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Eine Frau wird buchstäblich um den Verstand gebracht – von einer Krankheit. Mitunter ist es zum Lachen, welche absurden Bemerkungen sie macht. Doch vor allem ist ihr Vergessen beunruhigend. Schleichend entwickelt sich die Demenz, unberechenbar. Eine wahre, ebenso traurige wie alltägliche Geschichte. Nicoliens Mutter vergisst. Erst vertauscht sie die Tage, dann kann sie ihre Lieblingslieder nicht mehr mitsingen, zuletzt verirrt sie sich in der Wohnung. Über knapp drei Jahrzehnte wird ihre Demenz in vielerlei Alltags- und Ausflugsszenen mit den schleichenden Veränderungen beschrieben. Alsbald wähnt man sich im Wohnzimmer der Familie, mit Schnaps in der Hand und Kuchen auf dem Tisch, erfüllt von Zuneigung und Hilflosigkeit. Wie in einem Super-8-Film werden der Gedächtnisverlust und die Reaktionen der Angehörigen, die zwischen Verärgerung, Irritation, Trauer und Ungeduld schwanken, in einer Fülle von lebendigen Details nachgesponnen. In genau abgelauschten Dialogen und auf musikalische Weise, in Varianten, Schleifen, Pausen erzählt J. J. Voskuil die Geschichte einer Frau, die zunehmend unerreichbar wird. Eine zutiefst menschliche Chronik – von Gerd Busse einmal mehr herausragend übersetzt.
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Seitenzahl: 264
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Aus dem Niederländischen von Gerd Busse
Die niederländische Originalausgabe erschien erstmals 1999 unter dem Titel De moeder van Nicolien bei Uitgeverij G. A. van Oorschot in Amsterdam.
Der Verlag dankt der Dutch Foundation for Literature für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.
E-Book-Ausgabe 2021
© 1999, 2008 the heirs of J. J. Voskuil, Amsterdam
© 2021 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung des Gemäldes »To Kimmo« (Öl/Lw, 2013, Ausschnitt) von Regina Battenberg.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803143075
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978-3-8031-3332-8
www.wagenbach.de
Zum Gedenken an L.’s Mutter
Seine Schwiegermutter saß im Wohnzimmer, in dem Streifen Sonne, der durch die Gardinen fiel. Nicolien saß im Sessel bei den Zwischentüren und sah ihn hereinkommen.
»Ha, die Jansen«, sagte er zu seiner Schwiegermutter.
»Ha, der Pietersen«, antwortete sie, während er sich zu ihr hinüberbeugte und ihr einen Kuss gab. »Noch meine herzlichen Gratuladingsbums.«
Er lachte und gab auch Nicolien einen Kuss.
»Du bist früh«, sagte sie. »Wie war es?«
»Weil ich Geburtstag habe.«
»Wie war es?«, wiederholte sie.
»Erst mal umziehen.« Er zog die Zwischenvorhänge zu, zog sich um und wusch sich die Hände.
»Und du hast auch eine Stelle, nicht?«, fragte seine Schwiegermutter, als er wieder ins Zimmer kam.
Er nickte.
»Ach Junge, wie schön! Darauf nehmen wir doch sicher einen?«
Er lachte. »Darauf nehmen wir einen.«
»Und, wie war es?«, fragte Nicolien gespannt.
Er setzte sich auf das Sofa. »Idiotisch.«
»Idiotisch?« In ihrer Stimme lag Empörung. »Nicht schrecklich?«
»Ach … schrecklich.« Das Wort war ihm zu groß. Wenn es schrecklich wäre, wäre der Gedanke, dort morgen wieder hinzumüssen, ganz und gar unerträglich.
»Und was musst du da jetzt machen?«, fragte seine Schwiegermutter.
Er sah sie an. »Ich muss einen Text über die Wichtelmännchen schreiben.«
»Über die Wichtelmännchen?« Sie lachte ungläubig. »Du verkohlst mich.«
»Ich verkohle Sie niemals.«
»Über Wichtelmännchen! Ein erwachsener Mann!«
Er lachte, verlegen, aber auch amüsiert. »Glauben Sie nicht an Wichtelmännchen?«
»Ach, du verrückter Junge, hör doch auf. Wichtelmännchen!«
»Aber als Sie noch jung waren, saßen da keine Wichtelmännchen in den Scheveninger Bosjes?«
Sie lachte, ohne zu antworten. Es war deutlich, dass sie dachte, er wolle sie auf den Arm nehmen.
»In den Bosjes van Pex gab es sie jedenfalls«, beharrte er. »Da war ein Baum mit einem Loch drin, und wenn wir daran vorbeikamen, habe ich in das Loch gerufen« – er machte die Stimme eines Kindes nach – »›Wichtelmännchen! Wichtelmännchen!‹ Später haben sie Maschendraht davor gespannt. Dann sind sie verschwunden.«
»Ach, Kindergerede.«
»Und was wäre, wenn Kinder und Verrückte nun die Wahrheit sagen würden?«
»Quälgeist. Lass das.«
»Deine Mutter glaubt nicht mehr an Wichtelmännchen«, sagte er zu Nicolien, die gerade wieder den Raum betrat.
»Solltest du nicht lieber mal einen Schnaps einschenken?«, entgegnete sie. Er merkte, dass sie sich ärgerte, und vermutete, dass die Anwesenheit ihrer Mutter sie irritierte. Aber es vermittelte ihm dennoch ein vages Gefühl von Schuld. Als hätte er etwas getan, das nicht in Ordnung war.
