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Kann Rache verjähren? Der abgründige Kriminalroman „Der Tod vergisst nie“ von Andreas Hultberg jetzt als eBook bei dotbooks. Ein brutaler Anblick erwartet die Erfurter Kommissare Lina Bredow und Christoph Zeller an diesem Tatort: Drei Menschen wurden kaltblütig hingerichtet! Schnell sind die Tatverdächtigen gefunden – doch dann ereignet sich ein weiterer Doppelmord, der viele Fragen aufwirft. In welcher Verbindung stehen die Opfer zueinander? Und was hat der skrupellose Minister mit dem Fall zu tun, der Zeller eiskalt erpresst? Während die Kommissare unter Hochdruck ermitteln, hat der Täter bereits sein nächstes Opfer im Visier. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Erfurt-Krimi „Der Tod vergisst nie“ von Andreas Hultberg - für Fans von Andreas Franz und Wolfgang Burger. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 438
Über dieses Buch:
Ein brutaler Anblick bietet sich den Kommissaren Lina Bredow und Christoph Zeller, als sie am Tatort eines kaltblütigen Dreifachmords eintreffen: Drei Menschen wurden regelrecht hingerichtet! Schnell sind die Tatverdächtigen gefunden – doch dann ereignet sich ein weiterer Doppelmord, der viele Fragen aufwirft. In welcher Verbindung stehen die Opfer zueinander? Und was hat der skrupellose Minister mit dem Fall zu tun, der Zeller eiskalt erpresst? Während die Kommissare unter Hochdruck ermitteln, hat der Täter bereits sein nächstes Opfer im Visier. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
Über den Autor:
Andreas Hultberg, geboren in Jena, lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Nähe von Gera. Während er hauptberuflich als Zahnarzt praktiziert, widmet er sich in seiner Freizeit dem Schreiben. Nach der Publikation mehrerer Fachbücher legt er nun mit »Der Tod vergisst nie« sein literarisches Debüt vor.
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eBook-Originalausgabe März 2016
Copyright © 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Titelbildgestaltung: Johannes Frick, Neusäß, unter Verwendung eines Bildmotivs von Shutterstock/Stokkete
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-499-3
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Andreas Hultberg
Der Tod vergisst nie
Kriminalroman
dotbooks.
Lissabon, an einem Tag im Juli
Die Autofähre tuckerte mit einem monotonen Motorenbrummen über den Tejo. Sie war, wie meistens um diese Zeit, wenn der Berufsverkehr versiegt war, nur spärlich beladen. Die seichten Wellen des Flusses, der den unscheinbaren Vorort Almada von der portugiesischen Hauptstadt trennt, glitzerten im orangefarbenen Licht der Abendsonne. Ein allerletztes Mal wollten sie den unvergesslichen Blick über die weitläufige Bucht auf die Silhouette der Metropole genießen. Linker Hand grüßten die imposante Christus-Statue und die rotlackierte Ponte 25 de Abril. Für einen Augenblick wähnten sie sich in Rio de Janeiro und San Francisco zugleich. Doch die Stadt am gegenüberliegenden Ufer war Lissabon, eine häufig unterschätzte Perle auf der Landkarte Südeuropas.
Hinter ihnen lagen zwei Wochen voller neuer Eindrücke und Erlebnisse. Nur einen Tag zuvor hatten sie sich noch von der südländischen Sonne brutzeln lassen, die erfrischenden Wellen des Atlantiks genossen und in ihren Bikinis, die mehr zeigten, als sie verhüllten, so manchen Männerblick auf sich gezogen. Am Abend hatten sie ein letztes Mal gegrillte Sardinen gegessen, reichlich Portwein in sich hineingeschüttet und später in der Stranddisco getanzt bis zum Morgengrauen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen wirkten beinahe wie Veilchen und waren Zeugen des während der letzten 14 Tage aufgestauten Schlafdefizits.
Besonders Julia, von ihren Freundinnen meistens Jule gerufen und mit ihren 18 Jahren die Jüngste unter ihnen, hatte schwer mit der Müdigkeit zu kämpfen. Sie trug ein blassgelbes, ärmelloses Top und helle Baumwollshorts, die ihre dezente Bräune besonders gut zur Geltung brachten. Erst wenige Wochen zuvor hatte sie Abitur gemacht und wollte in Kürze ihr Jurastudium in Erlangen aufnehmen. Sie war 1,65 Meter groß und schlank, hatte weiche, liebliche Gesichtszüge, lange naturblonde Haare und war schlicht und ergreifend bildhübsch. Jegliches Make-up wäre bei ihr Verschwendung gewesen. Sie gehörte einfach zu jener Gattung weiblicher Wesen, nach der sich die Männer, ob sie nun wollten oder nicht, automatisch umdrehten. An jedem Finger hätte sie zehn haben können, aber seitdem ihr bislang einziger ernstzunehmender Freund sie nach Strich und Faden betrogen hatte, war sie von der Liebe erst einmal geheilt. Zudem war sie recht konservativ erzogen und von Natur aus ziemlich schüchtern.
