Wen die Specht holt - Yvette Eckstein - E-Book

Wen die Specht holt E-Book

Yvette Eckstein

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Beschreibung

Ein unterhaltsamer Provinzkrimi rund um eine ungewöhnliche Weihnachtstradition. Besinnliche Feiertage? Von wegen. Als die grausig inszenierte Leiche des Bürgermeisters auf dem Kirchplatz gefunden wird, ist das kleine Oberpfälzer Dorf Holzwiesenreuth in heller Aufregung und die Laune von Kommissar Johann Kranzfelder im Eimer – sein Festessen kann er höchstens noch aufgewärmt genießen. Zusammen mit seiner jungen Kollegin Klara Stern macht er sich auf die Suche nach dem Mörder. Die Messnerin hingegen ist sich sicher: Den Bürgermeister hat die Specht geholt!

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Yvette Eckstein liebt es seit ihrer frühen Jugend, Geschichten zu erzählen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in den westlichen Wäldern von Augsburg. Mit der Geburt ihrer Tochter hat sie ihren Kindheitstraum, Texte und Bücher zu veröffentlichen, wieder in ihr Herz gelassen und arbeitet nun bereits seit 2018 daran. Dafür hat sie erfolgreich ein Studium an der Schule des Schreibens absolviert. Ihre freie Zeit verbringt sie gerne mit ihrer Familie auf dem elterlichen Bauernhof ihres Mannes in der nördlichen Oberpfalz.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Zoonar/P.Gudella/agefotostock.com, T0113k/Pixabay.com, shutterstock.com/Alexander Raths

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-983-9

Oberpfalz Krimi

Originalausgabe

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Für Schneewittchen

Prolog

Das Gewicht der gefütterten Jacke hing erdrückend auf seinen schmalen Schultern, sie wirkte an ihm mindestens zehn Nummern zu groß. Am frühen Morgen hatte es endlich angefangen, dicke weiße Flocken vom Himmel zu schneien, und inzwischen ging ihm der weiche Schnee fast bis zu den Knien. Es war kalt. Eiskalt. Die grob gestrickte Mütze verdeckte seine Ohren, und die kleinen Händchen waren von der Mutter in wärmende Fäustlinge gesteckt worden.

Die Mittagszeit war verstrichen, und mittlerweile befand er sich mit ein paar anderen Kindern aus dem Dorf auf dem mühsamen Rückweg durch den lang gestreckten und von kahlen Bäumen gesäumtem Hohlweg.

Seine Mutter hatte ihm vorher ein paar Reste, die vom Mittagessen übrig geblieben waren, zusammengekratzt und eingepackt. Mit den anderen Kindern aus dem Dorf hatte er die kleine Opfergabe zu den nahen Getreidefeldern gebracht und dort niedergelegt. Die Großen meinten zu ihm, dass diese Gabe sie besänftigen werde und somit die Felder im neuen Jahr eine reiche Ernte einbringen würden.

»Ich bekomme vom Christkind sicher die große Holzeisenbahn, die ich mir gewünscht habe!«

»Mir bringt es sicher die Puppe mit den gelockten Haaren!«

Die Nachbarskinder, die mit ihm zu Fuß gingen, prahlten lautstark damit, welche Geschenke das Christkind heute Abend unter den Baum legen würde. Um ihn herum wurde gealbert, als ihn ein Schneeball mit voller Wucht am Kopf traf.

Trotz der vermeintlich ausgelassenen Stimmung waren sie stetig wachsam. Zumindest die älteren Kinder, die mit ihnen liefen. Denn sie wussten, was jetzt kommen würde. Er konnte die leise Anspannung in ihren Augen sehen.

Wann würde sie sich zeigen?

Würden sie schnell genug sein?

Beinahe war es geschafft. Hinter der nächsten Biegung konnte er sein Zuhause schon erahnen.

Er hatte große Mühe, mit den anderen Schritt zu halten, denn ihre Beine waren um einiges länger als die seinen. Außerdem waren seine kleinen Füße inzwischen schon steif vor Kälte.

Keiner achtete mehr auf den Kleinsten unter ihnen, als die bucklige Gestalt gemächlich und völlig lautlos, im Vorbeigehen, hinter einem der Bäume hervortrat. Ihr gekrümmter Körper war in alte Frauenkleider gehüllt, die um den Bauch herum von einem breiten Ledergürtel gehalten wurden. Ihr Haupt wurde zu einem Großteil von einem Kopftuch verdeckt, nur der lange, spitze Schnabel stach auffallend hervor. In der einen Hand glänzte eine Sichel, und in der anderen hielt sie eine Peitsche, die aus einem Bündel Heu geflochten worden war.

Augenblicklich erstarrte die Luft um ihn herum und wurde nur durch das schrille Kreischen der Kinder gebrochen. Instinktiv fing er wie die anderen an, so schnell er nur konnte, durch den tiefen Schnee davonzurennen. Immer wieder blieb er stecken. Dann fiel er hin, rappelte sich wieder hoch, rannte weiter. Seine Beine wurden müde, die Lungen brannten schmerzhaft, und die Knie taten ihm weh von dem Sturz. Die nackten Äste der Sträucher peitschten ihm auf die roten Wangen, und plötzlich fühlte er sich so unglaublich hilflos und alleine.

Die anderen Kinder waren ihm bereits ein gutes Stück voraus. Keiner beachtete seine Rufe, niemand hörte ihn. Jeder wollte der Erste sein, der zu Hause unter dem Tisch oder in irgendeiner versteckten Ecke Schutz fand.

