Der Steinkönig - Anna Hellmich - E-Book

Der Steinkönig E-Book

Anna Hellmich

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Beschreibung

Ein Wesen aus alter Vorzeit erwacht: Der Steinkönig. Eine junge Frau gerät zwischen die Fronten, entdeckt ihre magischen Gaben und nicht zuletzt die Liebe. Rosa, 17 Jahre alt, lebt als Stallmagd am Hof des Fürsten Milan von Nortia. Nachdem sie miterleben musste, wie der finstere Sanas zwei ihrer Freunde in einem nächtlichen Ritual ermordete, flüchtet sie vom Hof. Der zweite Zeuge des Geschehens, der junge Hofzauberer Hanc von Temeryn, wird ihr Reisegefährte, Lehrer und Freund. Doch auch er scheint etwas vor ihr zu verbergen. Welchen ihrer Verbündeten kann Rosa vertrauen? Wird es ihr gelingen, den Steinkönig als erste zu erreichen und seine Magie dem Zugriff der Machtgierigen zu entziehen? Eine magische High-Fantasy-Geschichte über Freundschaft, Liebe und den Mut, sich einem übermächtigen Bösen entgegenzustellen.

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Das Buch:

Ein Wesen aus uralter Vorzeit erwacht: der Steinkönig.

Eine junge Frau gerät zwischen die Fronten, entdeckt ihre magischen Gaben und nicht zuletzt die Liebe.

Rosa, siebzehn Jahre alt, lebt als Stallmagd am Hof des Fürsten Milan von Nortia. Nachdem sie miterleben musste, wie der finstere Sanas zwei ihrer Freunde in einem nächtlichen Ritual ermordete, flüchtet sie vom Hof. Der zweite Zeuge des Geschehens, der junge Hofzauberer Hanc von Temeryn, wird ihr Reisegefährte, Lehrer und Freund. Doch auch er scheint etwas vor ihr zu verbergen.

Welchen ihrer Verbündeten kann Rosa vertrauen? Wird es ihr gelingen, den Steinkönig als erste zu erreichen und seine Magie dem Zugriff von Machtgierigen zu entziehen?

Eine magische High-Fantasy-Geschichte über Freundschaft, Liebe und den Mut, sich einem übermächtigem Bösen entgegenzustellen.

Die Autorin:

Anna Hellmich, Fantasy-Autorin und Krankenhausseelsorgerin, erzählte schon als Kind sehr gerne Geschichten. Ob Hogwarts oder Mittelerde, sie sieht hier keine Grenzen und fühlt sich in jeglicher Fantasy-Welt zu Hause. Hauptsache, da ist Orm, um mit Walter Moers zu sprechen: die Magie des Erzählens.

Als evangelische Pfarrerin hat Anna Hellmich ihre eigene Perspektive auf das Leben. Der Syrienkonflikt und seine Auswirkungen 2015/16 haben bei Hellmich bleibenden Eindruck hinterlassen. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind keine Worthülsen für sie, sondern eine ständige Sehnsucht, an der sie trotz der aktuellen Entwicklungen festhält.

Für Lili, die spontan entstehende Geschichten liebt. Und für Søren, der mir Raum gibt zum Schreiben.

Am Anfang der Welt wurde der Steinkönig aus der Mitte der Erde geboren. Er war groß, so groß, dass die Erde fürchtete, sein Gewicht nicht tragen zu können.

Daher schickte sie ihre Tiere, dass sie den Steinkönig zerstörten, Glied um Glied. Gewaltige Drachen und Schlangen schickte sie, aber der Steinkönig zertrat sie.

Schließlich standen die Berge selbst auf und stürzten sich über ihn. So wurde der Steinkönig zermalmt und begraben. Das Gesicht der Erde veränderte sich von Grund auf.

So entstand das Land Gruin aus den Gebeinen des Steinkönigs, und die Menschen begannen darauf zu wandeln.

(Ältere Geschichte aus der Bekannten Welt)

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Flucht aus Windar

Die Waldhütte

Die Drei Wunderdinge

Der Südwind

Geheimnisse

Die Wegkreuzung

Der Wald im Wald

Habichtaugen

Am Fluss

Auf dem Weg zum König

Jäger und Gejagte

Zwischenspiel: Der Schlafende

Die Herrin im anderen Wald

Schweine und Steine

Wunden

Die Geflügelten

Im Untergrund

Der Tempel des Ruan

Die Klaue von Amylos

Der Stab aus Kupfer

Väter

Das Erwachen

Die zwei Schlüssel

Epilog: Nach dem Sturm

Glossar: Personen

Danksagung

Prolog: Flucht aus Windar

Die Stadt war grau und leer. Nicht leer von Menschen, sondern von Leben – als ob ihr das Blut aus den Adern gesogen und durch Blei ersetzt worden war.

So empfand es der Junge, der hinter einem Stapel Kisten mit Frachtgut kauerte und den Körper an die Hinterwand des Verschlags presste, in dem die Ware untergestellt worden war. Angewidert wich er von dem Fischgeruch zurück, der von den Kisten ausging, und zuckte zusammen, als sich in seinem Rücken Holzspäne durch die Jacke bohrten. Wachsam lauschte er auf die Schreie seiner Verfolger, die den Hafen nach ihm absuchten. Doch noch mehr als sie fürchtete er die Lautlosigkeit, die sich trotz ihrer Rufe um ihn ballte. Es war fast so, als hätten sie ihn schon gefangen und ihm einen Sack um den Kopf gebunden, ihn ins hinterste Verlies gestoßen und dort zurückgelassen, blind, taub und verzweifelt.

Der Junge ahnte: Dieses Gefühl würde ihn begleiten, wohin auch immer er floh und wie auch immer seine Geschichte weiterging.

Sein linker Arm, getroffen von einer mit Dornen besetzten Keule, pochte und schwoll immer mehr an. Er wusste, dass seine Chancen schlecht standen, wenn die Wunden sich entzündeten. Aber er achtete kaum darauf.

Sie waren mitten in der Nacht gekommen, hatten an das Hoftor geklopft, bis es unter ihren Schlägen dröhnte. Die Nachbarn mussten sofort Bescheid gewusst haben. Keiner kam heraus, alle erstarrt vor Angst. Wen auch immer die Söldnertruppen vom Rat der Drei nachts heimsuchten, war verloren. Ganze Häuser standen inzwischen leer. Überall, wo Heilkundige und ihre Familien lebten, herrschte ständige Furcht. Jeder konnte als nächstes an der Reihe sein; es gab kein System, nach dem sie vorgingen.

Stumm wiegte der Junge sich hin und her. Er presste die Fäuste auf die Augen, als könne er dadurch auslöschen, was er gesehen hatte: das bleiche, entsetzte Gesicht seines Vaters, von Blut überströmt. Nie wieder würde er in seine lächelnden, klugen Augen blicken können. Wie erstarrt hatte der Junge sich an die Wand gedrückt, sich klein gemacht, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Sein Blick war im Zimmer umhergeirrt und hatte eine Unregelmäßigkeit auf dem Boden erfasst. Dort hatte Vaters Schreibfeder gelegen, zerbrochen unter dem Tritt schwerer Stiefel. Tinte war auf den Teppich getropft. Sein Kopf war wie leergefegt gewesen. Er hatte nur denken können: »Diese Flecken sind nicht mehr herauszubekommen.«

Danach hatten sie den Jungen nicht mehr angerührt. Warum, wusste er nicht. Zufall? Hielten sie ihn für unbedeutend? Oder hatte es etwas mit der Konzentration zu tun, mit der er in seinen Gedanken immer wieder gebetsmühlenartig denselben Satz wiederholt hatte: »Lasst mich gehen!« Es war kein klassischer Zauberbefehl, aber trotzdem... Hätte er mit dieser Gedankenkraft mehr ausrichten können, wenn er gewusst hätte, wie? Hätte er vielleicht seinen Schwestern helfen können?

Als er an seine Schwestern dachte, musste der Junge ein verzweifeltes Aufschluchzen unterdrücken. Zuletzt hatte er nur ihre Schreie gehört. Er wusste nicht, wohin sie gebracht worden waren, wie lange sie noch zu leben hatten, ob der Henker sie bekam oder ihr Leben vorher zu Ende ging, schon in dieser Nacht oder nach Tagen und Wochen unter der Folter.

Seine Mutter hatten sie als erste geholt, vor einem halben Jahr. Niemand hatte je wieder von ihr gehört. Es gab keine sicheren Informationen, wohin sie die Gefangenen brachten. Einige tauchten in Schauprozessen wieder auf. Andere verschwanden für immer.

Sein Vater hatte gesagt: »Das hätten sie gerne, dass wir fliehen. Doch damit würden wir ihnen nur Recht geben.« Dafür, dachte der Junge bitter, war jetzt seine ganze Familie zum Schweigen gebracht worden.

Alle außer ihm. Er hatte die Schriftrolle unter sein Hemd gestopft, die eine, von der ihm sein Vater hastig zugeraunt hatte: »Schütze sie mit deinem Leben, wenn es sein muss.«

Es war still geworden am Hafen. Die Verfolger waren fort, hatten die Jagd aufgegeben, ihn vielleicht schon für tot erklärt. Sie ahnten nichts von dem Wissen, das er mit sich genommen hatte. Langsam wurde es hell, ein diesiger Morgen; perlfarbenes Licht erhob sich über der Flussmündung.

Wie ein Tier sprang den Jungen der Schmerz in seinem Arm an; immer und immer wieder. Zusammengekrümmt lag er in seinem Versteck und wagte keinen Laut von sich zu geben. Er musste inzwischen Fieber haben, sein Kopf dröhnte und sein Gesicht fühlte sich heiß an. Sobald er auf dem Schiff war, musste er Hilfe suchen. Wenn es dann noch nicht zu spät war.

