Der Tod spielt auf der Luisenburg - Yvette Eckstein - E-Book

Der Tod spielt auf der Luisenburg E-Book

Yvette Eckstein

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Beschreibung

Kurzweiliger Krimispaß mit Oberpfälzer Charme, Herz und Humor. Die Luisenburg-Festspiele sind in vollem Gange, als eines Abends der »Boandlkramer« auf der Freilichtbühne tot in sich zusammensackt – direkt vor den Augen von Kriminalkommissarin Klara Stern, die in der ausverkauften Vorführung sitzt. Bei Klara schrillen alle Alarmglocken, denn sie ist sich sicher: Der Darsteller ist keines natürlichen Todes gestorben. Schleunigst ruft sie ihren mürrischen Kollegen Johann Kranzfelder hinzu, und gemeinsam tauchen sie in die Theaterwelt ein – mitten in ein undurchsichtiges Netz aus Lügen und Misstrauen.

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Yvette Eckstein lebt mit ihrer Familie in den westlichen Wäldern von Augsburg. Seit ihrer frühesten Kindheit liebt sie es, Geschichten zu erzählen. Dafür absolvierte sie ein Studium an der Schule des Schreibens.

www.yvetteecksteinschreibt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage: arcangel.com/Jill Battaglia, stock.adobe.com/Bergfee, shutterstock.com/Lukasz Szwaj

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-113-3

Originalausgabe

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Für meinen Löwen und meine Löwenkinder

Prolog

Luisenburg 1941

Mit den ersten kühlen Sommerwinden kam der Abschied.

Das letzte Wort war gesprochen. Der durchsichtige Vorhang fiel, und das Publikum, welches auf den Stühlen in Rängen vor der Bühne unter freiem Himmel saß, erhob sich, lachte in ausgelassener Stimmung und applaudierte. So laut und leidenschaftlich, als wüssten die Besucher in diesem Augenblick, dass sie für lange Zeit die letzten sein würden, die hier auf der steinernen Tribüne vor den bemoosten Felsen saßen.

Evelyn stand inmitten der Männer und Frauen, die sich auf der Bühne in einer Linie aufreihten, ihre beiden Füße suchten dabei fest den geborgenen Halt auf den Brettern des Bodens. Sie sahen sich gegenseitig in die glänzenden Gesichter, lachten dabei erleichtert, verschnauften und ließen ihren Blick schließlich über das freudig gestimmte Publikum schweifen.

Die Menschen vor Evelyn klatschten noch inbrünstiger, und die Schauspieler fassten sich bei den Händen. Befreit und traurig zugleich, ehe sie sich gemeinsam in eine bedeutungsschwere Verbeugung sinken ließen. Dort verharrten sie geschlossen. An diesem Abend sogar vermeintlich länger und intensiver als sonst, obwohl ihre Körper von den vorangegangenen Spielwochen ausgelaugt waren und sie an der Klippe ihrer Belastbarkeit standen. Ein bewusster und tiefer Atemzug, der durchdringende Geruch nach Umbruch, dann richteten sie sich wieder auf.

Der Moment war vergangen.

Es war so weit.

Die ersten Zuschauer fingen an, sich von ihren mitgebrachten Decken zu lösen und sich zum Teil mit einem Sitzkissen unter dem Arm einen Weg aus den Reihen hinaus in das Dunkel des Abends zu bahnen. Es dauerte nicht lange, und die restlichen Besucher zogen nach. Schlagartig erfüllte sich die Luft mit den beeindruckten Stimmen des euphorisierten Publikums.

Evelyn hatte es nicht eilig, nicht heute.

Normalerweise verschwanden die ersten Darsteller zum Ende jeder Saison rasch. Oftmals noch bevor der letzte Besucher seinen Platz verlassen hatte. Die gepackten Taschen und Koffer warteten dann in der Garderobe. Doch in diesem Jahr war es anders. Der Moment verharrte.

Evelyn ließ sich Zeit, ihr Gesicht mit einem Waschlappen abzuschminken und ihre Sachen aus dem Garderobenbereich zu holen, bevor die Luisenburg in den Winterschlaf fiel. Sie ahnte, dass sie sich in jenem Augenblick von der Freiheit, dem wertvollsten Besitz in ihrem Leben, verabschieden würde. Ungewiss darüber, was die Zukunft für sie bereithielte.

Betont langsam verließen die Künstler teils allein, teils in kleineren Gruppen den Wald, aber jeder trug den Geist der Luisenburg in sich und würde von ihm die folgenden zehn Jahre zehren.

1

Da Schlaof bringd oin ums halbe Lebm

»Zefix!«

Ein höllischer Schmerz trieb Kranzfelder eine Träne ins Auge. Nachdem seine Füße nicht gleich die Hausschuhe auf dem Boden ertasten konnten, hatte er beschlossen, barfuß in das angrenzende Badezimmer zu gehen, und sich dabei den kleinen Zeh gestoßen.

Der war garantiert gebrochen, war er sich sicher.

»Dreckskoffer«, grummelte er in die Richtung des hartschaligen Unfallverursachers und tastete sich weiter mit halb geschlossenen Augen durch den halbdunklen Raum zur Zimmertür.

»Bärchen, wos is’n los?« Maria war hochgeschreckt, drehte sich herum und schaute ihm angestrengt entgegen. Sie steckte in einem geblümten Nachthemd mit auffälligen Puffärmeln, welches ihn gerne an die Verpackung eines Sahnebonbons erinnerte. »Mousst ewa scho wieda zum Bieseln?«

Im Hintergrund hörte man die Symbiose aus dem monotonen Ticken des Weckers auf Kranzfelders Nachtkasten und dem Zirpen der Grillen, das von draußen durch das offen stehende Fenster hereinreichte.

»Weil der Koffer da halt einfach seit Tagen im Weg rumliegt.« Der Kriminalhauptkommissar ignorierte damit Marias Frage und öffnete die Schlafzimmertür. Er war noch nicht hindurchgetreten, da hörte er erneut gehaltvolles Schnarchen. Seine Frau hatte sich wieder umgedreht und ihren Kopf in dem dicken Federkissen vergraben.

Mit der Rückkehr aus dem Familienurlaub Anfang des Jahres hatte Maria die Platte gewechselt und redete seitdem von nichts anderem mehr als dem großen Ereignis: Sie und ihre drei besten Freundinnen hatten nämlich Konzertkarten ergattert.

Nicht irgendwelche. Nein.

Die Konzertkarten!

Über das anstehende Wochenende fuhren die vier Frauen nach München, um ihrem Österreicher in Lederhosen endlich aus nächster Nähe dabei zuzusehen, wie er anzüglich die Hüften schwang.

