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»Jemand verfolgt mich!«, schreit Anatol Grec. »Helfen Sie mir!« Seine zauberhafte, sehr leicht bekleidete Freundin fleht... da will Privatdetektiv Mark Stone einfach nicht unhöflich sein. Ein kleiner Besuch, denkt er. Mehr ist wohl nicht nötig.
Doch die beiden Männer, die er antrifft, halten jeweils ein Bleirohr in den Händen - und etwas Schwarzes, Glänzendes, das vorn ein rundes Loch hat. »Auf dich haben wir bloß gewartet!«
Dabei wollte Mark Stone doch eigentlich in La Baule an der französischen Atlantikküste Urlaub machen...
Der Roman Der Tod spielt die erste Geige des deutschen Kriminalschriftstellers Max Ulrich (* 6. März 1923 in München; † 21. November 1994 ebenda) erschien erstmals im Jahr 1966 und ist einer von mehreren Romanen um den New Yorker Privatdetektiv Mark Stone.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
MAX ULRICH
Der Tod spielt
die erste Geige
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER TOD SPIELT DIE ERSTE GEIGE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
»Jemand verfolgt mich!«, schreit Anatol Grec. »Helfen Sie mir!« Seine zauberhafte, sehr leicht bekleidete Freundin fleht... da will Privatdetektiv Mark Stone einfach nicht unhöflich sein. Ein kleiner Besuch, denkt er. Mehr ist wohl nicht nötig.
Doch die beiden Männer, die er antrifft, halten jeweils ein Bleirohr in den Händen - und etwas Schwarzes, Glänzendes, das vorn ein rundes Loch hat. »Auf dich haben wir bloß gewartet!«
Dabei wollte Mark Stone doch eigentlich in La Baule an der französischen Atlantikküste Urlaub machen...
Der Roman Der Tod spielt die erste Geige des deutschen Kriminalschriftstellers Max Ulrich (* 6. März 1923 in München; † 21. November 1994 ebenda) erschien erstmals im Jahr 1966 und ist einer von mehreren Romanen um den New Yorker Privatdetektiv Mark Stone.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Die alte Frau war fett und hässlich. Trotzdem wäre Mark Stone höflicher zu ihr gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sie nur noch dreißig Minuten zu leben hatte. Sie saß neben ihm im Konzertsaal und drückte mit Erfolg seinen Ellbogen von einer der Armlehnen, mit denen die ersten drei Stuhlreihen ausgestattet waren. Damit noch nicht genug, zischte sie zwischen dem zweiten und dritten Satz einer Brahms-Sonate: »Können Sie sich nicht einen anderen Platz suchen? Sie riechen derart penetrant nach Tabak!«
Stone wandte sich zur Seite, betrachtete seine Nachbarin von oben bis unten und knurrte zurück: »Nehmen Sie sich das nächstemal drei Eintrittskarten, dann haben Sie Luft! Außerdem entspricht es Ihrem Umfang.«
Die dicke Frau schnaubte durch die Nase und blickte starr geradeaus. Dabei angelte sie mit beiden Händen rechts und links neben sich am Boden herum und murmelte: »Wo nur wieder meine Tasche ist?«
Zwei Herren drehten sich nach ihr um. Die alte Dame ließ sich davon wenig beeindrucken. Sie holte unter ihrem Stuhl einen mit Perlen bestickten Beutel hervor und nahm eine Flasche Eau de Cologne zur Hand. Sie befeuchtete ein großes Taschentuch und fing an, sich damit völlig ungeniert Stirn und Hals abzureiben. Mehrere Konzertbesucher blickten zu ihr hin und schüttelten die Köpfe.
Die Frau war ungefähr sechzig Jahre alt. Sie quoll rundherum über massive Korsettstangen hinweg und hatte einen blassgelben Teint. Ihr Kleid aus Duchesseseide gab eine Menge ungezügeltes Fleisch frei, das trotz wertvoller Schmuckstücke abstoßend wirkte. Das rötliche Haar war gelichtet, klein gekräuselt und stand wie elektrisch geladen vom Kopf ab. Alles in allem machte die Frau den Eindruck einer zwar üppig dekorierten, aber bereits verdorbenen Süßspeise. Um sie herum schwebte die dumpfe Luft eines Blütendschungels, auf den der Tropenregen niedergegangen ist.
