Der Tod des Maarten Koning - J. J. Voskuil - E-Book

Der Tod des Maarten Koning E-Book

J. J. Voskuil

4,9

Beschreibung

Die Jahre 1987 bis 1989. Maarten Koning ist in Frührente und versucht, seine Tage mit kleinen Arbeiten im Haus, ausgedehnten Spaziergängen mit seiner Frau Nicolien und Fahrradtouren durch die Weiten der niederländischen Landschaft zu füllen. Das Büro lässt ihn trotzdem nicht los: Vor seiner Pensionierung hatte er darum gebeten, noch eine Weile den Schreibtisch im Dachkämmerchen benutzen zu dürfen – um Projekte abzuschließen, wie er den Kollegen erzählt, in Wahrheit jedoch eher, um den Entzug von Wichtelmännchen und Mittwinterhörnern etwas weniger kalt zu halten. Doch die Atmosphäre im Büro hat sich nach dem Weggang Maartens geändert. Unbehagen beschleicht ihn, als er mit ansehen muss, wie ein neuer Abteilungsleiter das zerstört, was er aufgebaut hat. Die meisten seiner ehemaligen Mitarbeiter folgen klaglos, wenn nicht gar begeistert, dem neuen Kurs. Maarten spürt eine zunehmende Feindseligkeit seiner ehemaligen Abteilung ihm gegenüber. Als er eines Morgens erscheint, um sich an seinen Schreibtisch zu setzen, muss er eine erschütternde Entdeckung machen.

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Sammlungen



Inhaltsverzeichnis
Cover
Inhalt
Titelseite
(1987)
1988
1989
Liste häufig vorkommender Personen in Das Büro, Band 7
Impressum und Copyright

J. J. Voskuil

Das Büro 7

Der Tod des Maarten Koning

Aus dem Niederländischen von Gerd Busse

(1987)

»Was willst du jetzt machen?«, fragte sie, als sie mit dem Frühstück fertig waren.
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Du willst doch nicht abräumen? Denn das mache ich schon.«
»Nein«, sagte er vage.
»Oder wolltest du abräumen?«
Er zögerte. »Ich glaube schon, dass ich das getan hätte.«
»Aber es ist doch nicht Sonntag?«
»Nein, das stimmt.«
»Warum solltest du dann also jetzt mit einem Mal abräumen wollen?«
»Natürlich, weil ich jetzt nichts mehr zu tun habe.«
»Aber machst du es dann auch so, wie ich es mache? Denn erst müssen die Katzen ein bisschen Butter bekommen. Und Jozefien will immer ein paar von den Krümeln haben. Ich mache das alles nach einem festen Schema.«
Er vermutete, dass sie ebenfalls nicht wollte, dass er den Verteiler auf den Wasserhahn schraubte, wie er es sonntags immer machte. Seitdem dieser sich einmal vom Gewinde des Hahns gelöst hatte, wollte sie ihn nicht mehr benutzen. Und er hatte eine Abneigung dagegen, genau nach ihren Vorgaben arbeiten zu müssen. Das würde er sich niemals merken. »Ich werde es natürlich auf meine Weise machen«, gab er zu.
»Dann mache ich es lieber selbst.«
»Gut.«
»Oder willst du?«
Ihre Unsicherheit irritierte ihn. »Lass uns das doch jetzt nicht sofort entscheiden. Das ergibt sich doch von selbst?«
»Aber dann muss es schon so gemacht werden, wie ich es will!«
»Natürlich.«
»Denn sonst will ich es nicht!«
»Das verstehe ich. Du darfst entscheiden.«
»Also, was machst du jetzt?«
»Jetzt mache ich noch nichts.«
Es klingelte.
Sie stand auf. »Machst du mal auf? Ich bin noch nicht angezogen.«
Er erhob sich träge. So früh am Morgen war er auf Kontakt mit Fremden noch nicht eingestellt.
»Dann schnell! Sonst ist er wieder weg!«
Während er den Flur entlang zur Wohnungstür ging, klingelte es erneut. Er nahm den Hörer der Gegensprechanlage vom Halter. Straßengeräusche. »Wer ist da?«, fragte er. Keine Antwort.
»Wer ist es?«, fragte sie hinter ihm.
»Ich weiß es nicht.« Er schloss die Tür auf und ging in den Hausflur, die Treppe hinunter. Von unten hörte man eine dumpfe Stimme rufen. Der Postbote stand in der offenen Tür, mit einem Päckchen für die Nachbarn von oben. Maarten zeichnete gegen, sortierte die übrige Post und stieg wieder die Treppe hinauf. Nicolien stand noch im Flur. »Wer war das?«
»Der Postbote.«
»Wenn er das nur nicht jeden Morgen macht.«
»Es war ein Päckchen für oben.«
Sie ging unter die Dusche.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, blieb einen Augenblick unschlüssig am Schreibtisch stehen und setzte sich dann auf die Couch. Was nun? Der Gedanke, dass er nicht mehr ins Büro musste, gab ihm das Gefühl, Freiraum zu haben. Es war angenehm, doch er fühlte sich auch unsicher, als wäre er auf hoher See, ohne irgendwo eine Bake zu sehen, und der Kompass wäre kaputt. Aus der Ferne betrachtete er den Karton mit den Schlittschuhen auf seinem Schreibtisch und den Packen Fahrradkarten, überlegte, ob er sie sich ansehen sollte, besann sich jedoch eines anderen. Erst einmal hinsetzen. Er nahm die kurze Liste mit Arbeiten, die er in den vergangenen Wochen erstellt hatte, von dem kleinen, niedrigen Tisch und setzte das Moskitonetz mit darauf. Das Telefon klingelte. Er nahm ab.
»Ritsaert hier!«
»Ritsaert!«
»Wie geht es, Maarten?«
»Ich glaube, ganz gut.«
»Wie fühlst du dich, jetzt, wo du in Frührente bist?«
»Dazu lässt sich noch wenig sagen. Damit bin ich erst seit einer halben Stunde beschäftigt.«
»Selbstverständlich!«
»Ich habe das Gefühl, Raum zu haben.«
»Na, du wirst merken, wie schnell dieser Raum gefüllt ist.«
Nicolien kam halb angekleidet ins Wohnzimmer und gab ihm einen Zettel: »Denk daran, den Müllsack nach draußen zu bringen!«
»Ja, denn ich kriege gerade einen Zettel, dass ich den Müllsack nach draußen bringen soll.«
»Siehst du? Mach das erst mal! Grüß Nicolien.«
»Und du Tanneke.« Er legte den Hörer auf und erhob sich. »Ich soll dich grüßen.«
»Wie kannst du Ritsaert bloß diesen Zettel vorlesen?«, sagte sie verstimmt. »Das geht doch nicht!«
»Das geht schon.« Er verließ das Zimmer, hob den Müllsack aus dem Behälter, schlang ein Plastikbändchen drumherum und brachte ihn nach unten. Als er zurückkam, war Nicolien wieder im Schlafzimmer. Er setzte sich erneut auf die Couch, auf einen Trieb der Stephanotis, woraufhin die Pflanze vornüberkippte, neben ihn auf den Teppich fiel und dabei einen Haufen Erde verschüttete. Er stand wieder auf und holte den Tischbesen. So kriege ich meine Zeit als Rentner auch herum, dachte er misslaunig. Und er stellte fest, dass seine Nerven blank lagen.