*
»Da wird jetzt eine schöne Tasse Kaffee sicher gut schmecken«, sagte seine Schwiegermutter, während er die Tür hinter ihnen schloss. Sie hängte ihren Mantel und die Mütze an die Garderobe.
»Schaust du dir dann mal den Sessel an, Maarten?«, fragte Nicolien.
»Mache ich«, antwortete er.
»Dann gehen wir erst mal ins Küchilein«, sagte seine Schwiegermutter. »Hilfst du mir mahlen, Kind?«
Er ging ins Wohnzimmer, kippte den schweren Sessel, in dem sein Schwiegervater immer gesessen hatte, auf die Seite und sah sich die Unterseite an. Zwei der Jutebänder, die die Sprungfedern hielten, waren abgerissen. Das Holz darunter wies zahlreiche Nagellöcher auf. Ein paar Polsternägel, an denen kleine Stücke halbzersetzter Jute hingen, steckten noch im Holz. Er versuchte, die abgerissenen Enden wieder zu befestigen, stellte fest, dass es vergebliche Mühe war, kippte den Sessel zurück und richtete sich auf. Von dort, wo er stand, konnte er die Kreuzung bei der Appelstraat sehen. Die Straße lag im Sonnenschein. Ein Mann und eine Frau im Sonntagsstaat überquerten mit einem Kinderwagen in schräger Richtung die Vlierboomstraat. Zwei Radfahrer kamen vorbei. Aus der Küche drangen die Stimmen Nicoliens und ihrer Mutter sowie das Mahlgeräusch der Kaffeemühle. Er setzte sich, legte die Arme weitausgestreckt auf die Lehnen und wartete.
»Und hier kommen die Köstlichkeiten«, sagte seine Schwiegermutter, als sie mit einem kleinen Tablett das Wohnzimmer betrat. Auf dem Tablett standen drei Tassen Kaffee und drei kleine Kristallglasteller mit Ingwertörtchen. »Ich dachte, ich kauf mal Ingwertörtchen, denn die magst du ja so gern.«
»Die sind lecker!«, stimmte er zu.
»Und was war jetzt mit dem Sessel?«, fragte Nicolien.
»Zwei von den Jutebändern sind abgerissen«, antwortete er. »Ich werde beim nächsten Mal neue mitbringen, denn die hier sind völlig verschlissen.«
»Du kriegst ihn also wieder hin?«, fragte ihre Mutter.
»Ich glaube schon.«
»Ach Junge, dafür kriegst du einen Kuss!« Sie beugte sich zu ihm hinüber.
»Aber noch habe ich ihn nicht repariert«, wehrte er ab.
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Das macht nichts. Dann kriegst du einfach noch einen.«
Er lachte.
Sie verputzten alle drei ihr Törtchen.
»Was sind wir hier doch wieder lecker am Schnabulieren«, bemerkte seine Schwiegermutter.
»Wie war es Mittwoch bei Willy und Bertha?«, fragte Nicolien.
»Sehr gut. Ich soll dich grüßen.«
»Sind Sie noch mit Willy spazieren gewesen?«
»Nur kurz zur Strandpromenade. Die übliche Runde.«
»Und dieser Freund von Bertha?«
»Ach, das weiß ich nicht. Ich glaube, darüber darf nicht gesprochen werden.«
»Hat Bertha einen Freund?«, fragte er.
»Das erzählt man sich, aber ich weiß nichts darüber. Es scheint, dass er Pilot ist.«
»Aber Sie haben ihn noch nie gesehen.«
»Nein, denn das ist ein Geheimnis.«
Er nickte. »Wie alt ist Bertha jetzt?«
Sie dachte nach.
»Sie ist doch geboren worden, als Sie bei Tante Bes gewohnt haben?«, half Nicolien.
»Ja. Und da war ich siebzehn. Also ist Bertha jetzt neunundvierzig. Auch nicht mehr ganz taufrisch.«
»Neunundvierzig!«, wiederholte er.
»Aber ich glaube, der Mann ist verheiratet oder so. Das ist alles ziemlich merkwürdig heutzutage. Früher gab es so was nicht.«
Er lachte. »Ich muss ein bisschen über Sie lachen.«
»Das ist besser als weinen.«
»Das stimmt.«
»›Lachen ist gesund‹, hat meine Mutter immer gesagt.«
»Sollte das so sein?«
»Ach, du Landplage. Lass dich mal untersuchen.«
»Und wenn es nun furchtbar schlecht für die Gesundheit wäre?«
»Ach was, du willst mich doch nur veräppeln.«
Er lachte.
Es entstand eine Pause.
»Wie ging dieser Reim noch gleich?«, fragte er. »Zehn, das ist mein Kindheitsjahr …«
»Mit zwanzig sind wir schon ein Paar«, fuhr seine Schwiegermutter fort. »Mit dreißig bin ich dann getraut. Mit vierzig auch schon angegraut. Mit fünfzig kommen die Beschwerden. Mit sechzig wird’s nicht besser werden. Mit siebzig nimmt das Leben ab. Mit achtzig lieg ich dann im Grab. Die neunzig werd ich nicht erleben, denn hundert soll man nicht erstreben.«
Sie lachten.
»Dann ist Bertha schon ordentlich über der Zeit«, bemerkte er.
