Der Tag an dem David Bowie starb - Christopher Steigerwald - E-Book

Der Tag an dem David Bowie starb E-Book

Christopher Steigerwald

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Beschreibung

"Die Indizien sprechen dagegen, dass es eine Instanz neben oder über dem Zufall gibt. Menschen neigen dazu, sich selbst zu wichtig zu nehmen. Deshalb brauchen sie Gedankenkonstrukte wie Schicksal oder Bestimmung. Denn Zentrum dieser Ideen ist immer man selbst, ist, was einem widerfährt. Dem Zufall ist ja scheißegal wer man ist." Und dennoch weiß ich nicht, was alles kaputt gemacht hat. Er, ich, die Stadt? Oder vielleicht wirklich der Zufall? Vielleicht ein bisschen von allem. Nach "Die Erkenntnisse des Professor Jedermann" Steigerwalds zweiter Roman. Eine Geschichte über die Freiheit, das Hoffen, das Lieben und das Scheitern.

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Stupidity is one of the two things we see most clearly in retrospect. The other is missed chances.

- Stephen King

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Teil II

Sieben

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Sechs

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Fünf

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Vier

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Drei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Zwei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Teil III

Ein Tag im Januar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Vorwort

Es gibt viele Arten von Geschichten. Wahre. Weniger wahre. Geschichten, die frei erfunden sind, ohne dass auch nur ein Fünkchen Wahrheit in ihnen steckt.

Und es gibt Geschichten, bei denen man nicht so recht weiß, was man von ihnen halten soll. Weil sie sich im Schattenreich bewegen.

Und vielleicht gibt es auch gar keine wahren Geschichten.

I

1

Man kann eine Zigarette auch an einer anderen Zigarette entzünden. Ganz ohne Feuerzeug.

2

Irgendwie hat man ja irgendwann alles schon mal gesehen. Alles schon mal erlebt. Und doch geht man oft damit um, als wäre es neu. Als wäre es einem noch nie über den Weg gelaufen.

Und es sind ausgerechnet die schönen Dinge, die mit der Zeit ihren Zauber verlieren. Oder im Laufe der Jahre. So empfinde ich es zumindest.

Als ich klein war, wollte ich immer Zirkusdirektor werden. Dabei war ich noch nicht mal oft im Zirkus gewesen. Allein das Zelt! Sägespäne auf dem Boden, der Geruch! Eine Mischung aus allem Möglichen, den Tieren, Zuckerwatte.

Warum ausgerechnet Zirkusdirektor? Ich weiß es nicht. Mutige Männer, die Tiger durch Reifen springen ließen, Artisten, die waghalsig in schwindelerregender Höhe ihre Kunststücke vorführten, all das nahm ich zur Kenntnis. Der Direktor moderierte das alles ja eigentlich nur. Und doch übte er auf mich die größte Faszination aus. Allein das Revers mit den goldenen Knöpfen! Erst der Applaus, wenn er die Manege betrat und dann Lauschen. Die Show konnte nicht beginnen, bevor er sie nicht eröffnet hatte. Die Magie kam nach ihm, aber er schwang den Zauberstab. Vielleicht war es das.

Heute gibt es kaum noch Zirkusse. Die Zeit ist eine andere. Es ist zu gemütlich. Zu langsam. Man kann sich das auch alles Zuhause ansehen. Auf YouTube oder so. Aber darauf will ich eigentlich gar nicht hinaus.

Das, was den Zirkus ausgemacht, was ihn besonders gemacht hat, als ich noch ein Kind war, würde ihm heute nicht mehr inne wohnen. Für mich. Als Erwachsener. Und das liegt nicht daran, dass er aus der Zeit gefallen ist. Es liegt an mir. Ich bin ein Anderer, als ich es damals war. Ich bin kein Kind mehr, das ist offensichtlich. Was aber bedeutet das? Es bedeutet, dass ich älter geworden bin, dass ich Erfahrungen gesammelt habe. Dinge erlebt, Dinge gesehen habe. Einmal. Die meisten mehrfach.

Ich glaube, dass ich mich heute langweilen würde, würde ich eine Zirkusvorstellung besuchen. Ich habe es ein paar Mal gesehen. Die Faszination lässt jedes Mal ein wenig nach.

