was aus dir geworden ist, und dann wäre sie gegangen, mit einem munteren Lächeln vorbei an seinem Fenster mit den silbernen Scheren, und hätte ihn mit offenem Mund dort stehen lassen. Das wäre ihm recht geschehen. Er konnte ruhig ein schlechtes Gewissen haben, nachdem er das Fest verlassen hatte, ohne ihr auch nur ein Wort zu sagen.
Aber es war anders gekommen.
Evelina Palm überkam das unangenehme Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Konnte ihm etwas passiert sein? Es war doch seltsam, dass er sich so gar nicht bei ihr gemeldet hatte. Und dass er nun auch nicht im Laden war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er etwas über einen Urlaub gesagt hätte. Einige Minuten lang trat sie vor seiner Tür von einem Fuß auf den anderen, aber das führte nur dazu, dass sie noch viel später in den verdammten Laden kommen würde, wo alles viel zu schweineteuer war, um irgendwelche Kundschaft anzulocken.
Sollte sie etwas unternehmen? Die Polizei anrufen? Sie setzte sich in Bewegung und ihre Absätze klapperten über den Asphalt. Allerdings kannte sie ihn eigentlich nicht sonderlich gut, und sie hatte keine Ahnung von seinem sonstigen Bekanntenkreis. Und deshalb, beschloss sie und hob den Kopf, als sie in einem Schaufenster ihr Spiegelbild entdeckte, deshalb wäre es doch idiotisch, ihn als vermisst zu melden. Die Sache an die große Glocke zu hängen. Wo er doch vermutlich einfach nur verreist war. Ja, sie hatte sich einfach in ihm getäuscht, das stand jetzt fest.
Aber dennoch.
Etwas machte Evelina Palm zu schaffen, und sie begriff nicht, warum. Auch später an diesem Tag, als sie in dem rot tapezierten Laden hinter dem Tresen stand, ohne auch nur ein einziges Kleidungsstück verkauft zu haben, obwohl es schon nach drei war, als sie also dort stand und ihre frisch gefeilten Nägel betrachtete, hier einen Rest wegblies und dort ein wenig überflüssigen Nagellack wegkratzte, war dieses Gefühl des Unbehagens nicht verschwunden. Sondern eher noch gewachsen. Es war leichter gesagt als getan, einen kühlen Kopf zu behalten, wenn man acht Stunden lang nichts anderes zu tun hatte, als Kleiderbügel zu sortieren, Leuten am Telefon klarzumachen, dass sie die falsche Nummer erwischt hatten, und sich unter dem Neonlicht über dem Tresen die Nägel zu feilen und zu lackieren.
Um fünf Uhr fühlte Evelina Palm sich so wenig wohl in ihrer Haut, dass sie beschloss, den Laden dichtzumachen und nach Hause zu gehen. Wenn wider Erwarten die Besitzerin vorbeischaute, konnte sie ja immer noch Kopfschmerzen vorschützen. Sie strich ihren kurzen Rock glatt, zupfte ein Haar weg und beschloss, auf demselben Weg nach Hause zu gehen, auf dem sie hergekommen war, vorbei an Jonas’ Frisiersalon.
Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag am Salon Klipp-it vorbeikam, konnte sie nur feststellen, dass sich seit dem Morgen anscheinend nichts geändert hatte. Sie wollte schon weitergehen, als ihr doch etwas auffiel. Nur eine Kleinigkeit, aber seltsam war es eben doch. Der handgeschriebene Zettel hing nicht mehr an der Tür. Als sie durch das Fenster schaute, sah sie ihn auf dem Boden liegen.
Hier stimmt etwas nicht, dachte sie. Eigentlich hatte sie mittlerweile beschlossen, den Typen als Trottel abzuhaken und auf ihn zu pfeifen. Aber die Sache ging ihr nicht aus dem Kopf, saß wie ein unangenehmes Kitzeln in ihrem Rücken – das Gefühl, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Es war noch deutlich vor sechs am Freitag, dem 29. Juni, als Kriminalinspektor Erik Sander seine Jacke von der Stuhllehne nahm, um nach Hause zu gehen. Er freute sich, weil er so früh fertig war, dass er sich auf dem Heimweg nicht beeilen musste. Dieses eine Mal, dachte er, und schob die Arme in die Jacke.
Dann hörte er ein leises Klopfen an der Tür.
Mit der Aktentasche schon in der Hand schaute Sander überrascht auf.
»Ja?«, fragte er. Als nichts passierte, sagte er etwas lauter: »Herein.«
Die Frau, die vorsichtig seine Tür öffnete und das Zimmer betrat, mochte um die siebzig sein, sie atmete schwer, trug einen schockrosa Nylonmantel, hatte einen großen Busen und mindestens drei Kinne. Ihre blondierten Haare umgaben ihren Kopf wie Zuckerwatte. Ihre Augen waren klein und farblos und zur Hälfte hinter schweren Augenlidern verborgen, ihre Lippen waren bleich und schmal, und zwischen ihren Vorderzähnen klaffte ein Spalt.
Sander seufzte lautlos. Die Frau kam ihm irgendwie bekannt vor, er konnte jedoch nicht sagen, warum.
»Worum geht es?«, fragte er.
»Ich glaube, mein Nachbar ist verschwunden«, sagte sie mit leiser Stimme.
Erik Sander räusperte sich, ging widerwillig zurück zum Schreibtisch, setzte sich hin und forderte die Frau mit einer Handbewegung auf, es ihm nachzutun. Sie blieb stehen. Er ließ sich im Bürostuhl zurücksinken und versuchte gelassen, ihren Blick zu erwidern.
Irre gibt es genug, dachte er. Warum er das dachte, wusste er auch nicht so genau, vielleicht lag es einfach nur daran, dass ihre Mundwinkel so zitterten. Er fühlte sich plötzlich schlecht. Wie kam er dazu, sich ein Urteil über diese Frau zu erlauben?
»Ach. Und warum glauben Sie, dass Ihr Nachbar verschwunden ist?«
»Warum ich das glaube?«
Die Frau sprach mit einer Spur von einem nördlichen Akzent, aber der war wirklich sehr verwässert. Offenbar war sie schon vor langer Zeit von dort weggezogen. Sie spitzte den Mund, der nun aussah wie eine in weißen Teig gedrückte Rosine.