Kranzfelder betätigte den kleinen vergilbten Schalter am Spiegelschrank, und die kaltweiße Leuchtröhre versetzte den Raum in ein diffuses Licht. Auch hier im Badezimmer gab es eine Uhr. Die grelle grüne Schrift der digitalen Anzeige des FM-Radios auf dem Fensterbrett blendete seine müden Augen. Zweiundzwanzig Uhr dreißig.

Mitten in der Nacht, überlegte Kranzfelder mürrisch.

Seine Augen taxierten den Satz Klamotten, der auf dem schmalen Rand der Badewanne übereinandergestapelt lag. Kranzfelder hatte sich schon vor Jahren die Angewohnheit angeeignet, sich seine Kleidung für den nächsten Tag einen Abend vorher herzurichten.

Er schälte sich betont langsam aus dem Schlafanzug, und in seinem Kopf hallte das kurze Telefonat von eben nach. Dieses Gespräch war ja überhaupt der Grund, warum er jetzt gerädert und mit schmerzendem Zeh im Badezimmer stand.

»Hm?«, hatte Kranzfelder leise in das internetfähige Mobiltelefon gebrummt. Er war gerade erst eingeschlafen gewesen, als ihn ein Vibrieren auf dem hölzernen Schränkchen neben seinem Bett aufschrecken ließ. Mit dem Unterarm in das violette Laken gestemmt, hielt er sich das Smartphone ans Ohr.

»Chef? Habe ich Sie jetzt etwa geweckt?«

Kranzfelder hatte Angst gehabt, dass Maria durch den Anruf wach würde, und sich daher nur leise geräuspert.

»Entschuldigung!« Die energische Frauenstimme am anderen Ende hatte genervt geklungen und umgehend hinterhergeschoben: »Habe ich dich etwa geweckt?« Sie gehörte seiner Kollegin Klara Stern.

»Schon.«

Es passierte doch nichts mehr um diese Uhrzeit, und das Fernseherprogramm war ja heutzutage zum Davonlaufen! Eine blödsinnige Frage, hatte Kranzfelder beschlossen.

»Egal! Chef, Sie – äh, du musst sofort kommen!«

»Spinnst jetzt? Hast du mal auf die Uhr geschaut?«

»Jetzt aber, du tust ja grad so, als wäre es mitten in der Nacht.«

Kranzfelder hatte sie leise kichern gehört. »Als ich noch so jung war wie du, habe ich das schon auch noch ohne Probleme weggesteckt«, hatte er geflüstert. »Wir waren ständig unterwegs, das waren halt noch Zeiten, und früh um acht wieder fit im Büro.« Dieser Satz hatte sogar für seine Ohren erschreckend laut nach einer Lüge geklungen. »Na ja, aber komm du erst mal in mein Alter. Da ist man um jede ruhige Minute dankbar, das kannst du mir glauben –« Weiter war er nicht gekommen.

»Wir haben einen Toten!«

Kreiz Birnbam, war es ihm ernüchtert in den Kopf geschossen.

»Wo?«

Die Stern hatte darauf nur mit einem knappen Wort geantwortet: »Luisenburg.«

Für den nächsten Handgriff unterbrach Kranzfelder kurz die laufenden Gedanken. Er hob seine Zahnbürste mit der einen Hand tief in das khakifarbene Waschbecken und drehte mit der freien den Wasserhahn auf. Es erklang das träge Plätschern des dünnen Wasserstrahls.

Das gehört dringend repariert, registrierte Kranzfelder nicht zum ersten Mal.

Mit seiner Zahnbürste und einem kräftigen Minzgeschmack im Mund richtete sich der Kommissar wieder auf und betrachtete sich bei seinen Reinigungsarbeiten weiter in dem Spiegelschrank.

Total unnötig, überlegte er, denn er hatte sich die Zähne genau vor einer Stunde schon einmal geputzt.

»Luisenburg.« Zugegeben, im ersten Moment war Kranzfelder erleichtert über die Aussage seiner Kollegin gewesen.

Er hatte seinen Kopf daraufhin wieder rücklings in das Kissen plumpsen lassen und dabei erleichtert aufgeatmet.

Die Stern hatte unterdessen ungeduldig auf seine Antwort gewartet und gefragt: »Hallo? Chef? Bist du noch da?«

»Was machst du überhaupt um die Zeit noch auf der Luisenburg?«

»Genau das hatte ich doch heute Vormittag erzählt. Ich bin mit Basti in einer Vorstellung.« Eine kurze, wirkungsvolle Pause war entstanden. »Was ist jetzt, kommst du her?«, hatte sie nachgehakt.

Kranzfelder hatte sich an die leuchtenden Augen der Stern von heute früh erinnert. Sebastian Mayer war ihr aktuell fester Freund und außerdem der Mitarbeiter seines fränkischen Erzfeindes und fernen Kollegen Fridolin Himmelreiter, zu dessen Spitznamen »Geier« er maßgeblich beigetragen hatte.

»Nicht unser Zuständigkeitsbereich«, hatte er geantwortet und war bereit gewesen, sich der wieder aufsteigenden Müdigkeit hinzugeben. Es war erneut eine unangenehme Stille entstanden und er sich sicher gewesen, dass die Stern am anderen Ende mit ihren Augen gerollt hatte. »Das hat der Kammermayer aber so verlangt!«

Franz Kammermayer war Kriminalrat und der Vorgesetzte der beiden Kommissare. Von Kranzfelder wurde er vermehrt Sheriff genannt.

»Oberfranken, Klara. Die Luisenburg steht bereits in Oberfranken, also nicht unser Zuständigkeitsgebiet.« Er hatte die letzten Wörter deutlich betont. Für ihn war damit alles gesagt, und er hatte vorgehabt, das Telefonat an dieser Stelle zu beenden.

»Das weiß ich selbst, Chef. Sie –«, die Stern hatte hörbar genervt ausgeatmet, »du sollst aber trotzdem hierherkommen, hat der Herr Kammermayer gesagt.«

Das war der Moment gewesen, in dem Kranzfelder sich trotzig das dicke Federbett von seinen Füßen gestrampelt und sich aufgesetzt hatte.

»Der Herr Kammermayer besteht darauf«, war es wiederholt eindringlich durch das Telefon geklungen.

»Ich komm ja schon.« Kranzfelder hatte das unbefriedigende Gespräch beendet, ohne sich davor von der Stern zu verabschieden.

Und so stand er jetzt mit nackten Füßen und pochendem Zeh auf den kühlen Fliesen im Badezimmer.

Kranzfelder hielt seinen Kopf schräg unter den verhungerten Wasserstrahl. Dabei nahm er einen Schluck, um ihn ein paarmal im Mund umherwandern zu lassen, bevor er ihn abschließend in das Waschbecken spuckte. Mit dem flachen Handrücken wischte er sich die hartnäckigen Wassertropfen aus dem buschigen grau melierten Bart und schlüpfte in das kurzärmelige, karierte Hemd, das oben auf seinem Stapel lag. Danach stieg er in seine Jeanshose und zog die Schnalle des braunen Ledergürtels zu, setzte sich mit einem Stöhnen auf den Rand der Wanne und griff sich das Paar Socken.