Er warf einen gehetzten Blick über die Schulter, fast hatte sie ihn eingeholt. Nicht mehr viel, und sie würde nach ihm greifen können.

»Wetz’de, wetz’de – Bach aafschnei’n!«, tönte es drohend durch die Luft.

Endlich! Mit letzter Kraft erreichte er nun auch die frei liegende Wiese, bis zum Hof war es jetzt nicht mehr weit.

Muffige, alte Fetzen, gepaart mit dem Geruch nach feuchtem Heu, betraten geräuschlos den kleinen Raum, kurz nachdem er sich auf den starken Arm seiner amüsierten Mutter rettete. Er presste sein Gesicht fest an ihre warme Brust. Das neckische Schnalzen der geflochtenen Peitsche drang an seine rauschenden Ohren, und sein Körper fing unkontrolliert zu zittern an. Er schämte sich so unglaublich. Als sich die feine Spitze der Sichel auf den oberen Teil seines Rückens platzierte, hielt er die Augen fest geschlossen. Für einen Atemzug verweilte sie zwischen seinen Schulterblättern, bevor sie sich dann zaghaft mit einem sachten Kratzen weiter nach unten bewegte. Brennende Tränen bahnten sich ihren Weg über sein bitterkaltes Gesicht. Er hielt sich die Hände jetzt fest vor den Bauch. Seine Eltern lachten ihn mitleidig aus. Jetzt war es so weit, die Specht würde ihm den Bauch ausstopfen. Er hatte Angst. Die Tür schloss sich. Es war vorbei.

1

Kold pfeift da Wind vum Böimwold üwa.

Sternklar is drass die Wintanacht.

Ja, so war es gut. Johann Kranzfelder hatte endlich eine Position gefunden, in der er die letzte halbe Stunde, die ihm noch bevorstand, halbwegs bequem ausharren konnte. Bei diesen durchgesessenen Kissen konnte man sich mit seinem Hinterteil ja gleich auf das blanke, brettharte Stück Holz setzen. Er konnte nicht verstehen, warum man an solch wichtigen Feiertagen nicht ein paar ordentliche Polster auftat. Zur Feier des Tages.

Kranzfelder war ein klein wenig auf der schmalen Bank nach vorn gerutscht und lehnte nun mit hochgezogenen Schultern hinten an der abgerundeten Kante, den dicken Mantel fest mit seinen verschränkten Armen vor der Brust zugezogen. Mit der Heizung war es doch genau das Gleiche, ihn fror es hier drinnen jedes Mal wieder. Aber so konnte man es für eine kurze Zeit aushalten. Er würde noch den Rest der Christmette die Augen schließen, denn auch sie hatten seiner Meinung nach ein wenig von dieser besinnlichen Ruhe verdient. Da vorn würde er ohnehin nichts erkennen, wozu also sich die Mühe machen.

Für die heutigen Feierlichkeiten hatte man das Licht gedimmt und viele kleine Teelichter an den Enden der Reihen platziert. So entstand ein flackerndes Lichterspiel, welches den aufwendig verzierten Wänden schmeichelte und den Raum mit einer friedvollen Stimmung erfüllte. An den Dutzenden Heiligen vorbei bis unters barocke Gewölbe roch es nach Weihrauch und ein bisschen nach den vier großen Tannen, die vorn neben dem schmucken Altar standen.

Ihre satten grünen Nadeln waren über und über und in mühevoller Kleinarbeit mit handgemachten Strohsternen behängt worden.

Der Geruch nach Weihrauch war für Kranzfelder jedes Mal aufs Neue eine Prüfung. Schon in seiner Jugend, in der er öfter mal als Ministrant dem Herrn gedient hatte, hatte ihm der christliche Nebel regelmäßig die Tränen in die gereizten Augen getrieben. Auch in diesem Moment begannen sie, leicht zu jucken, und wie so oft nahm er sich ganz fest vor, beim nächsten Arzttermin die Frau Doktor nach einem Allergietest zu fragen. Für seine Vermutung wurde er zwar regelmäßig von seinen Mitmenschen belächelt, aber er war sich sicher, dass man auf dieses Beweihräuchern sehr wohl allergisch reagieren konnte. In welcher Hinsicht auch immer. Aber zumindest überdeckten die weihnachtlichen Gerüche den sonst so feuchten, leicht modrigen Geruch der alten Mauern.

Und während Kranzfelder seinen Gedanken nachhing, hatten sich Caspar, Melchior und Balthasar mit ihren wertvollen Gaben aus dem Morgenland aufgemacht nach Bethlehem. Diese sollten sie dem frischgebackenen Heiland bringen oder vielmehr der Puppe mit Weichkörpereinsatz, die das Jesuskind darstellte. Ganz Holzwiesenreuth hatte sich für genau dieses wichtige Ereignis herausgeputzt und folgte gespannt dem Krippenspiel der Kinder, als plötzlich hysterische Schreie die glückselige Stimmung durchbrachen. Sie kamen aus der Richtung des Glockenhauses; dieses grenzte direkt an das Gotteshaus an. Es musste von jedem durchquert werden, um über ein paar Stufen den Mittelgang und das Innere der Kirche zu erreichen.

Dem schrillen Schrei folgten kurz darauf holprige Schritte, welche die steinernen Stufen emporeilten. Die Köpfe der Leute drehten sich mit einem Rucken herum. Jeder wollte wissen, wer sich da traute, diesen besonderen Moment für die stolzen Eltern und Großeltern zu stören. Es war Thea Schmied, Messnerin und gute Seele der Pfarrei, die nun in der großen doppelflügeligen Glastür der Kirche auftauchte. Sie war nicht mehr die Jüngste und brauchte dort erst mal einen Moment, um nach Luft zu japsen. Ihre kurzen grauen Haare standen in alle Richtungen, und ihrem Gesicht war jegliche Farbe entwichen. Man könnte fast meinen, ihr sei beim Kartoffelschälen drüben im Pfarrhaus der Leibhaftige begegnet.