»Das hat mein Vater immer gesagt«, sagte seine Schwiegermutter. »Der konnte sehr schön rezitieren: ›Wir gingen Seit an Seit‹« – mit feierlicher Stimme ahmte sie ihren Vater nach – »›zusammen durch das Leben. Die Wege unseres Schicksals, der Pfad zum ersten Kuss, am sonn’gen IJ, durch Dünen, in ungestümem Streben, im Streit, zum Fest, auf Reisen, in Wehmut und Genuss.‹ – Weiter weiß ich nicht mehr.«
Sie schwiegen.
Er hob die Hand.
»Heil!«, sagte seine Schwiegermutter.
»Ebenfalls«, antwortete er.
»Wie wird es dem Mann gehen?«
»Ich glaube, ganz gut.«
»Ich fand es ansonsten ein ziemlich ekliges Lied.«
»Es war ein ekliges Lied«, gab er zu.
»Maarten ist in Deutschland gewesen«, erzählte Nicolien.
Sie rümpfte die Nase. »Du warst in Deutschland?«
»Mit meinem Chef«, entschuldigte er sich.
»Oh, mit deinem Chef.«
»Zu einer Konferenz.«
»Oh, zu einer Konferenz.«
Er lachte amüsiert.
»Und, war es gut?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht.«
»Man sollte auch besser in seinem eigenen Land bleiben.«
»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Und dein Chef, ist das ein netter Mann?«
»Ja, das ist ein netter Mann.«
»Oh, zum Glück.«
»Ja, das ist ein Glück.«
»Er ist ein sehr netter Mann«, sagte Nicolien mit Nachdruck.
»Er ist ein sehr netter Mann«, korrigierte er sich.
»Na, dann hast du es mit ihm gut getroffen.«
»Das habe ich sicher.«
»Denn das kann nicht jeder sagen.«
Es entstand erneut eine Pause.
»Was meint ihr? Sollen wir die zweite Runde einläuten?«, fragte seine Schwiegermutter.
*
»Denkst du an Jonas?«, warnte Nicolien. »Er liegt unter der Couchdecke. Ich gehe noch mal kurz in die Küche!« Sie schloss die Küchentür hinter sich. Seine Schwiegermutter saß da und sah gedankenverloren vor sich hin. Er holte ein Schnapsglas aus dem Schrank, setzte sich auf die Couchecke, befühlte kurz den Buckel unter der Decke, griff zur Flasche und schenkte sich ein. Während er einen Schluck nahm, sah er zu ihr hinüber. »Wie geht’s?«
»Ganz gut. Den Umständen entsprechend.«
Er nickte.
In der Küche wurde ein Topf in die Spüle gestellt und der Wasserhahn auf- und wieder zugedreht.
»Wo, glaubst du, bleibt die Sonne eigentlich, wenn sie untergeht?«, fragte seine Schwiegermutter.
Es kam so unerwartet und war für sie so ungewöhnlich, dass es ihn rührte. »Hinter dem Horizont«, sagte er aufs Geratewohl.
»Aber verbrennt da dann nicht alles?«
Er lachte. »Sie glauben, dass die Erde flach ist.«
»Na ja, ich weiß das nicht so genau.«
»Die Erde ist rund.«
»O ja.« Es war deutlich zu merken, dass dies ihr Vorstellungsvermögen überstieg.
Er hielt sein Glas in die Höhe. »Wenn das hier die Sonne ist«, er machte mit seinen Fingern eine Kreisbewegung um das Glas herum, »dreht sich die Erde darum herum. Und weil die sich auch noch mal um die eigene Achse dreht, kriegt jedes Mal ein anderer Teil der Erde Sonnenlicht ab.« Er nahm einen Pingpongball vom Boden und bewegte ihn im Kreis um das Glas. »Wenn wir auf der Seite des Glases sind, haben wir Sonne, und in Amerika ist es Nacht, und umgekehrt.«
»O ja.«
»Verstehen Sie?«
»Wenn du es sagst, wird es wohl so sein.«
»Sie vertrauen mir doch?«
»Ja, sicher. Ich kann das alles nicht mehr so gut begreifen.«
Nicolien kam wieder ins Zimmer.
»Mutter glaubt, dass die Erde flach ist«, erzählte er.
»Hast du Mutter denn schon von der Verabschiedung deines Vaters erzählt?«, fragte sie.
»Ich dachte, du würdest das machen.«
»Ich? Das musst du doch machen? Es ist doch dein Vater?«
»Ist dein Vater verabschiedet worden?«, fragte ihre Mutter.
Er nickte. »Ja.«
»Aber so alt ist er doch noch nicht?«
»Genauso alt wie Sie.«
»Zwei Jahre jünger«, korrigierte Nicolien.
»Zwei Jahre jünger.«
»Es war schrecklich«, fügte Nicolien hinzu.
»Dann ist er bestimmt froh.«
»Mein Vater ist nie froh«, antwortete er. »Jedenfalls merkt man es ihm nicht an.«
»Ach nein?«
»Sie sind doch auch nicht immer froh?«
»Doch, das bin ich.«
»Immer?«
»Ja, wenn ich bei euch bin.«
Er lachte. »Eigentlich sollten Sie also immer bei uns sein!«
Sie zögerte. »Nein, das wäre nicht gut.«
»Warum denn nicht?«
»Man soll nicht bei seinen Kindern wohnen.«
»Ja, aber warum nicht?«
Die Frage verunsicherte sie. »Das gibt Mord und Totschlag.«
»Aber Sie selbst haben doch auch Ihre Mutter bei sich aufgenommen?«, bemerkte Nicolien.
