Der Tag, an dem alle Farben verblassten - Katharina Lindner - E-Book

Der Tag, an dem alle Farben verblassten E-Book

Katharina Lindner

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Beschreibung

Die Kunst hat den Porträtmaler Eduard erfolgreich gemacht, er erfreut sich seiner Bekanntheit und seines Reichtums. Doch eines Tages verblassen wie von Zauberhand die Farben all seiner Bilder, was ihn im Nullkommanichts vom Olymp der Malerei stößt und schließlich ruiniert. Eduard begibt sich auf eine Reise, um herauszufinden, warum seine Meisterwerke zu einem Desaster werden, sobald er einen Pinsel zur Hand nimmt. Er möchte sich seine Kunst und sein altes Leben in Luxus, Überfluss und Bewunderung unbedingt zurückerobern. In der Fremde trifft er auf die alleinerziehende Mutter Matilda, die er rasch ins Herz schließt. Auch ihr Sohn Levi offenbart dem überraschten Künstler eine ganz neue Welt. Alles könnte sich fügen, wären da nicht Eduards Altlasten, denen er nicht entrinnen kann. Kann Eduard die kleine Familie für sich gewinnen und sich seine Kunst zurückerobern? Eine zauberhafte Geschichte über den Wert der Kunst und die Bedeutung, die Kreativität auch für dich haben kann, wenn du den Mut hast, in ihre Quelle einzutauchen.

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Kunst ist überall. Auch in dir.

Inhaltsverzeichnis

Der große Überflieger

Das verblasste Bild

Verluste

Matilda und Levi

Neue Fähigkeiten

Erste Lektion

Perspektiven

Zweite Lektion

Eine Sandburg

Dritte Lektion

Das alte Lied

Vierte Lektion

Urteile

Fünfte Lektion

Von Gefängnissen

Sechste Lektion

Ein Sack Flöhe

Siebte Lektion

Lügengebäude

Achte Lektion

Zusammenbruch

Neunte Lektion

Läuterung

Zehnte Lektion

Zukunft

Elfte Lektion

Wiedersehen

Eduard Schattschneider konnte sich die Verschrobenheit, die ihm nachgesagt wurde, leisten, denn er war als Maler ausgesprochen erfolgreich.

Der Verkauf seiner Bilder war so erfolgreich, dass er mit der Produktion kaum hinterherkam und seine stets wachsende Gemeinde an Auftraggebern immer wieder vertrösten musste. Er war tatsächlich sogar erfolgreich genug, um seine steile Kurve auf dem Kunstmarkt, die permanent nach oben wies, mit Fug und Recht als unanständig bezeichnen zu können.

Umso schwerer traf es Eduard, als diese Kurve plötzlich über Nacht von einem fatalen Einbruch betroffen war, den er sich nicht erklären konnte.

Es war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Freitagmorgen gewesen – oder es hätte ein gewöhnlicher Morgen sein können, wäre da nicht dieses schockierende Ereignis erfolgt, welches das Blut in seinen Adern in Eiswasser verwandelte und ihm schlagartig jegliche Luft aus den Lungen presste.

Der ganz gewöhnlich gemeinte Freitagmorgen entpuppte sich für Eduard als sein persönliches Tor zur Hölle. Und nachdem er es einmal, freilich aus Versehen, durchschritten hatte, blieb ihm die Möglichkeit zur Rückkehr verwehrt.

Eduard hatte alles wie immer gemacht. Er pflegte im Arbeitsalltag einen von zahlreichen Routinen geprägten Lebensstil, der ein Gegengewicht zu seiner überschäumenden und kaum zu bändigenden Fantasie bot. Deshalb war er wie immer pünktlich um sechs Uhr aus dem Bett gesprungen und hatte am offenen Fenster seine üblichen Leibesübungen absolviert, exakt zwanzig Minuten lang. Er hatte ein Glas lauwarmes Wasser mit Zitrone zu sich genommen und einen Blick in die Zeitung geworfen, wohlwissend, dass ihn nichts interessierte, was nicht mit ihm selbst zu tun hatte. (Eduard trank nur Zitronenwasser und niemals Kaffee, weil er, wie ihm häufig bestätigt wurde, nicht nur über Talent, sondern auch über ein unverschämt gutes Aussehen für einen Mittvierziger verfügte – und das wollte er sich so lange wie möglich erhalten.) Über seine Kunst hatte es diesmal keinen Artikel gegeben, weshalb er die Zeitung bald wieder weglegte.