Man lacht ja auch über ein und den selben Witz nicht jedes Mal gleich laut. Wenn er gut ist, lacht man auch beim zweiten Hören darüber. Das war's dann aber auch.

Beim nächsten Mal schmunzelt man noch. Und irgendwann ist man genervt.

Wie ich zu Beginn gesagt habe, sind es die schönen Dinge, die ihre Farbe verlieren mit der Zeit, die ausbleichen, wie der Lieblingspulli, den man zu oft gewaschen hat.

Die Freude über Geschenke! Immer mal wieder ist ein besonderes dabei. Eins, das man so nicht so erwartet hat, oder eins, das besondere Zuneigung ausdrückt, weil es zeigt, wie eine andere Person einen kennt und mag. Oder weil jemand sehr viel Zeit investiert hat in das Geschenk. Aber wer interessiert sich noch für den x-ten Gutschein? Den x-ten Strauß Blumen, das x-te Buch? Man bedankt sich artig, legt es zur Seite und hat es fast im selben Moment vergessen. Dann geht ein Jahr vorüber und man bekommt das gleiche wieder geschenkt. Man freut sich pflichtschuldig. Man wird ja auch bereichert. Das löst immer ein gutes Gefühl aus. Zumindest kurz. Aber was hat es noch damit zu tun, als Kind die Kerzen am Weihnachtsbaum zu sehen, wie sie flackern und darunter liebevoll verpackte Päckchen liegen zu sehen? Jeder erinnert sich noch an das Gefühl. Die Aufregung, die Glückseligkeit. Gar nicht erwarten konnte man es, endlich alles auszupacken. Die Tage vorher, die gar nicht schnell genug vorbei gehen konnten, aber genau das Gegenteil war der Fall; sie zogen sich wie Kaugummi.

All das verschwindet mit der Zeit. Es weicht Routine. Eben weil man es schon so oft erlebt, schon so oft durchgespielt hat.

Wie gesagt, habe ich das Gefühl, es betrifft nur die positiven Dinge. Die lustigen, die harmonischen, die Momente, die Glücksgefühle auslösen sollten. Nicht aber die Dinge, die einen beschweren, die einen traurig machen.

Gott weiß wie viele Beziehungen, sei es in der Entstehung, nach kurzer Zeit, oder auch erst nach Jahren ich beendet habe. Und ein paarmal war auch ich derjenige gewesen, der verlassen wurde. Oder verschmäht wurde.

„Eine letzte Zigarette, bevor ich gehe?“, frage ich ihn. Er nickt wortlos. Ich muss nicht weinen. Aber ich glaube, es fehlt nicht viel. Und ich frage mich, wie wir an diesen Punkt gekommen sind. All die Dinge, die im letzten Jahr geschehen waren. Sein Gesicht scheint bereits jetzt zur Erinnerung zu verschwimmen, obwohl er noch vor mir steht. Mich ansieht. Aber nur kurz. Er kann meinem Blick nicht standhalten. Nicht, weil er sich schämt. Das nicht. Auch nicht, weil er sich schuldig fühlt. Vielleicht will er es mir auch nur nicht noch schwerer machen.

Die Flamme schlägt aus dem Feuerzeug empor. Sie entzündet meine Zigarette, dann seine. Wir schauen in unterschiedliche Richtungen.

Wie also kam es dazu, dass wir hier stehen, kurz davor uns ein letztes Mal begegnet gewesen zu sein?

3

Man weiß ja des Öfteren nicht so genau, wo man anfangen soll zu erzählen. Zumindest nicht, wenn es sich um eine längere Geschichte handelt. Oder, wenn man gar nicht genau festmachen kann, wo etwas begonnen hat. Sicher, eine Lebensgeschichte beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Darauf kann man sich einigen. Es steht ja auch so auf dem Grabstein. Von bis. Aber wie ist es mit den Teilstücken? Haben Sie jemals die Platte 'The dark side of the moon' von Pink Floyd gehört? Falls nicht, sollten Sie das tun, aber das nur am Rande. Worauf ich hinaus möchte, ist, dass man bei diesem Album nie so genau weiß, wann ein Song aufhört und der nächste beginnt. Alles geht ineinander über.