»Ja, aber das ist etwas anderes«, sagte ihre Mutter, »denn das war eine sehr liebe Frau.«
*
Nicolien stieß gegen das kleine Fenster, steckte ihren Arm hindurch und öffnete die Tür. Maarten betrat die Wohnung nach ihr, seine Fahrradtasche über dem linken Arm, den Korb mit der schreienden Katze am rechten. »Ja, Jonas, noch einen Moment«, sagte er. Die Wohnzimmertür ging auf, seine Schwiegermutter kam in den Flur. »Seid ihr da?«, fragte sie erfreut. »Was für ein Fest!«
»Tag, Mutter«, sagte Nicolien. Sie gab ihr einen Kuss.
»Tag, Mutter«, begrüßte er sie seinerseits, während er ihr ebenfalls einen Kuss gab. Er ließ die Tasche zu Boden sinken, trug das Körbchen ins Wohnzimmer und stellte es auf dem großen Sessel ab. »Jetzt darfst du raus«, sagte er. Die Katze stieß mit dem Kopf gegen das Türchen, während er den Verschluss löste, zwängte sich ins Freie und sprang auf den Boden.
»Tag, Jonas«, sagte seine Schwiegermutter, während sie sich über ihn beugte. »Tag, mein kleiner Süßer.« Sie streckte ihre Hand aus.
Ohne ihr Beachtung zu schenken, lief die Katze in den Flur.
»Sie haben die Küchentür doch nicht offen stehen?«, fragte Nicolien.
»Aber nein, Kind.«
Maarten war schon hinter ihm her. Die Katze lief geradewegs zum Katzenklo, das neben der Küchentür bereitstand, setzte sich hinein und pinkelte. »Er musste pinkeln!«, rief er.
»Darum hat er so geschrien«, sagte Nicolien, die ihm gefolgt war. Sie lachte. »Der arme Kerl.«
Ihre Mutter kam nun auch in die Küche. Jonas lief zu seinem Fressnapf, schnüffelte kurz daran und ging dann an ihnen vorbei in das Zimmer von Nicoliens Vater.
Nicolien sah zur Spüle hinüber. »Haben Sie den Kaffee schon fertig?«
»Ja. Ich dachte, den setz ich schon mal auf, der wird euch sicher schmecken.«
Maarten brachte die Fahrradtasche und das Körbchen in den Nebenraum, hängte seine Jacke an die Garderobe, ging ins Wohnzimmer und setzte sich in den großen Sessel. Jonas kam aus dem Hinterzimmer, lief am Geschirrschrank und hinter dem Sofa vorbei, roch kurz am Sessel seiner Schwiegermutter, dann am Spinnrad, und ging anschließend an Maarten vorbei erneut in den Flur. Am Lachen und Rufen in der Küche hörte er, dass Jonas dort wieder angekommen war. Kurz darauf kamen sie ins Zimmer, seine Schwiegermutter mit dem Tablett vorneweg. »Und ich habe zur Feier des Tages auch noch drei Mohrenköpfe«, sagte sie.
»Gibt es etwas zu feiern?«, fragte er.
»Du hast doch jetzt Urlaub?«
Er lächelte.
»Mutter möchte, dass du wieder so eine Liste machst. Damit sie jeden Tag sehen kann, wo wir sind«, sagte Nicolien.
Er nickte. »Morgen Abend sind wir in Brielle«, erzählte er seiner Schwiegermutter. »Wissen Sie, wo das liegt?«
»Hat das nicht was mit den Wassergeusen zu tun?«
»Meisterhaft!«
»Ja, ich weiß schon noch was. So dumm bin ich nun auch wieder nicht.«
»Sie sind überhaupt nicht dumm«, sagte Nicolien.
Er war zu sehr mit seinem Mohrenkopf beschäftigt, um zu reagieren.
Es war einen Moment still.
»Ach, schiene das Sönnlein nur zu mir herein, es könnte ruhig schon morgen sein«, sagte seine Schwiegermutter.
»Sie sagen zwar immer das Sönnlein«, sagte er, »aber wir dürfen es allmählich auch ruhig die Sonne oder Tanta Klara nennen.« Er lachte gemein. »Ach, schiene Tante Klara nur zu mir herein …«
»Und wo sind eure Fahrräder jetzt?«, fragte seine Schwiegermutter, die Bemerkung ignorierend.
»Am Bahnhof«, erklärte Nicolien. »Es dauert einen Tag, bis sie da sind.«
»Am 1. April verlor Alva die Brill’«, sagte er, den Gesprächsfaden wiederaufnehmend, um seine vorangegangene Bemerkung ungeschehen zu machen.
»O ja«, sagte seine Schwiegermutter.
»Diese Brille ist Brielle.«
»Merkwürdig, oder?«
»Sehr merkwürdig.«
»Ja, das weiß ich alles nicht so.«
»Aber jetzt wissen Sie es.«
»Ja, jetzt weiß ich es.«
Jonas kam wieder in den Raum. »Guck, da ist er wieder«, sagte seine Schwiegermutter. Sie beugte sich etwas vor und streckte ihre Hand aus. »Ja, wo ist er denn? Wo ist er denn?«
Jonas kam auf sie zu und roch vorsichtig an ihren Fingern.