Nach seiner Morgentoilette fühlte er sich fit und bereit, um sich seiner Arbeit zu stellen. Und weil er immer sehr früh mit dem Tagwerk begann, um mehr an einem Tag schaffen zu können, betrat er sein Atelier genau um Punkt sieben. Es war dank der langen verglasten Fronten und eines freundlichen Wettergotts Anfang Mai lichtdurchflutet und lud direkt dazu ein, kreativ tätig zu werden.

Eduard schritt zwischen den Regalen und Tischen hindurch, auf denen sich Pigmente, Pinsel, Malmesser, Leime, fertig angemischte Farben in Tuben, Gläsern und Dosen sowie allerlei weitere Utensilien befanden. Er fühlte in seiner Brust bereits dieses freudvolle, sehnsüchtige Ziehen, das sich immer einstellte, wenn er zu einer Arbeit zurückkehrte. Gestern hatte er sein Tun spät beendet. Erst gegen Mitternacht war er erschöpft und zufrieden ins Bett gefallen, denn das Porträt eines reichen Industriellen vor einer Fabriklandschaft (natürlich seiner eigenen) hatte sich dem Ende geneigt und diesen magischen Fluss hatte Eduard nicht unterbrechen mögen, bis er zum Ziel gelangt war.

Das Bild war großartig geworden: Der feiste, etwas träge Unternehmer in seiner schicken Klamotte strahlte darauf eine Seriosität und Macht aus, die ihm in der Realität gar nicht zu Gesicht stand. Dank seiner hängenden Wangen und dem schläfrigen, gar etwas dummdreisten Blick machte er in der echten Welt wenig her und wurde von Menschen, die ihn nicht kannten, wohl eher für einen faulen Metzger als für einen erfolgreichen Geschäftsmann gehalten. Doch aus Eduards Bild strömte die Vorstellung, die sich ein solcher Mensch gern von sich selbst machte, aus jeder Pore. Er wirkte unnahbar, überlegen, auf eine bewundernswerte Weise verschlagen und außergewöhnlich scharfsinnig. Eduard war sich sicher, dass der Mann, der das Bild bestellt hatte, begeistert vom Ergebnis sein würde.

Längst hatte er erkannt: Niemals wollten seine Kunden eine Abbildung der Realität! Menschen wie diese wünschten sich, dass ein fähiger Künstler ihnen eine Fantasie erschuf, die im Zentrum all ihrer eigenen Träume und Wünsche mit dem Bild verschmolz, das sie für sich selbst entworfen hatten. Dafür bezahlten sie ihn fürstlich und sprachen auf allen Veranstaltungen, Vernissagen oder Geschäftstreffen Empfehlungen aus: Suchst du jemanden, der deine Braut am Tag der Verlobung porträtiert? Deinen Erstgeborenen ins rechte Licht rückt? Dich selbst und deine erreichten Ziele auf eine Leinwand bannt, damit sie bis in alle Ewigkeit der Welt erhalten bleiben? Dann ist Eduard Schattschneider dein Mann! Es wurden Visitenkarten ausgetauscht, flüsternd, hinter geschlossenen Türen, auf samtbezogenen Theatersitzen, über edle Schreib- und imposante Konferenztische hinweg, neben Golflöchern, in Pferdeställen, auf Segelyachten und in luxuriösen Autohäusern, natürlich auch auf den Fluren hochpreisiger Galerien. Und bei Eduard hatte das Telefon unaufhörlich geklingelt und ihn ständig aus seiner Arbeit gerissen, was ihn einerseits nervte und andererseits diebisch freute.

So ging das seit Jahren. Eduard war ein Geheimtipp, ein Jahrhundertkönner, eine anerkannte Koryphäe. Und er scheffelte so viel Geld, dass es – nun ja – eben unanständig war, und mit jedem weiteren beendeten Auftrag noch ein bisschen unanständiger wurde.