»Ja, wann ... äh, haben Sie das entdeckt?«
»Gestern.«
Sander konnte einen weiteren Seufzer unterdrücken. Er drehte den Stuhl halbwegs herum, zum Bildschirm hin, und ließ seine Finger über die Tasten gleiten.
»Aha. Dann brauche ich einige Auskünfte. Wie heißt Ihr Nachbar?«
Seine Stimme hatte automatisch einen militärischen Klang angenommen, der ihm eigentlich überhaupt nicht gefiel. Die Frau biss sich auf die Lippe.
»Himmel, was hat denn das mit dem Fall zu tun?«
Sander schaute die Tastatur an, seine Finger schienen nicht gehorchen zu wollen. Er mahnte sich zur Ruhe. Langsam atmen, die Schultern senken.
»Aber wir müssen doch wissen, nach wem wir suchen sollen«, sagte er.
Die Frau starrte ihn misstrauisch an.
»Reicht es denn nicht, wenn Sie wissen, wie er aussieht?«
»Naja, vielleicht nicht so ganz.«
Sander gelang ein Lächeln. »Also, wie heißt er?«
»Hören Sie, junger Mann, ich bin nicht hergekommen, um ...«
Sander seufzte nun doch. Zeitverschwendung. Unnötige Arbeit. Aber na ja, wenn es die Frau beruhigen konnte, dann bitte. Wenn es nur schnell ging.
»Wir brauchen seinen Namen, wenn wir nach ihm suchen sollen. Oder wie sehen Sie das?«
»Ich glaube, Sie nehmen mich nicht ganz ernst«, sagte sie plötzlich leiser.
»Ach, und warum sollten wir das nicht tun?«
»Im Moment kann man doch kaum jemandem vertrauen.«
Sander spürte, wie seine Wangen zuckten. Er versuchte, sich zusammenzureißen. Die Frau starrte ihn aus ihren Schneckenaugen wütend an.
»Aber wollen Sie denn nicht fragen, wie er aussieht?«
»Doch, natürlich. Wie sieht er aus?«
»Dunkle Haare, so an die eins achtzig, schätze ich, ist meistens schwarz gekleidet.«
Sander schrieb. »Weitere Kennzeichen?«
»Ja. Oft hat er die Haare im Nacken zusammengebunden.«
»Das haben Sie sich ja gut gemerkt.«
»Wir wohnen auf derselben Etage. Ich sehe ihn morgens immer.«
»Wissen Sie, wie alt er ist?«
»Tja, so um die fünfunddreißig, vielleicht vierzig. Glauben Sie, Sie können ihn finden?«
»Ich glaube sicher, dass er wieder auftauchen wird, ja.«
Die Frau schaute sich um, zog scharrend den Besuchersessel über den Boden, ließ sich hineinsinken und atmete dabei so heftig aus, dass alle Papiere vom Schreibtisch geweht worden wären, wenn sie etwas tiefer gesessen hätte. Jetzt aber traf der Luftstrom direkt auf Sanders Gesicht, und instinktiv wandte er sich ab. Der Bildschirm flackerte ein wenig. Früher war alles besser gewesen, mit Formularen, Kugelschreibern und Ordnern. Jetzt, nach einem langen Tag am Bildschirm, brannten seine Augen und er fühlte sich ungeheuer müde. Mit Mühe und Not konnte er ein Gähnen unterdrücken.
»Wie haben Sie bemerkt, dass Ihr Nachbar verschwunden ist?«
»Ich sehe ihn morgens, wenn er losgeht, wie gesagt. Aber das ist jetzt nicht mehr der Fall.«
»Dann ist er vielleicht verreist?«
»Das wüsste ich doch. Wenn er sonst verreist war, und sei es nur für zwei Tage, hat er immer bei mir geklingelt und mir Bescheid gesagt. Es ist ihm nämlich sehr wichtig, dass seine Topfblumen versorgt werden.«
»Er kann diesmal doch jemand anderen darum gebeten haben«, sagte Sander.
Die Frau machte ein beleidigtes Gesicht.
»Das glaube ich nicht. Warum hätte er das tun sollen? Um seine Post kümmert sich jedenfalls niemand, denn als ich heute in den Briefkasten geschaut habe, war der ganz voll. Das fand ich komisch.«
Sander fuhr sich über die Stirn.
»Hat er denn irgendwelche schweren Krankheiten?«
Die Frau schnaubte kurz.
»Behaupten Sie, dass er tot in seiner Wohnung liegt?«
»Das kann leider vorkommen.«
Sie zuckte mit den Schultern und schaute zum Fenster hinüber. Draußen war es durch den Regen ungewöhnlich dunkel, und in der beschlagenen Scheibe spiegelte sich die Neonröhre.
»Er sieht jedenfalls ganz gesund aus.«
»Er ist also seit einigen Tagen verschwunden«, murmelte Sander. »Und er hat Ihnen nicht gesagt, dass er verreisen wollte?«
»Ich glaube nicht. Auch wenn meine Erinnerung nicht immer die beste ist. Wenn Sie verstehen, Herr Wachtmeister.«
Aber sicher, dachte er. Das verstehe ich nur zu gut.
Ein Jammertal, dachte er dann und warf einen Blick auf die Uhr. 17:46. Er hätte jetzt zu Hause sein und sich für den Abend fertig machen müssen. Es war Freitag, und zum ersten Mal seit drei Jahren wollten er und Henrietta ins Kino und danach essen gehen. Sie würde sich durchaus nicht freuen, wenn er nun schon wieder zu spät käme. Es wäre der dritte Freitag hintereinander, und vergangene Woche war auch noch Mittsommer gewesen. Sie hatte die Babysitterin wieder abbestellen müssen und hatte ihm anschließend vorgeworfen, sich absichtlich verspätet zu haben. Aber war es vielleicht seine Schuld, dass, als er gerade gehen wollte, dieser Irre hereingeplatzt war und sich als Mörder ausgegeben hatte? Und jetzt passierte schon wieder so etwas. Warum hatten sie sich ausgerechnet die Freitage ausgesucht, um ihn in den Wahnsinn zu treiben?