Marie-Louise, ihre Klassenkameradin, verkörperte das genaue Gegenteil. Sie strotzte geradezu vor Selbstbewusstsein, und wechselnde Geschlechtspartner – vorrangig Frauen, aber hin und wieder auch mal ein Kerl – gaben sich quasi die Klinke zu ihrem Schlafzimmer in die Hand. Sie hatte eine hyperaktive Ader und war permanent auf der Suche. Dementsprechend stand ihre berufliche Zukunft noch völlig in den Sternen. Weder ihre Frisur noch ihre Haarfarbe ließen sich genau definieren. Momentan war ihre rechte Schädelhälfte fast kahlgeschoren, während sie linksseitig eine schulterlange, dunkelblaue, mit bunten Strähnen durchsetzte Mähne trug. Ihr Körper war eine Landkarte aus aneinandergereihten Tattoos und mit Piercings übersät. In ihrem Gesicht wimmelte es nur so von blitzendem Metall. Sie war ziemlich kleingewachsen, etwas korpulent und nicht wirklich hübsch, aber allemal ein Hingucker. Ihr knapper Jeansrock im Used-Look war eigentlich etwas zu kurz und das ausgewaschene Herrenunterhemd, das sie dazu trug, auch nicht unbedingt vorteilhaft.
Ganz anders Nathalie: Sie hatte ein schmales Spitzmausgesicht, war großgewachsen und extrem schlank, um nicht zu sagen, spindeldürr. Fast hätte man meinen können, sie sei magersüchtig. Ein leichtes Sommerkleid umspielte ihre dünnen Beine. Das halblange mittelbraune Haar hielt sie hinten mit einem Gummiband zusammen; die feine Struktur passte zu ihrer gazellenhaften, beinahe zerbrechlichen Erscheinung. Erst im vergangenen Monat war sie 21 geworden und damit die Einzige unter ihnen, die einen Leihwagen anmieten durfte. Sie war sehr sprachbegabt, studierte seit zwei Jahren Anglistik und plante ab Herbst ein Auslandssemester in den USA. Für die Liebe blieb ihr unterdessen nur wenig Zeit. Ihren letzten festen Freund hatte sie sieben Monate zuvor abgeschossen; seither konzentrierte sie sich voll und ganz auf die Ausbildung. Sie war so etwas wie der ruhende Pol der Gruppe, konnte stundenlang mit ihrem eBook-Reader in der Sonne liegen und ein Buch nach dem anderen verschlingen. Es gab kaum etwas, das sie ernstlich aus der Ruhe brachte.
Der mit Abstand heißeste Feger unter den Girls war Kim. Ihre ausgefransten Hotpants waren extrem knapp geraten, und das lachsrote Spaghetti-Top wäre auch als Bikinioberteil durchgegangen. Obwohl sie noch nicht einmal 20 war, hatte sie schon mehrfach die Arbeitsstelle gewechselt. Derzeit war sie als ungelernte Anwaltsgehilfin tätig, aber es fiel nicht gerade leicht, sie sich in seriöser Kleidung hinter dem Schreibtisch irgendeiner Kanzlei vorzustellen. Sie hatte ein zartes Puppengesicht, eine Wahnsinnsfigur und vor allem endlos lange Beine. Ihre pechschwarzen Haare, die sie meist lässig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, unterstrichen den südländischen Teint. Einen Großteil des Urlaubs hatte sie mit irgendwelchen Typen im Bett verbracht, und in ihrem Innersten freute sie sich schon wieder auf neue Abenteuer zu Hause.
Nach rund fünfzehnminütiger Fahrtzeit verließen die Mädchen schließlich die Fähre, stellten den angemieteten Seat Ibiza am Cais de Sodré ab, schlenderten gemütlich bis zum Praça do Comércio und von dort weiter durch den Arco Monumental auf die belebte Rua Augusta mit ihren zahlreichen Restaurants und Geschäften, um sich mit letzten Souvenirs und Mitbringseln einzudecken. Lissabon ist einfach eine Stadt zum Verlieben, ging es Jule durch den Kopf, und allzu gern hätte sie die Reset-Taste gedrückt, um einfach noch mal zurück auf Anfang zu gehen. Doch am frühen Abend würde sie der Flieger wieder nach Hause und zurück in ihren Alltag bringen.