Er war nun der Barmherzigkeit Fremder ausgeliefert, und dazu auch noch der Heilkunst Ungeübter. Sein Vater hätte an diesem Sachverhalt eine grausige Komik gefunden und treffsicher auf den Punkt gebracht. Aber er war nicht mehr da. Nichts war mehr da, außer – Wie von selbst tastete die Hand des Jungen nach dem hohlen Stab, in dem die Schriftrolle verborgen war. Er war immer noch unter seinem Hemd, da wo er ihn hingeschoben hatte.

Die nächste Welle des Schmerzes, ausgelöst durch die Bewegung seines Arms, verebbte nur langsam. Mühsam hob der Junge den Kopf, der ihm viel zu schwer für seine Schultern vorkam, zwang sich auf die Knie und kroch Schritt für Schritt auf das nächste Schiff zu, das an der Mole vertäut lag.

Der Name am Bug schien vor seinen Augen zu flimmern: Kornblume. Mit letzter Kraft schleppte er sich zu den am Pier aufgestapelten Kisten und Fässern, die am nächsten Arbeitstag – in wenigen Stunden – verladen werden würden.

In ihrem Schatten brach er zusammen und wusste nichts mehr.

EINE HAND AUF SEINER SCHULTER weckte ihn, mit nicht allzu sanftem Rütteln, und eine raue Stimme sagte: »Wach schon auf, Junge, du kannst hier nicht einfach herumliegen, wir brauchen den Platz!«

Mühsam öffnete er die Augen und versuchte den Mann anzusehen, der ihn an der Schulter gepackt hatte. Er blickte in helle Augen, umkränzt von faltiger Haut, die Sonne und Wind zur Genüge gesehen hatte – ein freundliches Gesicht, auch wenn der Mann mit dem grauen Haarschopf und dem gutmütigen Mund die Stirn gerunzelt hatte und offenbar zur nächsten Stufe Kommandoton ansetzen wollte.

Doch als der Junge sich aufzurichten versuchte und der Schmerz in seinem Arm ihn erneut beinahe ohnmächtig werden ließ, wechselte der Gesichtsausdruck des Mannes von verärgert zu alarmiert.

»Du bist gar nicht betrunken ...«, stellte er fest. »Du siehst so aus, als hätte man dich übel zusammengeschlagen. Wolltest du auf das Schiff?«

»Ja«, antwortete er. Zu mehr fehlte ihm die Kraft.

»Dann komm mit. Ich ahne, was du brauchst. Ich habe eine Idee.«

Später, als er in dem kleinen Frachtraum hinter Weinfässern und Kisten mit gesalzenem Hering lag, seine Wunde notdürftig gereinigt und verbunden, fragte der Junge sich, was in seinem Gesicht den Mann dazu gebracht hatte ihm zu helfen.

Es gab zur Zeit viele Flüchtlinge aus Windar, und der Schiffsverkehr wurde regelmäßig kontrolliert. Zum Glück hatten sie unbehelligt ablegen können. Immer noch fühlte er sich schwach und fiebrig. Die Überfahrt nach Samaran würde nicht einfach werden, zumal er nicht ein einziges Kupferstück dabeihatte. Er hörte den Wellen zu, wie sie rhythmisch an den Schiffsrumpf klatschten und schwappten.

»Ich lebe«, dachte er. Die Schriftrolle lag sicher verborgen unter seinem Hemd. Sein Retter – ein Matrose, der früher zum Verladen der Ware da gewesen war als die anderen – hatte sie nicht angetastet. Um ein Haar hätte er sein Leben verloren, wenn dieser Mann nicht gewesen wäre. Es musste einen Sinn haben – darauf hoffte er mit aller Kraft, die ihm geblieben war. Und wenn nur den, dass sie die Schriftrolle nicht in ihre Finger bekamen. Gerechtigkeit für seine Familie – auch das. Wenn er nur wüsste, wie!

Der Junge lag im Dunkeln, lauschte dem Lied der Wellen und wartete.

Zwölf Jahre später

»Ein Kenner der wahren Magie«, murmelte der Mann seinem Spiegelbild zu. »Ich muss den Steinkönig finden. Und den richtigen Schlüssel wählen, um ihn zu wecken. Dann wird sich die Welt verwandeln und niemand wird mehr Zauberkräfte brauchen. Alle Magie wird mir gehören. Was dann geschieht, bestimme alleine ich!«

Das Gesicht im Spiegel glühte vor Erwartung und nervöser Energie.

Es war das Gesicht eines gewöhnlichen, wenn auch recht ansehnlichen Mannes.

Dunkle Schatten unter den ausdrucksvollen Augen ließen diese größer wirken. Seine sonst makellose, goldgetönte Haut hatte einen Anflug von Grau, der Bartwuchs auf den Wangen war sich selbst überlassen und sah entsprechend ungepflegt aus, ungezähmt. Nichts wies darauf hin, dass hier der mächtigste – der einzige Zauberer der Welt stand, der diese Bezeichnung verdiente.

»Aber man wird es in meinem Gesicht sehen«, dachte der Mann, »wenn ich erst einmal hier fertig bin. Dann werden sie mir alle die Füße küssen.«

Er lächelte seinem Spiegelbild zu. Der Spiegel war einfach nur ein Spiegel, kein Zauberding. Dennoch ein schönes Exemplar, erworben auf einem Markt in Besan. In jener Zeit hatte es eine Frau gegeben, die ihn liebte und ihn zu ihrem Ehemann machen wollte.

So etwas berührte ihn nun schon seit Jahren nicht mehr. Die Ablenkung war zu groß. Seine Studien waren von solcher Bedeutung, dass der Mann eine Epochenwende erwartete, wenn er sie abschloss.

»Ihre Zauberkünste, so denken sie alle, sind das Wichtigste in der Gleichung. Was für ein Irrtum.«

Das Gesicht im Spiegel wirkte fast düster, so tief in Gedanken versunken war der Mann.

»Aber wer kennt schon seine Begabung ganz«, sinnierte er, »die wenigsten von uns. Dieser Hofzauberer tappt bei all seiner Gelehrsamkeit völlig im Dunkeln. Er weiß nichts über seine wahren Fähigkeiten. Ich selbst bin wohl nahe dran. Dafür aber auch allein. Macht ist eben teuer bezahlt. In meinem Fall haben den Preis in erster Linie andere entrichtet.«

Er riss sich los vom Anblick seiner eigenen leuchtenden Augen und verließ den Raum. Viel Arbeit lag vor ihm.

Doch zuerst würde er ein wenig ruhen, so wie sein Körper es im Moment noch verlangte.

Die Waldhütte

Es regnete. Rosa hörte, wie das Wasser am Dach und an den Wänden der Hütte abprallte, aufspritzte und gluckernd und rauschend die Erde tränkte.

Fast wirkte es, als hätten sich alle Wolken des Landes hier über dem Hunaforst getroffen, um gemeinsam ihre Regenlast abzuwerfen.

»So ein Unsinn«, dachte sie zerstreut. »Als ob Wolken sich verabreden können. Sie sind eben immer genau da, wo man sie nicht gebrauchen kann. Jedenfalls wenn man hier im Freien ist.«

Der Regen war außerdem nicht das Schlimmste, wurde ihr bewusst, als die Schlafschwere sie verließ. Nicht einmal die Jäger und diese Hundebiester, die sie ihnen nachgeschickt hatten, waren das Schlimmste. Rosa presste die Lippen zusammen. »Nicht schon wieder weinen«, befahl sie sich tapfer.

Ihre Tränen würden nichts ändern. Sindy und Jona waren tot, und sie hatte nichts dagegen tun können. Selbst der Zauberer war starr vor Furcht gewesen – oder vielleicht waren sie beide gelähmt gewesen von dem Bann. Dabei hatte er sie nicht einmal gesehen, wie sie da im Baum saßen, die Hände um die Äste gekrallt, die Knöchel weiß vor Anspannung. Ganz als sei der Dolch auf ihre eigenen Kehlen gerichtet gewesen und nicht auf die der Kinder. Es musste ein mächtiger Bann gewesen sein, so böse, dass nicht einmal der Hofzauberer ihm etwas entgegenzusetzen hatte.

Neben Rosa rührte sich Hanc. Ausgerechnet Fürst Milans ranghöchster Zauberer war es, der sich mit ihr hier mitten im Wald befand, wenn auch in abgerissener Kleidung und von ganz und gar nicht höfischem Aussehen. Hatte sie bisher noch einen Rest von Scheu bewahrt, so verging auch diese restliche Ehrfurcht vor ihm, als sie auf sein wirres Haar und sein verschlafenes Gesicht blickte. Gähnend schüttelte er den Kopf und rieb sich die Augen, um klar zu werden.

»Das ist ja mal ein Wolkenbruch«, kommentierte er schließlich mit rauer Stimme das Wasserrauschen vor den Fenstern.

»Ja«, erwiderte Rosa, noch immer damit beschäftigt, ihn anzuschauen.

Noch nie hatte sie sich mit einem Zauberer unterhalten – und erst recht nicht hätte sie gedacht, dass ein Zauberer so jung sein konnte. Hanc von Temeryn konnte nicht viel älter als fünfundzwanzig Jahre sein. Rosa hatte die Leute darüber reden hören, dass er sein Amt ungewöhnlich früh angetreten hatte.

Ein wenig mehr über ihn herauszufinden, dachte sie, war womöglich eine willkommene Ablenkung von dem Grauen, das sie beide erlebt hatten.