*
Der Wecker klingelte um halb acht und holte ihn aus einem tiefen Schlaf. Die Katzen kamen herein. Goofie blieb vor seinem Bett sitzen, wartete, bis er sich aufrecht hingesetzt hatte, und sprang dann auf dem Weg zu Nicolien neben ihn. Maarten rasierte sich, ging unter die Dusche, zog die Uhr auf und setzte sich an den Frühstückstisch. Es wurde bereits warm. Ein wolkenloser, blauer Himmel. Nach dem Frühstück ging er nach draußen, erst zum Friseur und anschließend, auf einem Umweg, zum Fotogeschäft. Er fühlte sich merkwürdig, ganz leicht, ganz aufmerksam, spürte Nervosität, die im nächsten Moment, als ihm bewusst wurde, dass es nichts gab, was er tun musste, in ein Gefühl von Weite umschlug. Er betrachtete die Häuser und bemerkte Details, die er lange nicht mehr gesehen hatte. Bei der Westerkerk saß er eine Weile auf dem im Bau befindlichen Homomonument am Taxistand. Ein freier Mann. Er ging durch die Oude Leliestraat zum Singel und kehrte entlang der Auktionshalle von De Zon, deren Türen offen standen und in der die Lampen brannten, zurück. Als er wieder in die Wohnung kam, war Nicolien im Schlafzimmer und saugte Staub. Er montierte einen Kartenhalter an sein Fahrrad, stellte die Bremsen an Nicoliens Fahrrad nach und brachte seine alten Tagebücher und seine Schreibmaschine ins hintere Zimmer, wo es kühler war. Hinter der Tür zur Dusche rumpelte die Waschmaschine. In der Küche, aus der Geräusche durch den Lichtschacht zu ihm drangen, machte Nicolien den Abwasch. Ihm fiel ein, dass die Plastikwanne aus der Küche in der vergangenen Nacht mit einem Knall heruntergefallen war, als das Loch, an dem man sie an die Wand hängen konnte, aufgerissen war, und dass er sich vorgenommen hatte, ein neues Loch zu bohren. Nicolien war in der Küche mit den Blumen beschäftigt. Er nahm die Wanne mit zum Abstellraum und bohrte mit einiger Mühe ein Loch hinein. Als er sie zurückhängen wollte und sich von hinten über Nicolien beugte, zeigte sich, dass er das Loch zu klein gemacht hatte. Er setzte sich auf den Küchenhocker, um es etwas weiter aufzubohren, und nahm schließlich das Werkzeug und den Hocker mit zum Abstellraum. »Was machst du denn da?«, fragte sie. »Du nimmst den Hocker doch nicht mit? Ich glaube, dass dir das alles ein bisschen zu viel wird.« Er suchte einen Nagel ohne Kopf, um den alten Nagel zu ersetzen, und ging wieder zurück, doch Nicolien wollte ihn nicht mehr in der Küche haben. »Du willst das doch wohl nicht machen, während ich hier stehe?« Dann eben seine alten Tagebücher abtippen. Als er die Schreibmaschine im Hinterzimmer auf den Tisch gestellt hatte und den Deckel abnahm, kam sie mit den Blumen herein. »Du willst doch jetzt nicht tippen?«, sagte sie erschrocken. »Das geht nicht wegen der Nachbarn! Dann mache ich das Fenster zu!«
»Dann setze ich mich vorn hin.«
»Bei dieser Hitze? Trink jetzt erst mal Kaffee!«
Da saß er nun. Ein frustrierter Rentner.
*
Er hörte sich die Bänder mit der Lieblingsmusik seiner Leute an. Nur Bart fehlte. Joost, Richard und Sien hatten es bei Musik belassen, die anderen hatten einen Kommentar hinzugefügt. »Der Titel So long ist ein bisschen symbolisch«, hatte Tjitske geschrieben. »Nach deinem Abschied hoffentlich: Auf Wiedersehen.« Da waren mehr solcher persönlichen Bemerkungen. Frits fand, dass Van Morrison, von dem er Listen to the Lion aufgenommen hatte, Maarten durch seine Introvertiertheit und Menschenscheu ein wenig ähnelte, und Gert konnte sich nicht mehr vorstellen, dass er bei seinem Vorstellungsgespräch so offenherzig gewesen war, als ultimativen Test seiner Eignung ein Tänzchen auf dem Tisch machen zu wollen, nehme dies jedoch zum Anlass, nun auch mit einem Tanz von Michael Praetorius zu enden, nicht, weil er so froh über diesen Abschied wäre, sondern weil er glaubte, dass es mit ihm selbst doch noch gut enden würde. »Wie ein Haydn-Trio hast du die Abteilung aufgebaut«, schrieb Lien. »Wir werden dafür sorgen, dass das nicht verloren geht, nur so wie bei Haydn wird das Trio nie mehr klingen.« Und Joop verriet, dass eine repräsentative Auswahl auf einen Afterwitz und Buchstabenverdrehungen hinauslaufen würde: also »die zweite Bomanze von Reethoven« mit einer kurzen Sequenz, auf die bei ihr zu Hause der kulturell hochstehende Text »Und der Herr von Everdingen saß auf dem Klo und war am Singen« geträllert würde. Das alles war so typisch, dass es ihn, während er mit den Kommentaren vor sich der Musik lauschte, von Zeit zu Zeit rührte, wobei ihm zu seinem Ärger Tränen in die Augen stiegen.
*
Er holte die erste Literflasche des belgischen Bieres aus dem Kühlschrank und stellte sie mit den Gläsern, die er dazubekommen hatte, auf die Fensterbank. Ein Gueuze Girardin. Sie beobachtete es mit Argwohn. »Du wirst sehen, dass es nicht schmeckt«, sagte sie. »Ich halte nichts von diesen ausländischen Bieren.«
»Wart nur mal ab.« Er versuchte, den Verschluss abzupulen wie bei einer Weinflasche, doch es gelang ihm nur zur Hälfte. Als er den zweiarmigen Korkenzieher benutzte, glitt dieser an dem überstehenden Kopf des Korkens ab und ratschte ihm in die Hand. Ein schlechtes Vorzeichen. Er nahm einen anderen Korkenzieher. Ein leichtes Kräuseln stieg aus der Flasche auf, als er den Korken herausgezogen hatte, danach begann das Bier wie Champagner zu schäumen. Im Glas sah es orange aus. Sie nahmen gleichzeitig einen Schluck.