Kranzfelder bekam einen dumpfen Schlag in seine linke Körperhälfte, seine Frau Maria hatte ihm einen unsanften Stoß verpasst. Aber Kranzfelder weigerte sich strikt, seine Wohlfühlposition aufzugeben, er hatte immerhin die komplette erste halbe Stunde der Kindermette daran gefeilt. Nein, stattdessen kniff er seine Augen weiterhin fest zusammen und beschloss, dass ein Brummen als Zeichen dafür, dass er noch nicht eingeschlafen wäre, jetzt ausreichen müsste.

»Schau, d’ Schmiede«, flüsterte Maria ganz nah an seinem Ohr, als sie merkte, dass von ihrem Mann weiter keinerlei Regung zu erwarten war.

Na, ganz toll, dachte sich Kranzfelder unterdessen. War ja nicht so, dass Pfarrer Markus mit seiner Vorliebe für ausgedehnte Predigten nicht eh schon überzogen hatte, sein Hintern so was von eingeschlafen und die Füße am Abfrieren waren, nein, jetzt kam auch noch d’ narrische Schmiede daher. Hätte die nicht noch bis nach der Messe warten können?

Die Messnerin eilte bereits mit großen Schritten den breiten Mittelgang entlang, geradeaus in Richtung Altar. Ihr violetter Haushaltskittel, den sie über ihrem Sonntagsgewand zu tragen pflegte, wehte wie ein Cape hinter ihr her und ließ die liebevoll dekorierten Teelichter gefährlich wild hinter ihr flackern – manche gingen sogar aus. Hatte ein bisschen was von Catwoman für Senioren, schoss es Kranzfelder durch den Kopf. Er hatte dann doch mal kurz durch seine geschlossenen Lider gespitzelt und sofort über seinen eigenen Gedanken schmunzeln müssen.

Immer wieder warf die Messnerin hektische Blicke hinter sich und schrie dabei wie eine Irre: »D’ Specht hom nan g’hould!«

Die Leute in ihren Reihen begannen damit, sich das Maul über die alte Dame zu zerreißen. Und die Kinder, die bis eben noch den mühevoll auswendig gelernten Text dargeboten hatten, die schauten unbeholfen drein. Da stahl ihnen die Messnerin doch glatt die Show. Das war schon wirklich gemein.

Die Messnerin war vorn im Kirchenschiff angekommen, ihre zitternden Hände hatten einen stützenden Halt am Altar gefunden, und die meisten Anwesenden waren sich ziemlich sicher, die arme Frau hatte wieder gesoffen.

»Also, Thea, ich bitte Sie!« Pfarrer Markus konnte seine Empörung über das plumpe Verhalten seiner Haushälterin nicht verbergen.

»Entschuldigung, Herr Pfarrer!« Schleunigst nahm sie ihre Hand wieder vom heiligen Stein, welcher von einer aufwendig bestickten weißen Decke umhüllt wurde. Als wenn das der alleinige Grund für den Groll des Pfarrers gewesen wäre. Sie bekreuzigte sich kurz, eine Art Wiedergutmachung. »Da draußen, d’ Specht!« Die Messnerin packte den Geistlichen grob am Gewand. »An Bach hom s’ nan aufg’schnien!« Ihre kleinen Augen wurden groß, und ihre Lippen fingen an zu beben und passten nun zum zitternden Rest des Körpers.

»Ja, was ist denn nur in Sie gefahren?«, brauste der Pfarrer auf und schob leiser hinterher: »Haben Sie wieder getrunken?«

Bevor Thea Schmied ihm antworten konnte, klappte sie auch schon wie ein wackliges Kartenhaus in sich zusammen.

Inzwischen wurde es auch Kranzfelder langsam zu bunt. Mit einem leisen Grummeln meldete sich sein Magen zu Wort und kündigte einen aufkommenden Hunger an.

»Sag mal, was ist jetzt da vorne los?«, fragte er deshalb seine Maria und öffnete die Augen nun doch einen Spalt weit, um auf seine Armbanduhr zu schauen. Er setzte sich dabei seine Brille, die ihm wie gewohnt an einem Bändchen um den Hals hing, auf die Nase und musste dann mit Erschrecken feststellen, dass die Zeiger heute wohl nicht mehr vorhatten, sich vom Fleck zu bewegen.

»I weiß nicht, Bärchen. Aber d’ Schmiede hat sich vermutlich nur wieder am Messwein vergriffen«, antwortete ihm seine Frau Gemahlin.

Kranzfelder musste leise schmunzeln. Er schaute seiner Frau dabei zu, wie sie sich vergebens abmühte, etwas von dem Treiben am Altar mitzubekommen. Aber sie war eindeutig zu klein, und ihre Plätze waren hinter der massiven Säule im Mauerwerk schlecht gewählt.