Kurz nach vier begaben sie sich schließlich mit einem Kaleidoskop vielfältiger Eindrücke und Erinnerungen im Gepäck auf den Weg zum Flughafen. Noch einmal warfen sie einen sehnsüchtigen Blick zurück über den Fluss, stiegen in den Seat und fuhren auf die Eixo Norte-Sul. Eine scheinbar endlose Blechlawine wand sich behäbig durch die Rush Hour und schleuderte ihre Abgase in die aufgeheizte Atmosphäre. Die hell verputzten Häuser entlang der Strecke funkelten im Sonnenlicht, und die Tejo-Brücke schimmerte bronzefarben. Irgendwann wurde es ruhiger auf der Strecke, und während der Fahrt herrschte eine Stimmung zwischen übermütiger Ausgelassenheit und latenter Melancholie.
Aus dem Autoradio dudelte Lady Gagas Pokerface. Sie waren gerade im Begriff, auf die Ringstraße Segunda Circular in Richtung Aeroporto abzufahren, als der dunkelgrüne Ford Fiesta wie ein todbringendes Geschoss aus dem Hinterhalt auf sie zuraste und sich im nächsten Augenblick in die rechte Seite ihres Seats bohrte.
Bremsenquietschen, ein Knallen und Reißen, ein Bersten, das Schaben von Metall auf Metall – und schon war alles vorbei. Es folgte eine gespenstische Stille, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ein unheilverheißender Geruchsmix aus verbranntem Gummi und ausgelaufenem Benzin waberte über den dampfenden Asphalt. Als wäre soeben eine Splitterbombe detoniert, lagen zerfetzte Karosserieteile und Fragmente aufgeschlitzter Reifen über die Fahrbahn verstreut. Beide Wagen waren zu einem einzigen unförmigen Blechknäuel verschmolzen. Die Straße war von einem glitschigen Schmierfilm aus Blut, Sprit und Öl getränkt. Sirenengeheul und Blaulichtgewitter peitschten durch die Luft, und wenig später wuselte eine Armee von Polizisten, Feuerwehrleuten, Notärzten und Sanitätern am Ort des Geschehens umher. Für eines der Mädchen jedoch kam jede Hilfe zu spät.
Zwei Tote nach tragischem Crash, titelten die Lokalzeitungen am darauffolgenden Tag. Der Fahrer des Ford Fiesta war noch am Unfallort gestorben, und Julia hatte trotz intensivster Bemühungen der behandelnden Mediziner die Nacht nicht überlebt. Nathalie verbrachte mehrere Tage auf dem rasiermesserscharfen Grat zwischen Leben und Tod, ehe sie zunächst auf die Normalstation und fast drei Wochen darauf in die Heimat entlassen wurde. Bis auf eine geringfügige Bewegungseinschränkung ihrer rechten Hand erinnerte bald schon nichts mehr an das verhängnisvolle Ereignis. Marie-Louise und Kim waren mit vergleichsweise leichten Blessuren davongekommen. Sie hatten wahrhaft Glück im Unglück gehabt. Dennoch sollte ihnen die Erinnerung an jene Tage in Lissabon bis ans Lebensende ins Gedächtnis eingebrannt bleiben.
Drei Jahre später
Erfurt – Montag, 20. August
Die Nacht war kurz gewesen. Sie hatte keinen Schlaf gefunden und sich unentwegt von einer Seite auf die andere gewälzt. Wie ein Parasit hatte sich die Hitze der vergangenen Tage im Mauerwerk der Wohnung festgesetzt. Zudem hatten die Schläge der nahegelegenen Kirchturmglocke mit stupider Grausamkeit jede Viertelstunde die Stille durchschnitten. Die rot leuchtenden Ziffern auf der Funkuhr und die langsam aufziehende Dämmerung kündigten den neuen Tag an. Das Zwitschern der Vögel schwoll zu einer immer lauter werdenden Symphonie an, und bald schon würden Rasenmäher und Motorsensen unbarmherzig das letzte Fünkchen Ruhe vertreiben, egal ob das Wochenende vorbei war oder nicht.
Zermürbt schlug sie mit der flachen Hand auf die breite Aus-Taste des Weckers, noch ehe der zu seinem akustischen Psychoterror ansetzen konnte. Sie tastete nach ihrer Brille, ohne die sie blind wie ein Maulwurf war. Behäbig wie eine alte Frau setzte sie sich auf, verweilte noch eine halbe Minute auf der Bettkante und streckte sich ein paarmal, ehe sie ins Bad schlurfte. Dort nahm sie eine kalte Dusche, um die Müdigkeit zu vertreiben, putzte sich die Zähne und trug dezentes Make-up auf. Anschließend trat sie vor den Kleiderschrank und nahm Unterwäsche, eine weiße Bluse und einen grauen Rock heraus. Die Wetterfrösche hatten für den heutigen Tag wieder Temperaturen bis zu 30 Grad gemeldet, so dass sie beschloss, auf den Blazer zu verzichten.