Das Gemälde des unverschämt reichen Sackes mit Hundeblick, wie Eduard seinen aktuellen Auftraggeber insgeheim nannte, stand abgedeckt auf der Staffelei, damit es nicht vom Staub beschmutzt wurde. Der Mann hatte sein blank schimmerndes Glück mit der Produktion von Verpackungsmaterial gemacht (und darüber hinaus klug in Aktien, Immobilien und Kunstwerke investiert), sodass Eduard es nur für recht und billig gehalten hatte, ihn vor einer Ansammlung hässlicher Produktionshallen zu porträtieren. In der rechten Ecke des zumeist düster und in Grautönen gestalteten Hintergrunds lugte vorwitzig die beeindruckende Privatvilla des Magnaten ins Bild, umgeben von einem akkurat angelegten und penibel gepflegten französischen Garten. Sie ergänzte das in realistischen, aber vielseitigen Farben gehaltene Porträt um noch mehr Lebendigkeit.

Eduard, der immer sorgfältig und besonnen vorging, hatte viel Zeit damit verbracht, das Gemälde vorzubereiten: Er hatte Pigmente mit Bindern vermischt und, wie ihm vorkam, stundenlang gerührt. Er hatte die Leinwand mehrfach grundiert und er war bei der Auswahl der passenden Farben gleichermaßen analytisch wie intuitiv vorgegangen. Trotz des beinahe monochromen Hintergrunds – oder vielleicht gerade deshalb – hatte das Endergebnis in leuchtenden, ansprechenden Farben geglänzt, die dafür sorgten, dass es auch bei nur beiläufiger Betrachtung ins Auge fiel und im Herzen hängen blieb.

Jedenfalls war Eduard davon überzeugt gewesen, exakt auf diese Art in den letzten Tagen vorgegangen zu sein! Doch was seine Augen erblickten, strafte diese Annahme eine Lüge: Während das qualitativ hochwertige und großformatige Foto, das er als Vorlage genutzt hatte und das noch an der Seite der Leinwand hing, unvermindert strahlende Farben zeigte, hatte sein Werk über Nacht scheinbar nicht nur alle Kraft, sondern auch alle Farben verloren! Es war, als sei ihm von einer geheimnisvollen Macht jede Lebendigkeit und Aussagefähigkeit geraubt worden – und darüber hinaus war es ausschließlich aus Schwarz und Weiß gemacht, die allerdings auch bereits zu verblassen schienen! Nicht mehr als eine in aller Eile und ohne viel Engagement hingekritzelte Bleistiftskizze! Das Bild eines Kindes, dem Handwerk, Erfahrung und Kunstfertigkeit noch fehlen! Eine lieblos auf die Leinwand geschmierte Strichzeichnung! Es war ein lebloser Abklatsch dessen, was Eduard in der letzten Zeit so meisterhaft hatte auf den Stoff bannen können! Nicht einmal die feisten Hängebacken des reichen Sacks waren noch deutlich erkennbar! Und seine Nase war so bleich wie der Fabrikschlot in der Ferne, obgleich Eduard allein dafür sieben verschiedene Hauttöne angemischt und sich für die filigrane Ausgestaltung viel Zeit gelassen hatte!

Der erste Gedanke, gleichsam erschreckend wie erleichternd, war, dass mit seinen eigenen Augen etwas nicht stimmte. So etwas gab es, er hatte davon gehört: Menschen, die aufgrund einer Hirn- oder Tumorerkrankung keine Farben mehr wahrnehmen konnten. Oder ominöse Erblindungen, die einer organischen oder psychischen Ursache entsprangen. Doch um das Bild herum war die Welt ganz normal: Reste von Karmin und Ultraviolett leuchteten in der Malerpalette, die Etiketten der Farbtuben zeigten die bunten Schriftzüge ihres Herstellers und ein Blick aus dem Fenster bestätigte, dass auch der üppig blühende Blumengarten nichts von seiner leuchtend bunten Schönheit eingebüßt hatte.

Die zweite Idee, um der grauenvollen Verwandlung auf die Schliche zu kommen, war ein bestenfalls harmloser, aber geschmackloser Schabernack oder – in seiner schlimmsten Vorstellung – ein widerlicher Sabotageakt.

Jemand konnte sich nachts ins Atelier geschlichen haben: Eduard war nicht sehr akribisch im Schutz vor Einbrechern und Dieben, weil er meinte, dass angesichts seiner Berühmtheit und Unnahbarkeit diesen Affront niemand wagen würde. Aber womöglich hatte es doch jemand gewagt? Vielleicht war eine windige Bande Halbstarker durch die nachlässig geschützten Türen oder Fenster eingedrungen und hatte das Original mitgenommen? Aber warum hätten sie diesen lächerlichen, ihn beinahe verhöhnenden Ersatz dalassen sollen? Und wer hätte den produziert haben sollen, einen exakten Nachbau seines gestern Nacht noch bunten Originals?