»Bah!«, sagte sie. »Genau wie Superol!«
»Ein bisschen süß«, musste er zugeben, obwohl er bereit war, es lecker zu finden.
»Es ist nicht süß! Es ist sauer!«, sagte sie voll Abscheu. »Und es ist wie Superol!« Sie schob das Glas weg. »Ich trinke das nicht! Wenn der Rest auch so ist …«
Er trank sein Glas aus, mit zunehmendem Widerwillen. Es kostete ihn Mühe, ihr recht zu geben. »Ich finde es trotzdem interessant, es einmal zu trinken.«
»Was soll daran denn interessant sein? Normales Pils ist doch viel leckerer? Dann kann man lieber normales Pils trinken!«
»Aber das weiß man doch vorher nicht.«
»Dann weißt du es jetzt! Jetzt musst du es nicht noch einmal probieren!«
»Du bist eben ein konservatives Knöllchen«, sagte er mit einer Mischung aus Rührung und Verärgerung.
»Ich verstehe nicht, was daran konservativ ist! Dass ich leckeres Bier mag?«
»Nein, dass du es nicht probieren willst.«
»Aber warum sollte ich es probieren, wenn ich schon im Voraus weiß, dass es mir sowieso nicht schmeckt?«
»Weil du es nicht weißt.«
»Aber es schmeckt doch auch nicht?«
Er schwieg. Dieser Logik hatte er nichts entgegenzusetzen.
*
»Wollen wir Fahrrad fahren?«, schlug er vor, als sie aus dem Bad kam.
»Und was ist mit dem Haushalt?«
»Stimmt«, gab er zu.
Es war einen Moment still. Er griff zu seiner Liste mit den Arbeiten, um nachzusehen, was er stattdessen machen könnte.
»Wo wolltest du denn hinfahren?«
»Ans Alkmaardermeer?«
Sie schwieg.
»Gut, lass uns dann ruhig Fahrrad fahren«, sagte sie schließlich.
Sie fuhren aus der Stadt hinaus in Richtung der Hembrugfähre. Ein Wetterumschwung lag in der Luft. Es war diesig und kühler als an den vorangegangenen Tagen. Auf der Höhe des Elektrizitätswerks sah er im Wasser, das zum Werk hinfloss, eine junge Elster verzweifelt flattern. Eine zweite Elster saß auf dem Brückengeländer und kreischte. »Eine Elster!«, rief er. Er fuhr die Böschung am Kanal hinauf, bis er dicht bei dem Tier war, ließ sein Fahrrad fallen, holte seine Plastikjacke aus der Tasche und versuchte, den Vogel damit vom Rand aus zu erreichen. Doch das Tier arbeitete sich weiter zur Mitte und wurde dort von der Strömung mitgezogen. Die Elster flatterte noch, versank jedoch jedes Mal tiefer. Er zögerte. »Spring dann rein!«, rief Nicolien in Panik. Er zog hastig seine Kleider aus und sprang, ohne weiter nachzudenken, ins Wasser. Das Tier trieb zwanzig Meter vor ihm in Richtung Elektrizitätswerk. Der Kopf war bereits unter Wasser. Ihm war klar, dass es hoffnungslos war, doch er strengte sich bis aufs Äußerste an, um das Tier einzuholen. Unter der Brücke bekam er es zu fassen. Es bewegte sich nicht mehr. Als er versuchte, mit einer Hand zu schwimmen, die Elster in der anderen, hoch über dem Wasser, spürte er die Kraft der Strömung, die ihn zum Elektrizitätswerk zog. Erschöpft ließ er die Elster los und klammerte sich mit beiden Händen an einem Pfeiler fest, während er mit den Füßen Halt am Beton suchte.
»Wo bist du?«, hörte er Nicolien rufen.
»Ich werde mitgezogen!«, rief er. Unter der Brücke klang es hohl und tonlos.
»Hast du sie?«
»Ich werde mitgezogen!«
»Wo bist du? Was soll ich tun?«
»Außenrum laufen!« Sein Herz schlug wie wild. Plötzlich konnte er sich vorstellen, weshalb es schwer ist, gegen den Strom zu schwimmen, doch diese Einsicht kam zu spät.
Nicolien erschien unter der Brücke an der Betonbefestigung. »Was soll ich tun?«, fragte sie ängstlich. »Wo ist die Elster?«
»Die ist tot«, sagte er, während er sich krampfhaft festklammerte, den Kopf gerade noch über Wasser.
»Warum kommst du denn nicht hierher?«
»Weil ich es nicht kann.«
»Soll ich dann Hilfe holen?«
»Nein, keine Hilfe!« Er maß die Entfernung mit seinem Blick, setzte die Füße gegen den Pfeiler, stieß sich kräftig ab und erreichte ein paar Meter weiter stromabwärts die Betonbefestigung, an der er sich anschließend mit Mühe hinaufzog.
Sie gingen zurück zu den Fahrrädern. Erschöpft setzte er sich ins Gras. Sein Bein blutete an verschiedenen Stellen, die Hand ebenfalls. Seine Unterhose war durch das dreckige Wasser schwarz geworden. Typhus, die Weilsche Krankheit, Hepatitis, Wundstarrkrampf – er überlegte, was er alles bekommen konnte. Er zog die Unterhose aus und trocknete sich mit ihrem Pullover ab. Danach zog er unter Mühen Hemd und Hose an. Er ärgerte sich über den Vogel.
»Du siehst ganz blass aus«, sagte sie.
So fühlte er sich auch.
Ein paar Männer kamen auf dem Fahrradweg entlang und hielten an. Sie hatten Gerätschaften bei sich und begannen zu arbeiten. Maarten und Nicolien stiegen auf ihre Fahrräder. Ihm zitterten noch die Beine. Ein Stück weiter stieg er wieder ab und legte sich ins Gras.
»Sollen wir nach Hause fahren?«, schlug sie vor.
»Nein, das geht schon wieder vorbei«, wehrte er ab.
Als sie eine Viertelstunde später aufstanden, hatte die Müdigkeit ein wenig nachgelassen. Die Fähre, ein paar hundert Meter weiter, wartete mit halb heruntergelassenen Schranken auf sie. Maarten dankte dem Fährmitarbeiter. Der lachte. »Guten Morgen«, sagte er.
Sie fuhren durch Westzaan und tranken Kaffee bei De Prins. Es war still auf der Straße. Ein normaler Wochentag. Still und sonnig. Allmählich bekam er Urlaubsgefühle.
»Warum lachst du?«, fragte sie.