Und so ähnlich ist es mit dieser Geschichte. Mit einem Unterschied: Ich weiß, wie sie endet.Wo sie endet. Und wann. Nämlich genau jetzt. Wenn ich den letzten Zug meiner Zigarette genommen und sie auf den Bürgersteig geschnippt habe. Wir würden noch einmal seufzen und uns kurz in die Augen sehen. Sehr kurz. Betreten und auch ein bisschen unschlüssig. Ich werde einen Schritt auf ihn zugehen und ihn umarmen. Er wird es erwidern. Ein paar Sekunden lang. Vielleicht fünf, keinesfalls aber länger als zehn. Vielleicht ein Kuss auf die Wange, aber wohl eher nicht. Ich streiche ihm über die Schulter. Und dann? „Mach's gut!“, wird wohl einer von uns sagen. Oder so etwas ähnliches. Kein „bis bald“, es gibt kein bald. Nicken. Dann dreht sich jeder um und geht seines Wegs. Mit jeder Sekunde entfernt man sich von dem Moment. Von diesem letzten Moment, in dem man sich gesehen hat. Gerochen. Man bringt Meter zwischen sich. Bis man soweit von einander entfernt ist, dass man sich nicht mehr hören kann, selbst wenn man so laut schreit wie man kann. Irgendwie ist das das Endgültigste. Ich könnte mich umdrehen. Rufen, winken, aber es wäre nur für mich. Und für ein paar Passanten, die mich schräg ansehen, sich ansonsten aber um ihren eigenen Kram kümmern würden. Nichts, was sie so oder so ähnlich nicht schon mal gesehen hätten. In einer Großstadt wie dieser gibt es allerlei merkwürdige Gestalten. Manche wirken verrückter als sie sind. Ich vermute aber, bei den meisten ist es umgekehrt.

Als wir uns vor einer Stunde getroffen hatten, um spazieren zu gehen, hatte mich schon nach wenigen Metern eine ältere Dame angerempelt. Nicht versehentlich. Aber auch nicht wirklich absichtlich. Ich sah sie schon einige Schritte, bevor sie in mich hinein rannte. Sie sah adrett gekleidet aus, ging leicht gebückt. Sie hatte mich auch gesehen, steuerte aber schnurstracks auf mich zu. Ich wollte ihr ausweichen, aber dennoch rempelte sie mich mit ihrer Schulter an. Sie war deutlich kleiner als ich. Das wirklich merkwürdige folgte aber danach. Sie beschimpfte mich und fuchtelte mit ihrer Hand in meine Richtung, war gar nicht mehr einzukriegen.

Ich wunderte mich zwar nicht, wie die Passanten hatte ich auch alles in irgendeiner Form schon mal gesehen, ich fragte mich allerdings, was sie dazu veranlasst hatte. Seltsame Menschen gibt es wie gesagt eine Menge. Ich fragte mich stets, was dazu geführt hat, dass sie es wurden.

Wenn man lange genug in dieser Stadt wohnt, ist das eben so. Ich weiß auch gar nicht so genau, warum ich davon berichte. Es unterstützt meine These, dass man vielen gar nicht ansieht, dass sie verrückt sind, aber sonst?

Nun, sonst passte es auf eine groteske Art und Weise in die Situation. So begann also unser letzter Spaziergang zusammen. Die Stimmung hatte sich ohnehin seltsam angefühlt, die alte Frau also irgendwie ins Bild gepasst. Keiner von uns beiden hatte zu diesem Zeitpunkt offen ausgesprochen, dass es der letzte sein würde, aber nichts desto trotz war es uns beiden klar. Eigentlich war es auch erst unser zweiter Spaziergang. Wir hatten das sonst nie gemacht.

Der erste Mal war, als wir uns kennengelernt hatten. Es war im Frühling. Wir waren den Fluss entlang gegangen. Auf der Suche nach Gesprächsthemen.

Und dennoch bin ich mir immer noch nicht sicher, ob die Geschichte mit diesem Nachmittag im Frühling beginnt. Es kommt auch ein bisschen darauf an. Darauf, ob ich unsere Geschichte erzähle. Oder meine.

