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Seitenzahl: 105
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Schweizerische Erzähler / Band 9
Die Einbandzeichnung ist nicht, wie auf der Rückseite des Buchtitels angegeben ist, von Karl Walser, sondern von Otto Baumberger. Infolge von Beförderungszwischenfällen kam der Karl Walser erteilte Auftrag nicht zur Ausführung.
VonRobert Walser
Frauenfeld und Leipzig Verlag: Huber & Co.
Den Einband zeichnete Karl Walser, Berlin
Copyright 1917 by Huber & Co., Frauenfeld & Leipzig
Druck von Huber & Co. in Frauenfeld
Ich teile mit, daß ich eines schönen Vormittags, ich weiß nicht mehr genau, um wieviel Uhr, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, den Hut auf den Kopf setzte, das Schreib- oder Geisterzimmer verließ, die Treppe hinunterlief, um auf die Straße zu eilen. Beifügen könnte ich, daß mir im Treppenhaus eine Frau begegnete, die wie eine Spanierin, Peruanerin oder Kreolin aussah. Sie trug etwelche bleiche, welke Majestät zur Schau. Ich muß mir jedoch auf das strengste verbieten, mich auch nur zwei Sekunden lang bei dieser Brasilianerin oder was sie sonst sein mochte, aufzuhalten; denn ich darf weder Raum noch Zeit verschwenden. So viel ich mich heute, wo ich dieses alles schreibe, noch zu erinnern vermag, befand ich mich, als ich auf die offene helle und heitere Straße trat, in einer romantisch-abenteuerlichen Gemütsverfassung, die mich tief beglückte. Die morgendliche Welt, die sich vor meinen Augen ausbreitete, erschien mir so schön, als sähe ich sie zum erstenmal. Alles, was ich erblickte, machte mir den angenehmen Eindruck der Freundlichkeit, Güte und Jugend. Rasch vergaß ich, daß ich oben in meiner Stube soeben noch düster über ein leeres Blatt Papier hingebrütet hatte. Alle Trauer, aller Schmerz und alle schweren Gedanken waren wie verschwunden, obschon ich einen gewissen Ernst, als Klang, noch immer vor mir und hinter mir lebhaft spürte. Freudig war ich auf alles gespannt, was mir auf dem Spaziergang etwa begegnen oder entgegentreten könnte. Meine Schritte waren gemessen und ruhig, und soviel ich weiß, ließ ich, indem ich so meines Weges ging, ziemlich viel würdevolles Wesen sehen. Meine Empfindungen liebe ich vor den Augen meiner Mitmenschen zu verbergen, ohne daß ich mich jedoch deswegen ängstlich bemühe, was ich für einen großen Fehler und für eine starke Dummheit halten würde. Ich war noch nicht zwanzig oder dreißig Schritte weit über einen weiten menschenbelebten Platz gegangen, als mir Herr Professor Meili, eine Kapazität allerersten Ranges, leicht begegnete. Wie die unumstürzliche Autorität schritt Herr Professor Meili ernst, feierlich und hoheitvoll daher; in der Hand trug er einen unbeugsamen wissenschaftlichen Spazierstock, der mir Grauen, Ehrfurcht und Respekt einflößte. Professor Meilis Nase war eine strenge, gebieterische, scharfe Adler- oder Habichtsnase, und der Mund war juristisch zugeklemmt und zugekniffen. Des berühmten Gelehrten Gangart glich einem ehernen Gesetz; Weltgeschichte und Abglanz von längst vorübergegangenen heroischen Taten blitzten aus Herrn Professor Meilis harten, hinter buschigen Augenbrauen verborgenen Augen hervor. Sein Hut glich einem unabsetzbaren Herrscher. Geheime Herrscher sind die stolzesten und härtesten. Im ganzen genommen betrug sich jedoch Professor Meili ganz milde, so als wenn er in keiner Hinsicht nötig gehabt hätte, merken zu lassen, welche Summen von Macht und Gewicht er personifizierte, und seine Gestalt erschien mir trotz aller Unerbittlichkeit und Härte sympathisch, weil ich mir sagen durfte, daß die, die nicht auf süße und schöne Art lächeln, ehrlich und zuverlässig sind. Gibt es ja bekanntlich Schurken, die die Lieben und Guten spielen, die das schreckliche Talent haben, zu den Untaten, die sie begehen, verbindlich und artig zu lächeln.