Doch der Hofzauberer saß nur gedankenverloren da und schien den Regentropfen zuzuschauen, wie sie an den schmutzigen Fensterscheiben hinunter rannen. Rosa musste schmunzeln, als ihr klar wurde, dass auch die Mächtigen nur Menschen waren.

Hanc war nicht nur müde, sondern überdies zerzaust und stoppelbärtig. Der Verband aus Stoffstreifen, den er sich um den Kopf geschlungen hatte, verbesserte den Anblick nicht, den er bot.

Rosa konnte es nicht lassen, ihn ein bisschen zu provozieren.

»Man sollte nicht meinen, dass Ihr in Samt und Seide durch das Schloss des Fürsten stolziert seid, bewundert von den Damen. Jetzt sehr Ihr aus wie ein Landstreicher.«

»Danke für das Kompliment, Lady Milchmädchen«, gab der Zauberer friedfertig zurück und grinste. Er hatte etwas an sich, das Rosa gefiel. Dabei kannten sie sich ja erst seit einem Tag und einer Nacht, wies sie sich selbst zurecht. Seit – ihre Gedanken sträubten sich, weiter zurückzuwandern.

Hier war es angenehm friedlich. Der Regen strömte gleichmäßig herab und niemand, ob gut oder böse, würde sich bei einem solchen Wetter in den Wald begeben oder versuchen, eine verlorene Spur wiederzufinden, hoffte Rosa. Der Mann neben ihr war eine angenehme Gesellschaft, so viel hatte sie in der kurzen Zeit feststellen können.

Er war schweigsam, aber wenn er sprach, schien er wirklich sie zu meinen. Er musste dieselbe Furcht im Nacken spüren wie Rosa, doch war er ruhig geblieben und hatte sich darauf konzentriert, einen Weg durch diesen Wald zu finden. Er war es gewesen, der die Hütte entdeckt hatte, als sie sich müde und durchnässt durchs Unterholz geschlagen hatten, mit keinem Gedanken mehr außer dem übermächtigen Wunsch nach Schlaf und der Wärme eines Feuers.

Sie hatten geklopft, doch niemand öffnete, und waren dann durch die unverschlossene Tür gestolpert, mehr tot als lebendig, auf das Wohlwollen möglicher Bewohner hoffend.

Doch sie hatten die Hütte leer vorgefunden. Jemand hatte Feuerholz sorgfältig in einen Verschlag gestapelt, so dass es nicht nass werden konnte.

Besser hatten sie es nicht treffen können – wenn sie auch im Herd nur ein kleines Feuer entzündet hatten, aus Furcht, es könne Licht nach außen dringen und sie verraten.

»Rosa«, sagte der Zauberer und holte sie damit zurück in die Gegenwart, »wir dürfen nicht lange hier bleiben. Es ist gefährlich. Sie könnten die Spur wiederfinden, selbst bei diesem Regen.«

»Ich weiß«, antwortete sie. Ja, sie wusste es, hatte nur versucht, den Gedanken weit wegzuschieben.

»Mit den Höllenhunden ist nicht zu spaßen«, gab sie ihm Recht. »Sie sind – scheußlich.«

Hanc rappelte sich aus seiner sitzenden Haltung hoch und ging zum Fenster. Er starrte in die Regenschlieren, den grauen Morgen, und schien nachzudenken.

»Wir müssen warten, bis es trockener ist«, warf Rosa ein. »Wenigstens bis unsere Kleidung ganz durchgetrocknet ist.«

»Ja. Andernfalls holen wir uns den Tod auf diese Weise«, stimmte er ihr zu und wandte sich zu ihr um. Stumm musterten sie einander. Reisegefährten waren sie, dachte Rosa, zusammengeschmiedet durch die Gefahr, die hinter ihnen lauerte.

»Er wird nicht rasten, bis er uns hat«, sagte sie. »Er weiß, dass wir ihn gesehen haben.«

Hanc nickte langsam, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, glättete sie ein wenig, ging dann zum Wasserkrug und wusch sich das Gesicht.

Rosa war erleichtert über sein Schweigen. Sie fand keine Worte für die Trauer und den Zorn, die in ihr tobten. Sie wollte nicht über das nachdenken, was mit ihrer Freundin Sindy geschehen war.

Deshalb beschloss sie, etwas Praktisches zu tun und nahm ihre Stiefel zur Hand, um sie zu putzen. Zu ihrem Erstaunen hatte sie bei der Ankunft in der Hütte Lederfett in ihrem Beutel gefunden; wahrscheinlich hatte sie es am Abend eingepackt, weil sie am nächsten Tag in einer Arbeitspause ihre Stiefel hatte pflegen wollen. Und den Beutel hatte sie auch nur dabei, weil sie dort ihren Feuerstein aufbewahrte und sie eine Kerze hatte anzünden wollen, als die Geräusche aus dem Seitentrakt sie aus dem Schlaf gerissen hatten.

Sorgfältig säuberte und fettete sie das Leder. Gutes Schuhwerk war ihre Lebensversicherung, solange sie auf der Flucht war. Wer wusste schon, wie lange sie noch andauern würde! Bis gestern Nacht hatte sie geglaubt, es gut getroffen zu haben – Frieden, ein Zuhause, eine einträgliche Arbeit am Hof, mit der sie sich selbst ernähren konnte. Wie viele Paar Stiefel würde sie durchlaufen müssen, fragte sie sich, bis sie wieder in ein Leben zurückfand, das ihr gehörte?

Lady Milchmädchen, hatte Hanc sie eben genannt. Rosa musste schmunzeln. Dem Zauberer war es anscheinend egal, dass sie keine Adlige war. Er ging respektvoll mit ihr um. Es war schon Ironie, dass Rosa ausgerechnet auf ihn gestoßen war. Und er auf sie. Sie hatte in den Ställen gearbeitet, nicht nur gemolken und die Kühe versorgt, sondern auch Käse, Butter und Sahne gemacht. Es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, dass sie in irgendwelche Zaubereiprobleme verwickelt werden könnte.

Sie hatte ihre Arbeit getan, so sorgfältig sie es vermochte, und sich dabei unauffällig nach einem zukünftigen Ehemann und Vater ihrer Kinder umgesehen ... Nach diesem Abenteuer würde sie an ihrem Ruf arbeiten müssen. Ertappt biss sie sich auf die Unterlippe, als sie registrierte, wohin ihre Gedanken abgeschweift waren. Ihr Ruf war nun wirklich nicht das größte Problem.

»So viel Unfug im Kopf«, hörte sie im Geiste ihre Großmutter sagen. »Mädchen, sortiere deine Gedanken, und dann sage mir, was du erreichen willst.« Beim Gedanken an Oma Gisa musste Rosa wider Willen lachen, und plötzlich erschien ihre Lage ihr nicht mehr ganz so düster.

»Was erfreut dich so, Rosa?«, fragte Hanc. »Meinst du, du kannst meine Laune mit verbessern?«

Rosa schaute zu ihm auf. Er war neben sie getreten, während sie an dem kleinen wackligen Tisch saß und ihre Stiefel bearbeitete. Seine Augen lachten. Sein ohnehin freundliches Gesicht, vorhin noch verdunkelt von Müdigkeit und Sorge, hatte sich aufgehellt.

»Herr Hofzauberer«, sagte sie, »mir scheint, das habe ich schon. Ich sage es Euch aber gerne. Ich habe an meine Großmutter gedacht, die mich jetzt ermahnt hätte, die Dinge in der richtigen Reihenfolge zu tun.«

Sein Lächeln vertiefte sich, doch er schwieg und schaute sie nur weiter an. Sie wandte den Blick wieder ab und räumte das Lederfett umständlich zurück in den Beutel. Wenn er es benutzen wollte, würde er sie schon danach fragen müssen.

Er überraschte sie, als er sie erneut ansprach. Seine Stimme, so fiel ihr auf, wirkte gar nicht mehr kratzig und verschlafen, sondern hatte einen Wohlklang wie die Stimmen der Sänger, die ab und zu am Hof musizierten. »Die richtige Reihenfolge wäre, dass wir einander vorgestellt werden, bevor wir alleine in einer Waldhütte die Nacht verbringen.«

Rosa verdrehte die Augen. »An Eurem Humor müsst Ihr noch arbeiten«, sagte sie. »Aber ich halte Euch zugute, dass Ihr einen Schlag auf den Kopf bekommen habt.«

»Mit der flachen Seite einer Hellebarde«, bestätigte Hanc, offenbar ungerührt von der Kritik. »Wenn du den Mann nicht abgelenkt hättest, hätte mich wohl die Schneide der Waffe getroffen.«

»Jetzt, wo Ihr es erwähnt ...«, sagte Rosa nachdenklich. »Ich hatte den Eindruck, sie wollten Euch um jeden Preis am Leben lassen. Ob sie wohl entsprechende Befehle hatten?«

Über Hancs Gesicht zog eine düstere Wolke. »Das möchte ich gar nicht so genau wissen«, erwiderte er. »Ich dachte bisher, sie halten mich für einen harmlosen Spinner. Offenbar habe ich mich geirrt. Aber ich sehe, Rosa, du hast Lederfett dabei. Dürfte ich mir das wohl einmal ausborgen? Meine Stiefel haben es wirklich dringend nötig.«

»Natürlich.«

Sie reichte es ihm und verbarg ein Lächeln: Er war offensichtlich keiner von denen, die in ihr eine Art Dienstmagd sahen, die man für alles einspannen konnte. Er würde sich selbst um seine Ausrüstung kümmern. Das sprach für ihn.