Die Frau sah ihn an und kniff dabei energisch die Lippen zusammen. Sie hatte jetzt rote Flecken auf den Wangen. Die standen ihr nun gar nicht. Bissen sich mit der rosa Kleidung.
»Wenn Sie wollen, dass wir Ihren Nachbarn suchen, müssen Sie seinen Namen und seine Adresse nennen. Sonst können wir nichts unternehmen. Leider.«
»Meine Güte. Was wollen Sie denn mit der Adresse? Er ist doch gar nicht zu Hause. Deshalb bin ich ja hier.«
»Wohnt er allein?«
»Er hat zwar ab und zu mal eine Frau dabei, aber so viel ich weiß, wohnt keine bei ihm. Allerdings hat er eine Katze. Die kommt und geht. Er lässt sie raus, und wenn sie dann vor der Tür steht, geht er nach unten und lässt sie wieder rein.«
Wieder spitzte sie verärgert die Lippen und presste die Hände auf eine kleine Handtasche aus offenkundigem Kunstleder.
»Haben Sie die Katze gesehen, als Sie durch den Briefkastenschlitz geschaut haben?«
Warum um alles in der Welt musste er danach fragen? Besser wäre doch wohl gewesen, die Alte dahin zu schicken, wo sie hingehörte. Er hatte wirklich keine Lust, hier den Irrenarzt zu spielen.
»Nein, die ist meistens unterwegs.«
Nach Hause, dachte er. Und nicht erst um Viertel nach sechs und Henriettas Gesicht sehen müssen, wenn sie sich weigerte, ihn anzusehen. Er konnte sie ja verstehen, er hatte unendliches Verständnis, aber was half das, wenn sie sich weigerte, ihm zu glauben?
»Sie haben nicht zufällig einen Zweitschlüssel für seine Wohnung?«
»Den hatte ich nur im Winter, als ich bei ihm Blumen gießen sollte.«
»Na dann ...«, Sander fuhr sich mit zwei Fingern übers Kinn und spürte seine Bartstoppeln, die seit dem Morgen wieder ein wenig gewachsen waren. »Das findet sich schon alles. Die meisten Verschwundenen sind eigentlich gar nicht verschwunden. Sie tauchen wieder auf, als sei nichts passiert.«
»Ach was«, murmelte die Frau. »Aber es ist ja auch nicht meine Aufgabe, ihn zu suchen. Irgendwas müsst ihr für unsere Steuern ja wohl auch tun.«
Erik Sander erhob sich, in der Hoffnung, die Frau werde seinem Beispiel folgen. »Dann danke ich für Ihre Auskunft. Wenn Sie sich die Sache anders überlegen und uns doch noch seinen Namen verraten mögen, dann machen Sie uns die Sache damit sehr viel leichter.«
Es war vier Minuten vor sechs, und auch wenn er die Jacke vom Bügel risse und in einem Rekordtempo geradewegs nach Hause führe, wäre der Kinoabend doch unwiderruflich verdorben.
Sie stand jetzt an der Tür mit ihrem grellen Nylonmantel, der sie einhüllte wie eine zerknitterte Decke. An den Füßen trug sie schmutzige Turnschuhe und weiße, über schwarzen Strumpfhosen aufgerollte Tennissocken. Wieder kam sie ihm auf irgendeine Weise bekannt vor. Wie um dieses Gefühl zu vertreiben, wandte er sich für einige Sekunden ab. Als er dann wieder zur Tür blickte, war sie verschwunden.
Erik Sander schaltete den Computer aus und schob seinen Stuhl an den Tisch. Er schaute auf die Uhr. 17:58. Der Film fing um halb sieben an. Auf seinem Weg über den Flur warf er einen vorsichtigen Blick durch Egon Eskilssons gläserne Zimmertür. Egon saß an seinem Schreibtisch und beugte sich über eine Zeitschrift. Vor sich hatte er ein Butterbrot und einen dampfenden Becher mit Kaffee. Die Schreibunterlage war von Krümeln übersät, es war also offenbar nicht sein erstes Brot. Er zuckte zusammen, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
»Hier sitzt du also, und das in aller Seelenruhe.«
Sander konnte sich nicht beherrschen. Eskilsson schaute auf und räusperte sich.
»Ich bin gerade erst gekommen und hatte eben Hunger, das verstehst du doch.«
Die Wangen des Kollegen röteten sich ein wenig. Dass Eskilsson sich im Büro lieber in die Lokalpresse vertiefte als in Protokolle, war kein Geheimnis. Dass er inzwischen bisweilen ohne Entschuldigung zu spät kam und manchmal vorzeitig Feierabend machte, war auch bekannt. Aber wirklich zu interessieren schien das alles niemanden, vielleicht, weil ihn nur noch ein gutes halbes Jahr von der Pensionierung trennte. Ein Ereignis, auf das nicht nur er sich freute, auch wenn niemand das sagte.
»Ich hatte Besuch von einer Frau, die behauptet hat, ihr Nachbar sei verschwunden«, sagte Sander.
Er hatte den Kopf durch die Tür gesteckt.
Mit voll gestopften Backen schaute Eskilsson ihn an. »Du siehst gestresst aus«, sagte er, nachdem er geschluckt hatte. »Irgendwas Besonderes?«
Sander schüttelte den Kopf.
»Nein, nichts. Ich hab’s nur ein wenig eilig.«
»Dann steh hier doch nicht rum.«
»Werd ich auch nicht. Ich wollte dir nur erzählen, dass die Frau keinen Namen nennen wollte, deshalb können wir nichts unternehmen. Sie kam mir wirklich ein bisschen seltsam vor.«
»War der Nachbar zwanzig und über Nacht ausgeblieben oder was?«
»Er scheint eher um die vierzig zu sein und hat sich seit einigen Tagen nicht mehr blicken lassen. Aber er kann verreist sein, das wusste die Frau nicht. Und wie gesagt, einen Namen weiß ich nicht. Das war alles ein bisschen verworren.«
Eskilsson hielt mitten im Kauen inne. »Verdammt, wieso wollte sie keinen Namen nennen!« Er schüttelte den Kopf und kaute weiter, schaute verstohlen zu Sander hinüber und stopfte sich dann den letzten Bissen Brot in den Mund.