»Er darf ruhig ein bisschen Schlagsahne haben«, sagte Nicolien.
»Oh, er ist mein kleiner Liebling«, sagte seine Schwiegermutter und hob ihn in die Höhe. Sie schwang ihn sanft hin und her. »Er ist mein kleiner Liebling.« Jonas sah ihr direkt ins Gesicht und kniff die Augen zu. »Ja, Mutter, sagt er. Nein, Mutter, sagt er!«
»Geben Sie ihm ruhig ein bisschen Schlagsahne«, wiederholte Nicolien, ihr Schälchen in seine Richtung schiebend.
»Darfst du ein bisschen Schlagsahne?«, fragte seine Schwiegermutter, während sie ihn weiter sanft hin- und herschwang. »Darfst du ein bisschen Schlagsahne von deiner Mutter bekommen?« Sie ließ ihn zu Boden sinken und stellte das Schälchen vor ihm hin. Er roch kurz daran und begann dann, es sorgfältig auszulecken.
»Gleich platzt er«, prophezeite Maarten.
»Ach, so schnell platzt eine Katze nicht«, meinte Nicolien.
»Warte nur, bis sich plötzlich Risse bilden, dann ist das Geschrei groß. Bei ihm übrigens auch.«
»Das darfst du nicht sagen«, mahnte seine Schwiegermutter.
»Warum darf ich das nicht sagen?«
»Man darf nicht spotten. Spötterhäuser brennen.«
Er lachte.
»Letzte Woche haben wir eine Autofahrt mit Maartens Chef und dessen Freund gemacht«, erzählte Nicolien.
»O ja?«
»Das war doch nett, oder, Maarten?«
»Nach Schoonhoven und nach Wijk bij Duurstede«, fügte er hinzu.
»Wie kam das denn so auf einmal?«, wollte seine Schwiegermutter wissen.
»Sein Freund hat ein Auto von ihm bekommen«, erzählte er, »und da wollten sie uns einladen.«
»Hat er denn keine Frau?«
»Nein, er hat einen Freund!«, sagte Nicolien mit Nachdruck.
»Ja, ich weiß das alles nicht mehr so, weißt du? Darüber hört man zurzeit so eigenartige Dinge.«
»Warum ist das denn eigenartig?«, fragte Nicolien gereizt. »Es muss doch nicht immer der eine wie der andere sein?«
»Nein, zum Glück nicht.«
»Warum zum Glück?«, stichelte er.
»Zum Glück, dass nicht alle gleich sind, meine ich.«
»Das würde es sonst ein ganzes Stück einfacher machen.«
»Ach, du Landplage! Lass dich mal untersuchen.«
Er lachte.
Es war einen Augenblick still.
»Und so sitzen wir und sitzen«, sagte seine Schwiegermutter.
»Im Restaurant habe ich ihm mein Hähnchen in den Schoß geschnipst«, erzählte er.
»O ja?«
»Es ist mir unter dem Messer weggeflutscht.«
»Das ist nicht wahr!«
»Doch«, sagte Nicolien.
»Was für eine Bande«, stellte seine Schwiegermutter lachend fest.
*
»Tag, Mutter« sagte Maarten, er beugte sich vor. Sie hob den Kopf und spitzte die Lippen. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke. Ich soll dich grüßen.«
»Du kommst spät« sagte Nicolien.
»Es gab eine Sitzung der Gesellschaft für Volkskultur.« Er zog seine Jacke aus.
»Davon wusste ich nichts.«
»Nein.« Er hängte seine Jacke in den Nebenraum, nahm seine alte Hose mit ins hintere Zimmer, schob den kleinen Vorhang vor die Scheiben in den Zwischentüren und zog sich um. Danach ging er in die Küche, um sich die Hände zu waschen. Auf der Spüle standen drei Schälchen mit Erdbeeren und eine Schüssel mit Schlagsahne. Er nahm einen kleinen Löffel Schlagsahne und eine Erdbeere, arrangierte die übriggebliebenen Erdbeeren um, damit das Loch nicht auffiel, und begab sich wieder in das vordere Zimmer.
»Worum ging es denn?«, fragte Nicolien, als er sich auf die Couch setzte.
»Es war die Jahresversammlung. Die findet jedes Jahr statt.« Er sah zu den Gläsern, ein Gläschen Eierlikör für seine Schwiegermutter und ein Schnaps für Nicolien. »Ihr habt inzwischen schon mal angefangen?«
»Davon hast du mir nichts erzählt«, sagte sie verstimmt.
»Das ist doch nicht wichtig«, sagte er, nun etwas irritiert. »Das ist ein Haufen Vollidioten, die Beerta zusammengebracht hat und die jedes Jahr eine Sitzung über irgendwelche unsinnigen Themen abhalten.«
»Das hättest du mir dann doch wohl erzählen können!«
»Das tu ich doch jetzt.«
Sie stand auf. »Willst du auch einen Schnaps?«
»Gern.«
Sie ging in die Küche.
Er sah seine Schwiegermutter an. »Tag, Mien Gerstekorrel.«
»Tag auch, und so. Geht es dir gut?«
»Mir geht es gut.«
»Und du musst dann dabei sein?«, fragte Nicolien, als sie wieder das Zimmer betrat. Sie stellte ihm ein Glas hin und schenkte es voll.