»Ihr wirkt auf mich nicht wie ein verwöhnter Höfling, Hanc«, sagte sie. »Eher wie jemand, der das Reisen gewohnt ist.«

»Das ist gut erkannt«, antwortete Hanc. »Ich begebe mich regelmäßig auf Reisen, um zu forschen und Kräuter und magische Gegenstände zu erwerben. Und es macht mir einfach Freude.«

Seine Augen blitzten auf, als er vom Reisen sprach. Rosa dachte, dass er so als Junge ausgesehen haben mochte, wenn er von etwas begeistert war. Sie schaute Hanc zu, wie er seine Stiefel reinigte und sie dann mit Fett einrieb. Er schaute von seiner Arbeit auf und lächelte erneut.

»So könnten wir uns die Zeit vertreiben, bis der Regen nachlässt«, schlug er vor. »Ich berichte dir von meinen Reisen, und du erzählst mir von dir – wie es kommt, dass eine so intelligente junge Frau am Hof des Fürsten die Kühe hütet.«

Rosas Gefühle waren gemischt bei diesem Vorschlag. Ein Teil von ihr wollte jubeln, dass jemand wie Hanc von gleich zu gleich mit ihr sprach und dass es solch ein Genuss war, sich mit ihm zu unterhalten. Zugleich hatte sie gelernt, bei Adligen – Männern wie Frauen – Vorsicht walten zu lassen. Was sahen sie in ihr, welche Absichten hatten sie, wenn sie auf ungewöhnliche Weise Nähe herzustellen versuchten?

Sie entschied sich, Hanc fürs Erste zu vertrauen. Hätte er sich ihrer bedienen wollen, auf die eine oder andere Weise, hätte er das längst versucht. Stattdessen hatte er friedlich auf dem Boden geschlafen und ihr den Strohsack überlassen, der in der Ecke lag. Vielleicht interessierte er sich gar nicht für Mädchen ... Rosa schüttelte innerlich den Kopf über ihre Gedanken. Was war mit ihr los, gewiss wünschte sie sich nicht, dass es anders sein möge?

»Womit wollen wir beginnen?«, fragte sie den Zauberer, bevor die Gesprächspause zu lang werden konnte. »Mit Euren Reisen oder mit meinem Leben?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Ich kann gerne beginnen«, sagte er. »Wenn es dir langweilig wird, sag mir Bescheid. Ein Schüler von mir ist schon einmal auf einem Fenstersims eingeschlafen. Das wäre beinahe gefährlich geworden.«

Rosa lachte. Ein langweiliger Lehrer, nein, das war wirklich das Ungefährlichste, was sie sich angesichts der Umstände ihrer Flucht gerade vorstellen konnte.

»Das nehme ich als Zustimmung«, sagte Hanc.

Er füllte zwei Becher mit Wasser – davon war gerade wirklich genug da, aus der Regentonne lief ein kleiner Sturzbach – und bewegte die Hände wie beiläufig darüber. Zugleich streute er ein Pulver hinein. »Tee«, erklärte er auf Rosas fragenden Blick hin. »Und nein, ich habe ihn nicht verzaubert, nur das Wasser erwärmt.«

Rosa entschied, dass warmer Tee unverdächtig sein musste. Das Feuer war lange heruntergebrannt. Die Morgenkälte war bereits durch ihre gerade wieder trockene Kleidung gedrungen. Ein neues Feuer anzuzünden und dann aufzubrechen, bevor es ganz heruntergebrannt war, wäre kein guter Dienst an den Besitzern der Hütte. Rosa griff nach dem Becher, den Hanc ihr zuschob, und nickte ihm zum Dank zu. Einträchtig saßen sie auf dem gestampften Boden der Hütte – es gab nur einen schäbigen Stuhl, passend zum Wackeltisch – und pusteten auf ihren dampfenden Tee.

»Tee habe ich immer dabei, wenn ich unterwegs bin«, sagte Hanc. »Das Pulver und die Becher passen in jedes Reisegepäck, und der Wärmezauber wiegt nichts.«

»Wie kommt es, dass du auch diesmal Tee dabei hast?«, fragte Rosa, und sofort schalt sie sich selbst. Wieso ließ sie jetzt die förmliche Anrede fallen? Schnell sprach sie weiter: »Ich hatte jedenfalls keine Zeit zum Packen.«

Hancs Gesicht verdüsterte sich kurz. Rosa fragte sich, ob er den Wechsel der Anrede missbilligte, doch dann begriff sie, dass ihn etwas ganz anderes beschäftigte.

»Oh doch«, antwortete er auf ihre Frage. »Seit Monaten liegt ein Reisebündel neben meinem Bett. Aber das ist eine andere Geschichte.«

Für einen Moment schien es Rosa, als würden sich die Schatten in den Ecken der Hütte verdichten, doch vielleicht war es auch nur eine weitere Regenwolke, die den Himmel verdunkelte. Sie richtete ihren Blick auf Hanc. Sie wollte jetzt nicht an die letzte Nacht denken.

»Es war in der Wüste von Xunan«, begann Hanc seine Erzählung. »Weit und breit nur Sanddünen, mein Wasservorrat ging zur Neige. Ich war vom Weg abgekommen. Der Schweiß lief mir in Strömen übers Gesicht. Ich wusste, das würde mein Ende nur beschleunigen, wenn nicht das Wunder geschah und ich irgendwo Wasser fand.

Mit Wüstenmelonen würde ich mich eine Weile am Leben erhalten können, aber eben nur gerade. Ich konnte nicht mehr. Keinen Schritt weiter. Am Himmel kreiste ein Bussard, schön anzusehen und tödlich. Ein Schatten fiel über mich. Ein zweiter Bussard? Nein, das war ein Mensch – wenn ich nicht schon halluzinierte. Obwohl, wie ich dachte, sein Gesicht mit der geschwungenen Nase etwas von einem Greifvogel hatte. Die Augen, schwarz und tiefliegend, schienen in Sekundenschnelle zu erfassen, wie es um mich stand.

»Komm mit«, sagte er. »Du brauchst Wasser und Schatten.«

Er führte mich zu einer Art Falltür im Sand. Ich war mir sicher, dass sie vorher nicht da gewesen war. Aber, so sagte ich mir, auf meine eigenen Sinne konnte ich mich in dieser Situation wohl nicht mehr verlassen.

Nachdem er mir Wasser und Tücher gegeben hatte, um meinen Durst zu stillen und meine verbrannte Haut zu kühlen, fragte der Mann mich: »Hast du Tee dabei, Reisender?«

Wir tranken Tee aus meinem Reisevorrat – ihm war seiner ausgegangen.

Ich lernte, was die Wüstenbewohner wissen: dass einem überhitzten Körper nichts wohler tut als heißer Tee.

Das war meine erste Begegnung mit Simmi dem Magier.

Nachdem ich mich ausgeruht hatte, zeigte er mir das Tunnelsystem, in dem er lebte. Die Gänge sind biegsam und verändern ihre Position mit der Bewegung des Sandes. Ein Tunnel führt zum höchsten Punkt einer Düne. Von dort beobachtet Simmi die Sterne mittels einer Vorrichtung aus geschliffenem Glas.«

Rosa sah Hanc zweifelnd an. Nahm er sie auf den Arm? Tee in der Wüste. Und Tunnel! Sie glaubte ihm kein Wort. Aber bevor sie sich so recht überlegt hatte, was sie ihn als erstes fragen wollte, platzte es aus ihr heraus: »Du bist einem Zauberkundigen begegnet? Und hast ihm einfach so vertraut? Keine magischen Duelle, kein Kräftemessen?«

»Magie ist nicht für Machtdemonstrationen da. Auch wenn die Praxis bei manchen anders aussieht.« Hanc verzog das Gesicht. Rosa wusste nur zu gut, was er meinte.

»Wozu ist Magie denn dann da?«, fragte sie. »Wenn es so einfach ist, sie zu missbrauchen?«

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Sie fragte sich, ob er auf diese Weise auch seine wissbegierigen Schüler anschaute. Auffordernd und so ermutigend.

Weil er nichts sagte, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht viel über Magie. Meine Mutter sagt, hier in Heddan werden die Heilkundigen mehr geachtet als die Zauberkundigen.«

»Da hat deine Mutter wohl Recht. Der Zweck der Heilkunde ist offensichtlich, wenn man ein Fieber hat oder eine verletzte Hand. Zauberkunde hingegen ist etwas für die Akademie, an der ich selbst lange Jahre zugebracht habe. Für alle Fälle stellt man einen Hofzauberer ein, aber der hat in Friedenszeiten eine eher dekorative Funktion.«

War das Selbstironie, wie Hanc bei diesen Worten die Lippen kräuselte? Es gefiel Rosa, dass er sich selbst nicht so furchtbar ernst zu nehmen schien.

Sie hakte nach: »Aber was ist deine Meinung? Wozu gibt es Magie?«

»Menschen wie Simmi nutzen sie, um mehr über die Welt zu erfahren. Du kannst dein Leben lang die Sterne beobachten und doch nie alles über sie wissen. Es ist kein Wissen, das dir direkt nützt, wie wenn du gelernt hast, wie man einen Bruch schient. Und doch hilft es dir, deinen Blick auf die Dinge zu fokussieren, die wichtig sind.«

»Die da sind?«

»Das hängt von deiner jeweiligen Gabe ab. Simmi nutzt die Kraft der Wüste. Andere üben Tiermagie aus. Ich selbst weiß ein wenig über Steine. Es gibt Feuermagie, Wassermagie ... Alles, was du dir vorstellen kannst.« Sie schwiegen beide und hingen ihren Gedanken nach.