»Wie gesagt, ich hab’s ein bisschen eilig. Ich muss jetzt los. Aber wenn sie sich noch einmal meldet, dann bist du informiert. Bei solchen Leuten weiß man doch nie.«
Sander warf noch einen Blick auf die Uhr, obwohl er wusste, dass es keinen Zweck haben würde, sich jetzt noch zu beeilen.
»Dann geh doch endlich. Was ich übrigens auch bald tun werde.«
Eskilsson.
Eskilsson beschrieb eine halbe Drehung mit seinem Schreibtischstuhl, faltete die Zeitung zusammen und trank den Rest des noch immer dampfenden Kaffees. Als er sich dann umdrehte, war Erik Sander verschwunden. Nur seine Schritte waren im Gang noch zu hören. Eskilsson hob die Augenbrauen und wollte sich schon seinem Computer zuwenden, überlegte sich die Sache dann aber anders und zog die Zeitung hervor, deren Sportseiten noch immer aufgeschlagen waren.
Märta Olofsson saß mit einer zerknitterten Plastiktüte auf einer Bank im Gunillapark und sah den Vögeln zu. Sie hatte ihnen altes Brot mitgebracht, und die Vögel langten zu wie mitten im Winter, obwohl Mittsommer doch erst eine Woche zurücklag.
Sie seufzte. Sie bereute, was sie getan hatte, aber jetzt war es zu spät. Sie hatte die eleganten Türen der Wache gerade erst hinter sich gebracht, als ihr auch schon Zweifel gekommen waren, ganz zu schweigen von später, als sie bei diesem Polizisten gesessen hatte, der ihr auf irgendeine Weise bekannt vorgekommen war und der sie anstarrte und ihr Fragen stellte, auf die sie plötzlich einfach nicht antworten konnte.
Wie dumm von ihr. Was ging das Ganze sie überhaupt an? Vielleicht hatte sie einfach nur zu wenig zu tun? In letzter Zeit hatte sie oft herumgesessen und darauf geachtet, wann die Nachbarn kamen und gingen, hatte in den Hausflur hinaus gelauscht. Sie hatte das Radio satt, sie mochte nicht mehr am Küchentisch sitzen und das gegenüberliegende Haus anstarren. Das andere war besser, auf irgendeine Weise fühlte sie sich so näher am wirklichen Leben. Und dann war ihr aufgefallen, dass es in der Wohnung gegenüber so still war.
Aber eigentlich ging das alles sie überhaupt nichts an. Sie stand auf und blickte zur Bushaltestelle hinüber. Wie peinlich, der Polizist hatte ihr nicht geglaubt, aber es war zu spät gewesen, als sie auf seiner Türschwelle gestanden hatte, er war außerdem viel zu gestresst gewesen. Ja, die Polizei hatte sicher viel zu tun, man hörte ja, dass in der Stadt so viel passierte, und dann kam auch noch sie und sagte etwas, das sie nichts anging und das sie außerdem gar nicht hatte sagen wollen.
»Sjögren« stand an der Tür. Sie dachte an den jungen Mann. Er sah sympathisch aus. Sie beobachtete ihn immer heimlich durch ihren neuen Türspion. Er nickte ihr zu, wenn er sie sah, hatte sogar einmal zu dem Türspion hin genickt, als wisse er, dass sie dort stand. Wenn sie einander im Treppenhaus begegneten, lächelte er sie immer an, machte gelegentlich eine Bemerkung über das Wetter. Und einmal, als er verreisen wollte, hatte er sie gebeten, seine Blumen zu gießen. Ja, das hatte er wirklich getan. Er hatte gesagt, seine Topfblumen seien ihm wichtig, und zum Dank hatte er ihr die Haare neu gelegt, ganz umsonst. Er arbeitete als Friseur. Hatte sogar seinen eigenen Salon. Und jetzt war er wieder verreist. Und niemand kümmerte sich um seine Blumen oder seine Post. Drei Tage lang hatte vor seiner Tür ein großer Brief gelegen. Am Ende hatte sie den in den Briefschlitz gesteckt, und dabei hatte sie gesehen, dass unten schon sehr viel Post herumlag. Ja, das war wirklich seltsam. Aber welches Recht hatte sie, sich einzumischen?
Märta Olofsson erhob sich. Ging langsam über den schmalen Parkweg zur Bushaltestelle. Warf die Brottüte in den Papierkorb. Bald würde der Bus nach Andersberg fahren, und dann würde sie wieder zu Hause sein. Sie würde sich mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch setzen und diesen peinlichen Zwischenfall so rasch wie möglich vergessen.
Als Henrietta Sander sich an diesem Freitagnachmittag über ihre Spülmaschine beugte, um das benutzte Geschirr hineinzuräumen, stellte sie trocken, aber ein wenig enttäuscht fest, dass ihr Mann sich offensichtlich wieder verspätete und während der nächsten Stunden wohl nicht auftauchen werde. So war es schon dreimal gewesen, wenn sie beschlossen hatten, zusammen auszugehen, erst ins Kino und dann in irgendein Restaurant. Immer auf Eriks Vorschlag hin. Sie hatte zuerst gezögert, nicht, weil sie nicht gewollt hätte, sondern weil sie sich fragte, ob sie das überhaupt schaffen und ob sie nicht viel zu müde sein würden. In letzter Zeit hatten sie an den Abenden zumeist träge vor dem Fernseher gesessen und waren dann dort eingeschlafen.
Jetzt stand die Babysitterin in der Tür und trat in ihren viel zu warmen Turnschuhen von einem Fuß auf den anderen. Sie trug ein dünnes weißes Baumwollhemd mit einem roten Herzen. Die Kinder hatten schon aufgemacht und drängten sich nun lachend um die Beine des schmächtigen Mädchens; sie fanden es immer wunderbar, einige Stunden mit ihr allein zu sein, da das Mädchen sie, anders als die Eltern und vermutlich aus purer Gleichgültigkeit, auf dem Sofa herumhopsen und im Bett Purzelbäume schlagen ließ, bis ihre Gesichter glühten und ihre Haare schweißnass waren. Henrietta wusste das, wollte die Babysitterin aber nicht zurechtweisen. Wenn man mal jemand Zuverlässigen gefunden hatte, musste man sich alle Mühe geben, ihn zu halten, auch wenn sie den Kindern zu viele Freiheiten erlaubte.