»Ich bin Mitglied bei denen.« Er nahm das Glas hoch. »Beerta betrachtet es als eine Art Fachvereinigung.« Er nahm einen Schluck. »Er hat darauf bestanden, dass ich dort Mitglied werde. ›Dann tust du es eben für mich‹, hat er gesagt.«
»Wann war das denn?«
»Vor zwei Jahren, glaube ich.«
»Komisch, dass du mir nie etwas davon erzählt hast.«
»Vielleicht habe ich mich geschämt, oder ich fand es einfach nicht wichtig.«
»Aber so etwas erzählt man doch!«
»Ja«, sagte er schuldbewusst, »aber es ist einfach nicht zur Sprache gekommen. Ich habe nicht daran gedacht. Es ist auch nicht wichtig.«
»Und worum ist es heute gegangen?«
»Um das Sammeln von Liedern.«
»Liedern?«
»Da gibt es einen Mann, der sie sammelt, und der hat darüber erzählt. Jaring Elshout.«
»Und was war das für ein Mann?«, drängte sie, ein wenig ungeduldig, weil sie ihm alles aus der Nase ziehen musste.
»Ich fand ihn ganz nett«, sagte er abwesend. »Er hat auch eine Radiosendung.« Er sah seine Schwiegermutter an. »Kennen Sie noch Lieder?«
»Lieder?« Sie lachte, als wolle man sie zum Narren halten. »Nein, also wirklich.«
»Sie kennen doch wohl noch ein paar Lieder? Sie haben früher doch bestimmt Lieder gesungen, als Sie noch klein waren.«
»O ja, natürlich, aber das waren gewöhnliche Lieder.«
»Was denn für Lieder?«
»Na ja«, sie dachte nach, »das weiß ich eigentlich nicht mehr so genau.«
»Eins reicht.«
Sie dachte angestrengt nach, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Als ich jung war, wollt’ ich mich nicht gut betragen«, sagte sie, ein wenig feierlich, »und ich ging, wenn die Schulstund’ geschlagen, spazieren in dem grünen Wald. Ich wollt nicht lernen, doch schon bald musst ich betteln für die Kost! – Das hat mein Vater immer gesagt.«
Er schmunzelte. »Das ist kein Lied, das ist ein Reim. Kennen Sie keine Lieder, mit einer Melodie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Lieder kenne ich nicht.«
Er betrachtete sein Glas und dachte nach. Aus dem Nichts kam ihm unerwartet ein Lied in den Sinn, das ihm seine Mutter vorgesungen hatte, als er klein war. »Ich will bei dir sein, ich lass dich nicht los, doch du darfst nicht schrei’n, ich bin ja bei dir, und du bist schon groß, und du bist schon groß.« Er sang es zögernd. Zu seiner Überraschung wühlte ihn das Lied auf. Er sah seine Schwiegermutter verlegen an. »Kennen Sie das nicht?« Seine Stimme klang ein wenig heiser.
Sie lachte. »Nein.«
»Du auch nicht?«, fragte er Nicolien, um Haltung bemüht.
»Nein«, sagte sie.
»Seltsam.« Er wandte sich wieder seiner Schwiegermutter zu. »Das ist nun Wissenschaft, dass jemand etwas singt und wir es dann aufschreiben, damit es nicht verlorengeht.« In seiner Stimme lag Spott.
»Ach, Junge«, sie lachte, »lass dich mal untersuchen.«
»Glauben Sie mir nicht?«
»Kein Stück.«
»Finden Sie es denn nicht wichtig, dass die Dinge aus der Vergangenheit festgehalten werden?«
»Ach, das geht doch gar nicht!«
»Warum nicht?«
»Früher war doch alles anders!«
»Was war denn anders?«
»Na ja, alles!« Sie dachte nach, ein wenig verunsichert.
»Ja, aber was war denn anders? Die Dinge? Oder die Menschen?«
»Die Menschen auch.«
»Was war an den Menschen denn anders?«
Sie dachte nach. »Früher waren die Menschen gläubiger«, machte sie einen Versuch.
»Finden Sie das denn wichtig?«
»Ja«, sagte sie unsicher.
»Warum denn?«
»Weil der Mensch einen Halt haben muss«, sagte sie, in die Enge getrieben. »Es ist nicht gut, ganz allein dazustehen.«
»Nein«, gab er zu.
Nicolien stand auf, um in die Küche zu gehen.
»Soll ich dir helfen?«, fragte ihre Mutter und legte die Hände auf die Lehnen ihres Sessels.
»Ich ruf Sie dann schon.«
Maarten trank seinen Schnaps aus und schenkte sich erneut ein. »Möchten Sie auch noch?«, fragte er und sah seine Schwiegermutter an.
»Danke, ich habe genug.«
Er nickte. »Sie kennen Ihre Grenzen.«
»So gehört es sich doch?«
»So gehört es sich.«
»Denn sonst würden verrückte Dinge passieren.«
»Ziemlich verrückte Dinge«, gab er zu. Er nahm einen Schluck und sah sie erneut an. »Was glauben Sie eigentlich, wie es kommt, dass die Menschen weniger gläubig sind?«
»Ja, das weiß ich doch nicht. Wegen all diesen Dingen vielleicht, dass sie jetzt auch schon zum Mond müssen. Dann fängt man an zu zweifeln, ob es wohl so etwas gibt.« Sie sah ihn unsicher an.