Hundert Prozent gebrochen, dachte er erneut. Zudem würde der Zeh mit Sicherheit in den nächsten Tagen jede nur mögliche Stufe auf einer Farbtabelle annehmen. Das Pochen war schier unerträglich, und außerdem hatten seine Socken schon wieder ein Loch.

Auf dem dicht bewaldeten Gelände der Luisenburg winkten zwei Streifenpolizisten Kranzfelder in seinem Auto durch die sonst geschlossene Schranke. Üblicherweise wurden die Besucher auf dieser Höhe dazu aufgefordert, ihr Fahrzeug auf einem der Besucherparkplätze abzustellen, und liefen den Rest des asphaltierten Anstiegs zu Fuß nach oben. Für die Fußkranken und Gehfaulen gab es zu den Spielzeiten aber auch einen Bustransfer.

Der Kriminalhauptkommissar grüßte die uniformierten Männer flüchtig durch die heruntergelassene Scheibe und ließ dann die Schranke hinter sich, um die von Nadelbäumen gesäumte Straße weiter entlangzufahren. Nach wenigen Minuten war er oben an seinem Ziel angekommen und parkte sein Auto nur einen Steinwurf von der Freilichtbühne entfernt mitten auf dem Weg an dem unmittelbar darunterliegenden Ausflugslokal.

Schwungvoll schlug er die Autotür zu.

Nach den ersten tropischen Temperaturen in diesem Jahr frischte die Luft ein bisschen auf, und Kranzfelder war froh, dass er sich doch für das Auto anstelle der alten Simson entschieden hatte. Ein Mofa, das er schon vor etlichen Jahren von seinem Vater übernommen hatte und seitdem achtsam in Schuss hielt. Quasi ein Familienerbstück. Das monotone Geräusch des Mofas hätte zudem sicher dazu geführt, dass er unter dem Fahren erneut eingenickt wäre. Und schneller war er so obendrein. Die Luisenburg war Deutschlands älteste Freilichtbühne und ein unverkennbarer Besuchermagnet. Mit dem Auto waren es von Holzwiesenreuth bis hierher und somit über die oberfränkische Grenze nur eine knappe Viertelstunde.

Obwohl Kranzfelder den Ort kannte, sah er sich um. Der Anblick beeindruckte ihn doch jedes Mal aufs Neue. Direkt vor ihm erhob sich wie aus dem Felsen gewachsen die futuristisch gestaltete Front des Theaters. Ein Teil des Daches erstreckte sich wie eine gewaltige Tiara über die hervorstehende Seite und war in einem strahlend hellen Blau beleuchtet. Es handelte sich bei der Luisenburg aber, anders als das Wort »Burg« in dem Namen fälschlicherweise vermuten ließe, keinesfalls um ein Bauwerk aus dem Mittelalter.

Überall auf den Wegen und dem freien Platz direkt vor der Steintreppe, die hinauf zu den Sitzreihen der Freilichtbühne führte, tummelte sich das entgeisterte Publikum des heutigen Abends. Mitwirkende des Theaters liefen hektisch herum und verteilten graue Wolldecken, und zwei Männer des Streifendienstes versuchten semierfolgreich, die aufgeregte Menge zu beruhigen. Der Mix aus Dämmerung und Licht, der sich zwischen den Bäumen hindurch bildete, ließ um sie herum wilde Schattenspiele entstehen.

»Abend«, machte sich Kranzfelder grummelnd bemerkbar und schob sich rasch an einem älteren Pärchen in Abendgarderobe vorbei in Richtung Aufgang.

Es gab an dieser Stelle zwei Möglichkeiten, wie man in das Innere des Theaters und somit zu den Rängen kam. Dazwischen, am unteren Ende der beiden Zugänge, befand sich mittig eine Grotte, die sich tief in das Kühle des Felsens erstreckte. Darin führten zwei Türen ab. Eine beherbergte die Besuchertoiletten, hinter der anderen verbarg sich der Personaleingang. Kranzfelder entschied sich für die steile Steintreppe. Der andere Besuchereingang mit den römischen Ziffern II, III, IV hätte ihn ansonsten wie das Publikum zuvor ein beachtliches Stück um das Objekt herumgeführt, hin zu den Rängen in den Blöcken auf der linken Seite.

Der schwarze Lack des abgegriffenen Handlaufs in der Mitte der breiten Treppe war abgeblättert, und die einzelnen Stufen waren durch die vielen Besucher ausgetreten. Bei seinem Aufstieg, Kranzfelder hielt sich dabei mit einer Hand an dem Geländer fest, fiel sein Blick auf das direkt angrenzende Felsenlabyrinth, das sogar einen Teil der Freilichtbühne mitgestaltete. In Alexanders Schulzeit – sein Sohn – war dieser Ort öfter als Ziel eines Klassenausflugs gewählt worden. Er hingegen war für solche sportlichen Aktivitäten wirklich nicht zu begeistern.

Nachdem er die letzte Stufe der Treppe erklommen hatte, zog er seinen Blick von dem Klettergarten mit überdimensionierten Felsen ab und trat durch den offen stehenden Türbogen der historischen Steinmauer. Außen an einem der zwei schweren Türblätter aus Holz hing ein Schild: »Bitte Ruhe! Festspielgelände!« Kranzfelder blieb einen Moment stehen. Von hier oben gewann er einen groben Überblick, und außerdem merkte er, wie es vor seinen Augen anfing zu flimmern und er besser zuerst seine Atmung regulieren musste. Die neumodische Pulsuhr, welche ihm die Maria nach dem letzten Besuch bei seiner Hausärztin geschenkt hatte, lag ungeachtet zu Hause auf dem Fensterbrett in der Küche. Würde er sie in diesem Augenblick tragen, würde sie Alarm schlagen. Sein Blick passierte die einzelnen Blöcke und Sitzreihen bis nach vorne zu der weitläufigen Bühne, die in den dahinterliegenden Felsen eingebettet war. Die Natur war ein akzeptierter Teil und fügte sich harmonisch in das Bühnenbild ein. Die gewaltigen von Moos bewachsenen Felsen bildeten nicht nur die Rückseite der Kulisse, sie beherbergten zudem kleinere Treppen, die in das Gestein geschlagen worden waren. Sie erleichterten den Schauspielern während des Theaters den Weg auf die verschiedenen Etagen des Gerölls. Ein gigantisches Sonnensegel erstreckte sich über der Tribüne, das ein bisschen an das aus dem Olympiastadion erinnerte, und schützte die Mengen so vor der Witterung. Das Areal war inzwischen menschenleer. Vereinzelt am Boden liegende Decken verrieten ihm jedoch, dass sie ihren Besitzern beim hektischen Aufspringen vom Schoß gerutscht waren.

