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Konrad Flint steckt in einer Lebenskrise: Er hat keinen Job und seine Beziehung ist gescheitert. Also ergreift er notgedrungen die Chance, als ein kleiner Buchladen per Anzeige eine Aushilfe sucht. Der Inhaber, Friedemann Drosselbach, ist ein verschrobener Buchhändler vom alten Schlag, mit einer rätselhaften und fast schon obsessiven Vorliebe für Fantasyliteratur. Flint, der keine Ahnung vom Buchhandel hat, nimmt den Job aber an, weil er von Drosselbachs Tochter Jelena fasziniert ist. Erst später erfährt er, dass sie längst vergeben ist, an Robin Pracht, einen cleveren jungen Mann mit einem untrüglichen Sinn für den kommerziellen Vorteil. Als in der Nähe ein riesiges Bücherkaufhaus eröffnet, scheint das Schicksal des kleinen Buchladens besiegelt, und Pracht spinnt einen Plan, das Geschäft gewinnträchtig abzuwickeln, hinter dem Rücken des halststarrigen Drosselbach. Als der die Intrige ahnt, eskaliert die Situation. Die Besprechung unter Geschäftsleuten artet in einer Bücherschlacht aus, und Drosselbach erleidet einen Herzinfarkt. Als er sich wieder erholt, lebt er in einer anderen Realität. Er ust Kühnwald der furchtlose, ein Ritter aus den Albanonchroniken, die er in- und auswendig kennt. Wie einst Don Quijote zieht er jetzt in den Kampf gegen die Mächte der Finsternis, die er im übermächtigen Buchhaus van Kraken am Werke zu sehen glaubt, und Konrad Flint wird sein Sancho Panza. Sie kidnappen eine Buchhändlerin und können ihre Verfolger abschütteln. Nach tagelanger Flucht endet das Abenteuer für Drosselbach allerdings in einer psychiatrischen Anstalt. Aber der Kampf um das Buch und das Gute in der Welt ist noch nicht zu Ende. Flint, dem Bücher fremd sind und der dennoch in der Seele ein Buchhändler ist, hofft immer noch, das Herz Jelenas zu gewinnen. Dehalb pant er, den alten Mann aus der Anstalt zu befreien und ihn wieder zu Kühnwald dem furchtlosen zu machen, damit sie sich ein weiteres Mal aufmachen, um neue Abenteuer zu erleben ...
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Originalausgabe
Texte: © Copyright by Christoph Güsken Umschlaggestaltung: © Copyright by Christoph Güsken
Verlag: C. Anger Bahnhofstraße 24 48143 Münster [email protected]
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Der Letzte der furchtlosen Buchhändler 1
Teil 1: DER BUCHLADEN 4
Kapitel 1 4
Kapitel 2 9
Kapitel 3 13
Kapitel 4 20
Kapitel 5 29
Kapitel 6 37
Kapitel 7 43
Kapitel 8 47
Kapitel 9 53
Kapitel 10 56
Kapitel 11 64
Teil 2: KÜHNWALD DER FURCHTLOSE 68
Kapitel 1 68
Kapitel 2 72
Kapitel 3 81
Kapitel 4 102
Kapitel 5 118
Kapitel 6 131
Kapitel 7 142
Teil 3: DIE RÜCKKEHR DES AUROREN 153
Kapitel 1 153
Kapitel 2 159
Kapitel 3 174
Kapitel 4 191
Kapitel 5 202
Kapitel 6 210
Kapitel 7 220
Kapitel 8 228
Kapitel 9 236
Kapitel 10 249
Kapitel 11 263
Kapitel 12 272
Kapitel 13 279
Indem sahen sie wohl dreißig bis vierzig Windmühlen, die auf jenem Felde stehen, und sowie sie Don Quixote erblickte, sagte er zu seinem Stallmeister: „Das Glück führt unsre Sache besser, als wir es nur wünschen konnten, denn siehe, Freund Sancho, dort zeigen sich dreißig oder noch mehr ungeheure Riesen, mit denen ich eine Schlacht zu halten gesonnen bin und ihnen allen das Leben zu nehmen; mit der Beute von ihnen wollen wir den Anfang unseres Reichtums machen, denn dies ist ein trefflicher Krieg und selbst ein Gottesdienst, diese Brut vom Angesicht der Erde zu vertilgen.”
Miguel de Cervantes Saavedra
Ich habe nichts gegen Buchhändler. Die meisten von ihnen sind umgänglich, einige geradezu sympathisch, wenn sie auch zu Altklugheit und Besserwisserei neigen. Dies mag all jene, welche behaupten, dass sich allzu große Belesenheit negativ auf den Charakter auswirkt, in ihrer Meinung bestärken. Im Großen und Ganzen jedoch zeichnet die Angehörigen dieser immer seltener werdenden Spezies ein ganz spezieller Charme aus, eine wenig durchschaubare, manchmal recht explosive Mixtur aus weltfremdem Insichgekehrtsein und kühlem rechnerischen Instinkt. Bücher auf den Cent genau zu kalkulieren - diese Meisterleistung ist vergleichbar mit der hohen Kunst, einen tonnen-schweren Truck in eine winzige Parklücke zu manövrieren, ohne Fremdblech auch nur zu touchieren.
Buchmenschen sind Wesen aus einer anderen Welt, Träumer, die der Glaube an ein besseres Sein jenseits des bloß Sichtbaren eint, sowie an jenen legendären Toptitel, der einem nur einmal im Leben unterkommt und alle bisherigen Verkaufsrekorde bricht.
Friedemann Drosselbach allerdings war ganz anders. Auf seine Art zweifellos ein Gigant, einer der ganz Großen seines Berufsstandes, aber auch ein Urgestein, einer jener Dinosaurier, von denen man sagt, dass sie nicht mehr in diese Zeit passen, weil sie zu groß für sie sind, die aber in Wirklichkeit nicht mehr in ihr geduldet werden, weil sie eben diese Zeit zu klein aussehen lassen.