Aus der Küche strömte unterdessen das wohlige Aroma von frisch gebrühtem Kaffee zu ihr hinüber – wie gewohnt, hatte sie die Espressomaschine bereits am Vorabend programmiert. Magisch angezogen von dem Duft, begab sie sich in die Küche. Dort nippte sie in kleinen Schlucken an dem Muntermacher, knabberte an einer trockenen Scheibe Brot vom Vorabend und blätterte eine Weile in einer Frauenzeitschrift. Vor ihr lag eine anstrengende und, wie sie annahm, wieder einmal recht lange Arbeitswoche. Beinahe mechanisch griff sie nach ihrer Tasche, prüfte im Wandspiegel neben der Flurgarderobe ein letztes Mal ihr Äußeres und machte sich auf den Weg.
Angelika Schröder, Jahrgang 1960, war zwar etwas korpulent, aber dennoch eine attraktive Erscheinung. Ihr sympathisches Gesicht zierte eine dunkelbraune Kurzhaarfrisur, die sie je nach Laune gelegentlich durch ein paar farbige Strähnchen auflockern ließ. Seit ihr Mann sie vor sieben Jahren nur wenige Monate vor ihrer silbernen Hochzeit wegen einer Jüngeren verlassen hatte, lebte sie allein in einer Zweizimmer-Altbauwohnung am Domplatz. Fast zeitgleich hatte es ihren einzigen Sohn aus beruflichen Gründen nach Hamburg verschlagen. Vor vier Jahren war er schließlich Vater geworden und hatte kurz darauf seine Lebensgefährtin geheiratet. Der Kontakt zu ihm und seiner jungen Familie hielt sich seither in Grenzen, was weniger der großen Distanz als vielmehr dem angespannten Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter geschuldet war.
Ihre Arbeitsstelle in der Michaelisstraße war nur einen Katzensprung von der Wohnung entfernt. Das monotone Klacken ihrer Absätze hallte rhythmisch durch die engen, um diese Zeit fast menschenleeren Gassen. Die Luft roch noch frisch und unverbraucht, kaum jemand war so früh schon auf den Beinen. Nur zwei alte Herren, die wie jeden Morgen ihre Hunde ausführten, grüßten mit einem freundlichen Lächeln. Doch bald schon würden die Leute aus ihren Häusern in die aufgeheizte Altstadt strömen. Und auch die Klimaanlage im Büro erwartete mit Sicherheit wieder einmal ein anstrengender Job.
Gedankenversunken öffnete Angelika Schröder das schwere, schwarzbraune Holzportal und trat in den langgezogenen, schwach beleuchteten Flur des alten Bürgerhauses unweit des Kulturhofs Krönbacken. Angenehme Kühle empfing sie. Mechanisch leerte sie den Briefkasten – unerwünschte Prospekte und Werbebroschüren –, hastete die knarzende Treppe hinauf und fingerte in ihrer Handtasche nach dem Büroschlüssel. Ursprünglich hatte sie Mathematik studiert, jedoch – wie so viele ostdeutsche Akademiker – kurz nach der Wende ihren Job verloren. Nach einer Umschulung war sie in die Architekturbranche gewechselt, vor gut sechs Jahren im Planungsbüro Dr. Bock & Partner gelandet und mittlerweile aus diesem kaum mehr wegzudenken. Heute wollte sie ein letztes Mal in aller Ruhe die Präsentation des neuen Projekts durchgehen und gegebenenfalls noch Korrekturen vornehmen. Alles sollte perfekt sein, um den Kunden restlos zu überzeugen und letzte Zweifel auszuräumen.
Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die nur angelehnte Eingangstür wirklich zu registrieren. Scheint schon jemand da zu sein, kam es ihr in den Sinn. Ein süßlicher, leicht fauliger Geruch wehte ihr entgegen, und eine Horde aufgebrachter Schmeißfliegen schwirrte ihr um die Nase. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, vorbei an Wartebereich und Garderobe bis hin zur Rezeption. Der Anblick, der sich ihr dort bot, riss sie schlagartig aus ihrer Lethargie.
Auf dem schwarzen Drehstuhl hinter dem Tresen lehnte der regungslose Körper von Henriette Wenzel. Die Dame vom Empfang gehörte seit der Geschäftseröffnung zu Bocks Team. Mit ihrem weißblonden, fast silbrigen Haar erinnerte sie ein wenig an Tippi Hedren in Hitchcocks Die Vögel. Die strenge, meist tief auf die Nasenspitze vorgeschobene Lesebrille ließ sie etwas unnahbar erscheinen. Doch das täuschte: In Wirklichkeit war sie so etwas wie der gute Geist des Hauses. Sie hatte die fünfzig schon lange überschritten und lebte seit vielen Jahren allein; sie brauchte auch keinen Partner, sondern ging mit Herz und Seele in ihrer Arbeit auf. Doch jetzt hing sie wie ein Stillleben zwischen den Armlehnen, das Gesicht zur Fratze verzerrt. Aus ihrem Antlitz war jegliche Farbe gewichen, sie wirkte beinahe wie eine Wachsfigur aus Madame Tussauds. Ihre Augen waren unnatürlich weit aufgerissen und starrten ins Leere, durch ihr dichtes Wimpernkleid krochen weiße Fliegenlarven, und über den Körper wanderten bereits Maden. Auf ihrer Stirn prangte ein dunkel umrandetes Einschussloch, von dem zwei breite, verkrustete Rinnsale ausgingen, um sich wie ein Flussdelta über die rechte Wange bis zur weißen Bluse fortzusetzen. An dem hochaufragenden Aktenschrank hinter ihr bildeten strukturlose Fetzen eingetrockneten Bluts und Fragmente ihres zerschredderten Gehirns ein abstraktes Gemälde.