4

Seit fast vier Jahren wohne ich in dieser Stadt. Es ist meine erste Großstadterfahrung. Vorher war alles etwas beschaulicher. Aber ich war in meinen Zwanzigern zur Zeit des Umzugs und hatte genug von der Statik meiner Umgebung. Ich wollte Bewegung, ich wollte Melting Pot, ich wollte raus aus der Piefigkeit. Und außerdem war ich Single gewesen. Zum ersten Mal seit Jahren. Das passte nicht in das kleine Nest, in dem ich mich nicht mehr so recht zugehörig fühlen wollte. Zu wenig Auswahl. War doch die Wahrscheinlichkeit ohnehin schon so gering, jemanden kennen zu lernen, mit dem man häufiger ein Glas Wein trinken, häufiger plaudern, häufiger schlafen mochte. Der einem schlicht nicht so rasch auf den Geist geht. Ich weiß auch nicht, ob das nur mir so geht. Mir gehen Leute ungeheuer schnell auf den Geist. Es liegt beileibe nicht immer an ihnen. Vermutlich liegt es mehr an mir. Aber ich habe keine Ahnung warum. Und es sind unterschiedliche Formen von auf den Geist gehen. Mal langweilt mich mein Gegenüber. Oder es nervt mich. In den letzten Jahren hatte ich bereits geglaubt, gar nicht mehr die Fähigkeit zu besitzen, eine Beziehung zu führen. Falls es so etwas überhaupt gibt. Heute glaube ich eher, dass alles seine Zeit hat. Und es war keine Zeit für eine Beziehung gewesen.

Ich hatte trotzdem zwei geführt. Sie waren nur von kurzer Dauer. Rückblickend betrachtet war das von vorneherein klar. Wie oft tat man Dinge, ohne zu wissen warum, nur um sie einige Zeit später zu begreifen. Ich frage mich manchmal, was ich wohl morgen über das denken würde, was ich gerade dachte. War man eigentlich jemals so richtig zurechnungsfähig? Aber ich verheddere mich schon wieder.

Ich zog mit einem alten Freund zusammen. Wir kannten uns seit Jahren und verstanden uns wunderbar. Zwei Junggesellen in der Großstadt. Es waren die besten Vorzeichen. Wir wohnten in einer Altbauwohnung. Schon ein wenig heruntergekommen und immer mal wieder hatten wir einen Wasserhahn oder einen Lichtschalter in der Hand, nachdem wir ihn bedient hatten. Aber es hatte auch einen gewissen Charme. Nicht nur die Wohnung und ihr alter, knarzender Parkettboden, die Flügeltür, die zu meinem Zimmer führte, auch das Viertel in das es uns verschlagen hatte, hatte Charme. Es war ein bisschen zwielichtig. Drogenabhängige und Prostituierte bildeten ungefähr die Hälfte der Passanten. Dazwischen Bänker, auf dem Weg zum Bahnhof. Es war ein Potpourri aus nicht zueinander passen wollenden Gestalten. Und überall kleine Läden, Restaurants und Bistros. Keine Nationalität, die nicht vertreten war. Ein Kiosk direkt neben unserer Wohnung wurde von einem älteren Mann aus Eritrea geführt. Wir schlossen Freundschaft. Schließlich kristallisierte ich mich auch schnell als einer seiner besten Kunden heraus. Eine Flasche Wein, ein Päckchen Zigaretten. Ich war beinahe jeden zweiten Tag bei ihm. Wir unterhielten uns auch häufig einfach so ein paar Minuten. Über Fußball, über das Viertel, oder was auch immer gerade aktuell war. Ich mochte ihn gern leiden und ging immer zu ihm, auch wenn er teurer war, als die meisten seiner Kollegen. Aus Sympathie. Und ja, auch ein bisschen aus Faulheit.

Ich möchte versuchen, die Geschichte so ehrlich wie es mir eben möglich ist zu erzählen. Sicher, an jedes kleine Detail erinnere ich mich nicht mehr. Trotzdem. Ob das alles dann interessant ist? Oder überhaupt das Papier wert ist, auf dem es gedruckt ist? Ich weiß es nicht. Das muss wohl jeder für sich selbst entscheiden.

