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Münster zittert vor dem "Bikeman"! In Münster drehen sich munter die Räder, und es dreht sich auch immer wieder alles um Mord. Seit 20 Jahren garantiert Güsken beste schwarzhumorige Unterhaltung. Die Fahrradstadt Münster ist in ihrem Nerv getroffen: Auf der Promenade ist ein radfahrender Serienmörder unterwegs – nicht nur für den Tourismus ist das ein Desaster. Obwohl die Kripo alles Menschenmögliche unternimmt, hat sie bis jetzt nicht mal den Ansatz einer Spur. Was Ex-Hauptkommissar Niklas De Jong aber nicht besonders kratzt, denn seit er den Dienst quittiert hat, hat er mit alldem nichts mehr am Hut. Er trauert stattdessen seiner Giulia nach, die der Meinung war, dass der Humor in ihrer Beziehung zu kurz kam, und ihn wegen eines Stand-up-Comedians verlassen hat. Ausgerechnet De Jong bittet Giulia eines Tages um Hilfe, weil ihr Neuer sich von Drohbriefen belästigt fühlt. Als Ex-Bulle verstehe er schließlich etwas von solchen Dingen. Alles heiße Luft, meint De Jong, aber kurz darauf wird der Komiker ermordet. Ein Opfer des Fahrradkillers, den die Presse Bikeman getauft hat? Oder nur ein Trittbrettfahrer? Ob Bulle oder Ex, De Jong muss den Mörder finden. Denn wer auch immer hinter den Morden steckt, scheint noch lange nicht damit aufhören zu wollen ...
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Seitenzahl: 284
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Christoph GüskenDer Tod fährt Rad
Christoph Güsken wuchs in Mönchengladbach auf, studierte in Bonn und Münster und war Buchhändler in Köln. Er verfasste Texte im Geist der legendären Monty Python, u. a. für die »Springmaus«. Seit 1995 lebt er als freier Autor in Münster, schrieb zahlreiche Krimis, einige wenig ernste Romane und Hörspiele. »Der Tod fährt Rad« ist der erste Kriminalroman um den schrägen Ex-Hauptkommissar de Jong, der bei seiner Suche nach dem Sinn des Ganzen ständig über die schlimmsten Verbrechen stolpert.
Christoph Güsken
Der Todfährt Rad
Originalausgabe
© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von: © marioav - www.fotolia.de
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-297-6
E-Book-ISBN 978-3-95441-311-9
Für Aliciaund dass der Augenblick für sie verweile.
Centurion: »Crucifixion lasts hours,it's a slow, horrible death.«Matthias: »Well, at least it gets youout in the open air.«
Zenturio: »Die Kreuzigung dauert Stunden,das ist ein langsamer, grauenvoller Tod!«Matthias: »Na ja, aber wenigstens ist mandabei an der frischen Luft.«
Monty Python
Zuerst ging er davon aus, dass da nur ein einzelner Radfahrer war. Das rote Rücklicht tanzte auf der nächtlichen Promenade wie ein fettes Glühwürmchen, eine männliche Stimme drang herüber. Das war schon ein geschwätziges Zeitalter, in dem sie lebten, dachte er. Die meisten Leute telefonierten ständig. Früher hatte man für den Schutz der eigenen Privatsphäre gekämpft, heute ging es darum, dass man vor der Privatsphäre anderer geschützt wurde.
Dann kam eine weibliche Stimme hinzu. Der Radfahrer telefonierte also gar nicht. Er beschleunigte, schloss zu dem Rücklicht auf, und richtig: Beim Näherkommen konnte er ein zweites Fahrrad ausmachen: ein dunkler Schatten nur, eine bloße Silhouette auf dem nächtlichen Radweg.
Mit einem ergebenen Seufzer trat er in die Pedale. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die beiden für einen Scherz in der späten Abendstunde zu haben waren. Als er längsseits ging, bemerkten sie ihn nicht, so kam er auf die Idee, ihnen ein bisschen den Weg abzuschneiden.
»Hey, was soll das?«, beschwerte sich die Frau, als es eng wurde.
»Fahrradpolizei, Sondereinheit«, sagte er. »Sie sollten im Dunkeln immer das Licht einschalten, das ist Vorschrift.«
Der Mann starrte ihn an, während er weiterstrampelte. Er war jung, schätzungsweise Mitte zwanzig, und trug einen Dreitagebart wie einer dieser coolen Fernsehkommissare. »Hey, hast du irgendwelche Probleme?«, fragte er.