Dass ich ihn kennenlernte, hatte im Wesentlichen mit einer verpfuschten Paartherapie zu tun. Verpfuscht war sie allerdings nur aus meiner Sicht, nicht aus Malins. Für sie war sie ein Erfolg auf ganzer Linie. Unseren gemeinsamen Therapeuten empfand sie als Glücksgriff. Nils Haubrich - noch nie habe ich jemanden getroffen, der imstande war, so viel Verständnis für andere Menschen aufzubringen. Haubrichs Fähigkeit zu Empathie und Einfühlung überstieg jenes Maß, das einen spontan den Hut ziehen lässt, was ja schon mehr als beachtlich ist. Sie erreichte eine überirdische Dimension, in der einen heimliches Grauen beschleicht, weil man instinktiv ahnt, dass so viel des Guten letztlich nicht gut sein kann. Wie auch immer - was Malin anging, so war sie hin und weg von Nils und wollte schon nach der dritten Sitzung niemals wieder mit einem Mann zusammensein, der sie auch nur ein Hundertstelgramm weniger verstand.
Fast fünf Jahre hatte unsere Beziehung gedauert. Eine schöne Zeit. Alles, was mir jetzt noch blieb, war, meine Sachen zu packen.
Haubrich besaß so viel Verständnis, dass Malin allein es gar nicht verbrauchen konnte. Für mich blieb auch noch ein schöner Batzen davon übrig. „So glücklich einen die neue Liebesbeziehung macht”, meinte der Psychomann selbstkritisch, „so weh tut es doch, dass man dabei unweigerlich eine andere zerstört. Ich wollte nur, dass du das weißt. Und dass ich das zu gern vermieden hätte.”
„Danke, aber das wusste ich schon”, sagte ich. „Jedenfalls das Erste.”
Als eine Art Wiedergutmachung - Wiedergutmachung einer Sache, die nun mal nicht wiedergutzumachen ist, wie Nils eindringlich betonte - boten sie mir an, dass ich vorerst in der ehemalig gemeinsamen Wohnung bleiben konnte, so lange jedenfalls, bis ich etwas Angemessenes gefunden hatte. Ein wirklich großzügiges Angebot, denn die Wohnung gehörte zu denen, aus denen man nicht leichtfertig auszieht: Sie hatte hohe Stuckdecken, war zentrumsnah gelegen, mitten in einem hochintellektuellen Viertel, und besaß ein feinsinniges kulturelles Flair, das so greifbar war, dass es sich nach jedem Regen als hauchdünner Belag auf der Fensterbank niederschlug. Nebenan wohnten Nachbarn, die ihre hochbegabten Kinder auf private Schulen schickten und sich neben ihrer Anwaltstätigkeit für soziales Miteinander engagierten. Ich würde nicht nur eine Wohnung aufgeben, sondern einen gesellschaftlichen Status und obendrein ein anspruchsvolles Zuhause in einer lebendigen Umgebung.
Einmal davon abgesehen, dass sich für jeden, der auch nur über einen Funken Selbstachtung verfügte,natürlich gebot, dieses großzügige Angebot auszuschlagen. Dass ich dies unterließ, hatte im Wesentlichen nur einen Grund: Ich schätzte die Lage so ein, dass mir der Weg des Nichtausschlagens den geringsten Widerstand einbringen würde. Sobald wie möglich würde ich ausziehen, versprach ich, aber dazu müsste ich erst mal einen Job finden, um mir das Woanderswohnen leisten zu können.
Darin habe ich viel Übung: Wege zu finden, die den geringsten Widerstand bieten. Vergleichsweise leicht zu begehen sind sie, was einen nicht wundert, aber im Gegensatz zur allgemeinen Meinung nicht immer leicht zu finden. Es differiert stark, je nach Situation. Malin ging sogar so weit zu behaupten, ich hätte es meiner Vorliebe für die Wege des geringen Widerstands zu verdanken, dass sich mein Leben in diesem Moment genau an dieser Stelle befand. Damit mochte sie recht haben, und es war auch nicht abzustreiten, dass ich eigentlich nie wirklich zu den kulturellen Intellektuellen meines Umkreises gehört hatte. Hinter meiner angepassten Maske war ich ein Eindringling, ein Hochstapler, der nur so tat, als sei er einer dieser gutbetuchten Menschen von durchschnittlicher Begabung, jedoch ohne jegliche soziale Benachteiligung. Daran war nicht zuletzt mein Werdegang schuld, der aus einer Serie von Fehlentscheidungen bestand, die es mit der Zeit immer schwieriger machten, die Fassade des leidlich erfolgreichen Mitbürgers aufrecht zu erhalten. Eins kam zum anderen, erst die falsche Ausbildung, dann der falsche Job, schließlich die Idee, als Übersetzer die Welt der Literatur zu bereichern. Der gutgemeinte, aber falsche Rat auf einer Fortbildung, nicht auf den überfüllten Mainstreammarkt der englischen, spanischen oder französischen Literatur zu drängen, sondern sich lieber mit seltenen Sprachen ein Alleinstellungsmerkmal zu erarbeiten. So wartete ich jahrelang vergeblich darauf, zeitgenössische Literatur in die Sprache der Inuit, ins Kurdische oder Gälische zu übersetzen. In der Zwischenzeit jobbte ich als Busfahrer, Aktenverräumer und Aufsicht über öffentliche sanitäre Anlagen. Der Weg des geringsten Widerstands blieb weiterhin die Hauptstraße auf der Roadmap meines Lebens.
Wer konnte Malin verübeln, dass sie Haubrichs lawinenartiges Verständnis meinem Panoptikum der kleinen und mittleren Lebenskatastrofen vorzog?
Mein Name ist Konrad Flint und ich war bis zu dieser Stunde nicht stolz auf mein Leben. Hatte wohl auch keinen Grund, es zu sein, und bei der Pleite mit Malin gab es, was mich anging, schon gar nichts zu beschönigen. Aber gerade deswegen war es - von heute aus gesehen - kein schlechter Zufall, eines Tages auf eine Stellenanzeige zu stoßen, zu einer Zeit, da ich gar nicht mehr so genau hinsah, weil die Aussicht auf demütigendes Anklopfen an Türen, von denen nur ein Idiot hoffen konnte, dass sie sich öffneten, mir das Frühstück und die restliche Zeit des Tages vergällten. Genau gesagt stieß ich auch nicht darauf; ich fand sie, rot angestrichen, auf meinem Frühstücksteller vor. Malin hatte sie dort hingelegt, um mich auf nette Weise an mein Auszugsversprechen zu erinnern.
Buchhändlerische Aushilfe gesucht, Kost und Logie incl., Drosselbachs Buchladen, Berliner Platz.