Ich fing erst nach dem Umzug an zu rauchen. Ich hatte es eigentlich ein paar Jahre vorher aufgegeben. Aber es passte einfach zu gut in mein neues Leben. Mein Mitbewohner rauchte ebenso. Wie ein Schlot. Das spielte bestimmt auch eine Rolle. Er hat mittlerweile aufgehört. Ich nicht. Rational betrachtet ist es ja eher eine ätzende Angewohnheit. Noch nicht mal der Gesundheit wegen. Ich finde, es obliegt jedem selbst, was er mit der eigenen Gesundheit anfängt. Aber es stinkt nun einmal schlichtweg. Die Kleidung stinkt. Alles stinkt. Der Atem. Man traut sich kaum jemanden zu küssen, der nicht raucht, aus Angst, er fände es eklig. Und doch ist es auch immer wieder zauberhaft. Es kann zwei Menschen auch verbinden. Sogar überhaupt erst einander nahe bringen.

So würde er zum Beispiel schon nicht mehr neben mir stehen, würden wir nicht beide rauchen. So waren wir also noch ein paar Minuten beisammen. Ein paar Momente länger. Bevor sein Rücken hinter einer Straßenbiegung verschwinden würde.

You say you'll leave me

And when the sun is low

And the rays high

I can see it now

I can feel it die

5

Ich studierte noch. Damals, als ich herzog. Ohne Vergnügen. Ich tat es mehr aus Pflichtbewusstsein meinen Eltern gegenüber als aus tatsächlicher Begeisterung heraus. Zu Beginn, die ersten zwei, vielleicht auch drei Semester war es noch auszuhalten gewesen, konnte ich der Materie sogar etwas abgewinnen. Ich habe nicht mit Genuss gelernt, das nicht. Aber ich glaube, das habe ich noch nie wirklich getan, gleich um was es ging, zumindest nicht im Zusammenhang mit schulischem Lernen, universitärem Lernen. Das größte Vergnügen hatte ich immer an Dingen, die ich mir selbst beibrachte.

Ich studierte also ohne es wirklich zu wollen, oder zu wissen, warum. Ich tat es der monetären Absicherung wegen. Aber das war keine Triebfeder, die aus mir selbst kam. Eher, weil ich dachte, dass das von mir erwartet wurde. Wurde es vermutlich auch.

Zum Glück nahm das Studium nicht allzu viel Zeit in Anspruch. Es ging auch so. War ich gut? Nein. Aber gut genug zumindest.

Das Jahr kippte grade vom Sommer in den Herbst. Es war immer windig. Egal ob Sonne oder Regen. Ich bemerkte bald, dass es an der Stadt lag. Die Häuserschluchten bildeten enge Korridore. Die ersten Wochen störte es mich kaum. Es war noch warm genug, dass der Wind eher eine willkommene Abkühlung bot. Lediglich meine Frisur litt darunter. Kaum hatte ich ein paar Schritte vor die Haustür gesetzt, ähnelte sie bedenklich einem Vogelnest. Regelmäßig.

Entsprechend erreichte ich die Universität am ersten Tag des neuen Semesters. Zerzaust und ahnungslos. Ich wusste weder wo irgendetwas war, noch welche Kurse ich zu belegen hatte. Ich war hoffnungslos überfordert. Ich hasste solche Situationen. Ungewohnte Situationen. Und ich hasste es um Rat zu fragen. Ich hatte mich vorher ein wenig durch die Internetseite der Universität geklickt. Ein paar Informationen hatte ich auch zu Tage gefördert, aber eigentlich wusste ich nichts. Das Gelände war riesig. Unzählige andere Studenten kamen mir entgegen. Ich musterte sie im Vorbeigehen und versuchte zu erraten, was sie wohl studierten. Manchen sah man es an. Sie glauben das seien alles Klischees? Sind es nicht. Kleidung, Gang, Frisur. Man muss sich schon ein bisschen den anderen Löwen im eigenen Gehege anpassen. Nicht zu sehr auffallen.