Nein, entschied Eduard, das war nicht logisch und auch nicht glaubhaft, denn dieses Bild war sein Bild, ganz unzweifelhaft. Es zeigte den kaum sichtbaren roten Fleck auf dem Sakko des Porträtierten, der entstanden war, als Eduard den Pinsel mit einer unachtsamen Bewegung zum Wasserglas hatte führen wollen, nachdem er dem Dicken ein herrliches Lippenrot verpasst hatte. Er hatte gewischt und gerubbelt und den Patzer doch nicht wegbekommen, weshalb er entschieden hatte, in dem heute anstehenden Überarbeitungsprozess dem Anthrazit des zartgemusterten Anzugs einen weiteren Anstrich zu gönnen und damit den blassrosa Fleck zu übermalen. Das konnte er sich nun sparen, der Fleck war ebenso grau wie der Rest des Bildes. Aber er war da.

Die dritte Möglichkeit?

Eduard dachte angestrengt nach. Er dachte eine ziemlich lange Weile nach und dann noch eine weitere Zeit lang, doch ihm fiel keine Erklärung mehr ein.

Und das stand auch nicht mehr im Zentrum seiner Aufmerksamkeit, wie ihm schlagartig klar wurde. Das eigentliche Problem war nicht, zu klären, wie sich die Dinge hier auf so geheimnisvolle Weise verändert hatten. Das eigentliche – und ein wirklich bedrohliches – Problem waren die Konsequenzen, die daraus entstanden!

Der Dicke wollte das Bild morgen abholen, um es in einer beispiellos angeberischen Präsentation im Rahmen seines siebzigsten Geburtstags zu enthüllen und die Flut seiner stetigen Besucher und Gäste damit zu beeindrucken. Morgen früh war der definitive Abgabetermin, denn ein Geburtstag, gar ein runder, ließ sich nicht verschieben. Dieser fixe Termin ermöglichte zwar, heute noch einige Verfeinerungen vorzunehmen, aber ganz bestimmt nicht, das gesamte Bild komplett neu zu entwerfen! Oder, dachte Eduard zitternd und ratlos, sollte er genau DAS versuchen? War dies eine Prüfung, um sein Leistungslimit feststellen zu können und die Stärke seiner Nerven zu testen? Aber wer hätte ihm diese Aufgabe stellen sollen und warum?

„Scheiße, verdammte Scheiße“, brüllte Eduard, der unter Stress zum Jähzorn neigte und riss das verunstaltete Bild – wie der bleiche Finger einer Leiche, ging es ihm dabei durch den Kopf – von der Staffelei und in eine Ecke, in der sich Abfälle stapelten, deren Entsorgung ihm noch nicht wichtig genug vorgekommen war, um sie anzugehen. Das Gemälde, das keines mehr war, zerriss mit einem hässlichen Geräusch, weil eine gesplitterte Holzlatte es durchbohrte. Ein kaputtes, nichtssagendes Stillleben ohne jede Bedeutung, monochrom, aber ohne den reizvollen Ausdruck einer gut gemachten Schwarz-Weiß-Fotografie – und nun vollends zerstört: Nichts anderes war dieses vermaledeite Bild!

Panik breitete sich in seiner Brust aus, doch es war auch ein leises Gefühl von Genugtuung dabei: Dieses Werk durfte dem Auftraggeber unmöglich unter die Augen kommen, deshalb gehörte es auf den Müll! Es hatte sich seinen rechtmäßigen Platz also schon ganz selbstständig und passend ausgesucht! Wie auch immer diese absonderliche Verwandlung hatte vor sich gehen können, auf jeden Fall war das Ergebnis unzumutbar. Es würde nicht nur für einen erheblichen Verdienstausfall sorgen, sondern auch für die Beschädigung seines hervorragenden Rufes! Er musste es verstecken, dem Abfall zuführen, vergessen und neu beginnen. Was, wie ihm zweifelsohne klar war, einem wahnwitzigen, im Grunde nicht umsetzbaren Vorhaben entsprach.

Er versuchte es trotzdem.

Während Eduard sich daran machte, das Gemälde exakt zu kopieren und dabei dieselbe Sorgfalt und Leidenschaft an den Tag legte wie beim ersten Exemplar, stellte er sich allerhand verunsichernde Fragen.