Keine Postanschrift oder Emailadresse, nicht mal eine Telefonnummer. Das war interessant, denn man konnte sich ja praktisch gar nicht auf diese Anzeige melden, jedenfalls nicht auf die übliche Art und Weise. Und deshalb stellte sich auch nicht das übliche flaue Gefühl ein, schon wieder eine Absage zu kassieren.
Immerhin: Ab und zu führte mich mein Weg genau dort zufällig vorbei.
Zwei Tage später betrat ich Drosselbachs Buchladen. Es war lausiges Wetter, seit dem frühen Morgen nieselte es aus tiefhängenden, düsteren Wolken. Die Massen von Einkaufsbummlern, die sonst die Innenstadt verstopften, drückten sich in warmen Cafés und Kaufhäusern herum, aber nicht am Berliner Platz, wo es nichts zu sehen gab außer Schlangen von stehenden Autos, die ungeduldig hupend in die City-Parkhäuser drängelten. Die fleckige Plastikplane, die die Auslagen mit Sonderangeboten im Eingangsbereich des Ladens schützen sollte, war verrutscht und gab einige Bücher der Nässe preis, darunter ein Stapel Ratgeber für den Gemüsegarten und ein großformatiger Bildband über die Provence. Ich stämmte mich gegen die massive Glastür und betätigte beim Eintreten eine antike Ladenklingel.
Drinnen war es still, die Geräusche und Gerüche des Straßenverkehrs plötzlich weit weg. Ich blinzelte. Das spärliche Licht wurde verschluckt von deckenhohen Regalen aus dunklem Holz, alle mit Leseware geradezu vollgestopft. Romane, Sachbücher, Ratgeber von A bis Z, wie inzwischen vergilbte Zettel verrieten, die handbeschriftet und mit Tesafilm auf dem Holz angebracht waren - der Laden platzte förmlich aus den Nähten. Hinter einem Drehständer, der sich nur quietschend bewegen ließ, obwohl er ausschließlich leichte Unterhaltung für die Reise trug, ragte eine Art Tresen auf. Darauf kauerte zwischen Bücherstapeln, Pros-pekten und einem Quittungsblock mit aufgestecktem Kugel-schreiber die Kasse, ein schweres altertümliches Monstrum, das schon viele Generationen von Kundschaft kommen und gehen gesehen hatte.
„Hallo”, sagte ich vorsichtshalber, aber niemand antwortete.
Hier zu arbeiten, erschien mir als sehr unwahrscheinliche Perspektive, das war mir sofort klar. Die Luft enthielt einen so hohen Staubanteil, dass sie nur schwer atembar war. Und obwohl ich mich nicht zu den Allergikern zählte, war ich sicher, dass sich das hier schon sehr bald ändern würde. Dunkel meinte ich, mich erinnern zu können, dass ich irgendwo gelesen hatte, im Buchhandel gäbe es seitens der Arbeitnehmer Bestrebungen, die Staublunge als Berufskrankheit anerkennen zu lassen. Was den Job anging, konnte man also sagen, dass ich hier eigentlich nichts mehr zu suchen hatte.
Trotzdem drehte ich nicht um. Ich ließ den Kassentresen links liegen und begab mich in den hinteren Teil des Ladens, passierte ein Regal mit geistlicher Erbauungslitertatur, Zeitgeschichte und Kriminalromanen. Fast wäre ich der Länge nach hingeschlagen, als ich über eine Stufe stolperte, über die man in die Abteilung mit Kinderbüchern und Fantasyliteratur gelangte. Gerade noch konnte ich mich am Wühltisch mit den Bilderbüchern abstützen. Hier roch es weniger muffig, die Bücherrücken waren bunter, dafür war das Licht schwächer. Außer mir befand sich kein einziger Kunde im Laden.
„Hallo”, wiederholte ich. Meine Stimme hallte nicht. Es war, als würde ich unter einer Bettdecke sprechen. Kein Wunder, dass außer mir niemand hier war. Endlich beschloss ich kehrtzumachen, unverrichteter Dinge, da ich niemanden antraf, was in Ordnung ging, schließlich hatte ich ja nicht die Absicht, hier eine wie auch immer geartete Tätigkeit auszuüben. Auch mein Rundgang war zu Ende, er hatte mich zu einer Art Leseecke im hintersten Teil des Ladens geführt, einer kleinen Lichtung im finsteren Bücherdickicht, die von einer Stehlampe beherrscht wurde. Ein museumsreifes Ding aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. An seinem vergoldeten Messingarm baumelte ein kegelförmiges, mit gelblichem Gardinenstoff bezogenes Etwas, der Lampenschirm, der sein diffuses Licht auf einen schweren braunen Ohrensessel ergoss.
Letztlich erleichtert darüber, niemanden angetroffen zu haben, wollte ich mich zum Gehen wenden, verhielt aber dann plötzlich, als ich einen Haarschopf entdeckte. Es war ein hellblonder Haarschopf, im Halbdunkel leuchtete er auf wie ein Wassertropfen, der von einem Sonnenstrahl getroffen wird. Also war ich doch nicht allein: In dem Ohrensessel saß jemand! Eine Weile starrte ich wie gebannt, dann verlagerte ich mein Körpergewicht vorsichtig auf die linke Seite und bemühte mich um einen anderen Blickwinkel, ohne einen Schritt und damit eventuell ein Geräusch zu machen. Und so erblickte ich eine junge Frau, die in ein Buch vertieft war. Sie hatte schulterlanges blondes Haar und ein Gesicht, das dem eines Engels glich – natürlich hatte ich noch nie einen gesehen, war mir nicht mal sicher, dass es welche gab, aber wenn, dann mussten ihre Gesichter so aussehen. Schon in diesem ersten Moment kam mir der Gedanke, dass das, was ich erblickte, eigentlich weit über das hinausging, was man im Allgemeinen als Gesicht bezeichnete: Es war ein Antlitz. Dabei war es durchaus denkbar, dass ich übertrieb (im Nachhinein betrachtet halte ich das für möglich) und diese Frau eine ganz gewöhnliche Frau wie viele andere war und auf mich nur deshalb so feengleich wirkte, weil ich sie völlig unerwartet in diesem düsteren, staubverhangenen Büchergewölbe antraf. Fakt ist aber, dass ich nicht mehr als wenige Sekunden Gelegenheit hatte, sie zu betrachten. Denn plötzlich nahm sie ihren Blick aus dem Buch und wandte sich mir zu. „Kann ich Ihnen helfen?”