Einmal musste ich nach dem Weg fragen, was mir unangenehm war, dann fand ich den Vorlesungssaal, in den ich hingehörte. Ich ließ neunzig Minuten quälende Langweile über mich ergehen. Die Professorin war recht jung. Blond, korrekt gekleidet. Aber vor allem ermüdend. Sie schweifte ständig ab. Und von dort, wohin sie abschweifte, schweifte sie erneut ab. Inhaltlich hätte ich das alles in zehn Minuten nachlesen können. Sie brauchte eineinhalb Stunden. Umso erleichterter war ich, als es endlich zu Ende war. Ich ging die große Treppe hinunter. Zusammen mit all den anderen. Wie eine große Schlange bewegte sich der Mob gen Ausgang. Draußen angekommen, pfriemelte ich ein Päckchen Zigaretten aus meinem Mantel und zündete mir eine an. Die Sonne stand hoch. Ich kniff die Augen zusammen und nahm einen ersten Zug. Was eine Erlösung! Es war die einzige Vorlesung an diesem Tag, zumindest vermutete ich es. Ich hatte ja keinen Stundenplan oder auch nur so etwas ähnliches.

Plötzlich sprach mich jemand an. „Weißt du das Passwort für die Materialien?“ Ich sah ihn an. Etwas größer als ich. Zotteliger Bart. Übergewicht. Rötliche Haare, die bereits hier und da ausfielen. Braune Cordjacke. Ausgelatschte Schuhe.

War er in der selben Vorlesung gewesen wie ich? Überhaupt, studierte er das selbe wie ich? Er sah aus wie der Nerd-König! Ich weiß noch, dass es genau diese Worte waren, die meine Gedanken formten. Überheblich? Ja, möglich. Aber es waren nun mal meine Gedanken und wie ich bereits geschrieben habe, möchte ich die Geschichte ehrlich erzählen, auch auf die Gefahr hin, dass ich nicht sonderlich sympathisch herüberkomme dabei. Ehrlich gesagt, bin ich mit nicht sicher, ob ich mich selbst sympathisch finde. Halbwegs wahrscheinlich.

Ich sagte ihm, dass ich keine Ahnung hatte. Er hatte auch keine. Er rauchte ebenfalls. Ich sah mich um. Ich war der „Neue“, hatte ich schließlich während des Studiums die Universität gewechselt. Alle anderen waren von Anfang an hier. Vielleicht hatte er es deshalb auf mich abgesehen. Ich kannte ja niemanden. Es wäre naheliegend gewesen, sich mit dem schwächsten Jungtier, um bei der Löwenmetapher zu bleiben, zu verbünden. Wahrscheinlich hätte ich ohne großen Aufwand meinerseits einige Vorteile daraus gezogen. Informationen zum Beispiel, über Abläufe, die richtige Kurswahl und so weiter.

Ich wollte dennoch nicht, antwortete knapp. Manchmal kettet einen eine Zigarette auch fest. Ich konnte nicht gehen, bevor ich nicht fertig geraucht hatte. So komisch das klingt. Nach ein paar Minuten hatte ich es überstanden. Ich erfand eine Ausrede, warum ich nach Hause gehen musste.

„Wir sehen uns!“, sagte er noch.

„Ja. Genau!“, antwortete ich.

Tatsächlich logen wir beide.

6

In den Geschichten der meisten Menschen spielen wir ja bestenfalls die Rolle eines Statisten. Wie der Taxifahrer, mit dem man zwei Worte wechselt, ehe man ihn vergisst. Oder die Kassiererin an der Supermarktkasse. Das ist vermutlich die geringste Form von Kontakt, die man haben kann. Nach ein paar Tagen verschwimmen die Gesichter zu Schemen und verblassen daraufhin gänzlich. Als hätte man die entsprechende Datei von einer Festplatte gelöscht. Das Gehirn schafft Platz für Neues oder Wichtigeres.

Ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Es ist auch egal. Ich möchte keine Chronologie der letzten Jahre schreiben. Es geht mir viel mehr darum alles zusammenzutragen, was dazu geführt hat, dass das was passiert ist, passiert ist. Die Reihenfolge spielt dabei keine Rolle.