Als würde sie von einer unsichtbaren Hand ferngesteuert, setzte Angelika Schröder mit schlotternden Knien ihren Weg über den langen Flur in Richtung Chefbüro fort. Sie klopfte zaghaft an die weiße Tür und verharrte einen Augenblick, obwohl sie längst ahnte, dass von der anderen Seite kein Herein mehr zu erwarten war. Angsterfüllt und zögerlich drückte sie schließlich auf die edle Messingklinke und öffnete die Pforte zu einem einzigen Kabinett des Grauens. Einen kurzen Moment stand sie wie angewurzelt auf der Schwelle, ehe ihr die Beine den Dienst versagten.
Wie zwei Schlafende lagen die leblosen Körper von Dr. Olaf Bock und seiner jungen Assistentin auf der dunkelgrünen Ledercouch. Ihre Pose und die äußerst spärliche Kleidung verrieten, dass die beiden in den letzten Minuten ihres Daseins am allerwenigsten an die Arbeit gedacht hatten. Er hatte Anzughose und Krawatte abgelegt, sein weißes Hemd war geöffnet und so weit hochgerutscht, dass es den Blick auf den behaarten Rücken und halb heruntergelassene buntkarierte Boxershorts freigab. Sie hingegen trug lediglich ein fragiles Geflecht aus dünnen Stricken. Ihre flache Bauchdecke zeigte eine unansehnliche, grau-grünliche Färbung, und die Adern schimmerten wie ein Spinnennetz durch die pergamentartige Haut. Sie sah aus wie ein Zombie. Ihre schlanken Beine waren erwartungsvoll gespreizt, während Bocks voluminöser Leib wie ein nasser Sack zwischen ihnen ruhte. Sein Kopfhaar war blutverkrustet, über seinen Rücken verteilt fanden sich insgesamt drei Einschussmale. Die Stirn der Frau dagegen offenbarte auf den ersten Blick lediglich ein einziges schwarzrotes, sternförmig umrandetes Loch.
Ein Heer von Maden und Fliegen sowie das untrügerische Aroma verblichenen Lebens zeugten davon, dass der Tod hier bereits vor einigen Tagen die Regentschaft übernommen hatte. Für eine genauere zeitliche Eingrenzung würde es vor allem auf die Untersuchungsergebnisse der forensischen Entomologen, jener ungekrönten Könige der Kleinsttierwelt, ankommen.
Der Fußboden unmittelbar vor der Couch war von einer matt glänzenden Lache benetzt – als hätte jemand einen Eimer schwarzrote Farbe verschüttet, die inzwischen getrocknet war. Auf den regungslosen Körpern beider Opfer sowie an der Sofalehne haftete ein Mosaik tiefdunkler Spritzer wie ein makabres Autogramm aus dem Jenseits. Die Beamten des Erkennungsdienstes würden Schwerstarbeit leisten müssen, und auch den Rechtsmedizinern stand ein harter Job bevor.
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»So sieht das also aus, wenn es heißt: Bis in den Tod vereint«, frotzelte Oberkommissar Christoph Zeller angesichts der grotesken Szenerie, die sich ihm bot. Er war Anfang 40, hatte raspelkurzes, aber dennoch volles Haar und für einen Kriminalisten eigentlich ein bisschen zu viel Bauch. Aber er sah attraktiv aus. Nach einem höchst unerfreulichen Zwischenfall während der Dienstausübung, der mit seinem nur schwer zu bändigenden Sexualtrieb zusammenhing, war er irgendwann auf der Karriereleiter stehen geblieben. Daraufhin hatte er ebenso hilflos wie frustriert mit ansehen müssen, wie ausgerechnet seine langjährige Kollegin Lina Bredow, die er eigentlich viel lieber im Bett unter sich anstatt im Dienst über sich gehabt hätte, in der Hierarchie an ihm vorbeigezogen war. Affären pflasterten seit jeher seinen Weg; er hatte sechs Kinder mit vier verschiedenen Partnerinnen, und erst im vergangenen Herbst war er das dritte Mal geschieden worden. Er liebte die Frauen und wollte sie am liebsten alle haben, aber er konnte sie nur schwer als Vorgesetzte ertragen. Kurzum: Er war schlicht und ergreifend ein Macho der übelsten Sorte. Die wenigen, die ihn wirklich kannten, wussten freilich, dass sich unter der harten Schale ein weicher Kern verbarg. Vor allem aber galt er trotz gelegentlicher Eskapaden als brillanter Ermittler, und jedes Kriminalistenteam konnte sich glücklich schätzen, einen wie ihn in seinen Reihen zu haben.