An ihrer linken Seite saß ein Mädchen, das bei Stones Worten errötete. Offensichtlich befand es sich in Begleitung der Alten, weil beide gleichzeitig gekommen waren und gemeinsam ein Programmheft benutzten. Stone konnte nicht sagen, ob das Erröten der jungen Dame von unterdrücktem Lachen oder starker Verlegenheit herrührte. Ihr wohlerzogener Gesichtsausdruck ließ allerdings eher das letztere vermuten. Sie war Anfang der Zwanzig und hatte ein klares Profil. Das blonde Haar legte sich in einer großen Welle leicht und duftig um den Kopf. Der zarte Körper weckte selbst in einem solch hartnäckigen Junggesellen wie Stone Gedankenverbindungen wie erste Liebe, Brautschleier, Myrtenkranz und goldener Fingerring.
Bei dem Konzert handelte es sich um einen Violinen-Abend des berühmten Geigers Anatol Grec. Ein Kenner hätte das Programm als anspruchsvoll, aber vielleicht etwas zu vielseitig empfunden. Grec hatte mit der Solosonate in C-Dur von Johann Sebastian Bach den Abend eröffnet. Die monumentale Fuge nach dem einleitenden Adagio bildete ein solides Fundament für das übrige Programm. Grec war es gelungen, dieses lange Zeit für unspielbar gehaltene Werk in solcher Meisterschaft vorzutragen, dass auch der Durchschnittshörer zu einem Verständnis der Zusammenhänge gelangt war. Dann waren zwei Sonaten von Tartini und Beethoven gefolgt, die auch Grecs Begleiterin am Flügel, Gina Corvese, Gelegenheit gegeben hatten, ihr großes Können zu zeigen. Nach der Beethoven-Sonate waren die Künstler vom Publikum für die Dauer der großen Pause mit ehrlichem und begeistertem Applaus verabschiedet worden.
Die Atmosphäre im Foyer und in den Wandelgängen wurde von angeregtem Meinungsaustausch und gesellschaftlichen Eitelkeiten bestimmt. Das Konzert konnte als kultureller Höhepunkt der Sommersaison im französischen Atlantikkurort La Baule gelten. Die Feriengäste und die eingesessene Gesellschaft hatten sich im Glanz von Schmuck, Kristallleuchtern und erlesener Abendkleidung zusammengefunden, um Musik in seltener Vollendung zu hören, aber auch, um an einem gesellschaftlichen Ereignis ersten Ranges teilzunehmen.
Den Auftakt zum zweiten Teil des Konzertes bildete die oben erwähnte Brahms-Sonate, während der sich die gereizten Äußerungen zwischen Stone und seiner Nachbarin ergeben hatten. Danach verließen die Virtuosen für zwei Minuten den Saal. Ein Diener betrat das Podium und entzündete zwei vier- armige Kerzenleuchter neben dem Flügel. Mark Stone warf einen Blick ins Programm. Mehrere Stücke von Paganini, Sarasate und Wieniawski wurden darin angekündigt. Vermutlich wollte Anatol Grec den Teufelsgeiger Paganini nachahmen, der mit Vorliebe bei sparsamer Beleuchtung aufgetreten war. Da gingen auch schon die großen Leuchter im Saal aus. Der Diener verschwand. Ein vereinzeltes Klatschen, das schnell zu brausender Stärke anschwoll, kündigte die Rückkehr der Künstler an. Sie dankten. Gina Corvese nahm ihren Platz am Flügel ein. Anatol Grec überprüfte die Stimmung der Saiten und zog das A etwas an. Die Kerzenbeleuchtung, der schmal gearbeitete Frack, die zierlichen Formen der Violine, alles passte gut zu seinem Aussehen. Er wirkte wie ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts. Groß, dürr und blass, dabei etwas nach vorn gebeugt, hätte er durchaus an seinen unübertroffenen Vorgänger Paganini erinnern können. Aber die Ausgeglichenheit seiner Gesichtszüge und die Eleganz seiner Bewegungen verhinderten einen weitergehenden Vergleich. Ganz abgesehen davon, dass Paganini in seiner großen Zeit nur mit eigenen Kompositionen vor die Öffentlichkeit getreten war. Das musikalische Temperament allerdings, mit dem Grec das brillante Feuerwerk der Salonmusik des vorigen Jahrhunderts absolvierte, wies ihn als legitimen Nachfahren des großen Virtuosen aus.