Er fragte sich, ob er dabei war, seinen Verstand zu verlieren, der immer tadellos funktioniert und ihm gute Dienste im Lebensalltag geleistet hatte. Er fragte sich, ob es jemanden gab, der ihm schaden wollte und der dabei eine Art Zaubertrick anwendete, um ihn dazu zu bringen, an seiner eigenen Wahrnehmung und Vernunft zu zweifeln.

Er fragte sich, wer so viel Mühe auf sich nehmen sollte und wieso, denn zwar hatte er – wie jeder erfolgreiche Mensch – Neider und missgünstige Zeitgenossen um sich, aber seines Wissens keine wirklichen Feinde.

Er fragte sich, je weiter sein neues altes Werk voranschritt, immer kuriosere Dinge: Ob diese Erfahrung Karma war und er einem Menschen in seinem Umfeld geschadet hatte, was sich nun rächte. Ob er vielleicht doch mal wieder in die Kirche hätte gehen sollen, was er seit Jahrzehnten vermied. Ob jemand im Umfeld des reichen Sackes mit dem Hundeblick oder gar dieser selbst die Fertigstellung des Porträts insgeheim verhindern wollte und was mögliche Gründe dafür sein könnten. Ob sein Magenta noch reichen würde für ein zweites Bild (zum grauen Anzug trug der Auftraggeber eine neckisch pinke Krawatte, um seine Modernität und Offenheit zu unterstreichen). Ob seine Kräfte genügen würden, um eine komplett durchwachte Nacht voller Arbeit durchzustehen. Ob die Tätigkeit als ein Künstler, der sich eng an die Bedürfnisse seiner Kunden anzupassen hatte und niemals frei arbeiten konnte, sich überhaupt lohnte, wenn sie auch bisher einen geradezu unanständigen Obolus abgeworfen hatte.

Er zeichnete und skizzierte, malte und überarbeitete, entwarf und setzte um. Er roch den scharfen, manchmal leicht süßen, manchmal bitteren Geruch der Farben. Er bekam bunte Finger und einen Kittel, der selbst aussah wie ein Seerosenteich von Monet. Er gönnte sich nur zwei knappe Pausen, um einen Tee zu trinken und eine aufgewärmte Currywurst aus der Packung zu essen. Es wäre doch gelacht, sagte er sich, wenn es ihm nicht gelingen sollte, dieses Werk zu vollenden! Unter Zeitdruck hatte er schon oft gestanden und trotzdem solide Ergebnisse erzielt. Und ein Bild, das er einmal bereits gemalt hatte, würde ihm auch ein weiteres Mal gelingen! Das Können steckte in ihm, in seinen Fingern, in seinem Kopf und in seinem Herzen. Er konnte es schaffen, das Werk zu replizieren und pünktlich abzugeben, wenn er alles gab, was ihm zur Verfügung stand. Er war ein absoluter Profi! Und die Pinsel waren ihm immer zuverlässig zu Diensten, wie ergebene, ihn anhimmelnde Untertanen, über die er mit väterlich schützendem Wohlwollen herrschte. Daran würde sich auch durch einen faulen Zauber nichts ändern, wie auch immer er entstanden war!

Das zweite Bild war im Morgengrauen fertig und sah exakt so aus wie das erste, nur dass ihm der blassrosa Klecks fehlte, der durch ein Versehen entstanden war, das sich nicht wiederholt hatte.

Eduard, erschöpft von der Anstrengung und entkräftet von der Aufregung, merkte gar nicht, wie er mit einem erleichterten Seufzer auf seinem Schemel zusammensank, den Rücken an das Regal gelehnt, den Pinsel noch in der Hand, der ihm allerdings alsbald aus den Fingern rutschte. Er fiel in einen wirren Schlummer, dem keine lange Dauer vergönnt war, der aber genügte, um seine Lebensgeister wieder zu wecken.

Denn das Wichtigste war: Er hatte es geschafft!

Das Bild, wieder liebevoll bedeckt von einem weißen Leinentuch, stand zur Abholung bereit und bis dahin durfte er sich gewiss ein, zwei Stunden Erholung gönnen, obgleich es am Horizont bereits dämmerte.