»Dieser Mord hat eine ganz spezifische Handschrift«, fasste Lina Bredow den bisherigen Erkenntnisstand lapidar zusammen, ohne sich das flaue Gefühl in der Magengrube anmerken zu lassen. »Und die müssen wir wohl oder übel entschlüsseln, wenn wir den Täter finden wollen.«
Die 38-Jährige, seit Anfang 2004 bei der Kripo Erfurt, passte eigentlich bestens in Christophs Beuteschema. Obwohl ihre Körpergröße von nur knapp 1,65 Metern nicht gerade gängigen Modelmaßen entsprach, war sie eine attraktive Erscheinung mit weiblichen Rundungen. Sie trug einen blonden Bob und hatte weiche Gesichtszüge, die kaum vermuten ließen, dass ihr Beruf hauptsächlich darin bestand, Schwerverbrecher zu jagen und hinter Schloss und Riegel zu bringen. Im Überschwang der Gefühle hatte sie bereits kurz nach dem 18. Geburtstag ihren ersten richtigen Freund geheiratet, doch schon wenige Monate später erkennen müssen, wie vergänglich die ewige Liebe sein konnte. Danach hatte sie die meiste Zeit allein gelebt. Gelegentlich mal ein One-Night-Stand – nach einer Betriebsfeier wäre sie aus einer Sektlaune heraus einmal sogar fast mit Christoph im Bett gelandet –, hin und wieder eine kurzlebige Affäre, aber alles in allem nichts Ernstes. Erst vor eineinhalb Jahren war sie wieder eine feste Beziehung eingegangen. Seither geisterten ab und an Szenen von einem verspäteten Familienglück durch ihre Träume, denn das zunehmend lauter werdende Ticken der biologischen Uhr war beim besten Willen nicht zu überhören.
»Das sind ja wirklich bahnbrechende Erkenntnisse«, stichelte Christoph. »Wie’s aussieht, hat er kurzen Prozess mit den dreien gemacht. Und die zwei Hübschen hier muss er ja wirklich direkt bei der …«, er zögerte, malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft und grinste süffisant, »… Arbeit überrascht haben.«
»Zumindest gibt es nicht den geringsten Hinweis auf irgendeine Gegenwehr, geschweige denn einen Kampf.«
»Mal abgesehen von dem Nahkampf zwischen den beiden Turteltäubchen.«
»Ich lache darüber, wenn wir den Fall gelöst haben«, entgegnete Lina. »Und ich kann nur inständig hoffen, dass wir uns dabei nicht gegenseitig im Weg stehen.«
***
Angelika Schröder war inzwischen wieder unter die Lebenden zurückgekehrt, wenn auch sichtlich angeschlagen. Beim Anblick der fürchterlichen Szenerie im Büro ihres Chefs hatte sie sich in einer speienden Fontäne übergeben und – sehr zum Leidwesen der Beamten von der Spurensicherung – den Tatort massiv kontaminiert, ehe sie von der Ohnmacht übermannt worden war. Dank Frau Dr. Weniger, der diensthabenden Rechtsmedizinerin, deren Aufgabe eigentlich darin bestand, sich der Toten vor Ort anzunehmen, war sie inzwischen wieder einigermaßen auf dem Damm. Nun berichtete sie stockend und mit tränenerstickter Stimme von ihrer grauenvollen Entdeckung, allerdings ohne den Ermittlern entscheidende Neuigkeiten liefern zu können.
Lina dankte der Frau dennoch mit einem mitfühlenden Blick, während sie in Gedanken bereits die nächsten Schritte auf der To-do-Liste durchging. Auf alle Fälle würde ihr und ihren Kollegen in den kommenden Tagen ein wahrer Vernehmungsmarathon bevorstehen. Es galt, so schnell wie möglich eine Reihe zu befragender Personen abzuarbeiten, allen voran die Hausbewohner und die übrigen Mitarbeiter von Dr. Bock, und sein privates Umfeld sowie den einen oder anderen Kunden zu checken. Außerdem durften natürlich die anderen Opfer des Gemetzels nicht außer Acht gelassen werden. An Feierabend, Regeneration, Schlaf oder so etwas wäre jedenfalls in nächster Zeit kaum zu denken.
Im Konferenzzimmer herrschte eine betriebsame Atmosphäre. Die Hochspannung angesichts des mysteriösen Dreifachmordes in der Innenstadt war förmlich mit Händen greifbar.