Die Staccati kamen wie gestochen, die Doppel-Flageolette erklangen glockenrein, die Pizzicati rechts und links kamen so gleichmäßig, als wären sie Maschinenarbeit. Die Kantilenen griffen ans Herz. Läufe, Arpeggien und Akkorde waren von makelloser Vollendung. Die Bogentechnik war so ausgefeilt, dass auch das gehauchteste Pianissimo noch in der letzten Saalecke zu vernehmen war. Die wirkliche Könnerschaft Anatol Grecs aber zeigte sich darin, dass er die schwindelerregenden Kunststücke mit einer Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit vortrug, als wären es bescheidene Fertigkeiten, wie man sie nebenbei in Abendkursen erlernen kann.
War das Publikum während des klassischen Programmteils versunken gewesen, so war es jetzt erregt. Die meisten Zuhörer saßen nach vorn geneigt und machten Gesichter, als hielten sie den Atem an. Mark Stone war allerdings nicht der Mann, der sich von klassischer oder virtuoser Musik übermäßig beeindrucken ließ. Wenn er trotzdem hier im Konzertsaal saß, so hatte er einen besonderen Grund dafür, der mit Anatol Grec gar nichts, mit dessen Begleiterin Gina Corvese dagegen alles zu tun hatte.
Gina war eine Frau von achtundzwanzig Jahren, deren musikalisches Können nur noch von ihrer Schönheit übertroffen wurde. Schwarzhaarig und von südländischem Typ, gehörte sie zu den Frauen, deren Blick einen Mann versengen kann, wenn er in verführerischer Absicht angesehen wird. Ihr Aussehen, ihre Haltung und ihre Bewegungen ließen auf ein feuriges Temperament schließen; vor dem sich andere Männer als Stone vielleicht gehütet hätten. Aber am Klavier zeigte sie, dass sie dieses Temperament stets unter Kontrolle hatte. Ihr Körper war von der Art, dass Stone während der ganzen Zeit die Musik, die Instrumente und vor allem den Geiger als völlig überflüssig empfand.
Stone hatte das italienische Frauenwunder am Vorabend auf einer Party kennengelernt. Da die anderen Gäste nur den üblichen Querschnitt darstellten, hatte Stone mehrmals nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken können. Da war Gina als letzter Gast in der Tür erschienen, und Stones Augen hatten so viel Bewunderung für sie gezeigt, dass sie ihn unwillkürlich an lachte. Bei der Begrüßung der Gastgeber hatte sie mit einem Seitenblick auf Stone ziemlich laut gesagt: »Ich glaube, es wird ein ganz reizender Abend.« Diese Prophezeiung war auch für beide prompt eingetroffen, nachdem Stone sich hatte vorstellen lassen. Im Laufe des Abends hatte er von Gina erfahren, dass sie sich schon seit drei Jahren mit Anatol Grec auf Konzerttournee befand. Stone seinerseits hatte ihr von sich erzählt, dass er Amerikaner sei, sich aber bereits seit Jahren in Frankreich aufhalte. Er sei Privatdetektiv und betreibe in Paris eine Agentur. Er habe gerade in Nantes einen Fall abgeschlossen und sei auf einen Sprung nach La Baule herübergekommen, um den Atlantik wiederzusehen. Aber nun habe er ganz überraschend etwas viel Größeres gesehen: ihre Schönheit. In gehobener Stimmung hatte er später seine neue Bekanntschaft nach Hause gebracht und mit Vergnügen festgestellt, dass sie, wie er selbst auch, im Hotel Clisson in La Baule wohnte. Gina hatte ihm am nächsten Vormittag durch den Portier eine Freikarte für das abendliche Konzert zukommen lassen.
Das letzte Stück des Programms begann. Es war das Souvenir de Moscou von Wieniawski. Mit Eleganz meisterte Grec die Läufe der Einleitung. Stone lehnte sich befriedigt gegen die Rückenlehne seines Stuhls. Nun würde es nicht mehr lange dauern, und er würde Gina gegenüberstehen. Er hatte sich vorgenommen, sie nach dem Konzert im Künstlerzimmer aufzusuchen. Er kreuzte seine Arme vor der Brust und atmete einmal tief aus und ein. Ein lautes Schnaufen seiner fetten Nachbarin erinnerte ihn daran, dass er nicht allein war. Er nahm die Arme wieder herab und sah zur Seite. Die Frau hatte gar nicht seinetwegen geschnauft. Sie hielt die Augen geschlossen und streckte ihre wulstigen Lippen wie ein Karpfen vor, als ginge es darum, etwas aufzuschnappen. Die Musik auf dem Podium war gerade in das altrussische Lied vom Roten Sarafan hinübergeglitten. Anatol Grec gab sein Letztes an wohlberechneter Einfachheit und Zurückhaltung. Die Geige sang, schluchzte melancholisch und gab die rührendsten Töne von sich, ohne je ins Schmalzige abzugleiten.