„Ich eh …” Meine ruckartige Bewegung brachte den Stapel Bücher in meinem Rücken zu Einsturz. „Flint”, sagte ich, während ich mich schnell bückte, um das Malheur zu beheben. „Konrad Flint. Ich komme wegen der Stellenanzeige.”
Die Feengleiche lächelte und erhob sich. Sie trug einen sehr kurzen Rock. Fast erschien er mir gewagt für eine reizarme und intellektuell überladene Umgebung wie diese, ein anregender Kontrast zu ihr war er allemal. „Da sprechen Sie am besten mit meinen Vater. Ich werde ihn holen.”
Ich hielt den Atem an, aber als sie sich an mir vorbeischob, konnte ich nicht anders, als ihren Duft einzuatmen, einen herben Ton, nicht zu identifizieren. Dann sah ich ihr nach, bewunderte ihre gazellengleichen Bewegungen ebenso wie die helle Haut ihrer Schenkel, bis sie durch eine schmale Holztür im Halbdunkel zwischen den Regalen verschwand. Und ich war mir plötzlich so sicher wie nie, dass ich diesen Job unbedingt wollte.
Seine Haut war so grobporig, dass ich zuerst an einen Waldmenschen dachte. Einen Wilden, von dem man mit andächtiger Ehrfurcht an den Lagerfeuern der Indianer erzählt, wobei jeder weiß, dass es sich um eine Legende handelt. Die Haut war voller Furchen und erinnerte an Baumrinde. Unter den eisgrauen Locken schauten Ohren hervor, fette, knorpelige Dinger, passend zur dicken Nase. Das war Friedemann Drosselbach, ein Riese, zu groß und erst recht zu grobschlächtig für einen Buchmenschen, geschweige denn einen Buchhändler. Er steckte in einer abgetragenen Strickjacke, deren Farbton man im Halbdunkel nicht ausmachen konnte, und einer Cordhose mit Hochwasser. Niemand würde mir weismachen, dass dieser Holzfäller der Vater jener engelsgleichen Erscheinung war, der ich vor wenigen Minuten begegnet war. Wenn überhaupt, dann war das hier ein Fall von die Schöne und das Biest.
„Wie war noch der Name?”, begrüßte der Riese mich mürrisch. „Flinn?”
„Flint”, sagte ich.
„Wie der berüchtigte Käpt'n”, nickte er, begab sich zu dem Ohrensessel und wies auf einen Hocker, den er aus einem Abgrund zwischen zwei Bücherregalen gezerrt hatte. „Und Sie wollen für mich arbeiten?”
Das klang geradezu ungläubig. Nicht so, als vermute er, dass ich einen Scherz gemacht habe, sondern als belustige ihn die Tatsache, dass sich jemand auf seine Anzeige gemeldet hatte.
„Wenn die Stelle noch frei ist”, sagte ich.
„Wissen Sie, echte Buchhändler kriegen Sie heute kaum noch”, sagte Drosselbach.
„Ich bin leider auch keiner”, beeilte ich mich klarzustellen.
„Und woran liegt das: weil sie nicht mehr gebraucht werden. Buchläden werden ja auch nicht mehr gebraucht.” Für mich klang das so, als wäre es nicht das erste Mal, das sich der Mann darüber beschwerte.
„Aber Sie haben doch immerhin …”
„Wer liest heutzutage noch? Mal ehrlich: Wen interessiert noch Gedrucktes? Heute haben sie nur winzige tragbare Bildschirme, die sie unentwegt mit ihren Daumen bearbeiten. Keine Substanz mehr, nichts Wesentliches. Nur noch oberflächliches Zeug, verstehen Sie?”
„Klar”, sagte ich, gespannt darauf, dass der Andere zur Sache kam.
„E-Books, wenn ich das schon höre! Wozu denn? Weil die Spezies Homo Sapiens nicht mehr anders kann, als auf Displays zu starren wie die Maus auf die Schlange. Deshalb sorgt man dafür, dass sie auf diesen Bildschirmchen Bücher zu sehen kriegen und nennen das Lesen. Wozu führt das?” Drosselbach starrte mich an, als würde er von mir eine Antwort erwarten.
„Mich würde interessieren”, wechselte ich lieber das Thema, „wie meine Arbeit hier aussehen würde …”
Der Alte schüttelte den Kopf und schnaufte. Ließ sich in den Ohrensessel zurücksinken, der noch warm sein musste vom Körper seiner feengleichen Tochter. „So weit sind wir noch nicht …”
„Ich habe durchaus Erfahrung im Einzelhandel”, sagte ich. „Nicht direkt im Buchhandel, aber vor Jahren habe ich schon einmal als Aushilfe in einem Jeans Store gearbeitet.”
„E-Books statt Bücher”, trompetete er. „Schein statt Sein. Darauf läuft es doch hinaus.”
„Schein statt Sein?”
„Man erklärt kurzerhand den bloßen Abklatsch zum Sinn des Ganzen. - Haben Sie überhaupt schon mal was gelesen?”
„Aber sicher!” Ich bemühte mich um einen leicht entrüsteten Unterton. „Sogar eine ganze Menge.”
Die Augen, die sich bisher hinter den dichten Brauen versteckt hatten, leuchteten plötzlich auf und richteten sich neugierig auf seinen Gast. „Was zuletzt?”
Da hatte er mich auch schon. Wie konnte ich so leichtfertig in diese offensichtliche Falle tappen? Fieberhaft überlegte ich, aber es war wie verrückt: Nicht ein Buchtitel tauchte in meiner Erinnerung auf. Mit jeder Sekunde wuchs die Blamage.
„Na?”, drängelte Drosselbach.
Ich würde ihm einfach irgendeinen Titel nennen, ganz egal, ob ich ihn gelesen hatte. Aber – war so etwas möglich? - mir fiel keiner ein. „Ich hab's gleich …”
„Sind Ihnen die Albanonchroniken eventuell ein Begriff?”
„Die was?”
„Max Baldur von Sprockhövel. Die Albanonchroniken. Ein großes Werk.”