Wie die gesamte Abteilung war auch dieser Raum erst vergangenen Monat renoviert worden und wirkte dadurch hell und freundlich. Fünf längliche, hellgraue Besprechungstische waren in Form eines Hufeisens angeordnet, dessen Öffnung von der breiten Fensterfront wegzeigte. In der Mitte stand ein flaches Pult, auf dem ein aufgeklapptes Notebook, ein Beamer und ein Episkop Platz fanden. Rechts neben der Tür hingen – für alle gut einsehbar – ein festmontiertes, übergroßes Whiteboard sowie eine Leinwand, über die in einer makabren Diashow Tatortfotos flimmerten. So manchem der Anwesenden trieb der Anblick eine verräterische Blässe ins Gesicht.
Werner Heinig, der Leiter des Dezernats für höchstpersönliche Rechtsgüter – eine etwas schwülstige Umschreibung für das, was der Volksmund gemeinhin unter einer Mordkommission versteht –, eröffnete die Zusammenkunft mit durchdringender Stimme. Er war Ende 50, seit über 30 Jahren verheiratet und Vater zweier längst erwachsener Söhne. Nicht nur wegen seines Dienstrangs, sondern auch aufgrund seiner kräftigen Statur verströmte er eine außergewöhnliche Autorität. Mit seinen fast zwei Metern Körpergröße überragte er beinahe alles und jeden. Rein optisch gehörte er zu jener Sorte Mann, der man lieber nicht im Dunkeln begegnete. Von seinen Untergebenen verlangte er Einsatz, Disziplin und Engagement. Hielt man sich an die Spielregeln, war er fast wie ein väterlicher Freund. Er hatte eiligst ein Ermittlerteam zusammengestellt und die Leitung Hauptkommissarin Lina Bredow übertragen. Sie war nun mal sein bestes Pferd im Stall und verfügte über beträchtliche Erfahrung. Bereits mehrfach hatte sie bewiesen, dass sie auch in komplexen Fällen stets den Überblick behielt und sich nicht zu fein war, notfalls auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Von den meisten Kollegen wurde sie respektiert und geachtet. Einzig mit Christoph Zeller geriet sie hin und wieder aneinander. Dennoch waren die beiden in Heinigs Augen – zumindest in dienstlicher Hinsicht – ein fast unschlagbares Duo. Doch auch sie konnten sich verwertbare Zeugenaussagen nicht aus den Rippen schneiden, und so waren sie nach stundenlangen, nervenaufreibenden Befragungen am und um den Tatort letztendlich mit leeren Händen ins Präsidium zurückgekehrt.
»Außer den drei Opfern und der Schröder, die sie heute Morgen gefunden hat«, begann Christoph seine Ausführungen, »gehörten noch zwei weitere Sekretösinnen zum Team von Dr. Bock, und zwar …«, hastig blätterte er in seinem Notizblock, um die Namen zu suchen, »… Marlene Friedrich und Elisabeth Tschauner, beide Anfang 30 und verheiratet. Nach übereinstimmenden Aussagen haben beide am Freitag kurz nach 18 Uhr gemeinsam das Büro verlassen, sind noch ein Stück zusammen gegangen und haben sich dann vor der Einkaufsgalerie ANGER 1 verabschiedet.«
»Sie haben ferner ausgesagt, dass auch Henriette Wenzel im Gehen begriffen war«, fügte Jan Stahlbeck hinzu. Er war 34, gerade mal 1,70 Meter groß und sehr schlank. Dank seiner jungenhaften Erscheinung, den weichen Gesichtszügen und der braunen Fönfrisur wirkte er beinahe wie Anfang 20. Aus einer Beziehung, die weit zurücklag, hatte er eine knapp dreijährige Tochter, mit der er so viel Zeit verbrachte, wie deren Mutter und sein Job es zuließen. Unter den Kollegen galt er als äußerst akribisch und vor allem als ausgemachter Computerexperte. »Sie war schon im Treppenhaus, ist dann aber noch mal umgekehrt, weil sie irgendwas vergessen hatte.«
»Scheiß Alzheimer«, frotzelte Christoph. »Wäre sie nicht so schusselig gewesen, könnte sie noch leben.«
Heinig warf ihm einen Blick zu, der mehr sagte als tausend Worte, ehe er sich an seine leitende Ermittlerin wandte. »Die Firma heißt Bock & Partner. Mich würde interessieren, wer der oder die Partner sind.«
»Der Partner – es gibt nur einen – heißt Holger Wache«, antwortete Lina. »Der Mann ist 42, verheiratet und hat einen 14-jährigen Sohn. Kein Doktortitel, aber dafür Diplomarchitekt, Studium an der TU Dresden. Leider konnten wir bisher noch nicht mit ihm sprechen.«
»Und warum nicht?«, raunzte Heinig.