Als das Stück zu Ende war, trat ein Moment der Stille ein. Dann brauste ein Beifallssturm durch den Saal. Die Kristallleuchter flammten auf. Anatol Grec nahm langsam das Instrument vom Kinn, trat zwei Schritte näher an die Rampe heran und verbeugte sich mit einer Gemessenheit, die in auffälligem Gegensatz zu dem tosenden Geklatsche der Leute stand und dieses noch anstachelte. Als nächstes erschien ein winziges Lächeln in Grecs Mundwinkeln. Die Ovationen wurden noch stürmischer. Anatol Grec hob wie hilflos den linken Arm und drehte sich zu Gina Corvese um. Er ging auf sie zu, reichte ihr die Hand und zog sie von ihrem Stuhl hoch. Er führte sie zur Rampe und ließ sie ihren Anteil an dem Geprassel kassieren. Ein Strauß roter Rosen wurde für sie auf das Podium getragen. Jetzt sprangen die Leute auf. Die Inhaber der hinteren Plätze drängten in den Gängen zwischen den Stühlen nach vorn und scharten sich um das Podium. Die ersten Bravorufe erschallten. Anatol Grec lachte jungenhaft und schüttelte wie staunend den Kopf. Die Leute rasten.
In Stones Reihe saßen nur noch zwei Personen auf ihren Stühlen: er selbst und seine dicke Nachbarin. Die junge Begleiterin der Alten war von ihrem Platz verschwunden und stand drei Reihen weiter vorn in der Nähe der Rampe. Stone sah ihre schmalen Hände derartig energische Klatschbewegungen ausführen, wie er sie dem zarten Persönchen niemals zugetraut hätte. Der Geigenzauberer hob den Arm. Ein großes Schweigen senkte sich augenblicklich über die Menge. Jetzt gab es etwas gratis. Gina Corvese ging an den Flügel zurück und setzte sich. Auch die Leute in den Stuhlreihen nahmen wieder Platz. Dann wurde es so ruhig im Saal, dass man einen auf der Straße vorbeifahrenden Rolls-Royce hätte hören können. Sogar das Schnaufen neben Stone hatte aufgehört. Dafür war der Unterkiefer der Alten auf die Brust gesunken. Ihr Mund stand offen, und die Arme hingen über die Stuhllehnen nach unten. Der Körper war etwas nach vorn gerutscht. Stone beugte sich zu der Frau hinüber. Ihre Augen waren jetzt weit geöffnet und starrten in verschiedene Richtungen. Diesen vielsagenden Blick hatte Stone zum ersten Male bei einem toten Kriegskameraden gesehen.
Anatol Grec hob die Geige ans Kinn und hielt den Bogen über die Saiten. In die erwartungsvolle Stille hinein sagte Stone: »Jetzt legen Sie mal Ihre Fiedel weg. Hier ist eine Frau gestorben.«
Die Stille hielt weiter an. Aber irgendetwas darin hatte sich verändert. Es war, als duckten sich die Menschen vor einem drohenden Ungewitter. Die ersten drehten sich verstohlen um und blickten zuerst auf Stone, dann auf die fette Frau neben ihm. Ein Raunen und Summen erhob sich rundum. Anatol Grec, der Mann der öffentlichen Auftritte, starrte einen Augenblick ins Publikum, nahm seine Geige unter den Arm und gab seiner Begleiterin ein kurzes Zeichen mit dem Kopf. Daraufhin verließen beide das Podium. Das Summen im Publikum schwoll an. Die Neugierigen standen auf, um möglichst alles ganz genau zu sehen. Einzelne eilten aber auch bereits den Ausgängen zu, um als erste die Garderoben zu erreichen. Mit musikalischen Zugaben war nicht mehr zu rechnen.