»Johann, i geh vor«, beschloss sie endlich und fing an, sich an den Leuten vorbei durch die Reihe zu bugsieren. Sie musste genau darauf achten, mit ihren schwarzen Pumps niemandem auf den Fuß zu treten. Das war nicht besonders einfach, denn auch die anderen Leute hatten sich weitestgehend von ihren Plätzen erhoben. Ja, inzwischen wollte wirklich jeder sehen, warum das Krippenspiel nicht weiterging. Und wer nicht fleißig damit beschäftigt war, sich die Hälse auszurenken oder die Köpfe zusammenzustecken, um über die verrückte Alte herzuziehen, nutzte die kurze Unterbrechung, um sich über Belangloses zu unterhalten. Kranzfelder konnte unterdessen den feuerroten Schopf seiner Frau beobachten, wie der sich zügig nach vorn an den Altar begab. Ein besorgtes Gemeindemitglied verlangte lautstark nach einem Hocker für die Messnerin.

Diese hatte sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen, ihre Beine glichen aber trotzdem einem Wackelpudding. Das Deckenlicht wurde nun auf Maximum aufgedreht – und prompt war’s das dann auch schon wieder mit der besinnlichen Stimmung. Schade eigentlich, dachte sich Kranzfelder.

Die Messnerin aber erinnerte sich. Ihre glasigen Augen fingen wieder an, hin und her zu flackern, und in ihrem Gesicht tauchten die ersten hektischen Flecken auf. Diejenigen, die ganz vorne mit dabei waren, überlegten langsam, ob man nicht doch besser einen Arzt rufen solle.

»Habts ma niat zug’hört? An Bach hom s’ nan aufg’schnien!« Und dieses Mal schlug der Satz ein wie eine Bombe.

Es wurde mucksmäuschenstill. Fast bis auf den letzten Platz. Nur hier und da waren noch ein paar wenige Stimmen zu hören. Natürlich, immer dieselben Tratschweiber, dachte sich Kranzfelder beim Blick durch den Raum.

Keiner wusste halt so recht, was er sagen oder wie er eigentlich auf diesen Satz reagieren sollte. Sogar Pfarrer Markus, der sonst nie um ein Wort verlegen war. Die ganze Situation war ihm unglaublich peinlich.

»Vati, ich denke, du solltest langsam mal schauen, warum es da vorne nicht weitergeht.« Alexander, Kranzfelders einziger Sohn, meldete sich auf einmal zu Wort. Bis jetzt hatte er still neben ihm gesessen, die langen Füße lässig auf dem Büßerbrett abgestellt. Den Kopf hatte er tief über sein Handy gebeugt. Kranzfelder hatte schon fast vergessen, dass Maria ihn dazu gedrängt hatte, mit ihnen in die Kindermette zu gehen.

»Ich bin doch kein kleines Kind mehr!«, hatte es Alexander zuerst probiert. Dann hatte er seiner Mutter versucht weiszumachen, dass er jetzt Atheist sei. Hatte beides nicht funktioniert.

»Über die Feiertage tu ich mal rein gar nichts. Ich habe frei!« Er war mit dem Vorschlag seines Sohnes ganz und gar nicht einverstanden.

»Ja, aber ist es nicht deine Aufgabe, als Freund und Helfer, da vorne mal für ein bisschen Ordnung zu sorgen?«, fragte Alexander.

Täuschte sich Kranzfelder, oder haftete dem Satz seines Sohnes ein wenig Ironie an?

Johann Kranzfelder war seit vielen Jahren als Kriminalhauptkommissar tätig und konnte den Ausdruck »Freund und Helfer« nicht leiden. Dieser Beruf wurde in den Medien viel zu sehr weichgespült, wie er fand. Aber Alexander hatte schon immer ein astreines Helfersyndrom vorweisen können, und Kranzfelder war sich sicher, von ihm hatte er das nicht!

Er hielt sich ja am liebsten aus den Dingen raus, wenn sie ihn nichts angingen. Wie das mit seiner Berufswahl zusammenpasste, wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht, eben weil er von Berufs wegen seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken musste. Er schloss den Gedanken mit der Erkenntnis, dass sein Sohn dieses Helferdings eigentlich nur von seiner Mutter haben könne.

Vorne am Altar mischte sich inzwischen Frau Winkler ungefragt mit in das Krisenmanagement ein. Sie hatte Angst, dass dieser Aufruhr die Aufführung ihres Krippenspiels ruinierte. Die adrette Frau war so etwas wie die First Lady von Holzwiesenreuth, die Frau des Bürgermeisters! Dieser glänzte heute allerdings durch Abwesenheit. Frau Winkler war angespannt. Vermutlich lag es an der Tatsache, dass ihr Göttergatte dem Krippenspiel fernblieb und somit den Auftritt seiner beiden Töchter als Schaf und als Erzengel Gabriel verpasste. Vielleicht war sie aber nur sehr nervös. Sie hatte zusammen mit der Dorfjugend wochenlange harte Arbeit in diese Aufführung investiert – und jetzt das. Das kratzte etwas an ihr. Die Gattin des Bürgermeisters liebte es einfach viel zu sehr, sich als Gutmensch in den Vordergrund zu spielen. Vielleicht versuchte sie auch genau deshalb, die verzwickte Lage neben dem Jesuskind an sich zu reißen und aufzuklären. Und da die Oberpfälzer ein doch eher neugieriges Volk waren, brauchte man auch nicht lange zu bitten und zu betteln.

Es wurde beschlossen, sich wenigstens einmal anzusehen, was der Messnerin die Farbe aus dem Gesicht radiert hatte. Auf los ging’s los, und es begann ein wahres Gedränge und Geschubse zum Ausgang im Glockenhaus. Angeführt wurde die Gemeinde von Thea Schmied, die von einem schwer schnaufenden Pfarrer Markus gestützt wurde.

»Auf geht’s, Vati! Das Schauspiel dürfen wir uns nicht entgehen lassen.« Nun war es Alexander, der Kranzfelder unsanft in die Seite boxte.