Eduard kannte viele verschiedene Reaktionen auf seine Bilder: Ehrfürchtiges Staunen und übersprudelnde Begeisterung, übertriebenes Lob und neidvoll-bewundernde Kommentare, hin und wieder auch gehässige, substanzlose Kritik, die ihm selbst nur ein mildes Lächeln entlockte, weil sie ihn nicht ernsthaft berührte. Aber Gelächter war noch nie darunter gewesen!

Er war also einigermaßen irritiert, dass der Sekretär des reichen Sackes, der beauftragt worden war, das Kunstwerk abzuholen und den geforderten Preis mit einer großzügigen zehnprozentigen Zugabe zu bezahlen, in dröhnendes Gelächter ausbrach, als Eduard das Tuch von dem kostbaren Werk nahm.

Es war ein Lachen, das nichts Freundliches oder Fröhliches an sich hatte. Bitterkeit und Verzweiflung mischten sich hinein, wie ein Tropfen Lampenschwarz, der ein blütenreines Titanweiß in eine schmutziggraue Masse verwandelt, mit der sich höchstens noch verdreckte Bürgersteige und rußige Industriestädte oder gewitternde Abendhimmel malen lassen. Und Eduard verstand sofort – er hatte eben einen ziemlich scharfen und raschen Verstand – warum dieses verzweifelte Gelächter sich in den Raum ergoss.

Als er den Schleier wegzog, offenbarte sich ein weiteres, unfassbares Mal eine brutale Wahrheit: Auch dieses Bild war in den wenigen Stunden, in denen er in den Schlaf gesunken war, zu einer blassen Ansammlung nichtssagender Dinge mutiert. Nichts, was man sich an die Wand hängen oder Bewunderung heischend präsentieren würde. Nichts, was entsprechend entlohnt wurde.

Warum? Das war völlig unklar.

Das Erstaunen darüber in Edwards verwirrter Seele war noch größer als am Morgen zuvor. Konnte sich diese böse, hinterlistige Magie tatsächlich zweimal auf so perfide Weise entfalten? Und wie um Himmels willen war ihr beizukommen? Ihm wurde klar, dass sich just in dieser Minute sein gesamtes berufliches Leben in Feuer, Asche und Rauch auflöste und er nicht imstande war, es zu verhindern.

Dieser geplatzte Auftrag war für sich genommen schon eine Katastrophe, weil sie ihn Geld, Prestige und gute Mundpropaganda kostete, denn der reiche Sack verfügte über kostbare Beziehungen und viel Einfluss. Aber was war die Folge, wenn sich ein solch schädlicher Prozess fortsetzte? Ihm würde überhaupt kein gutes Bild mehr glücken und dann war seine Karriere zu Ende! Tschüss, großes Atelier, gemütliches Haus, komfortables Auto, gepflegte Kontakte! Und herzlich willkommen, sozialer Abstieg, Elend und Not, Einsamkeit, Scham, Peinlichkeit, Verachtung, Lächerlichkeit, Sinnlosigkeit! Er würde ganz und gar die Kontrolle über alles verlieren, das ihm etwas bedeutete! Und es war ihm ein einziges Rätsel, aus welchem Grund dies geschah!

Eduard spürte, wie ihm das Herz im Leib aufquoll wie ein Luftballon, der an einem Kompressor hängt und gleich zu platzen droht. Was sollte er dem Sekretär bloß sagen? Wie sich erklären? Sollte er um mehr Zeit bitten, um einen dritten Versuch zu wagen? Zwar verspürte er die vage aufsteigende Gewissheit, dass auch das nächste Experiment gründlich misslingen würde, doch schwerer noch wog die absolut unumstößliche Frist, die ihm wieder ins Bewusstsein gelangte: Der reiche Sack hatte sein Bildnis ohne Puffer zeitlich genau passend für die Party zu seinem siebzigsten Geburtstag bestellt – und der war heute. Eine weitere Chance würde Eduard nicht bekommen.

Und auch sonst keine Chancen mehr: Tief in seinem Inneren fühlte er, dass es mit anderen Bildern, anderen Auftraggebern genauso laufen würde. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie dem beizukommen war. Ratlos und getrieben von einer ihn überflutenden Verzweiflung schlug er die Hand vor die Augen, unfähig, der Scharade noch irgendeine halbwegs nachvollziehbare Erklärung hinzuzufügen.