Stone stand auf und rief in die Menge hinein: »Ist ein Arzt hier?«
Rechts von ihm drängelte sich ein dicklicher Mann mit Brille und ausgebuchteter Tasche durch die Stuhlreihe. Jedes Mal, wenn er an ein Paar Knie stieß, sagte er: »Pardon... Pardon... Lassen Sie mich bitte durch.«
Stone winkte ihn heran und machte ihm Platz. Auf der anderen Seite kam jetzt auch das blonde Mädchen zurück, das vorn am Podium gestanden hatte. Es traf gleichzeitig mit dem Arzt bei der Toten ein. Stone hätte sich gern eine Zigarette angezündet, begnügte sich aber damit, das Feuerzeug in der Hand herumzudrehen. Der Theaterarzt war ein erfahrener Praktiker. Seine Handgriffe waren sicher und schnell. Er ließ sich weder durch die ungewohnte Situation noch durch die Leute rundherum beirren. Seine Untersuchung dauerte nicht lange.
»Gehört sie zu Ihnen?« wandte er sich an die junge Dame, die bisher keinen Laut von sich gegeben hatte.
»Ja. Sie ist meine Tante«, sagte sie jetzt mit leiser Stimme.
»Sie ist leider tot, vermutlich Herzschlag«, sagte der Arzt. »Bitte... Bitte! Gehen Sie doch nach Hause!«, rief er den Umstehenden zu.
Niemand rührte sich.
»Warten Sie einen Augenblick hier. Ich werde alles Weitere veranlassen.«
Der Arzt bemühte sich wieder durch die Stuhlreihe. Stone wusste nicht warum, aber er blieb stehen. Vielleicht wollte er das Mädchen nicht mit der Toten alleinlassen. Es machte einen solch hilflosen und verlorenen Eindruck.
»Ich heiße Stone - Mark Stone. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, sagen Sie es mir bitte.«
»Aber der Arzt wollte doch...«
»Er wird einen Wagen kommen lassen.«
»Danke, bemühen Sie sich nicht, Monsieur.«
»Aber...«
»Nein, nein. Sie waren so hässlich zu ihr.«
»Das tut mir jetzt leid«, sagte Stone, »aber sie hat mich herausgefordert.«
»Ich möchte lieber allein sein.«
Das Mädchen drehte ihm den Rücken zu. Da war nichts zu machen.
Bevor Mark Stone das Künstlerzimmer betreten konnte, musste er einen Kampf mit dem Drachen in Gestalt des Konzertagenten Prosper Bronc bestehen, der den Eingang versperrte. Bronc war ein Mittvierziger von schwammigem Aussehen. Tränensäcke, Wangen, Hals, Hände, alles war gedunsen. Die schwarzen Haare waren mit Pomade geglättet und nach hinten gekämmt. Er benutzte außerdem Parfüm. Ein Spitzentuch steckte in der äußeren Brusttasche seines mitternachtsblauen Anzugs. Die schwarzen Halbschuhe waren genauso spitz wie Eispickel.
Bronc hatte auf Stones Klopfen hin die Tür einen Spaltbreit geöffnet und seinen Kopf geschüttelt. Die schwammigen Wangen waren dabei in Bewegung geraten.
»Sie können hier nicht herein, Mann!«, rief er, ohne Stone überhaupt zu Wort kommen zu lassen.
»Aber ich will...« Weiter kam Stone nicht.
»Sie hören wohl schlecht?«, unterbrach ihn Bronc ruppig. »Von mir aus kommen Sie wieder, wenn die Liliputtruppe gastiert.«
»Ich heiße Stone und möchte zu Mademoiselle Corvese.«
»Das möchte jeder. Hauen Sie ab!!«
Der Schwammige wollte die Tür zudrücken. Stone lehnte seine fünfundachtzig Kilo dagegen und schob die Tür mitsamt dem Mann weit auf.
»Soll ich den Saaldiener rufen?«, kreischte Bronc.
»Führen Sie sich nicht so auf«, rief ihm Anatol Grec zu, der in einem Sessel mehr lag als saß. Er massierte seine Hände und streckte die Beine von sich. Die Sicherheit, die er auf dem Podium gezeigt hatte, war nicht mehr zu spüren. Er machte einen abgespannten und gereizten Eindruck. Aus der Nähe gesehen wirkte er zehn Jahre jünger als auf dem Podium. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten und so prägnant, als wären sie gemeißelt. Übrigens eine Eigenart, die man bei vielen Virtuosen findet. Sei es, weil die Beschäftigung mit der Musik solche Köpfe formt, oder weil es die Leute mit solchen Köpfen sind, die sich mit Musik beschäftigen. Das volle dunkle Haar war von silbernen Fäden durchzogen. Sein Mund war schön geformt, aber zu weich. Die linke Hand war durchgebildeter als die rechte.