„Ach die!”, log ich. „Sicher, die sind mir schon ein Begriff. Wenn ich auch bis jetzt leider noch nicht …”
„Schon gut”, unterbrach Drosselbach meine Stotterei. „Sie haben keinen Schimmer, können Sie ruhig zugeben. Aber ich sage Ihnen: Das ist ein Fehler. Die Chroniken sind ein großes Werk voller Brisanz. Ein Höhepunkt nicht nur der Fantasyliteratur.”
„Mir ist bereits aufgefallen”, lobte ich schnell, „dass Sie in Ihrer Buchhandlung eine ganze Reihe von Fantasytiteln …”
„Bin sozusagen darauf spezialisiert”, nickte Drosselbach. „Nicht dass sie so gut liefen. Vergessen Sie das schnell wieder. Wenn Sie Renner haben wollen, dann müssen Sie sich auf erotische Frauenfantasien spezialisieren. Auf Serientäter oder irgendwas aus dem Dritten Reich, aber nicht mehr auf Fantasy, die Zeiten sind lange vorbei. Na los, wollen Sie mir etwa widersprechen?”
„Nein, keineswegs.”
„Die Leute sagen immer: Das hier ist die beste aller möglichen Welten; aber als Buchmensch wissen Sie, dass das Quatsch ist. Es gibt noch viel bessere. Und deshalb können Sie all die Zauberer, Zwerge und Trolle, Lichtschwerter, schwarze Reiter und den ganzen Mist vergessen. Worum es wirklich geht, ist hochaktuell und alles andere als ein Hirngespinst.”
Ich hielt es für das Beste, ihn reden zu lassen. Fragen führten nur vom Weg ab oder verlängerten seine Monologe. Früher oder später würde er schon zum Punkt kommen.
„Wissen Sie was, Ahab …”
„Flint”, korrigierte ich.
Der Buchhändler räkelte sich, sein Ohrensessel ächzte. „Feen und Zauberer, lachen Sie ruhig über die. Ausgedachtes Zeug, meinetwegen. Märchenfiguren. Aber die wissen wenigstens noch, dass es Gut und Böse gibt und zwischen beiden ein Unterschied besteht. Das ist heutzutage keineswegs mehr selbstverständlich.”
„Da stimme ich Ihnen zu.”
Der Alte nickte. „Sie stimmen mir da zu”, murmelte er, als würde ihm das zu denken geben. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, wobei die Strickjacke ein wenig nach oben rutschte, zusam-men mit einem weißen Hemd, das er in die Hose gesteckt hatte.
„Sie haben gesagt, dass Sie kein Buchhändler sind und das stimmt sogar”, sagte er, nachdem er eine Weile stumm genickt hatte.
„Genau”, bestätigte ich.
„Sie können das natürlich nicht wissen.”
„Wie bitte?”
„Ich sage Ihnen, Sie sind kein Buchhändler. Woher sollen Sie denn schon wissen, ob Sie einer sind oder nicht?”
„Bei allem Respekt”, wandte ich ungeduldig ein. „Wer soll denn wohl besser als ich wissen, welche Qualifikationen ich habe oder nicht?”
„Zu Ihrer Information, Flint: Buchhänder wird man nicht aufgrund irgendeiner blödsinnigen Lehre, verstehen Sie? Das ist der Fehler, den die meisten begehen, also werfe ich Ihnen das auch nicht vor. Die Wahrheit ist aber: Buchhänder ist man oder ist man eben nicht. Man kann nichts dagegen machen, wenn man es nicht sein will, aber auch nichts dafür, so sehr man sich es auch wünschen würde. Wenn du es im Blut hast, dann fühlst du diese mystische Anziehung, die Bücher ausüben. Und du hasst diesen Elektronikscheiß. Wenn du es nicht hast, dann gibst du dir vielleicht Mühe, dir die Leidenschaft irgendwie draufzuschaffen, aber das klappt nicht, verstehen Sie?”
„Nicht ganz.”
„Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Jemand, der kein Buchhändler ist, sollte auch nicht mit Büchern arbeiten. Das ist so ähnlich, also wollten Sie Wurstmacher in der beschützenden Tierpflege beschäftigen. Kapiert?”
„Klar”, nickte ich. „Sie wollen mir sagen, dass Sie für jemanden wie mich keine Verwendung haben. Glauben Sie, das habe ich mir schon oft genug angehört.”
„Es hat einfach keinen Zweck, Herr Ahab. Nehmen Sie das nur nicht persönlich.”
„Flint.”
„Sie glauben ja nicht, was ich schon mit Lehrlingen erlebt habe. Manche mussten schon passen, wenn es um das Aufschlagen ging.”
„Das Aufschlagen?”
„Dass man ein Buch aufschlägt und nicht anklickt.”
„Aber Ihre Tochter versteht sich doch sehr gut mit Büchern”, fügte ich hinzu.
„Jelena ist eine Buchhändlerin vom Scheitel bis zum Zeh”, versicherte er. „Sie kommt ganz nach mir.”
Schwer zu glauben, dachte ich, wenn man nach der äußeren Erscheinung ging.
„Arbeitet ihre Mutter denn auch mit hier im Laden?”, erkundigte ich mich neugierig.
Drosselbach schnaufte verächtlich. „Sie war eine Schlampe, auch wenn sie noch so verteufelt gut aussah. Hat sich verdrückt mit einem Verlagsvertreter für Kochbücher, als die Kleine sieben Jahre alt war.”
„Es geht mich ja auch nichts an”, sagte ich.
Der Alte nickte trotzig. „Eine Schlampe war sie, so wahr ich hier sitze.”
„Trotzdem vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben”, sagte ich und erhob mich. „Bemühen Sie sich nicht, ich finde schon allein hinaus.”
„Halt, bleiben Sie sitzen!”, hielt Drosselbach mich mit herrischem Ton zurück.
Ich blieb stehen.
„Hab ich etwa gesagt, dass ich Sie nicht nehme?”
„Allerdings haben Sie das. Klipp und klar.”
„Ich habe gesagt, dass es keinen Zweck hat, ja oder nein?”
„Allerdings. Und dass jemand, der kein Buchhändler ist, nicht mit Büchern arbeiten sollte.”
„Genau das.”
„Also dann verstehe ich nicht ...”
„Aber jetzt kommt's.” Der Hühne beugte sich vor, während die Sprungfedern im Inneren des Sessels brummten. „Ich finde nun mal niemanden. Was soll ich machen?”