Ich wittere etwas von einem Buchhändler und einem Buchladen; ebenso will bald, wie ich ahne und merke, ein Bäckerladen mit prahlerischen Goldbuchstaben zur Erwähnung und Geltung gelangen. Vorher aber habe ich noch einen Priester oder Pfarrer zu verzeichnen. Ein radfahrender oder fahrradelnder Stadtchemiker fährt mit freundlichem, gewichtigem Gesicht dicht am Spaziergänger, nämlich an mir, vorüber, ebenso ein Stabs- oder Regimentsarzt. Ein bescheidener Fußgänger darf nicht unbeachtet und unaufgezeichnet bleiben; denn er ersucht mich um gefällige Erwähnung. Es ist dies ein reichgewordener Althändler und Lumpensammler. Buben und Mädchen jagen im Sonnenlicht frei und ungezügelt umher. »Man lasse sie ruhig ungezügelt«, dachte ich; »das Alter wird sie einst schon schrecken und zügeln. Nur zu früh, leider Gottes.« Ein Hund erlabt sich am Brunnenwasser. Schwalben, scheint mir, zwitschern in der blauen Luft. Ein bis zwei elegante Damen in verblüffend kurzen Röcken und überraschend feinen hohen farbigen Stiefelchen machen sich doch wohl hoffentlich so gut bemerkbar wie irgend etwas anderes. Zwei Sommer- oder Strohhüte fallen auf. Die Sache mit den Herrenstrohhüten ist die: Plötzlich sehe ich nämlich zwei Hüte in der hellen zarten Luft, und unter den Hüten stehen zwei bessere Herren, die einander mittels schönen, artigen Hutlüftens und -schwenkens guten Morgen zu bieten scheinen. Die Hüte sind bei dieser Veranstaltung sichtlich wichtiger als ihre Träger und Besitzer. Im übrigen bittet man den Verfasser sehr ergeben, sich vor tatsächlich überflüssigen Spötteleien und Föppeleien zu hüten. Man ersucht ihn, ernsthaft zu bleiben, und hoffentlich hat er das jetzt ein für allemal verstanden.
Da eine äußerst stattliche, reichhaltige Buchhandlung mir angenehm in die Augen fiel und ich Trieb und Lust spürte, ihr einen kurzen und flüchtigen Besuch abzustatten, so zögerte ich nicht, in den Laden mit sichtlich guter Manier einzutreten, wobei ich mir allerdings zu bedenken erlaubte, daß ich vielleicht mehr als Inspektor und Bücher-Revisor, als Erkundigungen-Einsammler und feiner Kenner denn als beliebter und gerngesehener reicher Einkäufer und guter Kunde in Frage käme. Mit höflicher, überaus vorsichtiger Stimme und in den begreiflicherweise gewähltesten Ausdrücken erkundigte ich mich nach dem Neusten und Besten auf dem Gebiet der schönen Literatur. »Darf ich«, fragte ich schüchtern, »das Gediegenste und Ernsthafteste und damit selbstverständlich zugleich auch das Meistgelesene und am raschesten Anerkannte und Gekaufte kennen und augenblicklich schätzen lernen? Sie würden mich zu ungewöhnlichem Dank in sehr hohem Grad verbinden, wenn Sie die weitgehende Gefälligkeit haben und mir das Buch gütig vorlegen wollten, das, wie ja sicher niemand so genau wissen wird wie gerade Sie, die höchste Gunst beim lesenden Publikum sowohl als bei der gefürchteten und daher ohne Zweifel auch umschmeichelten Kritik gefunden hat und ferner munter findet. Sie glauben garnicht, wie ich mich interessiere, sogleich zu erfahren, welches von allen den hier aufgestapelten und zur Schau gestellten Büchern oder Werken der Feder dieses fragliche Lieblingsbuch ist, dessen Anblick mich ja höchst wahrscheinlich, wie ich auf das allerlebhafteste vermuten muß, zum sofortigen freudigen, begeisterten Käufer machen wird. Das Verlangen, den Lieblingsschriftsteller der gebildeten Welt und sein bewundertes, stürmisch beklatschtes Meisterwerk zu sehen und wie gesagt vermutlich auch sogleich zu kaufen, gramselt und rieselt mir durch alle Glieder. Darf ich Sie höflich bitten, mir dieses erfolgreichste Buch zu zeigen, damit die Begierde, die sich meines gesamten Wesens bemächtigt hat, sich zufrieden gibt und aufhört, mich zu beunruhigen?« »Sehr gern«, sagte der Buchhändler. Er verschwand wie ein Pfeil aus dem Gesichtskreis, um jedoch im nächsten Augenblick schon wieder zu dem begierigen Käufer und Interessenten zurückzukehren und zwar mit dem meist gekauften und gelesenen Buch von wirklich bleibendem Wert in der Hand. Das kostbare Geistesprodukt trug er so sorgsam und feierlich, als trage er eine heilig machende Reliquie. Sein Gesicht war verzückt; die Miene strahlte höchste Ehrfurcht aus, und mit einem Lächeln auf den Lippen, wie es nur Gläubige und Innigstdurchdrungene zu lächeln vermögen, legte er mir auf die gewinnendste Art vor, was er daherbrachte. Ich betrachtete das Buch und fragte:
»Können Sie schwören, daß dies das weitestverbreitete Buch des Jahres ist?«
»Ohne Zweifel.«
»Können Sie behaupten, daß dies das Buch ist, das man gelesen haben muß?«
»Unbedingt.«
»Ist das Buch wirklich auch gut?«
»Was für eine gänzlich überflüssige und unstatthafte Frage.«
»Ich danke Ihnen recht sehr«, sagte ich kaltblütig, ließ das Buch, das die absolut weiteste Verbreitung gefunden hatte, weil man es unbedingt gelesen haben mußte, lieber ruhig liegen, wo es lag, und entfernte mich geräuschlos, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. »Ungebildeter und unwissender Mensch!« rief mir freilich der Verkäufer in seinem berechtigten tiefen Verdruß nach. Ich ließ ihn jedoch reden und ging gemächlich weiter und zwar, wie ich sogleich näher auseinandersetzen und verständlich machen werde, direkt in die nächstgelegene imposante Bankanstalt.