»Ausweis und Fahrzeugpapiere, wenn ich bitten darf.« Dann das erlösende Grinsen. »War nur ein Scherz.«
»Sehr komisch!«, griente der Schönling und warf seiner Gefährtin, einer langbeinigen Blondine mit Schmollmund, einen vielsagenden Blick zu.
»Finden Sie es wirklich komisch?«, erkundigte sich der Unbekannte.
»Und wie. Echt zum Ablachen.«
»Es hört sich aber nicht so an.«
»Wie hört es sich nicht an?«
»Dass Sie es komisch finden. Es klang eher so, als würden Sie es in Wirklichkeit überhaupt nicht zum Lachen finden.«
Der Schönling zog ein angeekeltes Gesicht. »Hey, was bist du für ein schräger Typ?«
»Wenn Sie es wirklich komisch finden, dann lachen Sie doch.«
»Sag mal, spinnst du oder was?«
»Haben Sie sich schon mal überlegt, dass ein einziges Lachen die Welt besser macht?«
»Warum sollte ich mir so einen Scheiß überlegen?«
»Vielleicht weil Sie auch die Welt besser machen wollen?«
»Also jetzt reicht’s mir langsam …«
»Los, lachen Sie.«
»Den Teufel werd ich.«
»Das ist ja voll krass«, gluckste die Blondine.
»Ich muss darauf bestehen«, sagte der Mann. »In Ihrem eigenen Interesse.«
Der Jüngling kicherte. »Was ist das eigentlich für eine alberne Maske? Bist du Zorro oder was? Zorro auf dem Fahrrad, zum Quieken! So was finde ich komisch, wo wir schon davon reden.«
»Ich aber nicht. Und zum Quieken schon gar nicht.«
»Ach nein? Er findet das nicht. Hast du das gehört, Schatz?«
»Komm, wir fahren da vorne links«, schlug die Frau vor.
»Nein, ich fürchte, die Reise ist hier zu Ende«, sagte der Maskenmann.
»Hey, was soll das jetzt? Steck das Messer weg oder ich …«
Nie im Leben hätte der Dreitagebärtige damit gerechnet, dass der Mann auf dem Fahrrad neben ihm zustach. Mit einem Ächzen sackte er über dem Lenker zusammen. Das führerlose Fahrrad kam ins Torkeln und brach seitlich aus. Dann lag es auf der Promenade und der Schönling blutend darunter.
Seine Freundin vermied einen Crash, indem sie eine Vollbremsung machte. Eine, zwei Sekunden war es totenstill bis auf ein Zuggeräusch, das vom nahen Hauptbahnhof herüberschallte. Aber dann schrie das Mädchen auf. Es waren stoßweise, panische Schreie, die durch die Nacht gellten.
»Seien Sie doch still«, bat der Mann.
Aber die Blondine stieg in die Pedale. Wie vom Teufel gejagt preschte sie davon. »Hilfe!«, kreischte sie. »Hilft denn keiner! Polizei!«
Zu dumm, dass sie diesen Lärm machen musste, sie würde noch alle Leute aufwecken, dachte der maskierte Mann und stieg auf sein Rad, um die Verfolgung aufzunehmen. Man musste ihr lassen, für eine Frau war sie blitzschnell, aber er hatte es trotzdem nicht eilig. Sie fuhr ja mit Licht, also konnte sie nicht entkommen.