Es lag nicht daran, dass ich nicht kapierte, was der Buchhändler mir sagen wollte. Ich zögerte, weil mir nicht gefiel, worauf es hinauslief. „Sie wollen mir also sagen: Sie halten zwar nichts davon, nehmen mich aber trotzdem, weil sie niemand anderen finden?”
Drosselbach grinste zum ersten Mal. Dabei entblößte er seine gelben Zähne. Er reichte mir seine riesige Hand. „Sie haben es erfasst, Ahab”, sagte er.
Eine Minute später trat ich auf die Straße. Inzwischen regnete es Bindfäden aus einem bleigrauen Himmel, eine insgesamt düstere und trostlose Stimmung, die die wartenden Autofahrer dazu veranlasst hatte, mitten am Tag die Scheinwerfer einzuschalten. Das Schaufenster der Buchhandlung lag im düsteren Halbdunkel, aus dem Inneren glimmte die Stehlampe wie ein trauriger organgefarbener Mond am Ende einer fernen Galaxie. Die nicht abgedeckten Sonderangebote in den Auslagen waren völlig durchnässt und nicht mehr zu retten. Also gut, ich hatte Drosselbachs Hand ergriffen, aber hatte ich wirklich zugesagt? Wollte ich zusagen? War ich schon so tief gesunken, einen Job anzunehmen, weil ich nicht für ihn geeignet war?
Sobald ich zurück war im intellektuellen Altbauviertel und mit dem Finger das kulturelle Flair streichelte, das sich auf der regennassen Fensterbank abgelagert hatte, war meine Entscheidung getroffen. Schon morgen würde ich in den Laden gehen und Drosselbach sagen: Das ist ja ein schöner Laden hier, aber doch nicht so richtig das, was ich mir unter einem Job vorgestellt habe. Bitte, haben Sie Verständnis dafür, dass ich bei der Vielzahl von Bewerbungen meine Absage nicht weiter begründen kann. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg.
Absagen konnte ich aus dem Effeff.
„Hi”, sagte Malin, die gerade zwei riesige Einkaufstüten hereinschleppte, „wie war's denn? Erzähl doch mal.”
„Sie brauchen mich gar nicht”, sagte ich. „Deshalb haben sie mich genommen.”
„Toll!” An ihrem anerkennenden Nicken merkte ich, dass sie mir nicht richtig zugehört hatte. „Wir haben vor, heute Abend schick zu essen”, sagte sie. „So mit allen Schikanen.”
„Gute Idee”, sagte ich.
„Nein, ich meine: Könntest du dir etwas vornehmen?” Malin versuchte ein verdorbenes Lächeln, was ihr überhaupt nicht stand. „Es soll ein Dinner for Two werden, wenn du weißt, wovon ich spreche.”
Wie immer war ich auch dieses Mal bemüht, den Weg des geringsten Widerstandes zu finden. Leider führte der nicht um die Erkenntnis herum: Der grobschlächtige Buchhändler wollte mich nur, weil er keinen anderen fand. Und als hätte er das genau geplant, traf es sich so, dass ich den Job nicht wollte, ihn aber nehmen musste, weil es so hier nicht weiterging, Weg des geringen Widerstands hin oder her. Malins laszives Grinsen machte mir klar, dass es keinen Sinn hatte, sich länger vorzumachen, das hier sei mein Zuhause. Diese Zeit war länger vorbei, als ich dachte.
„Klar,” sagte ich und schenkte Malin ein Lächeln. „Kein Problem.”
***
„Ich wusste, Sie kommen zurück, Ahab”, sagte Drosselbach am nächsten Morgen mit einem triumphierenden Unterton. Dieses Mal traf ich ihn mitten im Laden an. Der Alte war damit beschäftigt, einzelne Bände aus dem Regal zu nehmen, aufzuschlagen, hineinzupusten und sie wieder zurückzustellen.
„Flint”, korrigierte ich.
„Also, wann wollen Sie anfangen, Flint?”
„Tut mir leid, aber ich kann die Stelle unter diesen Umständen nicht antreten.”
„Was meinen Sie denn mit Umständen?”
„Sie brauchen einen Buchhändler. Und ich bin keiner.”
„Da haben Sie verdammt recht”, nickte der Riese und zog eine nachdenkliche Schnute. Dann kratzte er sich am Kopf, und ein kleiner Schuppennebel wirbelte durch die verstaubte Luft. „Na ja, wenn Sie meinen, sich das leisten zu können. Wir haben eine lange Warteliste, und wenn Sie nein sagen, dann kommt eben der nächste dran.”
„Dürfte ich die mal sehen?”, sagte ich, wieder nach einer Weile. „Die Warteliste.”
„Gern.” Drosselbach grinste verschlagen. „Aber nur wenn Sie zusagen.”
„Das macht doch keinen Sinn.”
Dieses Mal kratzte der Buchhändler sich ausgiebig, währenddessen uns beiden wohl klar wurde, dass sich das Bewerbungsgespräch festgefahren hatte.
„Also gut, folgender Vorschlag: Sie nehmen vorerst probehalber Kost und Logie. Und dann sehen wir weiter.”
Ich sah ihn nur begriffsstutzig an.
„In der Anzeige stand Kost und Logie inclusive”, erklärte er, als schaute ich nicht nur so, sondern sei auch begriffsstutzig. „Auch wenn Sie kein Buchhändler sind - woran nun mal nichts zu ändern ist - können Sie es doch mit dem Zimmerchen versuchen. Von den Büchern lassen Sie vorerst die Finger, aber wer weiß, vielleicht ergibt sich da später noch was. Man soll die Hoffnung nie aufgeben, nicht wahr?”
„Falls ich überhaupt hier arbeiten will”, beharrte ich.
„Das sehen wir dann schon. Na, was sagen Sie, Ahab?”
„Ich heiße Flint.”
Obwohl sein Vorschlag für mich keinen Sinn ergab, hatte ich nichts gegen ihn einzuwenden. Ohne mich auf lange Sicht festzulegen, hatte ich für's Erste einen Weg gefunden, Malin und Nils, dem Verständnisvollen, den Rücken zu kehren. Sollten sie meinetwegen so oft ein Dinner for Two abhalten, bis es ihnen vor Langeweile im Hals stecken blieb. Ich würde das Alte abschließen und ein neues Kapitel beginnen.