Jedenfalls war es ein Wochentag. Zwei Freundinnen kamen abends vorbei. Auf ein Glas Wein. Oder vielmehr Gläser. Meistens war unsere Wohnung der Ort, an dem wir uns versammelten. Wir wohnten am zentralsten. Und wir hatten genug Platz. Mein Mitbewohner war nicht zuhause an diesem Abend. Also saßen wir zu dritt im Wohnzimmer, plauderten und tranken Wein. Ich, Julia und Marie. Ja, ich habe mich zuerst genannt. Hätte ich mich nicht zuerst nennen sollen? Egal, mit dem Knigge hielt ich es ohnehin nicht so streng.

Der Bass aus der Wohnung über uns begleitete unsere Gespräche. Im Treppenhaus hing ein Zettel, der alle Mitmieter einlud, einer Einweihungsparty beizuwohnen. Beides hing wohl zusammen.

Marie erzählte die meiste Zeit. Von ihrem Studium (Kunst), dem kürzlich gestorbenen Hund und von der Schwierigkeit ein Oberteil zu finden, in das ihre dicken Titten passen würden. Ihre Wortwahl, nicht meine.

„Was ist bei dir eigentlich so los?“, fragte sie dann zusammenhanglos und unterbrach ihren Redeschwall.

Ich sah sie verdutzt an und kratzte mich am Kopf. Ich tat das tatsächlich, wenn ich nachdachte. Oder mir etwas unangenehm war. In diesem Fall eher letzteres. Wobei, ich musste wirklich überlegen, was bei mir los war. Oder vielmehr, ob überhaupt irgendetwas los war bei mir.

„Hm, nichts besonderes. Passt schon alles soweit!“ Ich schenkte mir Wein nach.

„Auch noch?“, fragte ich und sah nacheinander Marie und Julia an. Einstimmiges Nicken. Die erste Flasche war leer. Ich stand auf, um eine weitere zu holen, verbunden mit dem positiven Nebeneffekt, Zeit zu gewinnen.

Ich kam zurück. Scheinbar war noch kein neues Thema auf der Tagesordnung.

„Was machen die Typen?“, fragte mich Marie.

„Same old. Hier und da mal was. Aber nichts wirklich interessantes. Oder zumindest nichts, was erwähnenswert wäre.“

„Hm, was ist mit Can?“

„Nicht mehr viel. Wir sehen uns noch ab und zu. Schreiben noch miteinander.“

„Kein Sex mehr?”

„Doch. Das schon.“

„Hm.“ Mehr entgegnete sie mir nicht.

Mehr war es nicht. Can war mein Ex-Freund. Es hatte nicht wirklich lange gehalten. Wir trafen uns jedoch noch gelegentlich, weil wir uns gut verstanden. Meistens hatten wir auch Sex, weil er stets gut war. Aber zumindest von meiner Seite aus war da nicht mehr als Freundschaft. Wie es umgekehrt aussah, wusste ich nicht. Aber so war es mir am liebsten. Wie es damals war. Ohne Verpflichtungen. Ohne Abhängigkeit. Und auch wenn ich es gewesen war, der die Beziehung damals beendet hatte, sah ich es nicht als meine Aufgabe an, regelmäßig abzuklären, ob es für ihn in Ordnung war so, ob es seine Gefühle nicht verletzte. Er war ein erwachsener Mann.

Ich zündete mir eine Zigarette an. Wir rauchten alle drei. Marie und Julia selbstgedrehte, ich ganz normale. Zwar war es billiger, sie sich selbst zu drehen, aber ich mochte es nicht. Einerseits konnte ich es nicht, andererseits war es mir zu umständlich. Wenn der Moment sich anfühlte, als verlangte er nach einer Zigarette, wollte ich sie sofort rauchen. Kurz das Feuerzeug schnippen, fertig. Nicht erst mühsam Tabak in ein Stück Papier stopfen. Das war wenig spontan.

„Wollen wir nicht einfach mal oben vorbei schauen?“, fragte Julia. Sie hatte bereits länger nichts mehr gesagt.