De Jong litt an Humorlosigkeit. Auf den ersten Blick keine große Sache, schließlich gab es Millionen von Menschen auf diesem Planeten, die nicht einen Funken Humor besaßen und damit bestens klarkamen. Aber ganz so einfach war die Sache auch wieder nicht. Schließlich lebte man nicht für sich allein, man hatte Freunde und Bekannte, Kollegen, Geliebte vielleicht. Und in diesem Zusammenhang kam es dann schon schnell zu Beeinträchtigungen des täglichen Lebens, welches dieses seltene Leiden mit sich brachte. Humor war nämlich en vogue, unter Freunden traf man sich gern mal zum Kabarett oder sah sich gemeinsam einen Standup-Comedian im Fernsehen an. Wenn man dann jedes Mal sagen musste; nein danke, man lache nicht, dann dauerte es nicht lange und man manövrierte sich zwangsläufig ins soziale Abseits. Und wenn es das nächste Mal mit den Freunden in die Stadt ging, wurde man gar nicht mehr eingeladen. Im Kreis der Kollegen war es noch schlimmer: Scherze waren heutzutage aus der Betriebsphilosophie ebenso wenig wegzudenken wie die endlos ermüdenden Wortspiele aus der Werbung. Wer da nicht mitkonnte, stand ziemlich schnell allein auf verlorenem Posten. Man hatte keine Vorurteile gegenüber Leuten, die nicht lachten, aber man wollte auch nicht mit ihnen befreundet sein.
Soweit er sich erinnern konnte, hatte alles damit angefangen, dass Giulia nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte. Damals hatte es mit seinen mürrischen Stimmungen angefangen, und wenn die Kollegen auf dem Kommissariat ihre üblichen Witze rissen, hatte er das säuerlich grinsend mit »sehr witzig« kommentiert. So war er für alle Mr. Sehr witzig geworden.
Giulia sah das natürlich ganz anders, aber das war auch nicht verwunderlich. »Seit wir zusammen sind, kann ich mich nicht erinnern, dass du auch nur einmal herzhaft gelacht hättest«, sagte sie. »Ich meine, so richtig schallend.« Sie waren zwanzig Jahre ein Paar gewesen, allein schon deshalb konnte das nicht stimmen. Das hieß: Sicher traf es zu, dass sie sich nicht erinnerte, aber nicht, dass er wirklich nie schallend gelacht hätte in all diesen Jahren. Und man musste ja auch nicht über alles laut lachen. Es erschien de Jong durchaus möglich, über einen feinen Sinn für Humor zu verfügen, der das Komische in dieser Welt auf nachdenkliche, aber keineswegs weniger angemessene Art würdigte. Die Wahrheit, dachte er, lag wie meistens in der Mitte.
Im Übrigen hatte Giulia in all den Jahren nie etwas an de Jongs angeblicher Humorlosigkeit auszusetzen gehabt. Das hatte erst angefangen, als sie Mommsen kennenlernte. Marc Oliver Mommsen, den bekannten TV-Comedian. Zunächst war sie nur hin und weg von ihm gewesen und fand ihn »so was von witzig« – de Jong hatte sein Bestes getan, hatte ihr zu ihrem Hochzeitstag Karten für einen Mommsen-Liveauftritt in der Kulturwerkstatt geschenkt. Mommsen, der uneingeschränkte Meister der schnellen Pointe. Angeblich schaffte er über zwanzig Pointen pro Minute – ein selbst im europäischem Vergleich bislang unerreichter Rekord. Menschen, die über Herzbeschwerden klagten, wurde vom Genuss der Mommsen-Comedy ausdrücklich abgeraten. »Dieser Mann ist ein Phänomen!«, hatte Giulia geschwärmt. Sie war regelrecht aufgeblüht. Und als de Jong endlich begriffen hatte, dass dieses Lob nicht nur im künstlerischen Sinn gemeint war, dass sie nicht nur Marc Oliver, den Witzbold, sondern auch den Mann meinte, da hatte er sich fortan geweigert, Giulia zu Comedy-Abenden zu begleiten.
Das alles war jetzt fast ein Jahr her. Zehn Monate, drei Wochen und vier Tage, um genau zu sein. Was de Jong anging, war das Kapitel Giulia abgeschlossen, er hatte seinen Frieden mit ihr gemacht. Längst hatte er sein neues Leben begonnen, lebte in einer neuen Wohnung am grünen Stadtrand von Münster mit Blick auf die Schrebergärten, den er an Frühsommerabenden wie diesem gern genoss, um über wesentliche Fragen des Daseins nachzusinnen. Und er hatte wenig Verständnis, wenn dieser kleinbürgerliche Frieden urplötzlich gestört, ja in seinem Bestand bedroht wurde. Indem sie nämlich doch wieder anrief.
»Niklas? Bist du dran? Warum sagst du nichts?«, drängte ihre Stimme, weil er das Gespräch angenommen hatte, sich aber nicht meldete.