Kranzfelders Kreislauf beruhigte sich allmählich, und er humpelte über das leichte Gefälle durch die Reihen hindurch bis nach vorne zur Hauptbühne. Von Weitem hatte er durch die zusammengekniffenen Augen nur schemenhafte Gestalten sehen können, je näher er jetzt aber kam, desto mehr erkannte er. Einige Personen in weißen Schutzanzügen hatten soeben ihre Tätigkeit aufgenommen und waren bereits fleißig dabei, jedes Eck auf der Bühne auf den Kopf zu stellen und Spuren zu sichern. Sie bewegten sich auf ihrer Laufbahn um einen einzigen Holztisch herum, der mittig auf der mit Brettern ausgelegten Fläche stand. Der Stuhl vor dem Tisch war zur Seite geworfen und der Boden davor mit einer stabilen Folie aus schwarzem Kunststoff verdeckt worden. Dort lag das Opfer und wurde damit nicht nur vor neugierigen Augenpaaren geschützt.

Es passierte nämlich nicht unbedingt selten, dass ein toter Mensch kurz nach seinem Tod sämtliche Körperöffnungen entleerte, sofern er das nicht eh vorher erledigt hatte, wusste Kranzfelder.

Etwas abseits entdeckte er die Stern und dicht neben ihr den Mayer. Die beiden hatten sich in Schale geworfen, bemerkte er anerkennend. Seine Kollegin trug zu Riemchensandalen ein schulterfreies Sommerkleid, das ihr mit seinen drapierten Falten bis an die Fesseln reichte. Ihre freien Schultern wurden von einem gewebten Tuch verdeckt. Der Mayer steckte hingegen in einem hellgrauen Anzug mit Lederschuhen in gleicher Farbe wie sein Gürtel. Und doch war sich Kranzfelder sicher, dass es zumindest die Stern in ihrem Aufzug bald gefroren hätte. Ein klarer Anfängerfehler. Der Hauptkommissar kannte sich aus, war er doch schon öfter von seiner Frau und den Senioren der Familie Kranzfelder hierhergeschleppt worden. Selten freiwillig, aber bei der Maria half nun mal kein Murren und kein Meckern. Eines wunderte ihn zumindest bei jedem seiner Besuche auf der Luisenburg: die enormen Unterschiede in der Garderobe. Denn von leger bis hin zur edelsten Abendgarderobe war hier alles vertreten, und kaum einer schien zuvor die Touristeninformation gelesen zu haben, in der eindringlich die passende Bekleidung gegen aufsteigende Kälte empfohlen wurde. Denn je später man hier im Publikum saß, desto eisiger stieg es einem von dem Betonboden unter den Reihen im Zuschauerraum die Füße und schließlich Beine entlang nach oben.

Die Stern und der Mayer waren in der Gesellschaft zweier weiterer Personen. Da waren eine junge Frau, die ihre blonden Haare unter einem geblümten Dreieckstuch verdeckt hielt, und daneben ein älterer Mann mit hagerer Gestalt und strengem Gesicht. Ihn erkannte Kranzfelder sofort. Er hatte den Herrn mittlerweile in unzähligen Interviews und auf ebenso vielen Fotos im Regionalteil der Tageszeitung gesehen. Es handelte sich dabei um Ludwig Schön, den Intendanten und künstlerischen Leiter des Theaters.

Kranzfelder trat näher. Erleichtert wurde er von der Stern begrüßt: »Na endlich, da bist du ja!« Sie schaute fragend an ihm herunter. »Wieso humpelst du?«

Er winkte ab.

Sebastian Mayer hob hingegen schlicht die Hand zum Gruß, und Kranzfelder gab ein verständliches »Servus« in die Runde.

»So, das ist jetzt also mein Kollege, Johann Kranzfelder«, stellte ihn die Stern vor.

»Heike Hofbauer.« Die Dame mit dem Kopftuch fixierte den neu hinzugetretenen Beamten mit ihren blaugrauen Augen und lächelte dazu lieblich.

Kranzfelder räusperte sich verlegen und entzog sich damit der unangenehmen Situation.

»Sie spielt in dem Stück die Marei, die Tochter des Brandner Kaspar, und war während der Tat die ganze Zeit über in der Nähe«, erklärte unterdessen seine Kollegin.

»Ludwig Schön«, stellte sich nun der Herr mit der Statur eines Vampirs aus Nosferatu ungefragt und unnötigerweise vor, dazu streckte er bereitwillig seine Rechte in die Runde.

Kranzfelder ignorierte die Aufforderung, nickte aber, bevor er sich wieder der Stern zuwandte. »Also, was wissen wir?« Seine Frage weckte offenbar das Interesse, denn die Köpfe des Intendanten und der Schauspielerin stießen hervor, und Kranzfelder erahnte die immer größer werdenden Ohren. »Lassen Sie uns bitte einen Moment allein. Wir kommen dann gleich noch mal auf Sie beide zu – versprochen!«, bat er.

Frau Hofbauer hob eine der geschminkten Augenbrauen, verschwand aber wortlos, während Ludwig Schön sich nicht so leicht abspeisen ließ. »Nein, ich möchte schon gerne wissen, was da passiert ist, immerhin bin ich der Verantwortliche für das alles hier!«

»Wir kommen auf Sie zurück«, wiederholte Kranzfelder betont.

»Ich kann ja auch einfach mal Ihren Vorgesetzten, Franz Kammermayer, anrufen –«

»Herr Schön!«, unterbrach er den Mann jetzt mit kräftiger Stimme. »Ich kann Sie auch einfach wegbringen lassen, wenn Ihnen das eher zusagt.« Er bedeutete ihm mit einer harschen Handbewegung, endgültig das Weite zu suchen.

»Na dann – Sie werden schon wissen, was Sie da tun. Ich bin vorne bei meinen Besuchern, falls Sie mich brauchen«, presste dieser zwischen den Zähnen hervor.

Als Ludwig Schön endlich außer Hörweite war, flüsterte die Stern: »Boah, ich find den irgendwie gruslig.«

Kranzfelder überging ihre Bemerkung. »Brandner Kaspar?«

»Warum nicht, Chef? Ich mag das Stück, du etwa nicht?«, antwortete sie schulterzuckend.

»Wem’s gefällt.«

»Ist wirklich ganz toll, ein Klassiker! Kann ich nur empfehlen«, kam es prompt von Mayer und dann etwas enttäuscht: »Auch wenn wir das Ende jetzt nicht sehen konnten.«

Kurz hatte Kranzfelder die Anwesenheit des fränkischen Schoßhündchens vergessen und weitete jetzt übertrieben die Augen. Der Mayer wandte sich daraufhin verunsichert ab. An dem jungen Mann war ja ein richtiger Kunstkritiker verloren gegangen.