»Komm rein«, sagte Henrietta, trocknete sich an einem Geschirrtuch die Hände ab und ging in die Diele. »Es wird wohl auch heute Abend nichts. Erik ist noch nicht zu Hause, und wenn er in zehn Minuten nicht da ist, dann schaffen wir es nicht mehr.«
Rebecka stand unschlüssig auf der Türschwelle und biss sich auf ihre rosa Lippe.
»Soll ich nach Hause gehen oder ...«
»Warte bitte noch. Man weiß ja nie. Und du wirst auf jeden Fall bezahlt, es ist ja nicht deine Schuld ...«
Nein, es war nicht die Schuld der Kleinen, dass Erik zum x-ten Mal so viel zu spät kam, dass Kinobesuch und Essen sich mal wieder erledigt hatten. »Wir holen das an einem anderen Freitag nach«, hatte Erik beim vorigen Mal gesagt, aber ohne ihr in die Augen zu schauen, und Henrietta schien es, dass er selbst nicht glaubte, was er da sagte. Seine Arbeit fraß immer mehr von den Abenden auf, während Henrietta sich zu Hause um alles kümmerte und die Kinder rechtzeitg ins Bett steckte. Oft kam Erik erst so spät, dass er ihnen nicht einmal mehr gute Nacht sagen konnte. »Wo ist Papa?«, fragten sie manchmal. »Der arbeitet«, antwortete Henrietta dann, und obwohl sie es nicht wollte, hörte sie doch ein gewisses Maß an Bitterkeit in ihrer Stimme mitklingen. Als beiße sie die letzte Silbe des Satzes ab, um sie dann wütend auf den Teppich zu spucken und zu zertrampeln. Als wolle sie auch Eriks Erklärungen und Ausflüchte zertrampeln und sagen, jetzt hör verdammt noch mal auf, so viel zu arbeiten. Ich oder die Arbeit, entscheide dich. Aber so weit kam sie nie, lief nur verärgert hin und her und starrte ihn wütend an. In der Hoffnung, dass er nun endlich begriff.
Ich bin zu nachgiebig, dachte Henrietta, ich zeige nicht, wie mir wirklich zumute ist. Und drückte Rebecka einen Hunderter in die Finger, die anstandshalber protestierte, sich aber sichtlich darüber freute, für gar nichts so viel bezahlt zu bekommen.
»Wir vergessen das für heute Abend«, sagte Henrietta und schaute in die großen, braunen, von zu viel Wimperntusche eingerahmten Augen. »Aber nächste Woche, vielleicht, wenn du dann Zeit hast?«
Rebecka nickte lächelnd, während Henrietta dachte, dass sie sich den letzten Satz hätte sparen können. Sie wusste nur zu gut, dass ihr Mann auch am nächsten und am übernächsten Freitag Überstunden machen würde. Und nur Gott, falls überhaupt, wusste, wie lange das noch so weitergehen würde.
Ab und zu, manchmal, wenn es abends so spät wurde, dass sie fast schon einsam vor dem Fernseher eingeschlafen war, ehe sie seinen Schlüssel im Schloss hörte, hatte sie darüber spekuliert, was er da eigentlich machte. Musste er wirklich arbeiten? Oder hatte er eine andere, war das mit der Arbeit nur ein Deckmäntelchen für etwas, das Henrietta in ihrer Naivität nicht durchschaute? In solchen Momenten schaute sie in den Spiegel und sah dort eine Frau mit viel zu schmalem Gesicht, mit eingefallenen Wangen und gerunzelter Stirn, die so leicht an der Nase herumzuführen war, dass sie jede Lüge schluckte, die ihr vorgelegt wurde. Sollte sie etwas sagen? Immer wieder wirbelten dieselben Fragen durch ihren Kopf, blieben aber zu vage, um wirklich Form anzunehmen. Darüber hinaus war sie sich nicht sicher, dass sie die Folgen der möglichen Antworten tragen wollte.
Also saß sie auch an diesem Abend brav da und wartete. Wenn auch die Wut irgendwo im Hinterkopf auf der Lauer lag. Als Erik Sander um zwanzig nach sechs mit tausend gestammelten Erklärungen und Entschuldigungen in die Diele trat, sah sie ihn kurz an, starr und durchdringend, und machte dann kehrt, ging ins Schlafzimmer der Kinder, sagte, die müssten jetzt ins Bett, hob das Pu der Bär-Buch vom Boden auf, putzte den beiden widerstrebenden Jungen die Zähne und steckte sie ins Bett. Nachdem Erik den Kindern gute Nacht gesagt hatte, fing sie an zu lesen. Die Geschichte von Pu dem Bären im Hundertmorgenwald machte sie ein wenig schläfrig, dämpfte den Zorn, der immer noch in ihr tobte, und versetzte nicht nur die Kinder, sondern auch sie selbst in eine seltsame Ruhe. Es war schon fast halb neun, als sie neben den schlafenden Kindern erwachte, überrascht, weil sie so schnell eingeschlafen war. Sie fühlte sich müde und schlaftrunken, zwang sich aber zum Aufstehen. Vielleicht kam ja etwas im Fernsehen. Als sie zum Sofa ging, war Erik nicht dort, war auch nicht in der Küche. Eine eben erst benutzte Kaffeetasse stand im Spülstein, Sie blickte hinter das Regal, das sie im Wohnzimmer als Raumteiler benutzten, und sah auf dem Bett seine Beine. Er hatte nicht einmal die Tagesdecke weggenommen, so schnell war er eingschlafen. Im Raum herrschte eine bleierne Stille. Viel später, als alles vorüber war, dachte sie, dass an diesem Abend vielleicht alles begonnen hatte, und dass diese Stille die Ursache dafür gewesen sei, dass alles so wurde, wie es eben geworden war.
Auf dem Hof herrschte trübes Dämmerlicht, als Rebecka die Haustür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Krach. Es war immer so laut. Was sollte sie jetzt tun? Sie spielte mit dem glatten Hunderter in ihrer Tasche herum. Leicht verdientes Geld, wirklich, auf diese Weise würde sie gern weiterhin bei Henrietta babysitten. Das war doch der pure Traumjob.