Schließlich fragte Rosa: »Gibt es gute und böse Magie?«

»Nein. Gut und Böse hängen davon ab, wie du Magie anwendest, und zu welchem Ziel.«

Das brachte die Ereignisse der letzten Nacht gefährlich nahe. Hanc schien etwas von dem zu ahnen, was in Rosa vorging.

»So, jetzt dein Teil des Handels«, forderte er. »Ich habe meinen Part erfüllt. Erzähl mir von dir.«

Rosa schluckte. Es machte sie verlegen, dass plötzlich so viel Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war. Vertraute sie Hanc genug, um ihm die Wahrheit zu sagen? Nun, einen Teil bestimmt. Der war ohnehin bekannt.

»Ich weiß nicht, warum es dich so interessiert«, begann sie. »Aber gut, warum nicht. Meine Eltern sind Jagur der Pferdeknecht und Sina die Kammerzofe. Als ich geboren wurde, verschwand mein Vater spurlos. Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Die Leute haben natürlich geredet – so was kommt vor, unzuverlässiger Kerl, vielleicht hat er noch eine andere Frau und ein Töchterchen irgendwo. Aber meine Mutter wusste, dass die Gerüchte nur Gerüchte waren und einige Leute sich wichtig machen wollten.«

»Jagur der Pferdemeister?«, warf Hanc ein. »Ich glaube, ich habe ihn gekannt.«

»Du?«, fragte Rosa überrascht.

»Ich war nicht immer der Hofzauberer, weißt du?«, sagte Hanc. »Ich war ein pickeliger Junge, der sich gerne in den Ställen aufhielt, weil er mit den anderen Jungs nicht zurechtkam.«

Rosa starrte ihn an. Zerzaust wie Hanc war, ein pickeliger Junge war doch das Letzte, was ihr einfiel, wenn sie sein Gesicht studierte. Sie errötete, als er schweigend ihren Blick erwiderte und ihr einfiel, dass es an ihr gewesen wäre, das Gespräch fortzusetzen.

»Jetzt hast du jedenfalls keine. Pickel, meine ich«, sagte Rosa und sah schnell weg, bevor er ihren Blick festhalten konnte.

»Erzähl weiter«, ermutigte Hanc sie. »Ich wollte dich nicht unterbrechen.«

»Sage mir vorher bitte« – Rosa schluckte. Es fiel ihr nicht leicht.

»Kannst du mir mehr von meinem Vater erzählen?«, bat sie ihn. Ob er die Sehnsucht in ihrem Blick bemerkte, ihre Verletzlichkeit?

»Nun, ich kannte ihn nicht sehr gut«, sagte er vorsichtig. »Nur von einzelnen Begegnungen. Er war freundlich, still, die Tiere vertrauten ihm blind. Einmal habe ich gesehen, wie er ein verletztes Pferd beruhigt hat. Es hatte sich ein Bein gebrochen. Allen war klar, dass es getötet werden musste. Sie hatten dem Schlachter schon Bescheid gesagt. Es wäre egal gewesen. Aber Jagur nahm den Kopf des Tieres in seine Hände und redete auf es ein, streichelte seine Stirn und seine Nase. Die Tiere waren für ihn wie Freunde, wie Gefährten, und er nahm jedes einzelne wichtig.«

Rosa wandte sich ab, damit er ihre Tränen nicht sah. Sie wünschte sich so sehr, ihren Vater gekannt zu haben. Sie schien mehr mit ihm gemeinsam zu haben, als sie bisher gewusst hatte. Die Leute in den Ställen hatten ihr mit Worten und Gesten gezeigt, wie sehr sie ihre Arbeit schätzten. Die Tiere vertrauten und gehorchten ihr, beinahe so, als spräche sie ihre Sprache. Ihr fiel ein, dass auch Sina, ihre Mutter, einmal gesagt hatte: »Dein Vater wäre stolz auf dich.« Damals hatte sie ein Mutterschaf und Zwillingslämmer am Leben erhalten, obwohl die Geburt zu zeitig kam.

Trauer um ihren Vater und Trauer um Sindy wallten in ihr auf, so heftig, dass es ihr den Hals zuschnürte. Rosa konzentrierte sich auf den Boden der Hütte unter ihren Handflächen, starrte auf die Risse und Spuren im Lehm, und wartete, bis sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte.

Hanc schwieg. Er forderte sie nicht auf, weiter zu erzählen, sondern ließ ihr Raum.

»Jedenfalls«, fuhr sie fort, »hatte meine Mutter alle Hände voll zu tun mich großzuziehen. Ich war lebhaft, hat sie mir immer versichert, und konnte keine Minute lang stillsitzen. Einmal habe ich den Wasserkessel vom Herd gerissen, schau, da ist immer noch die Narbe.« Rosa entblößte ihren Unterarm, über den sich ein Netz heller, wulstiger Linien zog.

»Es hat sich entzündet und ist schlecht geheilt«, erklärte sie.

Hancs Blick verdunkelte sich. Rosa meinte Zorn darin zu sehen.

»Sie haben wieder keinen Heiler entbehren können«, sagte er leise. »Das ist so typisch.«

Rosa sah ihn erstaunt an.

»Was kümmert dich das?«, fragte sie ihn.

»Nun, ich weiß einiges vom Hofleben, wie du wahrscheinlich auch. Wenn der Sohn des Fürsten sich eine Verbrennung zugezogen hätte, wären sofort drei Heiler gerufen worden, nur um sicherzugehen. Und dazu der Herr Leibarzt.«

»Na ja, meine Mutter musste sich selbst darum kümmern«, sagte Rosa. »Zum Glück weiß sie ein wenig über Kräuter und es ist ihr gelungen, die Entzündung einzudämmen. Meine Oma lebte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Sie hätte es wahrscheinlich noch besser gemacht.«

»Kräuterkundige«, stellte Hanc fest.

»Ja, die Frauen in meiner Familie«, entgegnete Rosa. »Fast alle, auf der Seite meiner Mutter.«

»Wie kam es, dass sie Kammerzofe wurde?«, fragte Hanc. »Ich meine, das ist ein guter Posten, aber hätte sie nicht als Heilerin arbeiten können?«

»Wir kommen aus Heran«, erwiderte Rosa. »Meine Mutter wollte nie wieder offiziell als Heilerin arbeiten. Sie hatte ständig Angst, dass sie wieder – vertrieben werden könnte.«

»Ich verstehe«, sagte Hanc leise.

Die so genannten Säuberungen in Heran waren überall bekannt. Für Heddan hatte es bedeutet, dass die Versorgung mit Heil- und Kräuterkundigen plötzlich viel besser wurde. Nicht zum Vorteil der Zunft selbst, da diese ihre Preise nicht halten konnte und demzufolge mit allen Mitteln versuchte, die Neuankömmlinge vom Praktizieren abzuhalten.

Aber für die einfachen Leute war es ein Segen, denn sie konnten sich die Hilfe nun leisten. Wie Rosas Mutter arbeiteten viele der Flüchtlinge verdeckt, oder ohne Lohn, als Freundschaftsdienst, weil sie ein offenes Wirken als Heilkundige scheuten.

Hanc schaute auf und begegnete Rosas Blick.

»Eure Geschichte berührt mich«, sagte er. »So viele talentierte Menschen getötet, im Gefängnis verschwunden oder auf der Flucht. Es ist eine Schande.«

Rosa zögerte. Sie meinte neben Anteilnahme noch etwas anderes gesehen zu haben, das sie nicht deuten konnte. Zumindest nicht bei Hanc, dem Hofzauberer. Verbarg er etwas?

Kurz hatte er gewirkt, als sei er zornig, aufgewühlt. So viel Anteilnahme für ein Mädchen, das in den Ställen arbeitete?

»Es macht ihn sympathisch«, dachte Rosa. »Aber es scheint mir nicht die ganze Wahrheit zu sein. Ich sollte vorsichtig sein mit dem, was ich ihm erzähle.«

»Nun, das war auch schon alles«, sagte sie laut. »Ich bin mehr oder weniger in den Ställen groß geworden, weil Vaters Freunde Mitleid mit uns hatten und mich praktisch zu ihren Kindern zählten. So konnte Mutter ihre Arbeit tun und wusste, dass ich in guten Händen war. Pferde, Kühe und Schafe sind wie Familienmitglieder für mich – sie vertrauen mir einfach, und ich ihnen. Eines Tages bekam Rebecca, die Leiterin der Molkerei, mit, dass ich besser als andere melken und Käse machen konnte, und sie stellte mich ein. Bei dieser Arbeit ist es geblieben – nun ja, bis heute.«

Rosa schwieg. Der Regen war leiser geworden, sie würden bald aufbrechen müssen. Die Furcht, durch das Erzählen gebannt, kehrte zurück.

Wer war der Mann, der ihr auf dem Hüttenboden gegenüber saß und sie so eindringlich anschaute, während sie ihm ihr Leben offenbarte – Feind oder Verbündeter?

Als hätte er ihre Gedanken gehört, sagte Hanc: »Rosa, ich wünsche mir, dass wir einander vertrauen. Du kannst dich darauf verlassen, dass das Gehörte bei mir bleibt. Zu gegebener Zeit möchte ich noch mehr Wissen mit dir teilen, aber ich möchte erst in Sicherheit sein.«

Rosa blickte ihn zweifelnd an. »In Sicherheit? Und wo mag das sein?«

»Ich habe eine Idee. Ich muss sehen, ob sie funktioniert.«

Rosa gähnte. Sie fühlte ihre Müdigkeit jetzt und entschied sich, nicht weiter nachzufragen. Wenn Hanc irgendein Wagnis eingehen wollte – schon ihr bloßes Hiersein war ein Wagnis. Schlimmer konnte es kaum noch werden.