„Was ist DAS denn?“, fragte der Sekretär, nachdem sein schauderhaftes Gelächter verklungen war. Sein Blick verriet unverhohlene Abscheu und Verachtung, auch Ungläubigkeit. „Das ist doch nicht das Bild, das ich abholen soll? Mir war ein farbenprächtiges, das Auge und Herz erfreuendes und beeindruckendes Gemälde angekündigt worden, das sich wunderbar an der pistaziengrünen Wand im Foyer über den Treppen meines Chefs machen wird. Aber ich sehe farbloses Gekritzel, womöglich von einem an Parkinson erkrankten Untalentierten mit Bleistift lieblos hingerotzt! Mir ist gesagt worden, Sie seien ein echter Könner!“

Geflutet von Entsetzen und Verachtung verfiel der Lakai in selbstmitleidige Klagen:

„Herr im Himmel, ich muss das Bild in einer Stunde an seinem Bestimmungsort abgeliefert haben! Danach muss ich mich um das Catering kümmern … die Parkplatzaufteilung … die Garderobe unseres geschätzten Arbeitgebers … die rosa Krawatte muss noch aus der Reinigung geholt werden und die romantische Beleuchtung am Gartenteichpavillon ist nicht fertig … Herrje! Ich hab keine Zeit für so einen Unsinn! Ist das ein Scherz? Ein Streich? Eine von diesen dummen Ideen, die Genies manchmal haben und auf die kein Normalsterblicher kommt? Was zur Hölle soll ich mit diesem Bild anfangen, Meister Schattschneider?“

Sie nannten ihn, angelehnt an die alten Künstler, „Meister“, aber bald würden sie das nicht mehr tun. Schon jetzt ließ die Bezeichnung die einstige Ehrfurcht vermissen, in der es sich so angenehm badete, weil man sich dann wie der größte Held der Welt fühlen konnte.

Der Sekretär weckte Mitgefühl in Eduard, aber nicht so viel, wie er für sich selbst empfand. Schweißtropfen, fahrige Bewegungen und ein kaum spürbares Beben der Gliedmaßen spiegelten dieselbe fassungslose Furcht wider, die auch Eduard beutelte, doch was sollte er tun? Das Bild war Schrott und jeder, der seiner ansichtig wurde, konnte das auf den ersten Blick erkennen! Für den Sekretär würde diese Geschichte ebenfalls böse ausgehen, wie Eduard ahnte, denn meistens bekamen die Boten übler Nachrichten den Kopf abgeschlagen, obwohl sie nichts für die Nachrichten konnten. Und der reiche Sack war nicht gerade für seine Milde und Nachsicht bei Fehlern und gescheiterten Zielen bekannt, vor allem nicht, wenn sie ihm zum Nachteil gereichten.

Der Sekretär verwandelte seine eigene Verzweiflung und Angst in wild schimpfende Vorwürfe und Beleidigungen, die seiner Position nicht angemessen waren, diesen Raum aber auch nicht verlassen würden.

„Herrgott, so eine verdammte Gülle, was soll ich dem Alten denn bloß sagen? Diesen Mist kann ich ihm nicht als Endergebnis präsentieren! Was ist mit Ihnen los, Schattschneider? Sagen Sie es mir – wie soll ich dem Alten diese Katastrophe erklären, ohne dass es mich meinen Job und meine gesellschaftliche Stellung kostet? Sie verdammter Versager – was stimmt mit Ihnen denn nicht? Sind Ihre Pinsel schizophren geworden? Oder haben Sie sich gedacht, Sie probieren einfach mal was Neues aus, weil Sie Lust darauf hatten? Auf unsere Kosten! Auf meine Kosten! Schattschneider, Sie elender … Stümper!“

„Es war keine Absicht“, beteuerte Eduard, um seinem Gegenüber klarzumachen, dass es sich mitnichten um Renitenz oder experimentelle Abenteuerlust auf seiner Seite handelte. Aber er hielt mitten im Satz inne. Es gab keine Erklärung für dieses Ereignis und jede, die er versucht hätte, wäre erstens Spekulation und zweitens so unfassbar, dass sie ihn ins Irrenhaus bringen konnte. Was auch immer er erklärte und wie gut er es erklärte, die Wahrheit würde ihm niemand glauben.

„Vielleicht sind meine Farben zu alt“, sagte er deshalb nur, eine kaum ausreichende, aber immerhin einigermaßen realistische Begründung, die nichts retten würde. Er sah sich schon alles verlieren. Tschüss, gewohntes Leben. Tschüss, bejubeltes Talent! Es war schmerzhafter, als wenn er sich selbst einen Fuß amputiert hätte.