»Kreiz Birnbam! Wenn du für das Weibergetratsche unbedingt deinen angewärmten Platz aufgeben willst! Die ganzen Leut kommen doch eh gleich wieder reingedruckt, wenn sie sehen, dass es nur wieder irgendeine Spinnerei von der Alten war.« Kranzfelder murrte, bevor er sich betont langsam hochhievte.

Seinem Sohn ging das alles nicht schnell genug. Er trieb seinen Alten ein wenig voran, raus aus der Reihe. Ehe sie sich versahen, waren sie mittendrin in der Völkerwanderung und quetschten sich mit den anderen durch die doppelflüglige Glastür hindurch, die vier Steinstufen hinab, durchs Glockenhaus und ab ins Freie. Es lag kaum Schnee, und sie wurden von einer klirrend kalten Nacht empfangen. Es war so eisig, dass es beim Luftholen in der Nase wehtat und sich auf den einzelnen Härchen der Anwesenden kleine, feine Eiskristalle bildeten. Alleinig das geizige Licht einer nahen Straßenlaterne ließ einen nicht komplett im Dunkeln stehen.

Kranzfelder betrat mit seinem Sprössling das Kopfsteinpflaster vor dem Gotteshaus, als ihm jemand den Weg abschnitt und ihm schwallartig vor die Füße kotzte.

»Ja, sag mal, spinnst du!«, brüllte er und zog schnell seine Füße weg, leider zu spät. »Du wirst wohl noch einen einfachen Messwein vertragen«, meinte Kranzfelder mit einem Anflug von Sarkasmus, während er angewidert den Mageninhalt vom Andres Vogt auf seinen guten Schuhen zur Kenntnis nahm.

Das Häufchen Elend in der ausgebeulten Lederjacke vor ihm atmete ein paarmal tief durch und hob dazu entschuldigend die Hand. Dem Mann mit den wilden, schulterlangen Haaren und dem käsigen Gesicht gehörte die Zoiglwirtschaft ein paar Straßen weiter. So schnell warf ihn eigentlich nichts aus der Bahn.

»Lass dei dummen Witze! Schau ma mal, dann sen’g ma scho, ob du so an Saumagen host.«

Er zeigte mit seinem Finger in Richtung Straße, dorthin, wo eine alte Kastanie stand. Der Zoiglwirt war der Meinung, dass das für den Moment als Antwort genügen müsste, und ging davon. Kranzfelder wunderte sich über das Verhalten des Wirts, bei dem man eigentlich so reden konnte, wie einem der Schnabel gewachsen war – ohne Angst haben zu müssen, dass er es einem übel nahm.

»Gib mir mal schnell ein Taschentuch, Alexander«, sagte Kranzfelder und hielt ungeduldig die Hand auf.

»Hab keines.« Sein Sohn zuckte mit den Schultern.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass man immer ein Taschentuch einstecken hat, wenn man wohin geht!« Kranzfelder bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. Aber böse war er trotzdem.

Er versuchte, die Sauerei auf seinen Schuhen, so gut es eben ging, an der Hausmauer der Kirche abzustreifen. Alexander verkniff sich unterdessen die Frage und die damit entstehende Diskussion mit seinem Vater, warum er denn nicht selber an ein Tempo gedacht hatte.

Die Stimmung um sie herum wurde zunehmend lauter. Man hörte immer mehr entsetzte Aufschreie und fassungsloses Raunen. Jetzt packte auch Kranzfelder die Neugierde. Prinzipien hin oder her.

Vermutlich hatte sich wieder irgendeine Saubande einen blöden Streich mit der Messnerin erlaubt, dachte er sich, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Herrschaftszeiten! Gefühlt ganz Holzwiesenreuth stand ihm jetzt im Weg, Kranzfelder ärgerte sich und schimpfte leise in seinen Bart. Manche der Umstehenden waren von ihrer Sensationslust getrieben, andere drehten angewidert ihre Köpfe beiseite, und die mit Kindern versuchten direkt vor dem, was da vorne war, zu flüchten.

»Obacht, jetzt lasst mich doch mal da durch, damit ich mir das auch mal anschauen kann!«, kündigte sich der Kriminalhauptkommissar daher lautstark an und schob ein, zwei hartnäckige Personen, zugegebenermaßen etwas unsanft, beiseite.

»Kranzfelder! Bitte, Sie müssen sofort etwas unternehmen! Der kann da unmöglich so hängen bleiben!« Pfarrer Markus empfing ihn bereits, und er schien mit seinen Nerven nun ebenfalls nahe einem Kollaps.

Wer konnte wo nicht hängen bleiben? Gerade als Kranzfelder anfing zu überlegen, fiel sein Blick auf den Punkt, der sich eben hinter dem Pfarrer verborgen hatte.

In den Schatten des Baumes schwebte etwas. Was sollte das sein? Er kniff seine Augen zu einem Spalt zusammen. War das ein Sack?

Kranzfelder schüttelte den Kopf. Wirklich unfassbar. Vielleicht sollte er mal ein paar Schritte näher herangehen. Seine Augen waren nicht mehr die besten, und an dieser Stelle half ihm auch seine Brille nicht weiter.

Aber so war das eben, wenn man in der zweiten Halbzeit des Lebens angekommen war, dachte er sich nüchtern und ging einen großen Schritt um den Pfarrer herum.

Es war mucksmäuschenstill. Die Leute um ihn herum hielten gebannt den Atem an und beobachteten das Vorgehen des Kommissars genau. Und je näher Kranzfelder dem »Sack« kam, desto mehr dämmerte es ihm.