»Einen Himmel, meinen Sie?«
»Ja. Denn wenn man schon zum Mond fliegt und das so weitergeht, fragt man sich doch, ob es noch etwas geben kann. Das ist nicht gut.«
»Das ist auch eine Frucht der Wissenschaft.«
»Ja. Ich glaube auch nicht, dass all die Wissenschaft gut für den Menschen ist. Manchmal gehen die Leute schon ein bisschen zu weit.«
Er schmunzelte.
Sie sah ihn unsicher an. »Meinst du nicht auch?«
Er nickte. »Das meine ich auch.«
Nicolien rief.
»Ruft das Kind?« – Sie legte die Hände wieder auf die Lehnen ihres Sessels.
»Ja, das Kind ruft«, sagte er.
*
Er nahm den Kaffee mit an Beertas Schreibtisch, zog einen Stuhl heran und wählte seine eigene Telefonnummer. Während er auf die Verbindung wartete, rührte er gedankenverloren im Kaffee.
»Hier Frau Koning.«
»Ha«, sagte er.
»Oh, du bist es? Ist Beerta nicht da?«
»Nein. Ist Mutter schon da?«
»Ja, wir kommen gerade zur Tür herein.«
»Tag, Maarten!«, hörte er seine Schwiegermutter im Hintergrund rufen.
»Grüß Mutter von mir.«
»Ich soll Sie grüßen«, sagte sie. »Ich soll dich zurückgrüßen.«
»Danke.«
»Was machst du gerade?«
»Den Jahresbericht.«
»Kommst du voran?«
»Noch nicht so richtig.«
»Aber du kannst doch sicher einfach den Jahresbericht vom letzten Jahr abschreiben?«
»Nein, das geht nicht. Er muss anders werden.«
»Warum muss denn immer alles anders werden?«
»Ja, so bin ich nun mal.«
Sie schwiegen.
»Wir haben ein Stück Weihnachtskranz bekommen«, erzählte er.
»Von Balk?«, fragte sie ungläubig.
»Nein, von Fräulein Bavelaar.«
»Oh, ich dachte schon.« Sie lachte.
»Das wäre schon komisch«, gab er zu. »Fast gruselig.«
»Ja«, sagte sie belustigt.
Seine Schwiegermutter sagte etwas, das er nicht verstehen konnte.
»Mutter will dich auch mal sprechen.«
»Tag, Maarten!«, sagte seine Schwiegermutter dicht an seinem Ohr. Am Telefon redete sie immer sehr laut.
»Tag, Mutter.«
»Wirst du auch brav sein?«
»Das hatte ich zumindest vor.«
»Sehr schön.«
»Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja! Das Kind stand am Bahnhof, also alles in bester Ordnung.«
»Gut so.«
Sie schwiegen.
»Niekewiek wollte dich auch noch kurz sprechen. Tschüss dann!«
»Tschüss, Mutter.«
»Da bin ich wieder«, sagte Nicolien. »Gibt es sonst noch was bei dir?«
»Nein, sonst gibt es nichts.«
In Gedanken versunken trank er seinen Kaffee und aß sein Stück Weihnachtskranz. Er schaute auf das Karteisystem neben seinem Schreibtisch und lauschte den Geräuschen im anderen Zimmer, ohne dass ihre Bedeutung zu ihm durchdrang. Danach setzte er sich wieder an den Mitteltisch und las noch einmal, was er getippt hatte.
*
Sie saßen zu dritt auf der Terrasse ihres Ferienhauses in Wapenveld, als er den Postboten durch die Gartenpforte kommen sah. Er ging ins Haus und fand im Briefkasten neben der Haustür die Zeitung vom Samstag und eine Todesanzeige, die er auf dem Rückweg aufmachte. »Jan ist tot«, sagte er, als er wieder auf die Terrasse kam.
»Jan ist tot?«, fragte seine Schwiegermutter.
»Welcher Jan?«, fragte Nicolien.
»Der Jan von deiner Cousine Saar.«
»Der Jan von unserer Saar ist tot?«, wiederholte seine Schwiegermutter.
Nicolien sah sich die Karte an. »Wie schlimm für Saar.«
»Aber war er denn krank?«, fragte seine Schwiegermutter.
»Sie sind doch dort gerade erst zu Gast gewesen.«
»Ja, aber ich glaube nicht, dass er krank war«, sagte sie vage. »Ich habe zumindest nichts davon gemerkt.«
»Dann wird er wohl nicht krank gewesen sein«, schlussfolgerte er.
»Sicher hat Onkel Jan den Brief nachgeschickt«, bemerkte Nicolien, während sie den Umschlag betrachtete, »denn er ist an Mutter adressiert.«
»Ja, Onkel Jan sollte die Post nachschicken«, bestätigte ihre Mutter. Maarten hatte sich wieder hingesetzt.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte ihn Nicolien.
»Wann ist die Beerdigung?«
Sie sah in den Brief. »Morgen.«
»Dann könntest du hinfahren.«
»Aber ich kenne sie kaum.«
»Sie ist eine Cousine von dir.«
»Ich muss doch wohl nicht bei all meinen Cousinen zu deren Beerdigungen fahren?«
»Und Mutter hat ein paarmal bei ihnen logiert.«
Sie sah ihre Mutter an. »Möchten Sie zur Beerdigung, Mutter?«
»Zu welcher Beerdigung?«
»Zu der von Jan.«
»O ja. Ja, ich möchte schon zu der Beerdigung.«
»Fahr du dann mit Mutter hin«, schlug er vor.