Er wandte sich in nervösem Tonfall an Stone: »Müssen Sie unbedingt hier stören?«
Stone sah Gina an, die vor dem Spiegel stand und sich zu ihm umgedreht hatte.
»Sie waren noch schöner als gestern, Gina. Und dazu diese Musikuntermalung!«
Gina schaute zuerst verblüfft. Dann musste sie lachen. Sie nahm Stones Arm und zog ihn daran vor Grecs Sessel.
»Das ist Monsieur Stone, Anatol, von dem ich dir erzählt habe.«
»Sagen Sie einfach Mark zu mir.« Stone grinste und streckte Grec seine Hand entgegen.
Mit unbeweglichem Gesicht und ohne auf die Hand zu achten antwortete Grec: »Das will ich gern tun, Mark, solange Sie es vermeiden, mich Anatol zu nennen. Und bitte, machen Sie sich nichts daraus, wenn ich Ihnen keine Hand gebe. Aber Sie sehen mir nach einem zu kräftigen Händedruck aus. Ich brauche danach jedes Mal drei Tage, bis ich wieder ein sauberes Staccato hinbekomme. Haben Sie etwas von der Frau da draußen erfahren?«
»Sie ist tot. Wahrscheinlich Herzschlag.«
»Wissen Sie, wann die Frau gestorben ist? Ich meine, war sie vielleicht schon längere Zeit tot?«
»Sie starb, während Sie das Lied vom Roten Sarafan gespielt haben.«
Grec ballte seine Fäuste und presste sie sich mit theatralischer Geste gegen die Schläfen. Dann rief er aus: »Stellt euch morgen die Schlagzeilen vor: Teufelsgeiger krönt sein Programm mit dem Ableben einer alten Frau. Wenn nur dieser Trottel im Publikum seinen Mund gehalten hätte! Niemandem wäre etwas aufgefallen! Nein - er musste es an die große Glocke hängen!«
»Der Trottel bin ich«, sagte Stone schlicht.
»Sie? Dann sagen Sie mir nur eins: Was haben Sie sich dabei gedacht? Wenn Sie sich überhaupt etwas gedacht haben.«
»Ich wollte weiteres Unglück verhindern«, zahlte ihm Stone mit gleicher Münze heim und grinste, »wer weiß, wie viele Sie noch zuschanden gefiedelt hätten.«
Anatol Grec sprang mit einer Schnelligkeit, die man ihm bei der Länge seiner Glieder kaum zugetraut hätte, aus dem Sessel hoch. Gina, die Stone immer noch am Arm festhielt, versuchte, ihn aus Grecs Reichweite zu ziehen. Diese Bemühung war natürlich völlig zwecklos, weil Stone im Gegenteil sein Kinn vorstreckte und ihr seinen Arm entzog. Die beiden Männer standen sich Auge in Auge gegenüber und musterten sich feindselig. Dann war es Grec, der als erster zur Seite schaute.. Aber Prosper Bronc war es vorbehalten, die Spannung zu lösen.
»Soll ich ihn rausschmeißen?« ließ er sich von der Tür her vernehmen.
Grec lächelte schief und setzte sich wieder in den Sessel.
»Versuchen können Sie es wenigstens«, sagte er.
Der Konzertmanager kam langsam näher.
»Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Bronc«, sagte Gina und trat ihm in den Weg. Aber Bronc ließ sich nicht beirren. Er ging um Gina herum und stand jetzt neben Stone, der ihn über die Schulter ansah. Broncs rechte Hand steckte in der äußeren Seitentasche seiner Jacke, und zwar in einer ganz unmissverständlichen Weise. Wenn es nicht gerade ein Füllfederhalter war, was sich durch den Stoff abzeichnete, war es wahrscheinlich eine Pistole. Die selbstsichere Miene Broncs sprach jedenfalls mehr für die zweite Möglichkeit.
»Raus jetzt! Aber mit Dampf dahinter!«, sagte er energisch.
Du siehst nicht gerade aus, als ob dir ein Loch in deinem Anzug Spaß machen würde, dachte Stone und griff nach Broncs Handgelenk. Ein kräftiger Ruck - und die Pistolentheorie war widerlegt. Bronc hielt einen abgebrochenen Kamm in der Hand.