»Was willst du, Giulia?« Er wusste nämlich genau, dass es nur einen Grund geben konnte, weshalb sie sich meldete: Sie wollte ihn um einen Gefallen bitten.
»Gar nichts, wie kommst du darauf? Wie geht es dir? Was macht die Kripo-Arbeit?«
»Was soll die schon machen? Vor zwei Monaten bin ich aus dem Dienst ausgeschieden.«
»Richtig, du hattest mir davon erzählt. Und jetzt? Sag schon, was machst du so?«
»Falls es dich überhaupt interessiert, würde ich dir erzählen, dass ich an einem Roman schreibe.«
»Wie interessant«, meinte Giulia höflich. Wie schon erwartet interessierte es sie nicht.
»Wie geht’s dem guten Marc Oliver?«
»Ach, der«, sagte sie. Und instinktiv begriff er, dass sie seinetwegen anrief. »Marc O geht es super, er kann nicht klagen. Nächstes Jahr bekommt er seine eigene Fernseh-Show. Übrigens schreibt er auch an einem Roman …«
»Natürlich«, sagte de Jong und: »Wie interessant«, um klarzumachen, dass er sich für alles, was mit Mommsen zu tun hatte, genauso wenig interessierte.
»Aber wo du schon fragst«, sagte Giulia. »In letzter Zeit hat er ein paar seltsame Briefe bekommen, und da dachte ich, weil du ja vom Fach bist …«
»Vom Fach? Bin ich etwa bei der Post?«
»Sehr komisch«, meckerte sie, als wollte sie sagen: Wenn du für irgendetwas kein Fachmann bist, dann im Äußern von witzigen Bemerkungen. »Hör zu, Niklas: Er kriegt Berge von Fanpost, und weil er einfach nicht die Zeit hat, sich darum zu kümmern, habe ich das für ihn übernommen. Da sind Briefe dabei, die wirklich besorgniserregend klingen. Regelrechte Drohbriefe. Und deshalb wollte ich dich bitten, wenigstens mal mit ihm zu reden.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, Giulia.«
»Mein voller Ernst. Schließlich waren wir beide mal eine lange Zeit zusammen und standen uns sehr nahe, hast du das so schnell vergessen?«
»Ich versuche es wenigstens, und es würde mir vielleicht auch gelingen, wenn du mich nicht dabei stören würdest.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
»Und wenn es eine ernste Sache sein sollte, was ich, ehrlich gesagt, bezweifle, warum geht ihr damit nicht zur Kripo? Die sind für so was nämlich zuständig.«
»Glaubst du, das habe ich noch nicht getan? Aber die nehmen uns nicht ernst. Fanden das eher zum Lachen.«
»Bravo!«, feixte de Jong. »Aber was das angeht, ist dein Mommsen doch der Experte und nicht ich.«
Giulia war Redakteurin bei einem lokalen Rundfunksender. Ihre Stimme war geschult: In einem Moment konnte sie einschmeichelnd klingen, verführerisch wie die einer Sirene, dass einem ein Schauer über den Rücken lief, im nächsten kühl und geschäftsmäßig, beispielsweise wenn Giulia bewusst wurde, dass weitere Schmeicheleien sinnlos waren, so wie jetzt. »Tut mir leid, Niklas, ich weiß nicht, wie ich überhaupt auf die Idee kommen konnte, dich anzurufen.«
»Ich auch nicht«, sagte er, aber sie hatte die Verbindung schon unterbrochen.
Es war diese phänomenale Stimme, ging es de Jong durch den Kopf, als er dastand, mit dem Telefon in der Hand, in die er sich damals verliebt hatte.