»Ich habe so viel erlebt in den letzten Stunden«, sagte sie zu ihm. »Ich wünschte, ich wüsste noch, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Ich hätte niemals gedacht, dass der Leibarzt des Fürsten ...« Sie schluckte und atmete dann tief durch. »Nicht einmal von ihm hätte ich gedacht, dass er einfach so zwei Menschen umbringt. So unsympathisch er mir auch immer war.«

»Mir kannst du vertrauen«, sagte Hanc fest. »Ich tue, was ich kann, dass dir weder die Höllenhunde noch unsere menschlichen Verfolger Schaden zufügen.«

Er hätte sagen können: dass du raus bist aus dieser Sache. Aber, so überlegte Rosa, ein Vorher würde es nie wieder geben. So konnte sie ebenso ihr Leben oder jedenfalls ihre momentane Sicherheit in die Hände dieses Mannes legen und hoffen, dass er keine verborgenen Ziele hatte, die ihr schadeten.

»Dann lass uns gehen«, sagte sie kurz. »Trockener wird es für heute nicht mehr werden.«

Hanc sah sie fragend an. »Hast du keinen Hunger? Reiseproviant ist doch im Bauch am besten aufgehoben.«

Er förderte aus seinem Reisebündel einen Laib Brot zutage.

Sie aßen, nicht zu hastig, aber schnell, und machten sich bereit aufzubrechen.

»Hast du eine Vorstellung, wohin wir gehen können?«, fragte Rosa schließlich.

»Am besten versuchen wir es in Richtung Osten auf den Holzfällerwegen«, schlug Hanc vor. »Wenn sie uns da zu nahe kommen, habe ich eine Alternative.«

Zu nahe kommen klingt nicht gut, dachte Rosa. Aber Hanc hatte bewiesen, dass er gut im Unsichtbarmachen war, sonst wären sie jetzt nicht hier. Leider, so hatte er ihr erklärt, ließ sich ein solcher Schutzkreis nicht über mehrere Stunden aufrechterhalten. Das kostete selbst einen geübten Zauberkundigen zu viel Kraft. Aber wenn sie Glück hatten, fanden die Höllenhunde ihre Spur erst gar nicht wieder. Nicht, dass sie sich darauf verlassen konnten.

In einer Ecke der Hütte fanden sie einen Spind mit Kleidung und nahmen einen leichten Wollmantel für Rosa mit, der ihr zu groß war, den sie aber mit Hilfe einer Schnur um ihren Körper raffte. Beschämt, jemanden seiner wenigen Besitztümer zu berauben, ließen sie ein paar Münzen aus Hancs Reisebündel auf dem Tisch liegen.

Ich brauche doch einen Schutz gegen den Wind, sagte sich Rosa. Wir sind auf der Flucht.

Es war dennoch Diebstahl und fühlte sich auch so an. Ganz zu schweigen von der Gefahr, die sie den Bewohnern der Hütte mitbrachten.

Vorsichtig traten sie vor die Tür und lauschten nach Anzeichen, ob ihre Verfolger schon in der Nähe waren. Alles blieb still.

Es kostete Rosa viel Überwindung, die scheinbare Sicherheit der Hütte hinter sich zu lassen. Mit einem tiefen Atemzug sog sie die frische Waldluft mit ihrem Duft nach grünen Tannennadeln und neuem Laub in sich ein. Dann gab sie sich einen Ruck und folgte Hanc, der schon ein paar Schritte vorausgegangen war und sich nun abwartend nach ihr umsah.

Der Regen hatte seine Gewalt verloren und tropfte stetig, aber nur leicht auf sie nieder.

Im Gehen zogen sie ihre Kapuzen tiefer, denn auch die leichte Nässe ließ sie frösteln.

Bald hatte die Dunkelheit des Waldes sie verschluckt.

Die Drei Wunderdinge

Rico von Waldyne fand Prinz Harolt am Hundezwinger. Der Prinz starrte hinab auf die Welpen, die sich dort tummelten. Sein schmales Gesicht wirkte blass, so als ob er zu wenig an die frische Luft kam. Auch wurde der blonde Haarschopf am Oberkopf bereits schütter. Letzteres hatte Rico noch nie bemerkt. Dabei war Harolt, so wie er selbst, gerade einmal Anfang Zwanzig. Unwillkürlich hob Rico eine Hand und berührte seine eigenen braunen Locken, wie um nachzuprüfen, ob dort alles so war wie bisher.

Der junge Lord trat neben seinen Freund und knuffte ihn in die Seite, nicht allzu sacht. Eine solche Vertraulichkeit durften sich nur wenige herausnehmen.

»Hier steckst du schon wieder. Ich grüße dich, Prinz.«

Prinz Harolt reagierte in keiner Weise auf die Begrüßung, sondern wich nur ein wenig zur Seite. Er kaute auf seiner Unterlippe, während er den jungen Hunden zuschaute, wie sie übereinanderpurzelten und sich gegenseitig von den Zitzen ihrer Mutter wegzudrängen versuchten.

Der Zwinger befand sich in einem vergitterten Schacht. Selbst wenn das Gitter weggenommen wurde, konnten die Hunde nicht sogleich heraus drängen. Höchstens wenn einer von ihnen sehr hoch sprang, konnte er den Zwinger aus eigener Kraft verlassen. Sonst nur über die Rampen, die hinunter gesenkt werden konnten. Es waren sehr wertvolle Tiere, die vor Dieben geschützt werden mussten – und die Menschen, die sie versorgten, vor ihnen.

Rico spähte ebenfalls zu den Welpen herab.

»Das sind ja wirklich Monster«, sagte er schaudernd.

Alle Hunde im Zwinger, auch die Mutter, hatten grauweiß oder schwarzbraun meliertes Fell, einen schmalen Leib mit muskulösen Schultern und kräftigem Nacken, spitze Ohren und einen spitz zulaufenden Schwanz. Ihre Augen waren rot wie bei Albinohunden. Die Welpen hatten große Pfoten, die darauf hindeuteten, dass sie um einiges größer werden würden als ihre Mutter. Sie knurrten und bissen einander spielerisch, während sie um den besten Platz an den Zitzen kämpften.

»Das hier ist meine Spezialzüchtung«, entgegnete der Prinz.

»Mehr Höllenhunde?«, fragte sein Freund.

»Genau«, antwortete Harolt knapp.

»Weiß dein Vater, dass du in der Nacht noch die besten seiner Jäger losgeschickt hast, mit deinen Höllenhunden, damit sie die beiden Verschwundenen suchen?«

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Rico«, sagte der Prinz mit betont gelangweilter Miene.

Rico schwieg und schaute den Welpen zu. Harolts neuer Umgangston ihm gegenüber und seine Besessenheit von diesen Monsterhunden gefielen ihm nicht. Das ging schon eine ganze Weile so, seit er mit Medico Sanas solch engen Umgang pflegte. Der Arzt war es, der die ersten Welpen von einer Reise nach Lungin mitgebracht und sie dem Sohn des Fürsten zum Geschenk gemacht hatte. Damit hatte es begonnen.

Ein Welpe schubste einen anderen zur Seite und drängte sich an die Zitze. Der andere warf sich auf seinen Angreifer und biss ihn in den Nacken. Die Hündin stand auf, schüttelte die Welpen ab und brachte die beiden Kämpfenden zur Räson. Blut tropfte auf die Erde. Einer der beiden drückte sich an die Wand des Zwingers. Er hinkte. Der andere sträubte die Nackenhaare und knurrte ihn an. Die anderen Welpen schauten zu, mit hängenden Zungen. Ihre roten Augen waren ausdruckslos.

»Sie sind unheimlich«, sagte Rico. »Das ist doch nicht normal, dass sie so zubeißen.«

»Zwei von den Welpen sind schon tot«, bestätigte Harolt diese Beobachtung. Seine Stimme war flach, frei von Emotion. »Die besten bleiben übrig«, fügte er hinzu.

»Was hast du mit ihnen vor?«, fragte Rico beklommen.

»Sie trainieren«, entgegnete Harolt. »Sie können nützlich sein.«

Rico dachte an den Jäger Obdan. Sein Gesicht war ähnlich ausdruckslos gewesen wie der rotäugige Blick der Hunde. Er und seine Frau Larisa waren am Vormittag von einem Aufenthalt in der Stadt Nortia zurückgekehrt und hatten erfahren, dass vor wenigen Stunden ihre beiden Kinder, ein Sohn und eine Tochter, im Schlossgraben gefunden worden waren – tot.

Die Gerüchteküche brodelte. Der verschwundene Hofzauberer praktizierte verbotene Rituale und hatte den beiden Kindern das Blut geraubt. Die Dienstmagd, die ebenfalls nicht aufzufinden war, sollte sein nächstes Opfer werden. Nein, der Zauberer und die junge Frau paktierten miteinander und wollten den Fürsten beseitigen. Nein, die beiden waren zufällig miteinander durchgebrannt, als gerade auch die beiden Kinder ums Leben kamen. Walddämonen hatten die Kinder getötet – Letzteres behauptete der Jäger Riall, und viele mit ihm, außer dem Jäger Marti, der nicht an die alten Geschichten glaubte.

Dennoch waren die Jäger dem Mann und der Frau hinterher geschickt worden, so als ob es sich um gesuchte Verbrecher handelte. Und ohne Wissen von Fürst Milan, der eine solche Menschenjagd sicherlich nicht erlaubt hätte. Der Fürst würde vor Zorn außer sich sein, sobald er von dem eigenmächtigen Handeln seines Sohnes erfuhr.