Mein letzter Abend im Viertel der Gutbetuchten verlief außerordentlich harmonisch. Froh darüber, von nun an unter sich zu sein, gaben die Beiden sich Mühe, schenkten mir ein Fotoalbum mit Bildern von unserer gemeinsamen Zeit und zauberten ein mehrgängiges mediterranes Menü, ein wahrhaftes Fest für alle Sinne, das mir noch lange in Erinnerung blieb.
Aus heutiger Sicht aber auch deshalb, weil es vorerst das Letzte war, das die Bezeichnung Fest für die Sinne verdiente. Ob Frühstück, Mittag- oder Abendessen - im Haus des Buchhändlers stand immer Aufgewärmtes auf dem Tisch, und zwar immer etwas, von dem man sonst nicht genommen hätte, wenn es eine Auswahl gegeben hätte. Jelena, ihr Vater und ich saßen einander gegenüber und löffelten schweigend. Die Küche war eng, kaum breiter als der Küchentisch, und der Kohlgeruch hatte sich dauerhaft dort eingenistet. Töpfe, Tassen und Teller drängten sich in engen Regalen, die sie sich seltsamerweise mit nicht wenigen Büchern teilen mussten. Drosselbach hatte immer ein aufge-schlagenes Buch neben dem Teller liegen, in dem er die ganze Mahlzeit hindurch pausenlos schmökerte, und obwohl nie ein Wort darüber verloren wurde, erschien es offensichtlich, dass er jede Störung als ungehörig empfand. Deshalb kam ich auch nie dazu, meine Frage loszuwerden, wer denn das Essen kochte, oder eine Erklärung dafür zu erlangen, wie es sein konnte, dass man immerzu etwas Aufgewärmtes bekam, ohne nicht wenigstens einmal jenes frisch Zubereitete zu kosten, welches ja irgendwann existiert haben musste, damit es später wieder aufgewärmt werden konnte.
Was die Logie anbetraf, so war ich auch hier gezwungen, vom gehobenen Standard der altbaubewohnenden Mittelschicht Abstri-che zu machen. Über eine knarrende Holztreppe, die sich unter fettem, jedoch ausgetretenem Teppichboden versteckte, erreichte man ein windschiefes Zimmer im oberen Stockwerk, das über ein quietschendes Bett, ein Waschbecken und das allgegenwärtige überquellende Bücherregal verfügte. Es roch muffig. An der Wand über dem Kopfkissenende des Bettes prangte ein schweres Gemälde, auf dem in verblichenen Farben der tödliche Kampf zwischen Käpt`n Ahab und dem weißen Wal dargestellt war. Die Toilette befand sich auf dem Gang gegenüber.
Aber ausgerechnet dieses zugige, wenig einladende Gemach trug wesentlich dazu bei, dass ich mich zum Bleiben entschloss. Dies wieder hing damit zusammen, dass das vierstöckige Wohnhaus, dessen Erdgeschoss den Buchladen beherbergte, über einen Anbau verfügte. Von der Straße aus nicht sichtbar, ragte er, rechtwinklig vom Stammhaus abzweigend, in den geräumigen Innenhof hinein, eine unschöne Rasenfläche mit Wäscheleinen und einer verwaisten Schaukel mit Sandkasten am anderen Ende. Und so blickte man durch das Fenster meines Zimmerchens nicht in den Innenhof, sondern direkt in die Fenster des Gebäudes, das diesen Blick versperrte. Unter anderem in die Fenster der Wohnung, die Jelena bewohnte. Welch glückliche Fügung, dass die Zeit, in der diese Frau zu Bett zu gehen pflegte, ziemlich genau mit der zusammenfiel, zu welcher ich wie zufällig ans Fenster trat und ein wenig die Nacht ringsum betrachtete!
Es war immer die gleiche Vorstellung: Das Licht erstrahlte, Jelena betrat das Zimmer. Sie legte ihre Strickjacke ab, stand eine Weile in Bluse oder T-Shirt da und sah aus dem Fenster. Dann zog sie die Vorhänge zu. Das weiße Licht leuchtete rot. Und ich verbrachte die nächsten Minuten damit, mir das vorzustellen, was ich nicht sah. So war es am ersten Abend und auch an den beiden folgenden. Erst am vierten Abend nahm ihr Auftritt einen etwas anderen Verlauf: Nachdem es schon eine ganze Weile rot geleuchtet hatte, öffneten sich die Vorhänge doch noch einmal, und da stand sie, die ich längst anbetete, in einem weißen, hauchdünnen Nachthemd, das, so wie ich es mir jedenfalls einbildete, nicht völlig undurchsichtig war und mir einen Blick auf ihre Brüste oder auch nur die Silhouette ihrer Brüste erlaubte. Jelena trat sogar noch näher und warf einen letzten Blick aus dem Fenster, der dann aber plötzlich und ganz unerwartet in meine Richtung schweifte. Sie hatte mich entdeckt!
Reflexartig ging ich in Deckung und knallte dabei mit dem Hinterkopf gegen die Deckenlampe. Mit einem Klirren verlöschte das Licht. Ich strauchelte und fiel auf das Bett, mitten hinein in die winzigen Scherben der zerbrochenen Glühbirne, die ihren Weg schon vor mir dorthin gefunden hatten.
***
Am nächsten Frühstückstisch traf ich Jelena allein an. Ihr Vater verspätete sich, sein Gedeck war noch unberührt, und ein danebenliegender Band der geliebten Albanonchroniken ebenfalls. Die Schweigepflicht schien ausnahmsweise aufgehoben. Trotzdem nahm ich mit einem unguten Gefühl neben ihr Platz, während ich im Kopf fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung suchte, weshalb ich kein Spanner war.
„Also, wegen gestern …”, begann ich schließlich meine Entschuldigung ohne zündende Idee und große Hoffnungen, dass sie anders als peinlich klingen würde.
Jelena hob ihre Teetasse. „Ich bin Jelena”, sagte sie und lächelte.
Das brachte mich zwar aus dem Konzept, aber ich reagierte schnell. „Konrad”, sagte ich. „Also wegen gestern …”
„Vater hat gesagt, dass du gar nicht im Buchladen arbeiten willst?”
„Ich wollte schon”, stellte ich richtig, „aber er hat gesagt …”
„… dass du kein Buchmensch bist?”
„Buchhändler. Und es stimmt ja. Ich bin wirklich keiner. Nur dass er meint, dass es dann auch keinen Zweck hat …”
„Er hat auch davon gesprochen, dass Sein besser als Schein ist und E-books der Untergang des Abendlandes sind, richtig?”