Dr. Daniel Frau, sein Therapeut, hatte ihm geraten, dem Grund für seine Humorarmut (Dr. Frau bevorzugte diese Formulierung) auf die Spur zu kommen. »Jede Krankheit hat ihren Grund auszubrechen, sogar ein alltäglicher Schnupfen.«
»Aber Sie sagten doch, es handele sich nicht um eine Krankheit.«
»Was würden Sie davon halten, wenn wir es als Störung bezeichnen? Aber wie auch immer wir es nennen, erkennen Sie die Gründe dafür und Sie haben den halben Weg schon bewältigt.«
»Meine Frau ist mit einem Hohepriester des Humors zusammen, das ist der Grund. Deshalb hasse ich Lachen wie die Pest.«
Frau runzelte die Stirn. »Aber gab es da nicht schon vorher gewisse … sexuelle Unstimmigkeiten zwischen Ihnen? Und erwähnten Sie nicht auch, dass Ihre Frau die Humorarmut als Grund für die Trennung von Ihnen anführte?«
»Hören Sie doch auf«, ärgerte sich der Ex-Kommissar. »Dieser Kerl hat ihr erst eingeimpft, dass ein Leben ohne Lacherei nicht lebenswert sei.«
Dr. Frau fixierte seinen Klienten mit einem investigativen Blick. »Und Sie sind demnach der Ansicht, dass es das wäre?«
* * *
Everswinkel war eine der zahllosen, unspektakulären westfälischen Kleinstädte im westlichen Münsterland. Postalisch war es dem Kreis Warendorf zugehörig und verfügte über einen Bahnhof, eine Volkshochschule und ein recht überschaubares Gewerbegebiet. Die meisten Einwohner übernachteten hier aber nur – unter der Woche arbeiteten sie im nahe gelegenen Münster, wo sie auch die meisten Einkäufe tätigten. Münster war unbestritten größer als Everswinkel und eine jener mittleren Großstädte, die sich auch gern mit dem Begriff »Metropole« schmückten. Dass dieser Titel wie ein zu groß geratener Anzug wirkte, weil es auch dort eher beschaulich als großstädtisch zuging, daran konnten auch Tausende von Studierenden nichts ändern.
De Jong war nicht aus Überzeugung hergezogen, sondern wegen Giulia. Gebürtig stammte er vom Niederrhein und gehörte damit einem Menschenschlag an, dem nachgesagt wurde, dass er nicht ungern dort wegzog, wenngleich selten aus Überzeugung. Trotzdem oder vielleicht gerade wegen der hier allgegenwärtigen westfälischen Ordentlichkeit und der Langeweile, die wie ein riesiges Tuch über allen alltäglichen Dingen lag, war de Jong inzwischen ein richtiger Wahl-Everswinkeler geworden. Er war Stammgast im Knipperdolling, der einzigen erwähnenswerten Kneipe im Ort, und traf sich dort hin und wieder mit Eugen Küppers, Hauptkommissar bei der Kripo Münster und damit Ex-Kollege.
»Sei bloß froh«, begrüßte der ihn an diesem Abend, noch bevor de Jong sein Bier in der Hand hielt, »dass du mit dem Laden nichts mehr am Hut hast. Ich kann dir sagen …« Küppers war fast zehn Jahre jünger als de Jong und topfit. Er hatte eine Traumfigur. Aber er war nicht der geborene Bulle. De Jong konnte ihn sich besser als Sportler vorstellen – als Trainer des SC DJK Everswinkel beispielsweise, vielleicht sogar als Bundestrainer, aber für einen Polizisten fehlte ihm sowohl die Spürnase als auch die kriminelle Intuition.
»Klar, bin ich auch«, nickte der Ex-Kommissar. »Irgendwas Neues aus der Welt der Kapitalverbrechen?«
»Seit gestern Nacht haben wir Nummer drei und vier,« sagte Küppers. »Aber wenigstens auch eine Täterbeschreibung.«
»Du sprichst von dem mysteriösen Fahrradkiller?«
»Bikeman, genau. Dieses Mal hat er sich ein Pärchen vorgenommen. Sie BWL-Studentin, er angehender Zahnmediziner. Eine Sauerei, kann ich dir sagen. Sei bloß froh, dass du …«
»Ja, ja, bin ich doch. Und wie sieht er aus?«
»Immerhin haben wir dieses Mal eine Täterbeschreibung. Eine Anwohnerin, die zufällig aus dem Fenster geschaut hat. Der Kerl ist männlich, schlank, trägt schwarze Klamotten und war wieder mal mit dem Fahrrad unterwegs.«
»Jetzt müsst ihr ihn nur noch schnappen.«
Der Hauptkommissar schnaubte. »Toller Rat, Niklas! Wie kann man einen Serienmörder stoppen?«
»Ganz einfach, indem man ihn schnappt. Bist du etwa anderer Meinung?«
Küppers setzte sein Glas ab und hatte Bierschaum an der Oberlippe. »Diese Stadt wimmelt von Kripobeamten, mein Lieber. Die gesamte Fahrradpolente ist auf den Beinen. Jeder zweite Radfahrer auf der Promenade ist einer von uns. Was denn noch?«
»Er ist also zu clever für euch?«
»So will ich das nicht sagen.«
»Wie denn dann?«
»Ganz einfach: Die Kripo Münster mag hoffnungslos unterbesetzt sein, aber genau darin liegt ihre Chance.« Küppers beugte sich verschwörerisch vor. »Der Kerl hält uns für unfähig, und deshalb kriegen wir ihn.«
»Absolut klar.« De Jong nickte. »Eine bestechende Logik.«
»Jedenfalls kannst du froh sein, dass du mit all dem nichts mehr zu tun hast.«
De Jong war tatsächlich froh. Aber eigentlich wollte er lieber auf etwas zu sprechen kommen, das ihm inzwischen leider doch auf den Magen geschlagen war. »Weißt du, wer mich heute angerufen hat? Giulia.«
Küppers schluckte sein Bier hinunter und grunzte. »Wie lange seid ihr jetzt auseinander?«
»Schon ziemlich lange«, meinte de Jong.