Ach, bitte nicht! Nicht heute, nicht an Heiligabend und nicht in meinem Urlaub, dachte er sich mit jedem Schritt, den er dem Baum näher kam.

Das kokonartige Bündel war ein Mensch. Und es schwebte nicht. Dieses Bündel hing an einem dicken Strick. Und der Hals des Gehängten machte dabei einen wirklich ungesund wirkenden Knick.

»Bärchen, da bist du ja! I such di überall!« Maria tauchte plötzlich neben ihm auf. Kranzfelder hatte sie eben noch aus dem Augenwinkel dabei gesehen, wie sie sich angeregt mit einer Bekannten aus dem Ort unterhalten hatte. »Wos is denn los? Es geht hoffentlich glei weiter! I hob nämlich die Bratwürscht auf der Küch stehen lassen. Niat dass die Katzen denken, es wär ihr Weihnachtsessen!«

Maria glänzte mit einem hervorragenden Timing, dachte sich Kranzfelder. Im selben Atemzug musste er dann aber auch an die Würste denken. Die guten Würste. Die hatte er doch tatsächlich für den Moment vergessen.

Dann überlegte er, was eigentlich schlimmer wäre. Das Wissen darüber, dass er mit großer Sicherheit die vielen guten Speisen, die Maria für die Feiertage geplant hatte, allerhöchstens aufgewärmt aus einem Plastikbehälter genießen würde? Oder die Tatsache, dass er eben nicht, wie die anderen Anwesenden, damit zu kämpfen hatte, dass es ihm sofort den Leib Christi wieder retour beförderte.

Dieses Gedankenkarussell behielt er aber besser für sich.

Stattdessen kaute er auf dem Ende des Bügels an seiner Brille herum und antwortete nüchtern: »Maria, ich glaub, wir essen heute etwas später.«

»Spinnt sich d’ Schmiede wieder wos zam?«, fragte Maria. Es hallte dabei über den sonst eher gedämpften Vorplatz.

Kranzfelder nahm sich fest vor, die Maria das nächste Mal mit zum Sehtest zu nehmen.

»Mama, bitte! Du merkst aber auch gar nichts, oder?« Alexander stand dicht hinter ihnen. Mit einem Fingerdeut machte er seine Mutter auf die leblose Gestalt, die an dem Ast der Kastanie baumelte, aufmerksam.

»Ja, um Himmels will’n! Wer hängt denn dou?«, plärrte sie ohne Vorwarnung durch die stille Nacht. Bevor Kranzfelder reagieren konnte, erkannte Maria auch, um wen es sich bei dem Toten handelte. »Der Karl!«, schrie sie.

In der Tat, dort hing Karl Winkler, der Bürgermeister von Holzwiesenreuth.

Hinter ihnen ertönte ein dumpfes Geräusch. Hannelore Winkler war zu Boden gegangen.

»Super, Maria, das hast du wirklich ganz hervorragend hinbekommen«, entfuhr es Kranzfelder schroff.

Vielleicht ein bisschen zu schroff, denn sein Sohn bedachte ihn mit einem strafenden Blick und stellte sich demonstrativ neben seine Mutter. Sanft legte Alexander den Arm um ihre Schultern und schob sie beiseite.

Ein paar der Anwesenden lösten sich aus ihrer Schockstarre und eilten zu der frischgebackenen Witwe, die wimmernd auf dem eisigen Boden kauerte.

Die Frau des toten Bürgermeisters hatte die kurze Unterbrechung in der Kirche sicher genutzt, um ihre Schützlinge für die zweite Hälfte des Krippenspiels zu motivieren, überlegte Kranzfelder. Das würde erklären, warum sie erst jetzt hier draußen zu ihnen gestoßen war.

»So, dann haben wir hier jetzt einen Tatort! Also alle bitte einen Schritt zurück!«, rief Kranzfelder in die Menge. »Und bringts halt die Frau hier weg!«, sagte er zu den Leuten, die sich um Frau Winkler kümmerten.

Die Frau Bürgermeister wurde daraufhin umgehend von dem scheußlichen Anblick entfernt. Ein anderer rief sogar einen Krankenwagen. Der Kriminalhauptkommissar setzte sich in der Zwischenzeit seine schmale Brille auf die Nase und ging näher an den Gehängten heran. Er würde sich wohl oder übel ein genaues Bild von dem Toten machen müssen.

Ihm wurde das volle Ausmaß der Gewalttat offenbart. Kranzfelder hatte Mühe, seinen Würgereiz und sein Ekelgefühl im Zaum zu halten. Das war wirklich nichts für schwache Nerven! So etwas sah selbst er nicht alle Tage. Aber das fiel wohl unter die Rubrik Berufsrisiko. Wer zur Hölle war nur zu so etwas in der Lage? Eines war zumindest klar, das konnte sich Karl Winkler unmöglich selbst zugefügt haben!

2

Vum Dorf her leitn leis die Glockn.

Die weißn Flockn falln ganz sacht.

»Des war d’ Specht, wennst mi fragst«, raunte es ihm ans Ohr.

Kranzfelder fuhr erschrocken zusammen. Thea Schmied war wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht, und es schien ihr wohl etwas besser zu gehen. Die Specht sei nichts weiter als eine Schreckensfigur, deren üble Aufgabe es sei, arme Kinder einmal im Jahr zu verängstigen, brannte es dem Kommissar auf der Zunge.

»Es fragt dich aber niemand«, knurrte Kranzfelder stattdessen.

Eigentlich konnte die ältere Dame ja nichts dafür, dass soeben sein Urlaub flöten ging und er seine Bratwürste heute, wenn überhaupt, wohl erst später am Abend bekommen würde, überlegte er.