„Wie auch immer“, bellte der Sekretär und warf mit seinen spitzen Spinnenfingern wieder das Laken über das Bild, um seinen Anblick nicht mehr ertragen zu müssen. „Dieses Bild werde ich nicht annehmen und schon gar nicht bezahlen. Betrachten Sie unsere geschäftliche Beziehung hiermit als beendet. Wir werden einen anderen Künstler finden, der es besser kann als Sie! Dann wird das Bild zwar nicht am Geburtstagsabend zur Verfügung stehen, aber immerhin für den Rest seines Lebens dem Boss ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Was für dieses scheußliche Machwerk nicht gilt! Verlassen Sie sich drauf, Schattschneider, ich werde persönlich dafür sorgen, dass die Welt von Ihrer Unfähigkeit erfährt! Sie werden auf dem Markt und in den Galerien keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen! Sie können schon mal damit anfangen, Ihre Farbtuben wegzuwerfen und das Atelier auszuräumen, denn dessen Miete werden Sie sich schon in Kürze nicht mehr leisten können! Die Stimme meines Chefs ist auf dem Kunstmarkt eine gewichtige – wenn er auch zugegebenermaßen von Kunst keine Ahnung hat und sich Expertenwissen einkauft. Aber um SIE zu ruinieren, Schattschneider, braucht es keinen Experten, denn das werde ich höchstpersönlich selbst übernehmen!“

Er war ganz außer Atem nach seinem erhitzten Monolog. Wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, stieß Luft durch die gespitzten Lippen. Eduard konnte ihm gut nachfühlen, wie es dem Mann ging. Er selbst war gleichzeitig erschöpft und überdreht, eine unselige Mischung, die dem Körper, dem Geist und der Seele weder eine Verschnaufpause gestattete, noch tatkräftige Aktivitäten ermöglichte. Sie erschuf stattdessen Blockaden, die nicht aufzulösen waren und brachte Probleme mit sich, deren Lösungen sich in weiter Ferne befanden. Eine Ferne, die in einem fantastischen Märchenland lag, eine hauchzarte Traumwelt, die bei Licht zu Staub zerfiel und nicht einmal eine kleine Spur hinterließ, an der man sich auf seiner Suche hätte orientieren können.

Er ahnte, dass der Sekretär keinerlei Mühe haben würde, seine Drohung in konkrete Ergebnisse münden zu lassen: In der Kunstwelt stieg man in Rekordzeit auf, wenn die Sterne (vielmehr die Gönner) günstig standen, aber man konnte auch genauso rasch vom Himmel fallen wie ein Meteorit, der für den Bruchteil einer Sekunde hell leuchtete und dann nichts als Asche und Zerstörung hinterließ.

„Sie müssen mir das Bild nicht abkaufen“, brummte Eduard gleichermaßen unwillig wie verständnisvoll.

„Oh, das werde ich auch nicht“, echauffierte sich sein Gegenüber, das sich bereits zum Gehen anschickte. „Sie können froh sein, dass ich Ihre Bude nicht in Brand stecke, sobald meine Füße über die Schwelle nach draußen treten! So ein Ärger, Schattschneider! Sie bringen mich in eine unmögliche Situation! Ich werde Ihnen das gewiss nicht vergessen!“

So ging es noch eine Weile. Eduard ließ den Sermon, der durchaus in einer sprachlich blumigen Fülle auf ihn herniederprasselte, über sich ergehen, die Schultern eingezogen, die bunten Finger beschämt hinter dem Rücken versteckt. Es gab nichts zu widersprechen und nichts zu ergänzen. Der Sekretär des reichen Sacks nörgelte und fluchte noch im Hinausgehen und würde damit wohl auch während der Fahrt zurück in die Firma nicht aufhören, obwohl ihm das nicht den Kopf retten konnte.

Die Tür fiel laut und heftig ins Schloss und es war, als würde das Atelier in genauso kleine Stückchen zerbersten wie die Seele des Malers, dessen unfassbare Erfolgssträhne soeben ihr unrühmliches, fast schon banales Ende gefunden hatte.

Der Sekretär des reichen Sacks hatte nicht gelogen und auch nicht übertrieben, als er Eduard angedroht hatte, seinen bisher tadellosen Leumund zu zerstören.