»Eins kann ich dir sagen.« Der andere hob sein Glas. »Sei bloß froh, dass du den Beziehungsstress quitt bist.« Er grinste aufmunternd und gab sich offenkundig Mühe, neidisch auszusehen. »Du ahnst gar nicht, wie gut du es hast.«
De Jong ärgerte sich. Eugen Küppers war mit einer bezaubernden Frau verheiratet und hatte zwei bezaubernde Kinder. »Sollte das ein Witz sein?«, erkundigte er sich mit Argwohn in der Stimme.
»Nein, nein, das ist mein voller Ernst«, versicherte der andere, der den Argwohn sehr wohl registriert hatte und obendrein seinen Freund lang genug kannte, um in seiner Gegenwart nicht leichtfertig mit Witzen zu hantieren.
Na prima, dachte de Jong, so wie Eugen redeten Leute, die alles hatten, was sie sich erträumen konnten, und doch nicht damit zufrieden waren. Er solle bloß froh sein, dass er keine Million auf dem Konto hatte. Er solle bloß froh sein, dass nachts neben ihm keine Frau im Bett lag. Er solle bloß froh sein, dass er nicht alle paar Monate in Urlaub fahren musste.
»Übrigens, wie das so ist«, sagte de Jong. »Ich hab da schon was am Laufen.«
Küppers wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und war ganz Ohr. »Erzähl schon!«, verlangte er. Mit der Hand, die kein Bierglas hielt, orderte er zwei neue. »Du bist echt zu beneiden, Niklas, weißt du das?«
An diesem Punkt des Gespräches wurde de Jong klar, dass die Sache mit Giulias Anruf noch lange nicht erledigt war.
Wie viele andere beliebte Städte hatte Münster seine Schokoladenseite. Und wie in vielen anderen Städten verspürten betuchte Bürger das Bedürfnis, auf dieser Schokoladenseite zu wohnen. Hauseigentümer investierten in Luxusrenovierungen, erhöhten die Mieten, bis langjährige Mieter das Handtuch warfen und der Weg für die Betuchten frei war. Mit dem Geld veränderte sich das Viertel: Dönerbuden, Telefonshops und Discounter verschwanden und an ihrer Stelle schossen Luxusboutiquen, Nobelrestaurants und Fairtrade-Läden wie Pilze aus dem Boden. Sozialneider nannten das Gentrifizierung, Investoren und Immobilienmakler sprachen lieber von Verbesserung der Wohn- und Lebenswelt. Wie auch immer man es am Ende nannte, in seinen Genuss kamen nur die Betuchten, die allein zurückblieben, was wiederum dazu führte, dass die gefühlte Wohntemperatur deutlich absank. Um sich gegen sozialneidische Übergriffe zu wappnen, rotteten sich Wohnanlagen zusammen und betrauten private Sicherheitsdienste mit der Überwachung ihrer Wohn- und Lebenswelt. Außenstehende mochten sich an die Wagenburgen der Siedlertrecks im Wilden Westen des 19. Jahrhunderts erinnert fühlen, die sich gegen Angriffe feindlich gesinnter Rothäute zur Wehr setzten.
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