»Wenn Sie damit noch einmal auf mich zielen«, sagte Stone, »machen Sie ihn wenigstens vorher sauber!«
Gina Corvese schien die Vorstellung zu genießen. Sie lachte ungeniert und fragte: »Weshalb sind Sie eigentlich gekommen, Mark?«
»Um Ihnen für die Karte zu danken und um Sie zu einem kleinen Abendtrunk einzuladen.«
»Denk daran, dass wir morgen früh um acht Uhr proben«, mischte sich Grec ein, bevor Gina Gelegenheit hatte, sich zu der Einladung zu äußern.
»Ich schlage vor, dass ich mit Mark ausgehe und dass wir die Probe auf nachmittags verschieben«, sagte Gina kampfbereit.
»Die Probenzeit bestimme nach wie vor ich. So steht es im Vertrag.« Grec sah Gina kühl von oben bis unten an. »Und Monsieur Stone wird wohl das nötige Verständnis dafür aufbringen, dass mir mit einer unausgeschlafenen Pianistin nicht gedient ist.« Grecs Stimme klang jetzt schneidend.
»So schwierig wird das bisschen Gezirpe wohl nicht sein, dass Sie solch einen Wirbel darum machen.« Stone grinste und zündete sich eine Zigarette an.
»Sie sehen mir nicht danach aus, als ob Sie das beurteilen könnten.« Grec blieb kalt.
»Jetzt lasst das Streiten sein!« Gina stellte sich zwischen die beiden Männer. »Ich werde heute nicht mehr mit Mark ausgehen. Dafür darf er mich morgen nach der Probe zum Essen führen. Bronc, machen Sie mal die Flasche auf! Wir brauchen einen Versöhnungstrunk.«
Gina wies auf einen Eiskübel mit einer Champagnerflasche darin.
»Ich habe die Flasche gekauft, um mit Ihnen beiden auf den Erfolg des Abends anzustoßen, und nicht, um diesen...« Bronc verschluckte den Rest des Satzes, weil Stone zu ihm herübersah.
»Dann setzen Sie sie eben mir auf die. Rechnung«, sagte Gina lachend, »das heißt, wenn sie nicht schon draufsteht.«
Bronc machte sich über die Flasche her. Anatol Grec schaute immer noch verärgert drein. Gina setzte sich auf die Lehne seines Sessels und sagte: »Abrakadabra... Komm wieder zu dir. Mark ist ein wenig geradeheraus, aber sonst ein sehr netter Mensch. Du wolltest ihn doch um Rat fragen.«
Grec sah weiterhin auf seine Fußspitzen. Der Champagnerkorken knallte. Bronc schenkte drei Gläser voll, die auf einem Tablett standen. Gina entführte es, bevor der schwammige Agent eins davon herunternehmen konnte, und trat auf Stone zu.
»Los, Mark, machen Sie den Anfang!«
Stone nahm einen der Kelche. Nach längerem Geziere ließ sich auch Grec bewegen zuzugreifen. Für Bronc blieb nur das leere Tablett. Vor Ärger darüber griff er zur Flasche und hob sie an den Mund. Das Eiswasser, das außen an der Flasche hing, lief über die Revers seines dunklen Anzuges, als er trank. Er stellte die Flasche wieder, zurück, wischte sich über den Mund und ging zur Tür.
»Noch einen vergnügten Abend zusammen!«, rief er den übrigen zu und ging.
»Dass man auf solche Individuen angewiesen ist«, sagte Anatol Grec verächtlich. »Dabei habe ich ihn aus der Gosse gezogen.«
»Warum?«, fragte Stone.
»Fragen Sie mich nicht. Er hat mal im Gefängnis gesessen und lag am Boden. Keiner wollte mehr mit ihm zu tun haben. Er tat mir leid, weil er gar so armselig aussah.«
»Vor allem war er ja wohl billig«, fügte Gina hinzu.
»Immerhin ist sein Verschwinden ein hinreichender Grund zum Trinken.« Stone hob sein Glas. »Prost!«
Man trank sich zu und einigte sich stillschweigend darauf, dass die Schuld an dem vorangegangenen Streit Prosper Bronc zuzuschreiben war.
»Gina hat mir erzählt, dass Sie Privatdetektiv sind.«
»Hm.« Stone nickte zustimmend.