»Ich lache über meine Todesanzeige.«
»Deine Todesanzeige?«
»Ja, wenn ich ertrunken wäre.« Er hatte stilles Vergnügen daran. »Dann hättest du da hineinsetzen können: ›Er kam bei der Rettung eines Vogels um. So war sein Leben.‹« Er lachte.
Sie musste ebenfalls lachen. »Aber eigentlich ist es nicht zum Lachen«, fand sie. »Der arme Vogel.«
Sie fuhren auf dem Radweg zum See, aßen ihr Brot auf einer kleinen Bank und beobachteten die weißen Segelboote. Später tranken sie noch ein Mineralwasser bei der Buitenhuisfähre.
»Empfindest du denn gar keine Wehmut über deinen Abschied?«, fragte sie.
Er dachte kurz darüber nach. »Nein.«
»Aber du findest deine Leute doch nett?«
»Ich finde sie schon nett, aber ich empfinde keine Wehmut.«
»Was bist du doch für ein komischer Mann. Sogar ich habe da ja nostalgische Gefühle.«
»Vielleicht kommt das noch.«
Wie es aussah, traute sie dem nicht so ganz.
»Ich glaube, dass ich einfach keine Phantasie habe«, schloss er.
*
Als er im Bett lag, fiel ihm ein, dass er die Wohnungstür nicht abgeschlossen und den Durchlauferhitzer nicht auf niedrig gestellt hatte, zwei Automatismen, die, wie auch das Waschen seiner Haare am Samstag, offenbar mit dem Büro verbunden gewesen waren. Merkwürdig. Kein Samstag, kein Feierabend mehr. Der Gedanke hielt ihn wach. Er hatte das Gefühl, in einem riesigen, unmöblierten Raum zu liegen. Seine Gedanken irrten umher, ohne Halt zu finden. Es war nicht beängstigend, es war desorientierend. Erst als die Amsel zu singen begann, schlief er ein.
*
Am Singel holte er Blumen und an der Ecke Heiligeweg ein Pfund getrocknete Pflaumen. Es war bewölkt, die Luft war feuchtkalt. Er ging langsam, nahm sich Zeit bei allem, was er sah, und war zufrieden. Als er wieder zu Hause war, räumte er das kleine Bücherregal vor dem rechten Fenster neben dem Schreibtisch leer, nahm die Pflanzen herunter, zog die Bücher heraus und schraubte das Türchen los, das ursprünglich zu Nicoliens Schreibtisch gehört und das er an der offenen Rückseite des Regals befestigt hatte, um zu verhindern, dass die Katzen dort an den Büchern kratzten. Nicolien hatte den kleinen Schreibtisch, den er an seinem fünfzehnten Geburtstag von seinen Eltern bekommen hatte, nun, da er nicht mehr arbeitete, für sich beansprucht und wollte jetzt das Türchen zurückhaben. Er betrachtete die Löcher für die Schrauben und sah, dass das Holz dort quer gerissen war. Das war der Grund gewesen, weshalb er die Tür seinerzeit vom Schreibtisch abmontiert hatte. Während er auf der Ecke von Nicoliens Bett saß, sah er sich das Problem an, stellte fest, dass die Flügel der Scharniere auch an der Außenseite befestigt werden konnten, und schraubte die Tür fest. Anschließend kehrte er zurück zum Bücherregal. Im Abstellraum suchte er ein Brett, das die Tür ersetzen konnte, und fand zwei, die zusammen genau passten und die Rückseite hermetisch abschlossen, wodurch das Regal außerdem stabiler wurde. Wunderbar! Er schleppte Werkzeug heran, verließ die Wohnung, um bei Gunters en Meuser Winkel zu kaufen, überlegte gerade noch rechtzeitig, dass das Telefon im Bücherregal stehen musste, und war gegen halb drei fertig, zufrieden mit dem Ergebnis. Er rief Nicolien.
»Aber komme ich jetzt auch noch an die Pflanzen?«, fragte sie kritisch.
»Versuch es mal.«
Sie zwängte sich zwischen das Regal und die Fensterbank und probierte aus, ob sie Platz genug hatte, um die Geranien von dort aus zu gießen. Er verschob das Regal noch etwas, und dann stand es auch für sie an der richtigen Stelle. Da es trotzdem noch ein wenig wackelte, legte er ein paar Stückchen Sperrholz unter und befestigte es mit einem Brett an der Fensterbank, das er bereits früher für eine zusätzliche Pflanze dort angebracht hatte. Er stellte die Bücher und Pflanzen wieder an ihren Platz und räumte das Werkzeug weg. Nachdem er außerdem noch das Fahrradschloss von Nicolien geölt hatte, fand er, dass es für diesen Tag eigentlich genug wäre. Als er auf der Couch saß, um zu verschnaufen, kam Nicolien herein. »Wo ist die Gießkanne?«, fragte sie. »Ich sehe die Gießkanne nicht!« Die Gießkanne stand unter einem Stuhl. Sie füllte sie in der Küche und zwängte sich hinter das Regal, um die Geranien zu gießen. Sie holte das Fliegengitter aus dem Fenster und stellte es hinter das Bücherregal. »Es ist viel enger geworden«, sagte sie verärgert.
»Das ist nicht möglich. Du hast es doch ausprobiert?«
»Und trotzdem ist es enger geworden!«
»Aber das Brett passt genau! Genau wie vorher! Das ist doch nicht möglich?«
»Wenn ich sage, dass es enger geworden ist, ist es enger geworden! Sieh mal! Ich komme nicht mal hier dazwischen, ohne an die Pflanze zu stoßen! Wenn sie demnächst eine Knospe hat, bricht die ab! Es ist viel enger geworden!«
Er stand auf und kam näher. »Aber wir haben es ausgemessen!«
»Dann liegt es sicher an den Brettern, die du angebracht hast! Aber es ist enger geworden!«
»Das ist nicht möglich. Da sind deine Beine! Da kann es nicht enger sein!«
»Willst du etwa sagen, dass ich lüge? Ich lüge nicht! Willst du das etwa behaupten?«
Er schwieg. »Ich werde es ein bisschen weiter nach vorn stellen« sagte er dann.