„Irgendwie schon, nur …”
Sie nickte, als hätte sie sich das schon gedacht. „Magst du ihn?”
„Ich? Wen?”
„Magst du meinen Vater?”
„Nun ja, warum nicht, so weit ich ihn überhaupt kenne, aber ich eh … glaube ehrlich gesagt, dass er mich nicht besonders schätzt.”
„Das ging bisher jedem so.”
Ich wunderte mich. „Wieviele gab es denn schon?”
„Es ist nämlich so, dass er gar keinen Mitarbeiter braucht, verstehst du. Aber es muss jemand da sein, der auf ihn aufpasst.”
„Ein Aufpasser?”
„Mein Vater ist hin und wieder ein bisschen zerstreut. Launenhaft.” Jelena schien nach dem passenden Wort zu suchen. „Vielleicht auch verschroben. Ich mache mir Sorgen um ihn.”
„Verschroben”, gestand ich. „Ja, einen ähnlichen Eindruck hatte ich auch.”
„Dieser Buchladen bedeutet ihm alles”, versicherte sie. „Das Fatale ist nur, er richtet ihn selbst zugrunde. Weil er die Kunden mit seinen Monologen vergrault. Dass früher alles besser war und der Kampf zwischen Gut und Böse so aktuell ist wie nie. Er treibt sie geradezu in die Arme von van Kraken.”
„Wer ist denn das?”
Jelena schenkte mir einen verwunderten Blick. „Ein Buchkaufhaus. So ziemlich das größte in diesem Land. Demnächst eröffnet eine Filiale mit fünf Etagen drüben am Roggenmarkt. Das sind keine 400 Meter von hier entfernt.”
„Und was ist dann?”, fragte ich.
„Wir brauchen etwas, das die Leute dazu bringt, trotzdem hierher zu kommen, um nach Büchern zu suchen. Was immer das ist.”
„Und das soll ich sein?”
Wieder ein Lächeln, allerdings ein flüchtiges, so wie man eine überflüssige Bemerkung hinweglächelt. „Glaub mir, mein Vater weiß eine ganze Menge. Er kann den Leuten alles über Bücher sagen. Alles, was sie wissen wollen. Drüben im Kaufhaus stellen sie nur ahnungslose Aushilfen ein. Das ist unser Vorteil.”
„Ich bin auch nur eine Aushilfe”, sagte ich.
Aber das waren nicht meine eigentlichen Bedenken. Es waren der Muff, der überall in diesem Haus spukte, der Geruch von Vergangenheit, von Dingen, die früher einmal wertvoll gewesen waren. Eine alte Wanduhr, die sich irgendwo im Haus befand und die, wenn sie schlug, genauso klang wie die, die in der Wohnung meiner Großmutter geschlagen hatte. Das alles hier war ein sinkendes Schiff, und Jelena, die feengleiche, wollte, dass ich mit einstieg, nur um ihrem Vater beim Untergehen ein wenig Gesell-schaft zu leisten.
„Wenn du nicht für ihn arbeiten willst”, schlug sie vor, „was würdest du dazu sagen, für mich zu arbeiten?”
Im Verlauf unseres Gesprächs hatte sie die Distanz zwischen uns immer weiter verkleinert. Ich atmete ihren Duft, konnte nicht anders als mir auszumalen, wie es sein würde, wenn wir einander berühren würden, was zwangsläufig schon bald der Fall sein würde, wenn sie weiter aufrückte, und hatte deshalb Mühe, mich auf ihr Anliegen, ihren Vater und seine Buchhändlersorgen, zu konzentrieren. Insofern kann man sagen, dass ich wohl niemals zugesagt hätte, als Aufpasser für den alten Drosselbach zu fungieren, wenn dieser Duft nicht gewesen wäre.
Ob das Schiff nun sinken würde oder auf ein Riff laufen - bei Jelenas Angebot handelte es sich um eines von denen, die man nicht abschlagen kann.
Ich jedenfalls vermochte es nicht.
„Sie sollten sich immer vor Augen halten, Ahab, dass das Buch ein hohes Kulturgut ist”, erklärte Friedemann Drosselbach in jener speziellen schulmeisterlichen Art und Weise, die nur Buchhändlern eigen ist. Nachdem ich ihm meinen Entschluss mitgeteilt hatte, hatte er uns einen Kaffee geholt, den wir in der Leseecke der Buchhandlung einnahmen. Es war vormittags, die Sonne stand hoch am Himmel und versuchte mit äußerster Mühe, in das Halbdunkel des Drosselbachschen Ladens vorzudringen. Einzelne Strahlen schafften es, streckten sich wie Finger nach uns aus, leuchtende Finger, die Millionen Staubkörnchen zum Tanzen brachten. Kunden waren weit und breit nicht zu sehen.
„Das habe ich längst getan”, behauptete ich.
„Das Buch ist unsere Sprache. Das, was uns Menschen zu Menschen macht, verstehen Sie? Ohne Bücher keine Sprache. Haben Sie schon mal einen Schimpansen gesehen, der ein Buch liest?”
„Ich glaube schon”, sagte ich. „Es war in einem Film …”
„Filme können Sie vergessen.Wenn Sie Wert darauf legen, selbst zu denken, sehen Sie sich keine Filme an.”
Jelena hatte mir geraten, ihrem Vater möglichst wenig zu widersprechen, weil Widerspruch meist einen ermüdenden Monolog nach sich ziehen würde. Und ich war mir nicht sicher, was ich von diesem Rat halten sollte, schließlich stand mir, wie es aussah, eine wortreiche Einführung in jenen Beruf, zu dem ich nicht geboren war, bevor.
„Deshalb ist es die hohe Kunst des Buchhändlers, seinen Kunden einzuschätzen. Zu ahnen, mit wem er es zu tun hat: Ist es ein Leser? Oder will er nur ein Buch kaufen?”
„Vielleicht will er ja beides?”, schlug ich vor.
Falsch geraten!, sagte Drosselbachs Blick. „Ein Leser ist gierig, verstanden? Daran erkennen Sie ihn. Er liest nicht zum Spaß, sondern weil er dem Rätsel allen Seins auf den Grund gehen will.”
„Und der andere?”, fragte ich. „Der das Buch nur kaufen will?”