7

Vor ein paar Jahren, als ich noch in einer anderen Stadt gewohnt habe, damals zusammen mit zwei Freunden und irgendwann einer der beiden beschlossen hatte, auszuziehen, begann die Suche nach einem neuen Mitbewohner. Mindestens zwei dutzend Männer und Frauen hatte ich in diesem Zusammenhang durch die Wohnung geführt und kennen gelernt. Die Entscheidung, mit wem man Zusammenleben will, sollte man sich schließlich gut überlegen. Es waren merkwürdige Gestalten darunter, aber auch wirklich nette. Den Zuschlag jedenfalls erhielt ein Psychologie-Student. Rückblickend war es eine gute Wahl gewesen. Wir verstanden uns gut.

An einem Abend nahm er mich mit zu einer Party von Kommilitoninnen von ihm. „Heiße Psychologinnen, da kannst du unmöglich nein sagen!“, hatte er gesagt. Er wusste es ja nicht besser. Ich auch noch nicht wirklich zu diesem Zeitpunkt. Zudem hatte meine Ex-Freundin auch Psychologie studiert. Es reizte mich also mäßig. Dennoch ging ich mit.

Der Abend wäre an sich nicht der Rede Wert gewesen. Ich kannte niemanden auf der Party. Zumindest wusste ich noch nicht, dass ich es sehr wohl doch tat. Und somit lief es auf belanglosen Smalltalk hier und dort hinaus. Ein paar Sätze mit einem Mädel und ein paar mit einem anderen. Irgendwann beschloss ich mich an den Tisch, auf dem das Essen, oder besser gesagt, die Snacks standen, zu setzen. Auch der Alkohol stand auf dem Tisch, was ebenfalls praktisch war. Kostenloser Alkohol noch dazu. Als Student war dies eine Gelegenheit, die man für gewöhnlich nicht ausschlug. Ich fingerte in diversen Schälchen herum. Weintrauben, Käse, Salzstangen. So ein Zeug eben. So sah ich wenigstens beschäftigt aus. Und stand nicht einfach nur so in der Landschaft herum. Wie eine Lampe, oder eine Zimmerpflanze.

Nach einer Weile setzte sich ein durchaus hübsches Mädchen neben mich. Vordergründig, um sich ein neues Getränk zu mischen. Aber sie sprach mich an. Nicht umgekehrt. Sie stand auch nicht wieder auf. Wir kamen ins Gespräch.

„Woher kennst du Tanja eigentlich?“, fragte sie mich recht am Anfang unseres Gesprächs.

„Wen?“, entgegnete ich, während ich mir ein Bier mit einer Plastikflasche öffnete. Ich rauchte zu der Zeit nicht, also hatte ich auch kein Feuerzeug zur Hand.

„Na Tanja!“ Sie klang so, als müsste man Tanja auf jeden Fall kennen.

„Wer soll das denn sein?“ Ich überlegte. Nein, ich konnte nichts mit dem Namen anfangen.

„Sie wohnt hier!“ Sie sah mich schräg an. „Du bist auf ihrer Party!”

Damit wusste ich zwar immer noch nicht, wer Tanja war, aber zumindest konnte ich meiner Gesprächspartnerin eine Antwort geben.

Und ja, ich muss sie im weiteren Verlauf Gesprächspartnerin nennen. Denn ich weiß ihren Namen leider nicht mehr. Die letzte Frau, mit der ich geschlafen hatte bis zum heutigen Tag, und ich weiß ihren Namen nicht mehr. Aber es liegt ja schon mehr als fünf Jahre zurück.

Schon wieder verliere ich mich in Nebensächlichkeiten. Warum ich diese Story überhaupt erzähle, ist, weil ich das Mädchen an diesem Abend zum zweiten Mal kennen lernte. Falls es so etwas gibt.

Und das gleiche passierte mir an dem Abend, an dem wir auf die Einweihungsparty über meiner Wohnung gingen. Auch wenn es Jahre später geschah, ähneln sich beide Geschichten. Sie skizzieren besser, wer ich zu der jeweiligen Zeit war, als es alles andere könnte.

Wer auch immer das Drehbuch zu meinem Leben schrieb, ihm schienen nach einem viertel Jahrhundert bereits die Ideen auszugehen. Er besetzte die Nebenrolle einfach mit einem Kerl anstatt einem Mädel und hoffte, dass ich es nicht bemerkte. So kam es mir zumindest vor.

In jedem Fall sind sich beide Storys so ähnlich, dass ich sie auch genau so gut auf einmal erzählen kann:

8