»Und was ist mit dir?«
»Ich werde mir schon die Zeit vertreiben.«
»Und wenn ich nun auch keine Lust habe?« Das Problem irritierte sie.
»Dann lass Mutter allein fahren.«
»Möchten Sie nicht allein zur Beerdigung fahren?«, fragte sie.
»Wer? Ich?«
»Ja. Sie.«
»Nein, Kind, das kann ich nicht.«
»Aber Sie können doch auch von Den Haag aus dahin fahren?«
»Der Bus hält hier am Ende der Allee, und Sie brauchen nur in Arnheim umzusteigen«, half Maarten.
Seine Schwiegermutter schwieg.
»Machen Sie das ruhig«, sagte Nicolien. »Sie sind dort gerade noch zu Gast gewesen, es wäre nicht nett, wenn Sie jetzt nicht kommen würden.«
»Aber fährst du dann nicht mit?«
»Nein, denn ich kenne Saar kaum.«
»Aber ich kann das nicht allein. Ich bin schon alt.«
»Sie sind überhaupt nicht alt. Das können Sie sehr gut. Wenn Sie von Den Haag aus dorthin fahren, fahren Sie doch auch allein.«
»Ja, aber da kenne ich die Strecke. Und meine Augen sind auch nicht mehr so gut.«
»Sie können doch fragen? Sie müssen nur einmal umsteigen!«
Ihre Mutter schwieg. Sie zupfte an ihrem Rock. Wenig später stand sie auf und ging unsicher ins Haus.
»Es ist doch zu verrückt, dass sie sich nicht traut«, sagte Nicolien. »Nach Vaters Tod sind sie so nett zu ihr gewesen.«
»Ja«, sagte er.
Ihre Mutter kam wieder auf die Terrasse. »Ich muss aufs Klo.«
»Na, dann gehen Sie doch«, sagte Nicolien.
»Ja, aber ich kann es nicht finden.«
»Sie wissen doch wohl, wo die Toilette ist?« Sie stand auf.
»Es ist hier so fremd.«
Sie gingen zusammen ins Haus. »Schauen Sie, hier ist es«, hörte er Nicolien sagen. »Sehen Sie?« – »O ja«, antwortete seine Schwiegermutter. »Danke.«
»Jetzt tut sie plötzlich so, als ob sie gar nichts mehr könnte«, sagte Nicolien verärgert, als sie wieder auf die Terrasse kam. »Nur, weil sie nicht allein zur Beerdigung fahren will.«
»Lass die Sache erst mal auf sich beruhen. Und sonst fährt sie eben nicht.«
»Aber das wäre doch sehr unhöflich?«
»Ja, natürlich.«
»Na, denn.«
Man hörte die Toilettenspülung. Es dauerte lange, bis seine Schwiegermutter wieder auf die Terrasse kam. Sie setzte sich und sah geistesabwesend vor sich hin.
»Tag, Pietersen«, sagte er und hob die Hand.
Sie hob kurz die Hand, ohne ihn anzusehen.
»Ich glaube, dass ich doch lieber nicht fahre«, sagte sie nach einer Weile. Ihre Stimme war höher als sonst.
»Natürlich fahren Sie«, sagte Nicolien. »Wir bitten den Fahrer, Ihnen beim Umsteigen zu helfen.«
»Ich fahre doch lieber nicht.«
»Was meinst du?«, fragte Nicolien. »Mutter kann da doch nicht fehlen?«
»Wenn sie nicht möchte …«
»Ich kann doch einen Brief schreiben, dass ich nicht mehr so gut sehen kann?«, unternahm seine Schwiegermutter einen Versuch.
»Aber Sie können den Bus doch wohl noch sehen?«
»Ja, Kind«, sagte seine Schwiegermutter ergeben. »Warte nur, bis du selbst so alt bist, dann wirst du noch manchmal an mich denken.«
*
»Hier ist es«, sagte er. Er stieg die Freitreppe hinauf.
»Aber sicher«, sagte seine Schwiegermutter. »Witzbold.«
Er drehte sich um. Sie war mit Nicolien auf der Straße stehen geblieben und sah hoch. Er lachte verlegen. »Nein wirklich, hier ist es!«
»Er macht einen Witz, nicht wahr?«, fragte sie und wandte sich Nicolien zu.
Nicolien lachte. »Nein, es ist wirklich hier.«
»So groß?«, fragte sie bestürzt. »Aber das ist doch viel zu groß?«
»Nicht das ganze Haus«, er zog den Schlüssel aus der Tasche, »zwei Zimmer.«
Sie stieg verdattert die Freitreppe hoch, die Hand am Geländer. Er stieß die Haustür auf und ließ sie eintreten. Sie blieb in dem hohen Marmorflur stehen und blickte sich fassungslos um. »Ich kann es immer noch nicht glauben.« Im Flur klang ihre Stimme hohl.
»Und das ist Neptun«, sagte er und zeigte auf die Statue, während sie den Flur durchquerten, »er hat nur die Zinken an seinem Dreizack verloren.«
Scheu sah sie an dem großen nackten weißen Mann hinauf. »Es ist still, nicht wahr?«, sagte sie zu Nicolien.
»Weil heute Sonntag ist, natürlich.«
»Obwohl im Obergeschoss auch Leute wohnen …«