»Wer ist der Tote?«

»Der Tod.«

»He?«

»Na, der Tote ist der Tod, Chef.«

»Sehr witzig, Klara.« Kranzfelder schaute sie missmutig an. Er ließ sich nur ungern veralbern.

»Ach, Chefchen. Der Tote spielt in diesem Stück den Boandlkramer. Das Unglück passierte vermutlich direkt hier, während einer Szene, in der sich der Tod zusammen mit dem Brandner Kaspar bei einem Kartenspiel ein paar Kurze genehmigt hat – vor laufendem Publikum.«

»Hat der Tod auch einen Namen?« Kranzfelder schüttelte verwundert den Kopf.

»Jens Weber – fünfundvierzig Jahre alt. Ledig, keine Kinder«, mischte sich Mayer ein.

So gesprächig hatte er den Schatten des Geiers gar nicht in Erinnerung. Kranzfelder fand trotzdem, dass der neue Freund von der Stern dringend an seiner Körperpräsenz arbeiten sollte. »Wer hat die Rolle des Brandner Kaspar gespielt?«

»Peter Sauer, Herr Kranzfelder.« Mayer lief dicht hinter ihnen, und der Hauptkommissar ließ hörbar die Luft aus seinen Lungen entweichen. Diese Frage war genau wie die zuvor eigentlich an seine Kollegin gerichtet. »Ein hervorragender Schauspieler, wie ich finde«, redete Mayer unbeirrt weiter.

Die Stern verkrampfte sich unterdessen, Tendenz steigend. Kranzfelder hatte Sebastian Mayer zuletzt bei ihrem vorherigen Fall vergangenen Winter kennengelernt.

Er erinnerte sich: Von dem allerersten Zusammentreffen in dem kleinen Büro der Kriminalinspektion Holzwiesenreuth an war der Mayer in Himmelreiters Windschatten gewandert, und nur ein paar Tage später hatte Kranzfelder der Stern dann ihre Beziehung zu dem Nachwuchsprofiler entlockt.

»Wo ist denn das Talent?«

»Wartet genau wie die restlichen Schauspieler hinter der Bühne auf uns, Chef.«

»Dem war das vermutlich alles ein bisschen viel«, sagte Mayer und ließ seine flache Hand vor dem Bauch kreisen.

»Herr Sauer hat das Opfer sofort versucht wiederzubeleben, bis dann zwei Minuten später eh die Rettungssanitäter zur Stelle waren«, ergänzte die Stern.

Kranzfelder blieb abrupt stehen. Er drehte sich zu dem jungen Kollegen herum und fragte: »Wo ist eigentlich der Himmelreiter?« Nicht dass ihn die Abwesenheit des Geiers in irgendeiner Form stören würde. Aber wenn der Sheriff schon zur nachtschlafenden Zeit verlangte, dass er mit den fränkischen Kollegen zusammenarbeitete, fand er es nur fair, wenn jeder sein Hinterteil hierherbewegte.

Mayer antwortete kleinlaut: »Den habe ich leider noch nicht erreichen können.«

Kranzfelder brummelte etwas Unverständliches. »Wer hat den Tod des Toten festgestellt?«, fragte er. Es kostete ihn einiges an Konzentration, um sich bei dem Satz nicht zu verhaspeln.

»Ein Allgemeinarzt aus dem Publikum. Er wartet zusammen mit seiner Frau vor der Festspielbühne«, informierte die Stern.

»Hmm«, kam es von Kranzfelder. Sein kleiner Zeh pochte unangenehm.

Er ließ das junge Paar hinter sich zurück und trat um die arbeitenden Leute der Spurensicherung herum näher an die schwarze Abdeckung heran. Mit Daumen und Zeigefinger hob er sie an der vorderen Seite an. Nur so viel, dass er einen mühelosen Blick auf den Verstorbenen werfen konnte.

Kranzfelder sah einen Mann mittleren Alters, der mit dem Rücken auf den nackten Bühnenbrettern lag, der Kopf war zur Seite hin weggeneigt, daneben der markante schwarze Hut mit großer Krempe, die Augen weit aufgerissen. Auf den ersten Blick erkannte er keinerlei Blut oder sonstige Gewalteinwirkung. Die Lippen waren auffällig blau und erweckten den trügerischen Eindruck, dass der Tote entweder gefroren oder Probleme mit dem Kreislauf gehabt hatte. An dieser Stelle war es schwer, zu bestimmen, ob diese Merkmale vom Tod des Opfers herrührten oder ihm die enorme Menge an Theaterschminke einen Streich spielte. Kranzfelder näherte sich mit seiner Nase dicht dem Gesicht von Jens Weber, bevor er sich wieder aufrichtete und die Folie auf die Leiche hinabgleiten ließ. Auf dem Tisch, an dem der Tote zuletzt gesessen hatte, stand eine Flasche und rechts und links daneben jeweils ein Stamperl, wobei der Inhalt des zweiten ihm gegenüber nicht getrunken wurde. Kranzfelder gab einer Mitarbeiterin der Spurensicherung ein eindeutiges Zeichen. Die überließ dem Hauptkommissar wiederum einen Einmalhandschuh, den er sich umständlich zupfend über die Hand und die einzelnen Finger zog. Bei einem früheren Fall war ihm fälschlicherweise vorgeworfen worden, er habe mit seiner Unachtsamkeit Spuren verunreinigt. Das war vollkommener Quatsch, und er würde sich das so kein zweites Mal nachsagen lassen. Kranzfelder hob das leere Glas an und roch in das Innere. Die Stern kaute auf ihrer Lippe herum und hielt sich mit ihren Anmerkungen zurück. Dieser intime Moment mit der Leiche war für Kranzfelder von großer Bedeutung, und dabei störte man ihn besser nicht.

»Kirschgeist«, murmelte er.

»Weder die Sanitäter noch der Arzt aus dem Publikum konnten eine erklärbare Ursache für den plötzlichen Tod feststellen«, warf Mayer unüberlegt ein.

Die Kommissarin boxte ihn postwendend in die Seite und ermahnte ihn mit ihrem Blick, aber Kranzfelder ignorierte sie beide.

»Der muss so schnell wie möglich zum Freund in die Gerichtsmedizin«, meldete er sich dann mit kräftiger Stimme aus seinen Gedankengängen zurück. »Was genau ist hier überhaupt passiert, Klara? Habt ihr aus dem Publikum irgendetwas erkennen können?«

»Dafür waren unsere Plätze leider zu weit weg«, bemerkte die Stern mit einem spitzen Seitenhieb.

»Die Leier schon wieder«, stöhnte Mayer und legte genervt den Kopf in den Nacken.