Diese Gerüchte sind alle Unsinn, befand Rico. Er kannte Hanc von Temeryn. Warum auch immer er verschwunden war – wenn hier jemand verdächtig war, verbotene Magie zu betreiben, dann Medico Sanas, Leibarzt der Fürstenfamilie. Da Rico selbst noch ein langes und friedvolles Leben haben wollte, entschied er sich, es bei diesem Gedanken zu belassen und sich aus der ganzen Sache herauszuhalten. Wenn nur Harolt nicht ständig mit diesem Arzt zusammen wäre. Seine Freundschaft mit Rico hatte er in den letzten Monaten vernachlässigt. Rico zog sich allmählich selbst zurück, weil er es satt hatte, wie ein Unterhaltungsprogramm behandelt zu werden, das man nach Belieben nutzen oder ignorieren konnte. Aber das musste Harolt bewusst sein. Es war ihm offenbar nicht so wichtig, befand Rico. Sonst hätte er ihn wenigstens nach seiner Meinung gefragt, auch was diesen Arzt betraf.

Es hatte geregnet wie aus Kübeln, als der Kammerdiener Lucius die beiden Leichen gefunden hatte. Zuerst dachten alle an einen Unglücksfall. Aber die beiden Geschwister waren vertraut mit dem Schlossgelände, wieso sollten sie in der Morgendämmerung in den Schlossgraben stolpern.

Dann hatte Medico Sanas die Toten begutachtet und keine erkennbare Todesursache festgestellt, dabei aber angemerkt, dass die Leichen vollkommen blutleer waren. »Jemand muss hier verbotene Magie praktiziert haben«, hatte er gesagt. »Zu welchem Ziel auch immer.«

Sein Gesicht wirkte dabei bekümmert und voll von rechtschaffenem Tadel für diejenigen, die so verderbt waren, Menschenleben für magische Praktiken zu opfern.

Rico – in keinem Moment überzeugt, dass Sanas zu wirklichem Mitgefühl fähig war – war erschüttert vom Tod der beiden Jugendlichen. Sie hatten niemandem etwas zuleide getan. Ihre Eltern waren nun gezeichnet für ihr Leben.

Wenigstens hatte Fürst Milan seinen Höflingen befohlen, dass sie alle den toten Kindern die letzte Ehre erwiesen. Niemand hatte es gewagt, sich zu widersetzen. Auch wenn so etwas bisher noch nicht vorgekommen war – dass die Kinder eines Jägers mit solchem Aufwand bestattet wurden.

Rico wurde bewusst, dass Harolts Blick auf ihm ruhte.

»Warum bist du so nachdenklich, mein Freund?«, fragte der Prinz.

»Mir gehen die beiden Toten nicht aus dem Kopf«, antwortete Rico wahrheitsgemäß. »Wer würde bloß so etwas tun?«

»Nun, es gibt nützliche und sinnlose Tode, oder?«, erwiderte Harolt gelassen.

Seinem Freund lief ein Schauer über den Rücken. Nützliche Tode? Er entschied, dazu lieber nichts zu sagen. Er konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass Harolt in das Geschehen der letzten Nacht verwickelt sein könnte. Bei aller Kritik für seine Verbindungen zu Medico Sanas und sein Faible für diese scheußlichen Kreaturen da unten im Zwinger.

»Wann sind wir zuletzt gemeinsam auf die Jagd gegangen, Harolt? Wenn die Jäger zurückgekehrt sind« – hoffentlich mit leeren Händen, dachte Rico bei sich – , »könntest du doch eine Jagdgesellschaft zusammenrufen.«

»Jetzt, im Frühjahr? Um ein paar Wildschweine zu erlegen?« In Harolts Blick lag Verachtung für die Zerstreutheit seines Freundes. Und noch etwas anderes, das Rico nicht deuten konnte – Bedauern, vielleicht darüber, dass sie so bald nicht zusammen jagen gehen konnten? Hätte Rico Gedanken lesen können, wäre ihm in den nächsten Wochen einiges erspart geblieben. So lachte er bloß, ein wenig verlegen, und sagte:

»Ich weiß auch nicht, wo ich heute meinen Kopf habe. Diese Hunde mit ihren roten Augen machen mich ganz wirr. Überlassen wir sie eine Weile sich selbst. Komm mit mir, Harolt. Die Sonne scheint wieder. Einen Ausritt können wir beide gebrauchen.«

ALS RICO SPÄTER DARÜBER nachdachte, wusste er nicht mehr, warum er dann im denkbar ungünstigsten Moment die Sache mit dem Schwein erwähnt hatte.

Harolt und er hatten ihre Pferde satteln lassen und waren in die Felder aufgebrochen – in die andere Richtung, nicht zum Wald, in dem die Jäger und Hunde ihr zweibeiniges Wild verfolgten. Unterwegs schien alles wieder beim Alten zu sein. Zuerst ließen sie die Pferde rennen.

Es waren xunanische Vollbluthengste. Sie liebten zwar am meisten das Wüstenklima, aber der heddanische Frühling tat ihnen ebenso gut und spornte ihren Ehrgeiz an. Mit vom Wind geröteten Wangen hielten ihre Reiter mit, trieben die Pferde bis an ihre Grenze. Schließlich fielen sie in leichten Trab, dann in Schritt. Rico lobte sein Pferd, klopfte ihm den Hals und ließ es mit lockeren Zügeln gehen.

Harolt neben ihm tat dasselbe. Es schien Rico, dass sein Gesicht wenig von der Freude zeigte, die er selbst empfand. Die vom Regen gereinigte Frühlingsluft, die frisch gepflügte dunkle Erde, die Lerchen, die über ihnen aufstiegen – Rico sog all diese Sinneseindrücke tief in sich hinein und konnte es wie in jedem Jahr kaum fassen, dass es schon wieder da war. Harolt ließ wie abwesend die Zügel durch seine Finger gleiten und tätschelte seinem Hengst den Hals.

Aber, so dachte Rico, er wendet sich ihm nicht zu. Ihm nicht, mir nicht und auch nicht all dem Schönen um ihn herum. Wie lange ist das schon so? Er konnte sich nicht erinnern.

Sie sprachen nicht über das Geschehen der letzten Nacht, sondern tauschten Belanglosigkeiten über das Leben der Höflinge aus.

»Lady Melinda wird allmählich alt«, sagte Rico. »Beim Linurfest hat sie mich dreimal gefragt, wie es meinem Großonkel geht. Dabei ist er vor einem halben Jahr beerdigt worden.«

Harolt grinste vieldeutig. »Alte Liebe rostet eben nicht«, sagte er trocken.

»Was du nicht sagst«, entgegnete Rico. »Sie haben gedacht, sie seien sehr diskret gewesen.«

»Ja, und dass niemand davon weiß. Dabei wurde es am ganzen Hof diskutiert«, entgegnete Harolt. »Zwanzig Jahre lang. Wusstest du eigentlich, dass Lord Dragan deinen Großonkel einmal zum Duell gefordert hat?«

»Im Ernst?«, fragte Rico erstaunt. »Ich dachte, Lord Dragan stünde über solchen Dingen.«

»Grundsätzlich schon. Es ging ihm zu weit, als seine Frau das Collier, das Lord Wilbur ihr gekauft hatte, zum nächsten Ball um den Hals trug. Da hat es ihm gereicht.«

Rico hob die Augenbrauen. »Du bist besser informiert als ich«, stellte er fest.

Es waren alte Geschichten. Lord Wilbur, sein Großonkel, war ein Exzentriker, der – niemand wusste genau wie – unermessliche Reichtümer angehäuft, aber niemals geheiratet hatte. Lady Melinda war sein Ein und Alles. Warum sie ausgerechnet Lord Dragan zum Ehemann gewählt hatte und nicht ihren hartnäckigsten Verehrer, fragte sich der ganze Hof.

Vielleicht, so dachte Rico, hatte sie erst nach ein paar Jahren Ehe ihren Fehler eingesehen. Wobei es sicherlich ein genauso großer Fehler gewesen wäre, Lord Wilbur zu heiraten, der nicht im Entferntesten einen Sinn für die Führung eines Landgutes und das Aufziehen von Kindern hatte. So hatte sie beide Männer gehabt – nun ja, mit allem, was das mit sich brachte.

»Man weiß nicht genau, ob alle ihre Kinder von Lord Dragan stammen«, sagte Harolt, so als hätte er Ricos Gedanken gehört.

»Da wird es interessant«, antwortete Rico. »Vielleicht erben ihre Söhne – meine Großcousins vielleicht – einen Teil von Lord Wilburs Vermögen. Das Testament ist noch nicht eröffnet worden, sie suchen noch danach.«

»Dir ist das egal, oder?«, fragte Harolt. Er sagte es nicht – aber seine Miene drückte es aus: Du verstehst es nicht, dir das Deine zu sichern.

»Ach Harolt, mein Freund«, seufzte Rico, »es gibt so viele wichtige Dinge im Leben. Geld ist reichlich vorhanden in unserer Familie, warum sollte ich mich darum streiten. Aber was war nun mit diesem Duell?«

»Es handelt sich nicht um Geld, sondern um eine wertvolle Sammlung von Kunstobjekten und magischen Gegenständen, wie du wohl weißt«, sagte Harolt. »Und das Duell ist daran gescheitert, dass Lord Wilbur nicht erschienen ist.«

»Das hat Lord Dragan sich bieten lassen?«, fragte Rico erstaunt.

Das kam einem immensen Gesichtsverlust gleich. Von dem Rico kurioser Weise nie erfahren hatte, obwohl er Lord Wilburs Geschichte ansonsten ziemlich genau kannte.