»Das brauchst du gar nicht in so einem Opferton zu sagen! Ich kann es nicht ändern, dass du es falsch gemacht hast!«
Er gab keine Antwort. Er wusste, dass er es nicht falsch gemacht hatte, doch es war sinnlos, darüber zu diskutieren. Er holte die Pflanzen wieder herunter und verschob das Regal. Das Brett, das zwischen Regal und Fensterbank geklemmt war, fiel herunter. Er schob die Hölzchen, die als Unterlage für das Brett auf dem Regal gedient hatten und mit zwei Winkeln befestigt waren, weiter zum Rand, doch nun ließ sich das Brett nicht mehr festklemmen, was den Effekt hatte, dass das Regal jetzt wackelte. Er betrachtete das Brett, sah, dass es nicht quadratisch geschnitten war, sondern ein leichtes Rechteck bildete. Er drehte es um neunzig Grad, versuchte es – und verdammt, es ließ sich einklemmen! Zufrieden befestigte er es in der neuen Position, stellte die Pflanzen zurück und rief Nicolien. Sie betrachtete sein Werk skeptisch, doch sie passte jetzt dahinter. »So geht es wohl, glaube ich«, sagte sie. Sie nahm die Gießkanne wieder zur Hand. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und zog die Schreibmaschine zu sich heran. Sie langte von hinten um ihn herum. »Ich komme nicht mehr an den Papyrus!«, sagte sie. »Sieh nur! Wie soll ich jetzt an den Papyrus kommen?« Da er das kleine Regal nach vorn gezogen hatte, war der Platz zwischen dem Regal und dem Schreibtisch und damit der Weg zum Papyrus schmaler geworden.
»Das kommt daher, weil ich das Regal nach vorn gezogen habe«, sagte er.
»Ich komme also nicht mehr an den Papyrus!«
»Dann müssen wir das Regal wieder etwas näher ans Fenster schieben.«
»Aber dann komme ich nicht mehr an die Geranien! Warum hast du das bloß verändert? Warum hast du es nicht gelassen, wie es war?«
»Weil du die Tür von deinem Schreibtisch zurückhaben wolltest.«
»Aber dann hättest du den Rest doch so lassen können? Ich will diese Veränderungen nicht! Wärst du doch bloß in deinem Büro geblieben, wenn du hier alles verändern willst!« Sie begann zu weinen. »Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist! Ich will in meinem eigenen Haus wohnen! Ich war so glücklich allein! Warum muss jetzt mit einem Mal alles verändert werden? Warum kann es nicht so bleiben?«
Das brachte auch ihn zur Verzweiflung. »Aber es hat sich nichts verändert!«, sagte er etwas lauter. »Ich habe das eine Brett durch ein anderes ersetzt!«
»Und jetzt passe ich auf einmal nicht mehr dahinter! Weil ich über Nacht plötzlich viel dicker geworden bin! Zufällig bin ich über Nacht viel dicker geworden! Gerade jetzt, wo du das Brett angebracht hast! Und jetzt kann ich nicht mehr an meine Pflanzen! Die lieben Pflanzen! Jetzt gehen sie ein, weil ich ihnen kein Wasser mehr geben kann! Ich kann dich doch nicht jedes Mal fragen?« Sie schluchzte laut. »Ich will nicht, dass alles verändert wird! Ich will alles so zurückhaben, wie es war! Ich war glücklich! Ich brauche keine Veränderungen!« Sie lief weinend aus dem Zimmer.
Er holte die Pflanzen wieder vom Regal und zog es ein Stückchen in den Raum hinein, etwas schief, damit die Öffnung zum Fenster hin ein wenig größer war. Doch er bezweifelte, dass es etwas bringen würde. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sich etwas geändert hatte, wurde es nie wieder so, wie es gewesen war.
Sie kam nicht zurück. In der Küche war sie auch nicht. Er vermutete, dass sie einkaufen gegangen war, doch als er ins Schlafzimmer ging, saß sie, mit den Händen vor dem Gesicht, an ihrem kleinen Schreibtisch. Er sagte nichts, da er sie unvernünftig fand, und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er mit dem Abtippen seiner alten Tagebücher begann. Während er damit beschäftigt war, kam sie mit dem Tee herein. Sie war deprimiert. Sie schenkte den Tee ein und sah zum Regal hinüber. »Warum ist der Zwischenraum beim Papyrus so groß geworden?«, fragte sie
»Ich habe das Regal ein bisschen nach vorn gezogen. So viel Zwischenraum ist es doch nicht?«
»Es ist idiotisch viel Zwischenraum! Das sieht nicht aus! Siehst du das denn nicht?«
»Nein, das sehe ich nicht.«
»Aber da ist doch jetzt viel mehr Platz als vorher?«
»Ich sehe es nicht, aber wenn du es sagst, wird es wohl so sein.«
»Aber das musst du doch sehen? Schau dir das mal an, so viel Platz! So ist es nie gewesen!«
»Dann muss das Regal wieder ein bisschen näher zur Wand.«
»Ich wollte, du hättest nie mit diesem Regal angefangen!«
Er gab darauf keine Antwort. Sobald sie den Raum verlassen hatte, stellte er die Pflanzen wieder herunter und schob das Regal ein wenig weiter in die Ecke, so, wie es vorher auch schon gestanden hatte. Doch der Unterschied war so minimal, dass er am Effekt zweifelte. Es interessierte ihn auch schon nicht mehr. Er war deprimiert und setzte sich auf die Couch. Dorus kam zu ihm, Goofie sprang dazu, legte seinen Kopf an Dorus und schnurrte leise, während Dorus ihn zu lecken begann. Nicolien kam ins Zimmer. »Ich gehe einkaufen«, sagte sie tonlos.
Er beugte sich aus dem Fenster und wartete, bis er sie aus der Haustür kommen sah. Sie schaute hoch und winkte verhalten.
»Wie spät ist es?«, fragte er.
»Viertel vor fünf.«
»Holst du auch die Zeitung?«
Sie nickte. »Ja.«
Eine halbe Stunde später kam sie mit der Flasche Genever herein, wie es schien, wieder vergnügt.
»Bist du jetzt zufrieden mit deinem Regal?«, fragte sie, als sie ihren Schnaps tranken.
»Ja, doch. Aber du bist nicht zufrieden.«
»Ich bin wohl zufrieden.« Sie sah hinüber. »Hast du es jetzt wieder verändert?«
»Ich habe es ein bisschen in die Ecke geschoben.«
»Aber jetzt ist der Zwischenraum beim Fenster wieder kleiner geworden!«
»Das ist unmöglich.«
»Ich kann es sehen. Es stand erst viel weiter auf der Matte. Deswegen hat es auch nicht gewackelt.«
»Es wackelt jetzt auch nicht.«
»Dann hat es vorher noch weniger gewackelt! Sieh dir mal an, wie weit es jetzt auf der Matte steht! So kann es nicht bleiben! Da passe ich unmöglich zwischen!«
»Gut.«
»Änderst du es noch?«
»Ich werde es ändern.«
»Wann denn? Denn morgen bist du weg, und ich muss doch an die Pflanzen kommen?«
Er stand widerwillig auf, hob das Regal mit Pflanzen und allem hoch und stellte es etwas weiter auf die Matte. »Gut so?«
»Ich glaube, schon«, sagte sie unschlüssig.