Kranzfelder fragte sich, woher auf einmal der Regen im Paradies kam, doch da ergriff sie erneut das Wort: »Dafür hat uns die Frau Hofbauer ein bisschen was erzählen können. Nicht viel, weil sie in der Szene, als Herr Weber bewusstlos zusammenbrach, nicht vorkam und hinter dem Bühnenrand auf ihren nächsten Auftritt gewartet hat.« Die Stern deutete auf einen Sichtschutz, der aus hohen Rundhölzern bestand und von der linken Seite der Bühne ein Stück weit hineinragte. »Der Brandner Kaspar hat dem Boandlkramer reichlich Schnaps eingeschenkt, um ihn dann bei einem Kartenspiel übers Ohr zu hauen, Einsatz ist sein Leben. Alles ganz genau so, wie es im Drehbuch steht. Aber auf einmal, so die Hofbauer, hat Jens Weber aufgehört zu sprechen. Zuerst hat sie gemeint, dass er seinen Text vergessen hat, was angeblich äußerst selten vorkam, aber dann hat er so komisch nach Luft geschnappt. Sie dachte, dass er improvisiert, hat er wohl immer gerne gemacht. Ja, und dann ist er schließlich auf seinem Stuhl an dem Tisch hier zusammengebrochen.« Sie zeigte rücklings auf die Stelle, an der der Tote lag. »Wie gesagt, sein Mitspieler hat sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen, und die Rettungssanitäter waren ja auch sofort zur Stelle und haben übernommen, hat aber alles nichts genützt.«

»Wir haben Herrn Sauer gesagt, dass er sich zu unserer Verfügung halten muss«, betonte Mayer.

»Hast du inzwischen den Himmelreiter erreicht?«, fragte Kranzfelder eindringlich.

»Ich probier’s noch mal«, raunte Mayer und griff zu seinem Handy, bevor er drei lange Schritte zur Seite machte.

»Wenn der mit Telefonieren fertig ist, nimmst ihn mit nach vorne, und dort schaut ihr, wie weit die Streifenpolizisten mit der Befragung der Leute aus dem Publikum sind. Ich gehe so lange nach hinten zu unseren Schauspielern und höre mich dort etwas um«, sagte Kranzfelder leise an die Stern gewandt.

Die nickte erst motiviert und holte dann den Mayer ab, indem sie energisch an ihm vorbeiging. Der hatte das Handy noch nicht wieder in der Innenseite seines Sakkos verstaut und rief Kranzfelder hastig mit einem Schulterzucken zu: »Sorry, Mailbox!«

2

Veyr Augen seagn mair wei zwoa

Kranzfelder war geduckt durch die Öffnung in der Mitte des Bühnenbildes und somit hinter das Felsengewölbe getreten. Seine Augen orientierten sich in dem beengten und sparsam beleuchteten Gang, und er befürchtete, zwischen den rohen Wänden stecken zu bleiben. Kurz ärgerte er sich, denn vor etlichen Jahren hatte die Maria ohne ihn an einer der wenigen Backstage-Führungen teilgenommen. Er war stattdessen lieber zum Andres in die Zoiglstube auf ein frisches Gezapftes gegangen. »Es geht halt nichts über einen gescheiten Zoigl«, hörte er sich behaupten. Zudem war sich Kranzfelder sicher, dass seine Frau ihn noch heute mit ihrem fotografischen Gedächtnis vor dem Verlaufen bewahren würde.

»Hallo?«, rief er.

Keine Reaktion. Er lief ein paar zögerliche Schritte weiter den kühlen Gang entlang, drehte sich um und schimpfte in Gedanken: Halten Sie sich zu unserer Verfügung – was ist daran bitte nicht zu verstehen?

»Koa i helf’n?«

Kranzfelder fuhr erschrocken herum und stieß sich dabei den Kopf hart an der Decke des Ganges. »Zefix!«, entfuhr es ihm wütend. »Für heut langt’s aber!«

Vor ihm war aus dem Nichts ein großer Mann mit kräftiger Statur und schweinsartigem Gesicht aufgetaucht, auf dessen Stirn ein glänzender Film schimmerte, der sich bis über den Nasenrücken zog. Die strähnigen, mit Grau durchzogenen Haare waren teils nach hinten gelegt.

Kranzfelder erkannte ihn. Es handelte sich um Frank Birnspiel, der seit dem verfrühten Tod des Vaters die Position als Hausmeister an der Freilichtbühne übernommen hatte. »Ach, du bist’s nur«, sagte er daher erleichtert. »Ich such die ganzen Schauspieler.«

»Dai san garantiert niad hier unten in den Katakomben«, antwortete Birnspiel belustigt, bemerkte aber den überforderten Blick des Hauptkommissars und zeigte Mitleid. »Kumm, i zeich da, wo.«

»Fürs Erste würde mir auch die Frau mit dem Kopftuch reichen«, bedankte sich Kranzfelder, und der Mann mit dem Schweinsgesicht schob ihn voran, zurück ans Tageslicht.

Hier führte ihr Weg sie hinter den Rundhölzern an massenhaft Stühlen mit aufeinandergestapelten Kostümen vorbei und von dort durch eine bleischwere Tür zu ihrer Linken in das Innere des Gebäudes.

Den Bereich hinter der Bühne hatte er sich irgendwie anders vorgestellt, spektakulärer, dachte Kranzfelder flüchtig.

Birnspiel lief unterdessen den scheinbar endlos langen Gang aus Spezialbeton voran. In unregelmäßigen Abständen folgten Biegungen, um sie dann über die etlichen Stufen einer breiten Steintreppe hinunter- und wieder durch eine Feuerschutztür hindurchzulotsen. Kranzfelder hatte trotz seines schmerzenden Zehs keine große Mühe, Schritt zu halten. Auf der letzten Etappe öffnete er hinter Birnspiel abwechselnd die schwarzen Türen auf der einen Seite des Ganges und warf prüfende Blicke dahinter. Die einzelnen Räume hatten Namen wie »Färbeküche« und »Kostümanprobe« und waren von unterschiedlicher Größe und Ausstattung, zum größten Teil beleuchtet, aber allesamt menschenleer. Sie bogen ein letztes Mal scharf ums Eck und blieben auf einem kurzen Flurstück stehen. An dessen Ende sah man die Tür, durch die alle Theaterangestellten in das Gebäude gelangten. Dahinter würde man durch einen Vorraum und eine letzte Tür wieder zu der Grotte nebst den Besuchereingängen gelangen.

Der Hausmeister trat zu einer der drei Türen zu ihrer Rechten und lugte flüchtig hinein. Sofort drang durch den offen stehenden Spalt aufgeregtes Stimmengewirr auf den Flur hinaus. Es handelte sich um die Frauengarderobe.

»Dann is dai sicher in der Maske«, bemerkte Birnspiel schließlich und zeigte dazu beiläufig auf die Tür, neben der Kranzfelder stehen geblieben war.