»Er ist ein Schwächling«, sagte Harolt mit jener müden Arroganz, die er neuerdings immer öfter an den Tag legte. »So wie Lord Wilbur einer war.«

Das traf Rico, obwohl sein Großonkel ihm nie sehr nahe gewesen war.

Er entgegnete nichts und richtete verärgert seinen Blick auf die Felder am Weg, ohne bewusst wahrzunehmen, was er dort sah. Dann weiteten sich seine Augen. Eine Schweineherde wurde über den Weg vor ihnen getrieben und würde in kurzer Zeit den Durchgang für sie blockieren. Sie hatten sie nicht rechtzeitig gesehen, weil der Weg eine Biege machte.

»Heda!«, rief er dem Schweinehirten zu. »Pass auf, Mann, dass du uns die Pferde nicht scheu machst!«

»Verzeihung, die Herren«, rief der Schweinehirt, »ich tue, was ich kann!«

Rico wunderte sich, dass er den Mann hier noch nie gesehen hatte, wenn er regelmäßig den Hof belieferte wie die anderen Bauern aus der Umgebung. Seine Stimme war rau und tiefer, als seine schmächtige Gestalt vermuten ließ.

Er trug einen leinenen Kittel, hatte einen schütteren Bart und helle Augen und sah so unscheinbar aus wie irgend möglich. Aber etwas an seinem Gebaren irritierte Rico. Er wirkte nicht besonders erschrocken oder eingeschüchtert, im Gegenteil – so, als ob der Prinz und sein Begleiter diejenigen waren, die ihm in die Quere gekommen waren.

Mit viel Geschrei und Stockhieben machte er sich daran, die Tiere auf die Seite zu treiben, so dass die beiden Reiter hintereinander passieren konnten.

Als sie es beinahe geschafft hatten, scheute Harolts Pferd. Er konnte sich auf dem Rücken des Hengstes halten, aber es war knapp. Ehe Rico auch nur blinzeln konnte, hatte er sich im Sattel aufgerichtet und hieb dem Schweinehirten seine Reitgerte über das Gesicht, einmal, zweimal. Der Mann schrie auf, Blut lief ihm über das Gesicht und tropfte auf seinen groben Kittel.

»Das ist für deine Unverschämtheit!«, brüllte Harolt. »Sei froh, wenn ich nicht wiederkomme und dich deinen Schweinen vorwerfe!«

Der Schweinehirt drückte die Hand auf seine aufgerissene Wange und presste hervor: »Verzeihung, edle Herren, Verzeihung!«

Rico war blass geworden. Hastig trieb er sein Pferd an, um an Harolts Seite zu kommen, mit dem Gedanken, Schlimmeres zu verhindern. Einen solchen Wutausbruch hatte er bei seinem Freund noch nie gesehen, wenn er ihn auch als jähzornig kannte.

»Lass den Mann, Harolt«, sagte er mit mehr Gelassenheit, als er empfand.

»Sein Glück, dass ich diese Schweine nicht auf unseren Feldern haben will«, erwiderte Harolt mit eisiger Ruhe. »Sonst hätte ich ihn hier und jetzt niedergeritten.«

»So wie du das Schwein damals Mores gelehrt hast?« Es war schneller heraus, als er sich auf die Zunge beißen konnte.

Für einen Moment sah es aus, als würde Harolt nun ihn statt des Schweinehirten in Stücke reißen. Sein Gesicht war – nach der Zornesröte eben – kalkweiß geworden. Seine Nasenflügel bebten, und sein Blick hatte etwas Irres. Doch dann steckte er die Reitgerte weg. Blut klebte daran, aber es schien ihn nicht zu kümmern. Sein Blick wurde so ausdruckslos wie zuvor.

»Reiten wir zurück, über den anderen Weg«, sagte er mit derselben flachen Stimme, die Rico schon am Hundezwinger bei ihm aufgefallen war. »Für heute genügt es mit der Landluft.«

Rico zwang sich zu einem zittrigen Lächeln. Innerlich fluchend – jetzt bekam er schon Angst vor seinem ehemals besten Freund – sagte er: »Du hast Recht. Wir haben Besseres zu tun.«

Harolt schwieg. Bis zu ihrer Rückkehr zu den Ställen sagte er kein Wort. Er übergab seinen Hengst den Stallknechten, wandte sich um und sagte zu Rico – so, als wäre nichts geschehen: »Danke für den Ausritt, mein Freund. Wir sehen uns nachher beim Abendessen.«

Rico führte sein Pferd zum Stall. Anders als Harolt wollte er das Tier selbst versorgen, so wie er es immer tat. Die Tätigkeit beruhigte seine immer noch flatternden Nerven.

Als seine Hand mit der Bürste über das Fell glitt, hielt er inne. Ein Gedanke war ihm gekommen. Warum in aller Welt hatte der Schweinehirt seine Tiere über diesen Feldweg getrieben? Es gab weder eine Weide noch einen Markt in der Nähe, die sein Ziel hätten sein können. Die Stadt lag in der anderen Richtung.

»Ein Schweinehirt, der im Weg stehen will«, sagte er halblaut seinem Pferd ins Ohr. »Was auch immer er sich dabei gedacht hat.«

IM BALLSAAL LEUCHTETEN ABERHUNDERT Kerzen von Kandelabern und Kronleuchtern.

Auch wenn die Fürstin nicht mehr lebte – ihre Handschrift war an der Gestaltung des Saals erkennbar, an den Bildern heranischer Maler, die dort hingen, an den zartgrünen und rosenfarbenen Tapisserien und der Holztäfelung, die in einem dunklen Honigton schimmerte. Zahlreiche Spiegel vervielfältigten die Pracht des Saals und die erlesene Kleidung der Höflinge, die sich im Tanz drehten oder ins Gespräch vertieft am Rand der Tanzfläche standen. Die Damen trugen Trompetenärmel und lange Schleppen, wie es in diesem Jahr Mode war. Die Herren zeigten Bein unter Kniehosen. Ihre Schuhe waren geradezu absurd spitz.

Kein Mensch, so dachte Rico, konnte in solch einem Aufzug auf die Jagd reiten oder in die Schlacht ziehen – oder auch nur zu einem Picknick in den Wald fahren. Es war ein übertriebener Aufwand an Stoffen und Näharbeit. Er zupfte an seinem eigenen überdimensionierten Ärmel und zog eine Grimasse. Warum bin ich bloß noch hier, dachte er. Es wird Zeit, dass ich dem Hofleben entfliehe und etwas Sinnvolles tue.

Lady Silla schwebte vorbei und nickte ihm zu. Sie sah hübsch aus mit ihrem Kopfputz aus Pfauenfedern, und Rico schenkte ihr trotz seiner düsteren Gedanken ein aufrichtiges Lächeln. Er ließ sich treiben, grüßte hier und dort, dachte darüber nach, was er mit sich anfangen wollte, wenn er den Fürstenhof verließe. Als jüngster Sohn waren seine Chancen, das väterliche Gut zu übernehmen, eher schlecht. Abgesehen davon, dass er davon auch nicht gerade träumte.

Solange seine Freundschaft mit Harolt aufrichtig gewesen war, hatte er sich vorstellen können, für ihn – den späteren Fürsten – eine Aufgabe am Hof zu übernehmen, vielleicht die Verwaltung von Liegenschaften oder etwas Ähnliches. Aber das schien in weite Ferne gerückt.

Ich würde gerne reisen, dachte Rico. So wie mein Großonkel, von dem wir sprachen. Ferne Länder sehen, eigenartige Dinge erfahren, Wissen erwerben.

Seltsam, wie ihm der Kopf heute schwirrte. So viel Wein hatte er gar nicht getrunken.

Rico verließ den Saal, um frische Luft zu schöpfen. Der Frühlingsabend empfing ihn mit leuchtend blauer Dämmerung und Blumenduft. Terrasse und Garten waren ebenso geschmackvoll gestaltet wie der Saal. Unter einer Balustrade bildeten gekieste Wege Ovale und geschwungene Linien um die frisch bepflanzten Beete mit Stiefmütterchen, Ranunkeln, Narzissen und Hyazinthen. Auf den Rasenflächen blühten Veilchen und Gänseblümchen. Immergrüne Bäumchen in Pflanzschalen und Hecken aus Buchsbaum zierten die Hauptwege. Die leise Hintergrundmusik der Amseln und Stare tat Ricos schwerem Kopf gut und war ihm wesentlich lieber als die Tanzmusik im Saal. Untermalt wurde der Vogelgesang vom Plätschern des Springbrunnens im Zentrum der Anlage.

Rico stutzte: Auf der Zierbrücke, die über den Seerosenteich im hinteren Bereich des Gartens führte, standen dunkle Gestalten – zwei Männer. Aus einem Impuls heraus, den er selbst nicht genau verstand, näherte Rico sich den ins Gespräch vertieften Männern, bis er in Hörweite war, und verbarg sich dann schnell hinter einer Hecke.

»Ihr müsst ihn unbedingt erwerben«, sagte gerade eine ihm bekannte sonore Stimme.

Rico spähte aus seinem Versteck. Sein Blick erfasste die dunkle, beeindruckende Gestalt des Sprechers, und seine bernsteinfarbenen Augen: Medico Sanas. Ihm gegenüber stand niemand anders als Harolt. Wenn sie ihn bloß nicht entdeckten! Niemals würde er erklären können, was er hier suchte, wie ein Kind hinter die Hecke aus Immergrün gekauert.

»Überlasst das mir, Sanas«, erwiderte Harolt. »Ich bin mir sicher, ich finde einen Weg, Einfluss auf die Erben zu gewinnen.«