Wo ich nämlich meinte vorsprechen zu müssen, um über gewisse Wertpapiere zuverlässigen Aufschluß zu erhalten. »Im Vorbeigehen rasch in ein Geldinstitut hineinzuspringen«, dachte oder sagte ich für mich selber, »um über Finanzangelegenheiten zu verhandeln und Fragen vorzubringen, die man nur flüsternd vorträgt, ist hübsch und nimmt sich ungemein gut aus.«
»Es ist gut und trifft sich prächtig, daß Sie persönlich zu uns kommen«, sagte mir am Schalter der verantwortungsvolle Beamte in sehr freundlicher Tonart, und er fügte, indem er fast schalkhaft, jedenfalls aber sehr angenehm und heiter lächelte, Folgendes hinzu:
»Es ist, wie gesagt, gut, daß Sie gekommen sind. Soeben wollten wir uns brieflich an Sie wenden, um Ihnen, was jetzt mündlich geschehen kann, die für Sie ohne Frage erfreuliche Mitteilung zu machen, daß wir Sie aus Auftrag eines Vereines oder Kreises von Ihnen offenbar hold gesinnten gutherzigen und menschenfreundlichen Frauen mit Franken Eintausend nicht belastet, sondern vielmehr, was Ihnen zweifellos wesentlich willkommener sein dürfte, bestens kreditiert haben, was wir Ihnen hiedurch bestätigen und wovon Sie, wenn Sie so gut sein wollen, prompt Notiz im Kopf oder, wo es Ihnen sonst paßt, nehmen wollen. Wir nehmen an, daß Ihnen diese Eröffnung lieb ist; denn Sie machen uns, offen gestanden, den Eindruck, der uns mit, wir möchten uns erlauben zu sagen, fast nur schon zu großer Deutlichkeit sagt, daß Sie Fürsorge delikater und schöner Natur geradezu bedenklich nötig haben. Das Geld steht von heute ab zu Ihrer Verfügung. Man sieht, daß eine starke Fröhlichkeit sich in diesem Augenblick über Ihre Gesichtszüge verbreitet. Ihre Augen leuchten; Ihr Mund hat in diesem Moment etwas Lachendes, mit welchem Sie vielleicht schon die längste Zeit nicht mehr gelacht haben, weil zudringliche tägliche Sorgen häßlicher Art Ihnen verboten haben, das zu tun, und weil Sie sich seit langer Zeit meistens vielleicht in trüber Laune befanden, da allerhand böse und traurige Gedanken Ihre Stirne umdüsterten. Reiben Sie sich nur immer vor Vergnügen die Hände, und seien Sie froh, daß einige edle, liebenswürdige Wohltäterinnen, durch den erhabenen Gedanken bewogen, daß Leid eindämmen schön und Not lindern gut sei, daran dachten, daß ein armer und erfolgloser Dichter (denn nicht wahr, das sind Sie doch?) der Unterstützung bedürfe. Zu der Tatsache, daß sich einige Menschen fanden, die sich herablassen wollten, sich Ihrer zu erinnern, und zu dem Umstand, daß nicht alle Leute sich gleichgültig über des vielfach verachteten Dichters Existenz hinwegsetzen, gratulieren wir Ihnen.«
»Die mir von weichen und gütigen Feen- oder Frauenhänden gespendete, unvermutet zugeflossene Geldsumme«, sagte ich, »möchte ich ruhig bei Ihnen liegen lassen, wo sie ja einstweilen am besten aufgehoben ist, da Sie über die nötigen feuerfesten und diebsichern Kassenschränke verfügen, um Schätze vor