Der entschied sich dafür, zu warten, bis der Hausmeister weit genug entfernt war, um dann kurz und kräftig anzuklopfen. Dabei fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Wand des Ganges und die vielen aneinandergereihten Mikroports, die dort einzeln an kleinen Haken hingen und mit jeweils einer Nummer versehen waren.

»Ja bitte?«, erklang es erwartungsvoll von drinnen, und Kranzfelder trat ein.

Heike Hofbauer saß vor einem der acht beleuchteten Spiegel, die sich zur Hälfte auf die beiden Seiten des sonst eher schmucklosen Raumes aufteilten. Davor zog sich jeweils eine rot lackierte Tischplatte von der einen zur anderen Wandseite, auf der allerhand Schminkutensilien, Handtücher und benutzte Waschlappen verteilt lagen. An der Decke des Raumes liefen Regalbretter in dem gleichen Rot entlang, auf denen sich Unmengen Perücken auf Styroporköpfen aneinanderreihten. Sie war dabei, sich behutsam mit zwei Wattepads die übrige Theaterschminke von den Augen zu nehmen. Ihre feinen Haare waren zu einem engen Knoten zusammengebunden, und das geblümte Tuch auf ihrem Kopf hatte sie gegen ein schwarzes Haarband getauscht. Kranzfelder stachen sofort ihre markanten Wangenknochen ins Auge, die ihr ein anmutiges Aussehen verliehen.

»Kommen Sie schon endlich herein«, wiederholte Frau Hofbauer.

»Kranzfelder – Kriminalhauptkommissar, wir wurden uns ja bereits vorgestellt. Haben Sie jetzt einen Moment für mich?«

»Ich muss Sie warnen, Herr Kommissar. Ich habe bereits alles gesagt, was ich weiß«, säuselte sie.

Er kam nicht umhin, in ihrer samtigen Stimme nebst dem fast perfekten Hochdeutsch eine gewisse Vorfreude auf das Kommende zu entlarven.

»Ich möchte es aber lieber aus Ihrem Mund hören, was Sie uns über Jens Weber verraten können, Frau Hofbauer.«

Die Musicaldarstellerin schenkte Kranzfelder einen gigantischen Augenaufschlag. »Ein großartiger Schauspieler, wirklich. Er war ein verdammtes Genie und ein ganz lieber Mensch. Hat immer tausend Prozent gegeben. Er war bei uns allen sehr beliebt.« Es entstand eine kurze Pause. »Das ist so furchtbar, und verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch, aber warum dieses ganze Aufgebot an Polizei und Kriminalbeamten? Glauben Sie etwa an ein Verbrechen, Kommissar Kranzfelder?« Frau Hofbauer hatte sich mit einer eleganten Bewegung erhoben und war dicht an Kranzfelder herangetreten. Ihre grazile Silhouette berührte gestreckt seine ausladende Körpermitte, und ihre Augen sprangen wild hin und her, während sie steil zu ihm aufsah.

Sie hatte geweint, stellte er fest. Dabei konzentrierte Kranzfelder sich angestrengt auf das hellbraune Muttermal rechts über ihrer geschwungenen Lippe und versuchte, flach zu atmen. Frau Hofbauer war ihm ungewöhnlich nahe gekommen, was in ihm ein gewisses Unbehagen auslöste.

»Bei einem so spektakulären Ableben müssen wir der Sache natürlich schon auf den Grund gehen«, presste er hinter seinem Bart hervor, ohne dabei groß den Mund zu bewegen. »Hatte Herr Weber Familie?«

»In unserer Branche?« Sie lachte übertrieben. »Nein. Er hatte uns. Wir waren seine Familie – seine ›Künstlerfamilie auf Zeit‹, wie er immer betonte.«

Die Schauspielerin erinnerte sich mit einem verträumten Lächeln, und Kranzfelder trat demonstrativ einen Schritt zurück, genügend Platz zum Ausweichen blieb ihm jedoch nicht. Unbemerkt tauschte er den Sauerstoff in seinen Lungen aus. Nur ein paar Minuten länger und sie hätte ihm mit dieser Nähe den letzten Rest Luft genommen. Er überlegte sogar, sie auf diese Grenzüberschreitung hinzuweisen, entschied sich aber dann, mit der Befragung fortzufahren. »Hat Herr Weber auf der Bühne eigentlich immer mit echten Umdrehungen gespielt? Ist das nicht eher untypisch? Ich dachte ja immer, dass es dafür extra Requisiten gibt.«

»Bei Jens war jeder Tag, wie Sie es nennen, ›untypisch‹.«

Kranzfelder verstand nicht sofort.

»Er hatte selbst als erfahrener Schauspieler noch immer starkes Lampenfieber vor jedem seiner Bühnenauftritte, das wusste hier wirklich jeder. Deshalb hat er schon vor Jahren damit angefangen, während seiner Auftritte unbemerkt Alkohol zu trinken. Es wurde zwar nie offen darüber geredet, aber wir wissen alle, dass er vor den Auftritten heimlich seine flüssigen Requisiten ausgetauscht hat. Irgendwann hat ihm das wohl auch einen besonderen Reiz verschafft.« Frau Hofbauer zuckte die Schultern.

»Können Sie mir sagen, aus welcher Gegend Herr Weber stammt?«

»Er kommt aus Weiden, ist jedes Mal mit seinem Auto hier hochgefahren. Die meisten haben ja eine Ferienwohnung für die Saison, vor allem wenn sie von weiter weg kommen.«

»Sie auch?«

»Nein. Ich lebe nur ein paar Ortschaften entfernt in einem Häuschen, zusammen mit meinem Mann und einer betagten Katzenlady. Habe sie am Straßenrand gefunden. Das arme Wesen wurde von einem Bulldog angefahren und hatte wirklich Glück. Nicht zu vergessen mein Wellensittich, Edwin. Im Sommer spiele ich ja mittlerweile fast jede Saison auf der Luisenburg, und für den Winter suche ich mir dann meist ein anderes Arrangement.«

Kranzfelder nickte und stellte die nächste Frage aus rein persönlicher Neugierde. »Gibt es da eigentlich spezielle Personalwohnungen vom Theater aus, oder wie muss ich mir das vorstellen?« Er lehnte sich mit einer Hand an die wuchtige Tischplatte aus unlackiertem Pressspan, welche die Mitte des überschaubaren Zimmers mehr als ausfüllte.

Das Geschäft mit den Ferienwohnungen in der Region boomte, und sogar Maria hatte vor geraumer Zeit versucht, ihn von dieser zusätzlichen Einnahmequelle zu überzeugen. Platz hatten sie ja schließlich genug. Inzwischen stellte jede zweite Familie eine Einliegerwohnung oder mindestens ein Fremdenzimmer im Haus bereit.

»Nicht unbedingt, nein«, antwortete sie.