Vielleicht sollte sie in die Stadt fahren und sich ein Eis oder einen Hamburger kaufen. Ihre Mutter musste an diesem Abend arbeiten, und dann war sie nie vor zehn zu Hause. Rebecka ging über den Bürgersteig. Überall Pfützen, die Laternen brannten schon, obwohl es doch mitten im Sommer war und der Himmel eigentlich hell sein müsste. Das Licht der Laternen spiegelte sich im Regenwasser wider, und der Asphalt sah schwärzer aus als sonst. Es gluckste unter ihren Schuhen.
Plötzlich war sie da, die Katze. Ein mageres schwarzes Tier mit großen grünen Augen, die ebenso funkelten wie die Pfützen.
Rebecka bückte sich.
»Aber hallo, Miezekätzchen«, sagte sie. »Was machst du denn hier?«
Die Katze rieb ihre Nase an Rebeckas Bein. Rebecka streichelte ihren Rücken und spürte durch das Fell die Rippen.
Sie hob das Tier hoch. Leicht wie eine Tüte Zucker. Bereitwillig ließ die Katze sich in den Arm nehmen und fing an zu schnurren. Wie eine leise tickende Uhr, fand Rebecka.
Als Rebecka die Katze dann auf den Boden setzte, um weiterzugehen, folgte das Tier ihr. Bis zur Bushaltestelle und dann wieder zurück. Denn nachdem sie eine Viertelstunde im Regen auf den Bus gewartet hatte, der sich offensichtlich verspätete, hatte sie keine Lust mehr, in die Stadt zu fahren. Schließlich war ihre Mutter nicht zu Hause, und das hieß, sie hatte die Wohnung für sich. Sie beschloss, in den Lebensmittelladen an der Ecke zu gehen und sich eine Tüte Chips zu kaufen.
»Aber hier kannst du nicht mitkommen«, sagte Rebecka, als die Katze versuchte, ihr in den Laden zu folgen.
Sie beeilte sich, nahm auch noch einen halben Liter Birnenlimonade mit, wo sie schon einmal da war. Geld hatte sie ja schließlich mehr als genug.
Als sie aus dem Laden kam, war die Katze verschwunden. Rebecka lief über den Rasen. Summte vor sich hin. Spielte mit dem Gedanken, Anders anzurufen, konnte sich aber nicht dazu durchringen.
Vor dem Haus spürte sie wieder diesen leichten Druck an ihrer Wade. Die Katze stand dort und starrte hilflos aus ihren funkelnden Augen zu ihr hoch. Ihre weiche Nase schnupperte vorsichtig an Rebeckas Jeans herum.
Rebecka bückte sich und hob das Tier wieder hoch.
»Du armes Vieh«, sagte sie. »Dann musst du eben mit reinkommen. Hast du vielleicht Hunger? Isst du gern Chips?«
Unter dem feuchten schwarzen Fell vibrierte ein leises Schnurren, als sie die Katze die Treppen hochtrug.
Sie atmete auf. Ließ den Pinsel liegen. Er triefte vor Farbe. Ihr wurde schlecht.
Mit dem aufgekrempelten Hemdsärmel wischte sie sich den Schweiß aus der Stirn und schaute über das Grundstück. Feucht und morastig war es dort, weich und sumpfig. Egal, wie lange die Sonne schien oder wie warm es war. Nie reichte die Wärme bis hierhin, es gab nur Nässe und noch mehr Nässe. Ihre Stiefel versanken bis zu den Knöcheln im Boden, es schwappte und saugte. Das Wasser gelangte überallhin und nahm die Toten mit sich.
Sie hatte das getan, wozu sie gezwungen gewesen war. Aber danach hatte sie nicht schlafen können. Obwohl es nicht ihre Schuld war. Sie hatte ja geglaubt, nicht gewusst, aber war sich fast sicher gewesen. Jetzt wurde sie verfolgt von Träumen, die sie nicht loslassen wollten. Ab und zu legte sie den Kopf auf das gestreifte Kissen des Ausziehsofas, hatte aber Angst vor dem Einnicken. Solange sie wach war, hatte sie Kontrolle über das Unkontrollierbare, aber wenn sie einschlief, glitt ihr alles aus der Hand. Wie schon vorher, wie ein abrupt gekappter Faden. Nichts war noch so, wie es sein sollte, aber sie konnte nichts mehr daran ändern, und deshalb spielte es keine Rolle. Sie musste mit dem weitermachen, womit sie angefangen hatte.
»Nicht die Schuhe ausziehen.«
»Wieso nicht?«
»Es ist so verdammt kalt hier drinnen.«
»Ha. Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Es ist auch staubig.«
»Ist es überhaupt nicht. Hier gibt es nicht ein einziges Staubkorn. Warum kannst du nicht einfach zugeben, dass du die Schuhe schrecklich findest?«
»Dann mach wenigstens nicht solchen Krach damit. Du weckst sonst das ganze Haus.«
»Und wer ist das ganze Haus? Deine Mutter vielleicht?«
Tobias gab keine Antwort, sondern sprang immer zwei Stufen auf einmal die Wendeltreppe hoch. Seine engen Jeans. An diesem Hintern gab es kein Gramm Fett, an seinem Bauch auch nicht. Er war einfach wunderbar schmal gebaut. Mit ein wenig Muskeln an den Oberarmen wäre er perfekt. Aber man konnte schließlich nicht alles haben. Andrea seufzte und stieg hinter ihm her die Treppe hoch.
Seine Mutter schien zu schlafen, jedenfalls lag sie nicht oben auf der Lauer. So, wie Andreas Mutter das machte. Er schob die Tür zu einem Zimmer zu, bei dem es sich offenbar um das Schlafzimmer seiner Mutter handelte, und öffnete die Tür gegenüber.
»Mein Zimmer«, sagte er, nahm sie am Arm und zog sie hinein. Dann schloss er auch diese Tür. So leise und vorsichtig er konnte, also mit einem leisen Knall. Tobias war niemand von der leisen Sorte.
Er ließ sich auf das Bett sinken, auf dem eine beige Tagesdecke mit kleinen Karos lag. Sie setzte sich neben ihn, einen Meter von ihm entfernt, nicht zu nah.