»Ich kann mir darunter gar nicht viel vorstellen. Kann man denn davon leben?«
»Sehe ich so tot aus?«
»Ich meine natürlich gut leben. So mit Haus, Wagen, Reisen, Vermögen und was noch alles dazugehört.«
»Das ist wie bei den Geigern. Manche verdienen gut, die andern nagen am Hungertuch.«
»Und Sie?«, fragte Grec hartnäckig weiter,
»Ich bin sehr, sehr teuer, falls Sie darauf hinauswollen.«
»Eigentlich wollte ich nur einen Rat.«
»Den bekommen Sie umsonst - Gina zuliebe.«
Anatol Grec vermied es, Stones Ironie zu beanstanden. Eine kostenlose Beratung verscherzt man sich nicht durch übertriebene Empfindlichkeit.
»Jemand verfolgt mich«, sagte er plötzlich mit großer Ruhe, wobei er zum ersten Mal das Kneten und Massieren seiner Hände vergaß. Gina ging zum Spiegel hinüber, nahm einen Kamm aus ihrer Handtasche und fuhr sich damit durchs Haar.
»Jemand verfolgt mich!«, wiederholte Grec mit erhobener Stimme, als Stone sich nicht dazu geäußert hatte.
»Ich habe es gehört.« Stone grinste. »Und was weiter?«
»Ist das noch nicht genug?«
»Ich dachte, Sie wollten einen Rat von mir. Was soll ich Ihnen denn raten?«
»Wie ich mich verhalten soll!«
»Dann müssten Sie mir schon ein bisschen mehr erzählen. Zum Beispiel, worin die Verfolgung besteht.«
»Für Sie mag die ganze Sache vielleicht lächerlich klingen, aber ich mache mir darüber Sorgen. Vor allem, weil ich gerade hier in La Baule für die Zukunft große Pläne habe.« Grec machte eine Pause, als wüsste er nicht so recht, wie er beginnen sollte. Dann hielt er plötzlich Stone seine Hände hin und sagte: »Diese Hände sind mein Kapital. Wenn mit ihnen etwas geschieht, bin ich als Virtuose geliefert. Sehen Sie hier diesen kleinen Schnitt?« Er wies mit dem Zeigefinger auf eine minimale Verletzung am Handballen der linken Hand. »Er wurde mir mit einer Rasierklinge beigebracht.«
Stone musste wegen der Geringfügigkeit dieser Verwundung unwillkürlich lächeln. Aber er schwieg.
»Ein Stück von einer Rasierklinge steckte in der Seife, mit der ich mir gewöhnlich die Hände wasche. Wäre der Schnitt tiefer gewesen, hätte ich das heutige Konzert ausfallen lassen müssen. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Anschlag mit einem Telefonanruf zu tun bat, der mich jedes Mal in Schrecken versetzt, wenn ich daran denke. Das war vor vier Tagen. Gina und ich waren gerade aus Holland angekommen. Da rief mich im Hotel ein Mann an. Ich solle mir doch überlegen, ob ich nicht lieber gleich aus dem Fenster springen wolle. Mit meiner Karriere sei es sowieso vorbei. Und wenn ich noch eine winzige Chance hätte, dann wäre sie auf jeden Fall so teuer, dass ich schon ein sehr reicher Mann sein müsse, um sie wahrnehmen zu können. Alles weitere würde mir sehr bald klar werden. Damit hängte er auf.« Anatol Grec hob resigniert die Arme. »Zuerst dachte ich, dass ich es mit einem Verrückten zu tun hätte. Aber die präparierte Seife hat mich erschreckt. Jetzt bin ich vollkommen ratlos.«
»Haben Sie Feinde?«, fragte Stone. »Vielleicht Leute, denen Sie irgendwann einmal die Tour vermasselt haben, oder etwas in der Art?«
»Die Tour vermasselt? Was ist das?«
»Jemanden um einen Gewinn prellen, ihn vor Gericht bringen oder ihm sonstwie ernsthafte Schwierigkeiten machen.«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Waren Sie schon bei der Polizei? Die ist für solche Fälle zuständig. Es gibt hier in La Baule einen sehr erfahrenen Kriminalbeamten. Er heißt Dumail, Kommissar Pierre Dumail. Der Mann hat eine Menge los in seinem Fach. Und was dabei für Sie besonders vorteilhaft ist, er wird den Fall kostenlos bearbeiten.«
Anatol Grec ging einige Schritte hin und her, nahm dann sein leeres Sektglas vom Tisch und füllte es wie in Gedanken aus der Flasche nach, die Prosper Bronc so formlos an den Mund gesetzt hatte.