Ihr Interesse an der Unterhaltung ließ spürbar nach, und Kranzfelder lenkte das Gespräch langsam in Richtung Ende: »Wo finde ich denn diesen Brandner Kaspar?«

Frau Hofbauer brach in lautstarkes Gelächter aus, und er schaute betreten. »Sie meinen wohl den Peter Sauer, Herr Kommissar?«

»Dann eben den.«

»Der sitzt vermutlich immer noch auf der Toilette«, kicherte sie und tupfte sich mit einem Kosmetiktuch die Lachtränen unter den Augenlidern ab. »In der Herrengarderobe«, fügte sie hinzu.

Kranzfelder beschloss, dass es an der Zeit war, das Weite zu suchen. Mit wenigen Schritten war er an der Tür angekommen, die sich in diesem Moment schwungvoll öffnete und ihn um ein Haar am Kopf erwischte.

»Können Sie nicht aufpassen!«, entfuhr es einem Mann mittleren Alters im Jogginganzug, der nun den Raum betrat. Er schenkte Kranzfelder keine weitere Beachtung und steuerte direkt auf Frau Hofbauer zu. Die zögerte zuerst, um dann ihren Kopf an seiner definierten Brust zu vergraben.

Kranzfelder war vor Fassungslosigkeit der Mund offen stehen geblieben, denn mit der rücksichtslosen Aktion eben hätte er fast seine dritte Blessur des heutigen Abends kassiert. »Geht’s noch?«, knurrte er darum und lenkte somit die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf sich.

»Herr Kommissar, was gibt es denn noch?«, fragte Frau Hofbauer.

Wut kroch in ihm hoch. Dieses Mal würde er etwas sagen, so viel war sicher. Die Arroganz der Menschheit reichte ihm allmählich bis unter die Hutkante. Jeder marschierte hier inzwischen rücksichtslos und nur auf sich bedacht durch die Weltgeschichte, ohne rechts und links zu schauen, und gefährdete dabei so ziemlich alle, die ihm in den Weg traten. Das Schlimmste aber war, dass die Bevölkerung anscheinend kein Rückgrat mehr besaß, um sich hinterher ehrlich zu entschuldigen! Kranzfelder bekam nicht die Chance, seine zurechtgelegten Worte laut auszusprechen.

»Gabriel Haas! Verzeihen Sie bitte vielmals, wo habe ich nur meine Manieren gelassen.« Der Mann mit den rötlich blonden Haaren legte zwei große Schritte zurück und streckte ihm versöhnlich die Hand entgegen. »Das ist alles so schrecklich, ich gehöre auch zu den Schauspielern in diesem Ensemble.«

Kranzfelder merkte, dass der Groll in ihm nicht abklingen wollte. »Aha«, brummte er.

»Wir alle hier geben während der Saison und zu jeder Stunde hundert Prozent, powern voll durch, das schweißt echt zusammen. So ein Unglück trifft uns da wirklich hart.« Haas legte seinen Arm freundschaftlich um Frau Hofbauer.

»Wenn Sie das sagen«, antwortete Kranzfelder wenig beeindruckt. »Sie haben heute Abend auch gespielt?«

»Natürlich.«

»Welche Rolle?«

Haas schluckte. »Ich spiele den Pfarrer.«

»Na, zum Glück ist es nicht der Himmelspförtner geworden«, stieß Kranzfelder belustigt aus.

»Den spiele ich auch«, knurrte er.

Frau Hofbauer erklärte: »Es ist ganz normal, dass manche von uns für mehrere Rollen engagiert wurden.«

Kranzfelder wandte sich erneut der Tür zu. »Sie halten sich bitte beide zu unserer Verfügung.« Dann verließ er endgültig den Raum.

»Herr Sauer, sind Sie da?« Kranzfelder steckte mit seinem Kopf erneut in einem Türspalt, und dieses Mal wurde er von einem üblen Geruch empfangen.

»Hau’n Sie ab!«, hallte es ihm aus einer der verschlossenen Kabinen entgegen.

»War wohl alles ein bisschen viel?« Kranzfelder hatte mittlerweile die Herrentoilette betreten und stand unschlüssig vor einem der Waschbecken.

»Hob mir nur den Mong mit irgendm Saufraß verdorbm, weiter nix.«

Ein angestrengtes Stöhnen und diverse Luftabsonderungen erfüllten den Raum.

»Das Stamperl haben Sie dann also nicht angerührt?«

»Wos denn für a Stamperl?«

»Na, das Schnapsglas auf der Bühne. Sie haben doch vorhin die Rolle des Brandner Kaspar gespielt, oder etwa nicht?«

»Interessiert sich die Kriminalpolizei jetzt scho fiar mei Trinkverhaltn?«

»Bei dubiosen Todesfällen interessieren uns so allerhand Dinge.«

»I trink nix – also koin Alkohol.«

»Wenn Sie spielen?«

»Immer.«

»Hmm.« Er lehnte inzwischen an den weißen Wandfliesen gegenüber der besetzten Kabine und nickte kaum merklich.

»I bin trockener Alkoholiker.«

»Und deswegen wussten Sie auch, dass Herr Weber die Flaschen vor jedem seiner Auftritte austauscht, und haben besser die Finger von dem Inhalt gelassen?«

»Genau, und des scho seit unserem ersten gemeinsamen Auftritt.«

Es entstand eine kurze Pause hinter der Kabinentür, dann das Plätschern von teils weich gewordenem Darminhalt, gefolgt von einem erleichterten Aufstöhnen.

»Sua a Riesenarschloch!«, stieß Peter Sauer aus. »Des wor a harter Rückfall, als i des Teifelszeig af ex trunken hob. Dou hob i ja nu nix g’wusst vo dem ›Tick‹!«

»Das ist natürlich ungünstig«, antwortete Kranzfelder und hielt sich die geballte Hand vor Mund und Nase. Er war für gewöhnlich wirklich nicht empfindlich, aber das hier brachte sogar ihn an seine Grenzen.

»Zam mit meiner Selbsthilfegruppe hob i dann des ›Problem‹ scho wieda in Griff graigt.« Der Mann auf der anderen Seite der Tür betätigte die Toilettenspülung. »Af jeden Fall lang i dai Stamperl af da Bühne nimma or. Setz dai nur an den Mund und mach mit g’schlossene Lippen sua, als ob. Des passiert mir nimma!«

»Ihre Trauer über das plötzliche Ableben von Herrn Weber hält sich da sicher stark in Grenzen, oder?«, fragte er. »Haben Sie denn schon mal selbst mit dem Gedanken gespielt, dem Weber eine kleine Abreibung zu verpassen, eine Lektion? Womöglich ist die aus dem Ruder gelaufen?«

»Schwachsinn. Des hat mi zwor um die gemeinsame Zeit mit meine Kinder broucht, aber desweng bring i nu lang koin um!«