Die Messnerin sog kräftig die Luft ein, um zu einer Schimpftirade anzusetzen. Ein warnender Blick von Kranzfelder reichte aber – und sie ging davon. Wenn auch nicht ganz ruhig.

Dann ging er ein paarmal um Karl Winkler herum, um das ganze Ausmaß der Fürchterlichkeit zu begutachten. Das, was da vor ihm am Baum hing, übertraf wirklich alles an Grausamkeiten, welche ihm in seiner ganzen Laufbahn als Kriminalbeamter untergekommen waren. Ein scheußlicher Anblick. Er merkte kurz, wie ihm flau in der Magengegend wurde, und hätte er nicht schon ein paar Jährchen Berufserfahrung auf dem Buckel gehabt, wäre er vermutlich ins nächstgelegene Eck geflüchtet, um sich zu übergeben. Der tote Bürgermeister baumelte dort, wie eine müd gewordene Marionette, von dem dicken Ast der Kastanie herab – und sein Kopf war leicht nach vorn geneigt. Seine Kleidung war schmutzig und blutgetränkt. Die Hose war ihm ein Stück nach unten gerutscht. Mit weit aufgerissenen Augen und leerem Blick schien er etwas nie Dagewesenes in der Ferne zu fixieren.

Kranzfelder erwischte sich dabei, wie er sich kurz umwandte, um nachzusehen, wer dort stand. Dann blieben seine Augen auf der Körpermitte des Opfers hängen. Aus dem Bauch vom Winkler quoll Stroh. Der Darm hing dafür ein Stück weit außerhalb des Korpus. Der wurde ausgestopft wie eine Weihnachtsgans, dachte er sich und zückte kopfschüttelnd sein Handy. Es läutete lange, bis jemand am anderen Ende abhob.

»Ja, Chef?«, meldete sich eine junge Frauenstimme. Diese gehörte zu Klara Stern, Polizeikommissarin. Seit einigen Wochen war sie die neue Kollegin an Kranzfelders Seite.

»Klara?« Der Hauptkommissar presste sein rechtes Ohr fest gegen das Smartphone, während er das linke mit seinem Zeigefinger zuhielt.

»Chef, was ist denn bei Ihnen los?« Sie klang verwundert.

»Bist du nicht in der Messe?«, sprach er ein wenig lauter in das Telefon. Er war sich nicht sicher, ob ihn die Stern verstehen würde. Die Menge um ihn herum war nämlich gerade dabei, erste Verschwörungstheorien aufzustellen. Von überall her keimte jetzt wildes Geschnatter auf.

»Nein, Chef, bin unterwegs«, antwortete sie.

»Kreiz Birnbam! Dann schau, dass du schleunigst hier auftauchst. Den Bürgermeister hat’s erwischt!« Kranzfelder konnte seinen Groll über die ganze Situation nur schlecht verbergen.

»Wo soll ich hinkommen?«, fragte die Stern mit ihrer zarten Stimme.

»Nach Holzwiesenreuth, zur Kirche! Wohin denn sonst? Dorthin, wo sich an Heiligabend jeder normale Bürger aufhält! Und pack dir eine Kotztüte mit ein, das ist wirklich kein schöner Anblick.« Kranzfelder war der Meinung, dass das nur eine faire und wichtige Information für seine neue Kollegin sei. Immerhin hatte die Stern erst kurz zuvor noch die Schulbank gedrückt, und daher ging er davon aus, dass ihr Magen empfindlich reagieren würde.

»Bis du hier bist, verständige ich die Kollegen von der Schupo. Die sollen hier schon mal alles absichern und die Herrschaften von der zentralen Kriminaltechnik anfordern.« Kranzfelder legte auf.

Den Sheriff müsste er jetzt theoretisch auch anrufen, überlegte er dann.

Mit »Sheriff« war sein Vorgesetzter gemeint – Kriminalrat Franz Kammermayer.

Er musste aber auch versuchen, die schnatternde Menge irgendwie wieder zurück in die Kirche zu bekommen, bevor sie ihm auch noch den letzten Rest an Spuren vernichteten.

»Und, wos mach ma etza, Bärchen?« Maria war wieder vor ihm aufgetaucht. Immer noch kalkweiß im Gesicht.

»Bis die von der Streife da sind, müssen wir die Leute beisammenhalten. Du musst mir helfen, die Menge zurück in die Kirche zu bekommen!«

Kranzfelders Frau fackelte nicht lange. Mit ihrer energischen Art fing sie an, die Menge an Schaulustigen zusammenzutreiben und dann zurück in die heiligen Hallen zu führen.

»Los, Herr Pfarrer! Stehen S’ da net so rum, helfen Sie lieber meiner Frau, Ihre Schäfchen ins Trockene zu bekommen!«, rief der Hauptkommissar dem Pfarrer zu.

Der stand verloren in der Gegend herum. Kranzfelder war der Meinung, dass der Geistliche sicher dankbar sein würde, endlich mit anpacken zu können.

Nachdem seine Frau und Pfarrer Markus die Menschen zurück in die Kirche bugsiert hatten, passten sie auf, dass niemand frühzeitig vom Tatort verschwinden konnte. Und als Kranzfelder nur kurz darauf das Blaulicht vernahm, welches die Straße hochkam, atmete er erleichtert auf. Er begrüßte die Männer mit einem festen Handschlag und informierte sie über das Geschehene.