*
»Dein Gesicht hat sich total verändert«, sagte sie, als sie am Tisch saßen. »Seit du vom Büro weg bist, hast du ein ganz anderes Gesicht bekommen.«
»Wie soll das denn gehen?«
»Das weiß ich nicht, aber es hat immer sorgenvoll ausgesehen, und das ist weg.«
»Auch auf einer Fahrradtour?«
»Ja, auch.«
»Aber doch nicht im Urlaub?«
»Im Urlaub meist auch. Du bist mit einem Mal ganz anders.«
»Aber ich sage doch noch immer nichts?«
»Du sagst nicht viel, aber du guckst anders. Du bist viel jünger, wenn man dich ansieht. Du bist auch viel brauner.« Sie lachte. »Die Sorgen haben das Braun zurückgehalten.«
*
Er legte den Hörer auf und ging ins Schlafzimmer. Sie war mit den Betten beschäftigt. »Sien kommt kurz vorbei«, sagte er.
Sie richtete sich auf. »Sien? Was will die denn hier?«
»Ich glaube, weil sie nicht bei meinem Abschied war.«
»Wann kommt sie denn?«
»Jetzt. Gleich.«
»Dann muss ich wohl Kaffee aufsetzen. Bleibt sie lange?«
»Woher soll ich das wissen?«, sagte er mürrisch.
Während sie sich in die Küche aufmachte, ging er zurück ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf die Couch, unschlüssig, was er in der Zwischenzeit tun sollte. Sien. Er fragte sich, worüber er mit ihr reden sollte, doch er konnte sich nichts vorstellen, worum es gehen könnte, sodass er es sofort wieder aufgab. Zerstreut las er die Liste mit den Aufgaben durch, legte sie wieder zurück und sank in die Kissen. Zehn Minuten später hörte er, wie ein Fahrrad ans Haus gestellt wurde. Er schaute aus dem Fenster und sah sie mit einer Tortenschachtel die Freitreppe hinaufkommen. »Sie hat eine Torte bei sich«, warnte er, während er durch den Flur zur Tür ging. Nicolien war wieder im Schlafzimmer. Es klingelte. »Sien?«, fragte er durch die Gegensprechanlage.
»Sien de Nooijer!«, rief sie, nicht in der Lage, so rasch umzuschalten.
»Erster Stock!« Er drückte auf den Türöffner, machte die Wohnungstür auf und wartete auf der Schwelle. Unten schlug die Haustür zu. Er hörte sie durch den Hausflur gehen und die Treppe hinaufsteigen. »Das hast du schnell geschafft«, sagte er, als sie in der Krümmung der Treppe erschien, die Tortenschachtel vor sich hertragend.
»So weit ist das nicht.« Sie war rot im Gesicht.
»Nein, so weit ist das nicht.« Er sah flüchtig auf die Schachtel. »Komm rein!«
Sie trat über die Schwelle, leicht keuchend, nervös.
»Die habe ich von euch bekommen«, sagte er lächelnd, in einem Versuch, sie zu beruhigen. Er zeigte auf die Schautafel mit den dreschenden Bauern über der Garderobe.
»O ja«, sagte sie nervös.
Nicolien kam aus dem Schlafzimmer. »Tag, Sien.«
»Oh, Tag.« Sie wagte es nicht, Nicolien mit ihrem Vornamen anzusprechen. »Das habe ich euch mitgebracht«, sie gab ihr die Tortenschachtel, »aber die Schachtel wollte ich wieder mitnehmen.«
»Wie furchtbar nett«, sagte Nicolien. »Sicher für Maarten.«
»Nein, für euch beide.«
Nicolien stellte die Schachtel auf das Klapptischchen in der Küche und hob den Deckel ab. »Das ist ja phantastisch! Hast du die selbst gebacken? Sieh mal, Maarten!«
»Ja«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, ob sie auch gut geworden ist.«
»Lecker!«, sagte er. Er sah sie an. »Aber ich sollte doch nur eine Torte bekommen, wenn ich bleibe?«
»Habe ich das gesagt?«, fragte sie verwirrt.
»Wenn ich bleibe, würdest du mir jede Woche eine Torte backen.«
Sie wurde rot. »Oh, daran erinnere ich mich nicht.«
»Willst du eine Tasse Kaffee?«, fragte Nicolien.
»Ja, aber dann gehe ich wieder. Ich bleibe nur kurz.«
»Geh ruhig durch«, sagte er.
Sie ging vor ihm den Flur entlang zum Wohnzimmer. »Hier?« Sie drehte sich um, bevor sie die Tür aufstieß, ging ins Zimmer und blieb abwartend stehen.
»Setz dich ruhig irgendwo hin.«
»Wo habt ihr gesessen?«
»Nirgendwo.«
Befangen, ohne sich umzusehen, setzte sie sich auf die Couch, wo er eben noch gesessen hatte, und öffnete ihre Umhängetasche. »Ad hat mir noch etwas für dich mitgegeben.«
»Druckfahnen«, vermutete er, während er ihr einen Stapel Papier abnahm. Obenauf lag ein Brief. Er sah auf den Absender. »Hey, ein Brief von Seiner.«
»Ja, noch zu deinem Abschied, glaube ich.«
Er zog den Brief aus dem Umschlag, überflog ihn hastig, ohne zu verstehen, was dort stand, und steckte ihn wieder zurück. »Danke.« Er sah sie an. »Und danke auch noch für die Geschenke, die ich von euch bekommen habe, und für die Symphonie von Dvořák, die du ausgesucht hast.«
»Ja, die wolltest du gern haben, hat Ad gesagt.« An ihrer Stimme war zu hören, dass sie es für eine merkwürdige Bitte gehalten hatte.
»Wegen der Unterschiede zwischen euch«, erklärte er. »Du bist die Einzige, die sich für etwas aus der Romantik entschieden hat. Ich finde das überraschend.«
Sie wurde rot. »Ich habe doch überhaupt keine Ahnung von Musik.«
»Ich auch nicht.«
Nicolien kam mit einem Tablett herein. Sie sahen zu, während sie vor jeden von ihnen ein Tortenstück und eine Tasse Kaffee hinstellte.
»Lecker!«, sagte Maarten und zog die Torte zu sich heran. Er sah Sien an. »Ist sie gut geworden?«
Sien betrachtete das Backwerk kritisch.
»Sie ist herrlich!«, sagte Nicolien. »Ich habe in der Küche schon ein kleines Stück probiert. Ich finde das furchtbar gekonnt.«
Sien nahm ein Stückchen und kostete. »Ja, sie ist ganz gut geworden«, sagte sie verhalten.
Sie verspeisten alle drei ihre Torte.
»Wie war dein Urlaub?«, fragte Maarten.