»Bestimmt hat deine Mutter das Bett gemacht.«
»Nee, das war ich.«
Tobias starrte mit leerem Blick die Wand an, wo ein Plakat hing, etwas Großes, Schwarzes, vielleicht ein Gesicht. Darunter war das Bild eines roten Motorrads befestigt. Er sprang wieder auf, lief zum CD-Player, drückte auf einige Knöpfe, und plötzlich dröhnte es aus den Lautsprechern.
»Himmel, wird sie denn jetzt nicht wach?«
»Ich hab doch die Tür zugemacht.«
Er mimte einen Gitarristen und verdrehte die Augen zur Decke, schob die Hüfte vor und trat mit dem Absatz den Takt. Dann riss er plötzlich die Augen auf, als sei ihm etwas eingefallen, drehte die Musik ab, blieb stehen, starrte sie an.
»Verdammt«, sagte er.
»Was denn?«
Er trat auf sie zu, streckte eine Hand aus, wie um ihre Schulter zu berühren. Ließ aber die Hand auf halber Strecke in der Luft hängen.
»Du hast verdammt tolle Schuhe«, sagte er.
»Ja«, sagte sie.
»Scheiße, darin kann man sich ja spiegeln. Wie heißt das noch?«
»Lack. Weißt du das nicht?«
Sie saßen schweigend und mit geraden Rücken nebeneinander. Sie sah seinen Mund an, der passte nicht so richtig in sein Zimmer, in ein typisches Scheißjungenzimmer, mit einem Computer auf dem Tisch vor dem Fenster und einer E-Gitarre auf dem Boden und einer schmutzigen Unterhose unter dem Bett, das hatte sie schon gesehen.
Plötzlich drehte er sich zu ihr um, legte ihr die Hände auf die Schultern, presste seinen Mund auf ihren und dann war seine Zunge in ihrem Mund, drückte ihre Lippen auseinander, während er ein leises Keuchen ausstieß. Seine schweren und ein wenig trägen Hände waren auf ihre Brust hinuntergeglitten, hatten schon ihren Pullover hochgeschoben und wollten weiter. Er hatte den BH aufgehakt, ohne dass sie es auch nur gemerkt hatte, und jetzt spürte sie, wie der BH sich öffnete und wie seine Finger da waren und in ihre Brustwarzen kniffen. Au, hätte sie gern gesagt, aber das kam ihr jetzt fehl am Platz vor, es hätte einfach nicht gepasst. Er drückte sie aufs Bett, ließ sich neben sie gleiten, lag dann halb auf ihr, sie spürte etwas Hartes an ihren schwarzen Jeans und plötzlich fürchtete sie sich ein wenig, obwohl es auch zwischen ihren eigenen Beinen pochte, wusste nicht so ganz, ob sie das wirklich wollte. Er hatte ihr den Pullover über den Kopf gestreift, ihre langen Haare knisterten elektrisch, und jetzt würde wohl auch noch ihre Wimperntusche verschmiert werden.
Sie wandte sich von seinem Mund ab, der schrecklich weich war, hatte das Gefühl, als sei ihr ganzes Gesicht mit Spucke beschmiert. Sie kicherte, begriff selbst nicht, woher dieses Kichern kam.
»Du«, sagte sie.
»Ja«, sagte er ein wenig atemlos und mit dem plötzlich so großen Mund ganz dicht an ihrem. Ehe sie noch mehr sagen konnte, hatte er seine Lippen wieder auf ihre gepresst und sie spürte, wie seine eine Hand sich unter ihren Hosenbund schob. Es wäre besser gewesen, zuerst die Knöpfe zu öffnen, aber das sagte sie nicht.
Es war eng in ihrer Jeans und seine Hand wühlte sich mühsam vor. Sein Mund stand immer noch offen, als habe er plötzlich vergessen, dass er sie gerade küsste, sein Atem stank nach Bier. Ein Finger hatte sich zwischen ihre Beine geschoben, hatte dort aber kaum Platz.
Dann fing der Finger an zu drücken und zu bohren. Sie schaute zur Decke hoch, und die Kanten der Tapeten waren grün. Sie war schweißnass. Himmel, er machte immer noch weiter, wollte er denn nie mehr aufhören. Auf der Fensterbank stand eine Grünpflanze, bestimmt hatte seine Mutter sie dort hingestellt.
»Wie ... wie ist das?«, fragte er leise an ihrem Ohr und holte tief Luft.
»Was denn?«, fragte sie und ließ ihren Blick von der Topfblume zu seinem Gesicht wandern. Dann starrte sie seinen Unterarm an, der auf merkwürdige Weise in ihrer Hose verschwand. Verdammt, da hatte sie einen Fleck, sicher Senf. Blöd, dass sie vom Kiosk keine Serviette mitgenommen hatte.
»Wieso was denn? Ist das schön, will ich wissen!«
Sie zögerte, sah wieder den Fleck an.
»Sicher«, sagte sie dann. »Aber du, ich hab einen Fleck auf der Hose.«
»Was?«
»Einen Fleck. Vom Senf.«
»Vom Senf?«
»Ja, mir ist ein ganzer Liter Senf auf die Wurst gefallen und ...«
»Denkst du jetzt etwa ans Fressen?«, fragte er und setzte sich auf.
Ihm sträubten sich die Haare, standen nach allen Seiten ab. Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, obwohl sie wusste, dass das nicht der richtige Zeitpunkt war. Er sah sie verwirrt an, sah aus, als wäre er eben aufgewacht, seine Augen waren zu Spalten zusammengekniffen.
»Was ist denn bloß so komisch?«
»Ach, nichts.« Sie streckte die Hand nach dem Pullover aus, der am Fußende lag. »Du, habt ihr irgendwas zu Essen im Haus?«
»Zu Essen? Jetzt?«
»Ja.«
Er erhob sich, fuhr sich langsam mit der Hand über die Haare, mehrmals, wie um das Elend zu glätten.
»Die Küche ist unten. Nimm dir, was du willst. Im Kühlschrank müsste was sein.«
Sie zog eine Bürste aus ihrer Tasche und fuhr sich damit einige Male durch ihre Haare. Die knisterten und klebten an ihrer Wange.
»Willst du nichts?«
Er ließ sich aufs Bett fallen. Seine gefalteten Hände hingen schlaff zwischen seinen Oberschenkeln. Auch sein Kopf hing nach unten, während er sie wütend anstarrte. Stiernacken.