Die Kollegen teilten sich auf. Zwei von ihnen machten sich direkt daran, den kompletten Vorplatz und somit den Fundort der Leiche mit einem Flatterband abzusperren, die anderen beiden lösten Maria Kranzfelder und den Pfarrer in der Kirche ab und passten statt ihrer auf, dass sich keiner aus dem Staub machte.

Die zentrale Kriminaltechnik war noch nicht eingetroffen. Daher nutzte Kranzfelder den Moment, um sich mit dem Toten vertraut zu machen. Es war eine Eigenart, die er sich über die Jahre angewöhnt hatte. Ein kurzes Kennenlernen, ein paar Fragen, die er dem Toten in aller Stille stellen konnte, ein kurzer Small Talk von Leiche zu Ermittler. Das war ihm wichtig, er war sich nämlich sicher, die Opfer so besser kennenzulernen. Vielleicht würden sie ihm auch ein Zeichen geben, vielleicht sogar einen Hinweis auf den Täter.

»Wer hat dir das nur angetan?«, fragte er daher.

Die Männer von der Schutzpolizei, die gerade dabei waren, den Tatort mit Absperrband zu sichern, warfen sich belustigte Blicke und ein spöttisches Grinsen zu.

Kranzfelder wusste sehr wohl, dass er von seinen Kollegen für seine Vorgehensweise belächelt wurde. Davon hatte er sich aber noch nie aus der Ruhe bringen lassen.

»Wieso hängst du hier? Aufgeschnitten wie ein geschlachtetes Schwein?« Dem Kommissar war die Tatsache zwar bewusst, dass sich der tote Bürgermeister seit seinem Amtsantritt wenig Freunde gemacht hatte, aber ihn gleich derart zuzurichten? Ihm fiel zudem der Boden unter dem Toten auf. Dort befanden sich ein paar Strohhalme, aber keine sichtlichen größeren Blutspuren. »Und warum ausgerechnet an Weihnachten?«, flüsterte Kranzfelder dem Winkler zu. Fast so, als würde er tatsächlich auf eine Antwort hoffen.

»Kollege, wie schaut’s aus? Werden die Anwesenden jetzt noch vernommen, oder was? Die steigen uns nämlich langsam aufs Dach. Von wegen Weihnachtsessen, ruiniertes Fest, Bescherung und so!« Einer der Streifenpolizisten stand plötzlich vor Kranzfelder und riss ihn damit aus seinem Dialog mit dem Winkler.

Kranzfelder griff nach der Brille auf seiner Nase. Natürlich hatte er die Leute nicht vergessen. Aber er musste zugeben, dass er für einen Moment gedanklich sehr vertieft gewesen war. Er hatte deshalb auch nicht mitbekommen, dass inzwischen dicke, nasse Schneeflocken vom Himmel kamen.

Konnte das Fest der Liebe denn noch beschissener werden?

»Jetzt gehen Sie wieder zurück und sagen Sie den Herrschaften, dass ich gleich komm. Keiner verlässt die Kirche, verstanden?« Kranzfelder schickte den Kollegen in blauer Uniform davon.

Danach warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Stern sollte jetzt langsam mal auftauchen. Der Kommissar bewegte sich in Richtung Treppe, die vom Vorplatz hinunter zur Straße führte.

Die aufkommende Nässe tat ihr Übriges, und das Kopfsteinpflaster hatte sich in die reinste Rutschpartie verwandelt. Kranzfelder musste aufpassen. Beinahe hätte es ihm auf dem schmierigen Untergrund die Füße wegzogen.

Da hörte er endlich ein immer lauter werdendes Klackern die steinernen Stufen vor ihm heraufeilen. Kurz darauf erschien die Stern, sie war vollkommen aus der Puste. Kranzfelder überlegte, wie sie es nur schaffte, in ihren Stiefeln mit den hohen Absätzen und bei der Schmierseife auf dem Boden nicht auszurutschen.

»Chef, ich bin schon da. Tut mir echt leid, aber ich habe mich wirklich beeilt! Die Straßen waren nur so furchtbar glatt, und gestreut hat da auch keiner.«

»Na, Zeit wird’s!« Er verzichtete auf die Frage, woher seine Kollegin jetzt komme.

Zur selben Zeit war auch die Kriminaltechnik vorgefahren. Die Kollegen kamen mit ihren schweren Koffern hinter der Stern die schlecht beleuchtete Treppe hochgestiefelt. Motivation sah anders aus. Kranzfelder konnte es ihnen nicht verübeln.

»Da, an der alten Kastanie.« Er deutete ihnen mit seinem Kopf den Weg zum Einsatzort. Die Männer und Frauen von der Spurensicherung warfen sich ihre weißen Schutzanzüge über und bedeckten ihre Gesichter mit einem Mundschutz. Dann machten sie sich an die Arbeit.

»Kommt denn der Gerichtsmediziner auch noch?«, rief der Hauptkommissar einem der Männer von der Spurensicherung hinterher.

»Nein, der will den Toten gleich auf den Tisch«, antwortete der verantwortliche Kollege von der Spurensicherung. Er schüttelte seinen Kopf und fing damit an, Stück für Stück den Fundort aufzunehmen.

Gerichtsmediziner müsste man sein, dachte sich Kranzfelder. Im selben Moment tat sich ihm aber noch eine andere Frage auf. »Ja, und wer holt uns jetzt die Leiche da runter?« Er fand, dass das eine berechtigte Frage sei. Aber anstatt einer Antwort gab es für die beiden Ermittler nur einen genervten Blick seitens der Spurensicherung. Im selben Augenblick kitzelte ihn ein aufdringlicher Duft in der Nase. Es war sicher das Parfum der Stern.