»Ganz gut.«
»Ihr seid dieses Jahr doch in Norwegen gewesen?«
»Ja, in Norwegen.«
»Weil du sonst immer in Städten bist.«
»Wir sind auch in Oslo gewesen.«
»Und sonst nirgends?«
»Doch, sicher, auch in der Natur. Wenn man schon mal da ist, muss man natürlich auch etwas von der Natur sehen.«
»Und wie fandest du es?«
»Sehr schön, aber es sagt mir nicht so viel. Ich bin lieber in der Stadt. Und Henk auch.«
»Komisch«, fand er.
Sie sah Nicolien an. »Ihr fahrt immer in die Auvergne, nicht?«
»Ja«, sagte Nicolien. »Ich finde Städte schrecklich.«
»Nein, wir finden gerade Städte sehr interessant.«
Sie schwiegen.
»Unsere Begonien haben Läuse«, sagte Maarten und drehte sich zu dem kleinen Bücherregal neben seinem Schreibtisch um, auf dem die Begonien standen. »Nicolien denkt, dass es daher kommt, weil sie im Zug gestanden haben. Hast du Begonien?«
»Nein ich habe überhaupt keine Pflanzen.«
»Das denke ich nicht bloß«, sagte Nicolien. »Das ist so!«
»Ja, sicher« sagte Maarten. »Ich verstehe nur nicht, wieso dann Pflanzen, die draußen stehen, auch Läuse kriegen können.«
»Hör mal, davon habe ich keine Ahnung«, sagte Sien hastig.
»Ich wollte mich bei dir auch noch bedanken für das, was du alles für mich getan hast«, sagte sie an der Tür, als er sie hinausbrachte. Sie war nervös.
»Aber das war doch nichts«, sagte er verlegen.
»Ich finde schon.«
»Na ja …« Er lachte. »Aber das habe ich dann auch doppelt und dreifach zurückbekommen.«
An ihrem Gesicht war zu sehen, dass sie ihn nicht verstand.
»Die Torte, meine ich.«
»Oh, die Torte«, sagte sie verblüfft.
Er machte die Tür für sie auf. »Na dann, tschüss.« Er streckte die Hand aus.
»Tschüss.« Sie gab ihm die Hand und drehte sich eilig weg.
Als er durch den Flur zurückging, merkte er erst, wie verspannt er war. Er krümmte den Rücken, ließ die Arme baumeln und blies seine Backen auf, während er ins Wohnzimmer ging. Nicolien saß wieder in ihrem Sessel und drehte sich zu ihm um. »Ich bin verspannt«, sagte er und richtete sich auf.
»Wie fandest du es?«, fragte sie, die Bemerkung ignorierend.
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt doch wohl, wie du es fandest?«
»Nein, ich weiß es wirklich nicht.«
»Aber du findest es doch sicher nett, dass sie die Torte gebracht hat?«
»Das finde ich sehr nett.«
»Warum sagst du das dann nicht?«
Die Frage brachte ihn in Verlegenheit. Er zuckte mit den Achseln.
»Wann weißt du es denn?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wenn du es aufgeschrieben hast, sicher. Und dann kriege ich es nicht mehr zu hören.«
»Ich kann es wirklich nicht ändern.« Er lächelte entschuldigend. »Ich weiß nur, dass ich mich angespannt gefühlt habe.«
»Na, dann warte ich eben, bis du es weißt.«
Er blieb vor seinem Schreibtisch stehen und blickte zerstreut auf die Dinge, die dort lagen, ohne in sich aufzunehmen, was er sah. Schließlich wandte er sich ab. »Ich bin eine Weile im Kämmerchen.«
»Was willst du denn da?«, fragte sie argwöhnisch.
»Ein bisschen werkeln.«
Er verließ die Wohnung, öffnete die Tür zu der kleinen Kammer, schloss sie hinter sich wieder und setzte sich in den großen Sessel. Das Fenster stand offen. Aus der Ferne, zwischen den Häusern, hörte man gedämpft die Stimmen von Kindern auf dem Spielplatz der Grundschule. Das erinnerte ihn an eine längst vergangene Zeit, als er selbst noch klein gewesen war, und er wurde überschwemmt von einem Gefühl der Sehnsucht.
*
Er träumte, dass Karel Ravelli ihn im Büro angerufen hätte. »Ich dachte, du wärst in Rente«, sagte er.
»Ich muss noch ein paar Sachen fertig machen«, entschuldigte er sich.
Darüber musste Karel herzhaft lachen. »Ja, das sagen alle«, rief er.
*
Er konstatierte bei sich ein wachsendes Bedürfnis, allein zu sein. Nicoliens Vater war dann immer in seinen Abstellraum gegangen, wo er stundenlang damit beschäftigt gewesen war, alte Zeichnungen aufzuarbeiten. Was er selbst machte, unterschied sich nicht so sehr davon, und er vermutete, dass er es brauchte, um die Kontrolle über die Wirklichkeit nicht zu verlieren. Man musste sich konzentrieren, um das alles zusammenzuhalten. Vielleicht werden alte Männer deswegen so schweigsam, dachte er.
*
Er trug die Fahrräder die Treppen hinunter. Sie fuhren zur Fähre. Es war bewölkt und ein wenig drückend. Sie fuhren durch Watergang und Ilpendam in den Purmer, und anschließend über Katwoude nach Volendam. Die Straße von Katwoude nach Volendam war bemerkenswert ruhig. Auf halber Strecke stiegen sie über eine Treppe den Deich hinauf und sahen eine Weile über die Gouwzee. In Volendam herrschte Betrieb. Hunderte von Touristen schlenderten am Hafen vor den kleinen Terrassen und den Lädchen entlang. Hundert Meter weiter, hinter dem Hotel Spaander, war das plötzlich vorbei, obwohl man dort vom Deich aus einen weiten Blick über das Meer hatte. Sie fuhren am Deich entlang nach Edam und tranken etwas auf der Terrasse des Damhotels. Er ärgerte sich über alte Männer und Frauen in zu jugendlicher, zu neuer und zu gut gewaschener Sportkleidung, die viel zu locker um ihre steifen Glieder hing. Er ärgerte sich auch über Frauen hinter dem Steuer und über junge Kerle mit Pferdeschwanz im Nacken, die mit viel Bravour in zu teuren oder zu großen Autos vorbeirauschten, und über den Blumenhändler, der in einem zu teuren Mercedes vorfuhr. Doch zum ersten Mal entdeckte er, dass in diesem Ärger System steckte. Jeder, der vom Wohlstand befallen war, ärgerte ihn. Solange sie, jung oder alt, bei sich zu Hause mit einer Zeitung auf einem alten Stuhl saßen und sich von ihrer Arbeit ausruhten, fand er sie nett, oder sie ließen ihn kalt. Zufrieden begab er sich auf den Rückweg. Das Leben war wieder ein wenig übersichtlicher geworden. Er war weniger schlecht, als er dachte.