»Nö.«
In der Tür blieb sie stehen. Kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum.
»Ach, du, ich glaube, ich gehe lieber gleich.«
»Willst du denn nichts mehr essen?«
»Nein, ich gehe.«
»Mach, was du willst. Du findest doch wohl selbst raus?«
Scheißtyp.
»Was bildest du dir denn ein? Meinst du, man braucht Karte und Kompass, um hier rauszukommen ...«
Wieder blieb sie stehen, streckte den Kopf nochmal ins Zimmer.
»Sehen wir uns morgen?«
»Morgen spiele ich, und am Sonntag ist Training und ...«
Sie knallte die Tür zu, war ihr doch egal, ob seine Scheißmutter aufwachte und Himmel und Erde in Bewegung setzte ... aber vielleicht war die ja gar nicht so. Ihre eigene Mutter saß wohl in der Küche und rauchte eine nach der anderen, hatte sicher inzwischen alle Nachbarn und Andreas ganzen Freundeskreis durchgeklingelt. Verdammt, wie peinlich. Eine Mutter, die herumtelefonierte und nach ihr fragte wie nach einem Scheißbaby, das nicht auf sich selbst aufpassen konnte. Bestimmt glotzte sie aus dem Fenster, mit ihren rot unterlaufenen Augen, und wenn Andrea dann nach Hause käme, würde sie behaupten, sich Sorgen gemacht zu haben. Und dann würden ihre Hände theatralisch zittern und sie würde sich die Haare zurückstreichen und den Morgenmantel fest um sich zusammenziehen und Andrea bebend anglotzen, mit diesem Tränenblick, bei dem man immer den Boden anstarren und begreifen musste, dass man sie verletzt hatte.
Auf der Straße wehte ein angenehmer Wind. Schwarz war es außerdem, schwarz und leer. Alle Leute in diesem Stadtteil schliefen wohl hinter ihren hübschen Rollos. Verdammt, hier wohnen zu müssen! Tobias’ Mutter war sicher so eine Keifzange mit schmalen Lippen und Rouge auf den Wangen. Wenn man hier wohnte, war man eben so. Bürosklavinnen, so nannte ihre eigene Mutter solche Leute. Latschen sich die Sohlen auf weißem Linoleum ab. Warum Büroböden immer weiß sein mussten, hatte Andrea nie begriffen. Der Boden, auf dem ihre eigene Mutter arbeitete, war grün, und da nutzte man sich Knie und Schultern ab. Alte Leute hochzuheben sei keine Arbeit für Schwächlinge, das sagte ihre Mutter immer.
Rasch und lässig ging Andrea weiter, die Tüte über ihre Schultern geworfen. Die Uhr war vorausgeeilt und zeigte jetzt schon zwei. Glücklicherweise brauchte Andrea am nächsten Morgen nicht früh aufzustehen, schließlich war Samstag. Und samstags hatte sie frei von dem vier Wochen dauernden Sommerjob auf dem Friedhof, den sie sich gesucht hatte. Dort goss sie Blumen und harkte den Kies. Es gab wirklich lustigere Dinge, die man um sieben Uhr morgens tun konnte, aber so war es nun eben, auch sie musste ihr Scherflein beitragen, wie ihre Mutter immer sagte.
Tobias. Sie versetzte dem Bordstein einen Tritt. Er hatte nur ihre Schuhe gesehen. Oder, genauer gesagt: Er hatte zuerst die Schuhe gesehen, und dann war sein Blick an der Besitzerin dieser Schuhe hochgeglitten. Zu dem fremden Gesicht. Tobias Lindgren. Gerüchten zufolge hatte er mit jedem Mädchen auf der ganzen Schule geschlafen, genauer gesagt, mit jedem Mädchen, das gut genug für ihn war. Das er nicht nur auslachte, während er über seine Schulter in den Kies spuckte. Und wie er mit Kippen um sich warf! Die waren so zahlreich wie die Mädchen, die sich um ihn drängten. Und nun war Andrea an der Reihe gewesen, von den blauen Augen und dem Mund eingefangen zu werden, der laut und viel über gar nichts redete.
Du blöde Kuh, Andrea, sagte sie leise zu sich, während sie über den dunklen Bürgersteig ging. Morgen Abend, wenn sie sich in der Stadt an ihrem festen Platz sammelten, würden sie über sie lachen. Sie würde den Blicken nicht entgehen können, die ihr erzählten, was sie über sie wussten. Und wer konnte ahnen, welche Geschichten Tobias sich aus den Fingern saugen würde. Irgendeine Lüge, in der sie selbst als lächerlicher Anhang von jemandem fungierte, der doch überhaupt nichts von ihr wissen wollte.
Endlich hatte sie die Stadt erreicht. Auch die war stumm und leer. Sie wanderte am Radweg entlang durch Timmermansleden und drückte sich dabei an die Büsche. An den Kreuzungen tickten die Ampeln, in der Dunkelheit klang das schrecklich einsam. Als sie die Kirche St. Nicolai erreicht hatte, bog sie zum Marktplatz ab, den sie überqueren musste, um zur Hamngata zu kommen. Jetzt war es nur noch eine Viertelstunde bis zur Wohnung in der Muraregata, wo aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Mutter in der Küche saß und die Hände so hart rang, wie sie vorher über dem Spülbecken den nassen Lappen ausgewrungen hatte. Die ausgedrückten Kippen im Aschenbecher auf dem Tisch, lang und nicht fertig geraucht.
Die Österbro kam ihr in der Nacht breit vor, nicht schmal, wie tagsüber, wenn sich dort die Busse drängten und es überall von Menschen wimmelte, während die Penner im so genannten Korkenpark johlten. Flaschen, Bierdosen und Pissegestank, kaputte, vollgeschmierte Bänke. Der Figaropark machte seinem Beinamen noch immer alle Ehre, auch wenn die alte Brauerei dahinter längst schon stillgelegt worden war. Jetzt war alles leer, auch wenn man nie wusste, ob nicht irgendwer in der Dunkelheit unter den Bäumen schlief.
Dann blieb sie stehen, dort auf der Österbro. Ihr war ein seltsames Geräusch aufgefallen. Die Laternen spiegelten ihren