*
Nach dem Frühstück holte er die kleine Trittleiter ins Wohnzimmer, um sie zu reparieren. Er zog die alten Nägel heraus. Einer der Nägel war abgebrochen, sodass er ihn nicht zu fassen bekam, auch nicht, nachdem er all seine Kneif- und die anderen Zangen dazugeholt hatte. Schließlich versuchte er es mit einem Meißel, ebenfalls ohne Erfolg. Da ihm von der Anstrengung so früh am Morgen übel wurde, musste er aufgeben. Unzufrieden drehte er eine Reihe von Schrauben in die Löcher der Nägel, die er herausgezogen hatte, und stieg auf die solcherart reparierte Trittleiter zum Spülkasten der Toilette, wo es aus dem Überlaufrohr tropfte. Es zeigte sich, dass das Eisen des Behälters und der Mechanismus im Inneren voll grüner und brauner Beulen waren. Der Spülkasten war hinüber. Er drückte den Schwimmer ein wenig hoch. Das Tropfen hörte auf, doch er wusste nicht, wie er den Schwimmer so fixieren sollte, dass es nicht wieder leckte. Die einzige Lösung, die ihm einfiel, war, ein Eimerchen an das Rohr zu hängen. Als er es aufgehängt hatte, war ihm noch immer übel. Er ging zurück ins Wohnzimmer. Sobald er saß, kam Nicolien und fragte, weshalb keine Unterwäsche von ihm in der Wäsche sei. Er zog sich um und setzte sich, nun in sauberer Unterwäsche, auf die Couch und strich auf seiner Liste die Trittleiter und den Spülkasten durch. Wäre ihm nicht so übel gewesen, hätte er zufrieden sein können.
*
»Ich hatte mir überlegt, die Druckfahnen kurz zum Büro zurückzubringen«, sagte er beim Frühstück.
»Die kannst du doch auch schicken?«
»Das ist so ein Hin und Her.«
»Ich dachte, dass du nicht mehr zum Büro gehen würdest, jetzt, wo du dort weg bist. Das hast du gesagt.«
»Ja, sicher«, er zögerte, »aber sie waren so nett bei meinem Abschied …«
»Na ja, das musst du selbst wissen.«
»Natürlich.«
Sie stand am Fenster. Er hob die Hand und wandte sich zum Bürgersteig ab. Während er der Gracht folgte, stellte er fest, dass er angespannt war, so wie früher. Aber das ist doch Wahnsinn, dachte er. Ich arbeite da doch nicht mehr? – Er versuchte, sich zu entspannen, indem er seine Arme locker hängen ließ und sich umschaute, doch die Anspannung blieb, und er sah nichts. Als er sich dem Büro näherte, griff er automatisch nach den Schlüsseln, machte sich klar, dass er keine Schlüssel mehr hatte, und drückte die Klingel. An der Pförtnerloge stand ein hochgewachsener Mann vom Typ eines frühpensionierten Berufssoldaten. Er sah Maarten musternd an, das Kinn ein wenig erhoben.
»Mein Name ist Koning«, sagte Maarten gehetzt. »Ich habe hier bis vor Kurzem gearbeitet. Sehen Sie!« Er zeigte auf sein Namensschild, das man noch nicht entfernt hatte, und schob es ein.
Der Mann streckte die Hand aus. »Oudkerk.«
»Sie sind der Ersatz für Wigbold?«
»Kann sein. Ich habe heute meinen ersten Tag.«
»Dann willkommen.« Die unerwartete Konfrontation hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er machte sich zu spät klar, dass er nicht mehr in der Position war, diesen Mann willkommen zu heißen. Verwirrt beugte er sich über die Anwesenheitsliste und griff zu seinem Stift, um sich abzuhaken, konnte so rasch seinen Namen nicht finden und bedachte erst dann, dass er dort gar nicht mehr stand, legte den Stift wieder weg und ging nervös lachend auf den Flur, um seinen Namen ins Besucherbuch einzutragen. Der neue Hausmeister hatte ein wenig verwundert zugesehen. Sein erster Besucher war ein Idiot. »So!« Er setzte einen kräftigen Strich in das Fach, in dem er den Zweck seines Besuchs angeben musste, wandte sich ab und ging blindlings in den Kaffeeraum. Atie Wals und Lies Meis saßen dort und tranken Kaffee. »Tag, Atie. Tag, Lies«, sagte er.
»Tag, Maarten«, sagte Atie, ohne die geringste Überraschung zu zeigen. Lies nickte, als arbeitete er noch hier.
Sich zur Ruhe mahnend verlangsamte er auf der Treppe seinen Schritt und stieg langsam, zwei Stufen gleichzeitig nehmend, hinauf in den zweiten Stock. Durch das gelbe, unebene Glas in der Tür sah er undeutlich Ad an seinem Schreibtisch sitzen. Ohne weiteres Nachdenken drückte er die Klinke herunter und betrat den Raum. Ad sah langsam zur Seite. »Tag, Ad«, sagte er.
»Hey. Tag, Maarten«, sagte Ad überrascht.
Er hängte lächelnd seine Tasche an einen Stuhl, zog sein Jackett aus, wusste nicht, wohin damit, hängte es erst über den Stuhl an Ads Schreibtisch, danach über einen anderen Stuhl, und setzte sich, wobei er erneut spürte, wie angespannt er war.
Ad gesellte sich zu ihm und setzte sich an die andere Seite des Tisches. »Wie geht’s?«, fragte er grinsend, die Lippen fest aufeinandergepresst.
Maarten nickte. »Gut.« Er lächelte.
»Du vermisst uns wohl nicht?«
Maarten schüttelte den Kopf. »Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, dass ich nicht mehr ins Büro muss, kriege ich einen Kick.« Er lachte.
Ad grinste.
»Ich habe die Druckfahnen des Aufsatzes von Güntermann bei mir.« Er griff zu seiner Tasche. »Soll ich sie selbst abschicken?«
»Wenn du willst.«
»Und ich wollte auch gern kurz den Brief an Seiner hier schreiben.«
Ad nickte. »Es sind noch mehr Briefe für dich gekommen.« Er stand auf und überreichte Maarten einen kleinen Stapel Post, der auf der Ecke seines Schreibtisches bereitlag.
Maarten sah flüchtig auf die Absender: Briefe von der Museumskommission, von Boks, von Fleur van Asselt und von Saskia Schelvis.
»Ich kann sie in Zukunft auch bei dir in den Briefkasten werfen.«
»Wenn das keine Umstände macht?«
»Sonst frage ich Lien oder Joop.«
Maarten nickte. »Das geht auch.« Er sah Ad prüfend an. »Wie läuft es hier?«
»Ganz gut.« Er lachte verschmitzt.
»Und meine Nachfolge?«