»Er ist zurzeit im Urlaub auf Guernsey«, entgegnete Lina.
»Das ist ’ne Insel im Ärmelkanal, gehört praktisch zu England«, präzisierte Anita Wosniza. Mit 28 war sie die Jüngste im Team. Sie hatte langes, rehbraunes Haar und eine Wahnsinnsfigur. Obwohl sie bereits als Dreijährige mit ihren Eltern in die DDR gekommen war, verriet ihr Akzent noch immer ihre polnische Herkunft.
»Was Sie nicht alles wissen!«, kommentierte der Dezernatsleiter mit ironischem Unterton.
»Ich war da schon mal mit meinen Eltern, 1999, während der Sonnenfinsternis. Lag fast im Kernschatten – war toll.«
»Und wie kommt man dorthin?«, erkundigte sich Heinig. »Per Schiff, mit dem Flieger …?«
»Geht beides.«
»Wir wissen inzwischen, dass Wache am Elften die Zehn-Uhr-Fähre ab St. Malo genommen hat«, meldete sich Stahlbeck wieder zu Wort. »Nach Auskunft der Reederei ist die Rückreise auch schon gebucht, und zwar für den ersten September. Ich habe mehrfach versucht, ihn über Handy zu erreichen, allerdings bisher ohne Erfolg.«
»Versuchen Sie es weiter!«, brummte der Dezernatschef. »War’s das zum Personal?«
»Eigentlich schon«, antwortete Christoph ungewohnt zögerlich.
»Was heißt hier ›eigentlich‹?«
»Na ja, da wäre noch eine Praktikantin. Jasmin Haller, 16, kommt demnächst in die 10. Klasse, 14-tägiges Schülerpraktikum. Der guten Ordnung halber habe ich natürlich auch mit ihr gesprochen, sie war allerdings sehr verschlossen. Ich musste ihr jedes Wort aus der Nase ziehen, aber ich denke mal, dass wir sie getrost vernachlässigen können.«
»Ich fürchte, in einem Fall wie diesem können wir es uns nicht leisten, irgendwen oder irgendetwas zu vernachlässigen«, entgegnete Heinig barsch. »Also, was hat die Kleine gesagt?«
Christoph zuckte irritiert mit der rechten Augenbraue, blätterte hektisch in seinem Notizblock und las die wichtigsten Passagen der Aussage des Mädchens vor. »Sie ist Halbwaise und lebt zusammen mit ihrem Vater in der Johannesvorstadt. Ihre Mutter ist 2008 gestorben, ihre Schwester nur wenig später tödlich verunglückt. Bocks junge Gespielin war wohl ihre Praktikumsmentorin. Mit den beiden anderen Opfern hatte sie laut eigener Aussage in der kurzen Zeit kaum zu tun.«
Ohne darauf einzugehen, schob der Dezernatsleiter die nächste Frage hinterher. »Sind die Hausbewohner schon befragt worden?«
»Natürlich«, entgegnete Lina mit einem Nicken, nahm einen dunkelgrünen Marker und kritzelte mehr schlecht als recht – jeder Erstklässler hätte es vermutlich um Längen besser hinbekommen – den Umriss eines Hauses auf die Weißwandtafel. Schließlich unterteilte sie ihr zweifelhaftes Kunstwerk mit zwei waagerechten Strichen in drei annähernd gleich große Segmente. »Das zweite OG wird komplett von Bock & Partner genutzt. Der Dachboden dient als Archiv beziehungsweise Lager – ganz wie ihr wollt.« Sie schraffierte die betreffende Fläche rot. »Im ersten Stock rechts wohnt eine alte Dame, Mathilde Burckert, Anfang 80, aber noch ziemlich fit im Oberstübchen. Die linke Wohnung steht seit einem halben Jahr leer.« Sie malte ein großes B und ein dickes X in die jeweiligen Felder. »Unten links wohnen zwei junge Männer – Pascal Drömer und Hendrik Morgner –, gegenüber betreiben sie zusammen einen Computer-Shop.« Sie nahm die passenden Markierungen vor. »Angeblich treiben sie auch noch andere Dinge miteinander, so jedenfalls die Aussage von Frau Burckert«, fügte sie mit einem Grinsen hinzu. »Aber für unsere Ermittlungen dürfte das wohl eher unerheblich sein.«
»Um es kurz zu machen: Weder Drömer noch Morgner noch die Burckert haben einen Schuss gehört oder sonst irgendwas mitgekriegt, was für uns von Interesse sein könnte«, kürzte Wosniza den Vortrag ihrer Kollegin ab. »Also, hier kommen wir nicht weiter.«
»Na super!«, schnaufte Heinig und legte die Stirn in Falten. »Gibt’s denn wenigstens schon was von der Spurensicherung?«
»So ’n Architekturbüro ist ja fast so was wie ein öffentlicher Ort«, antwortete Lina. »Da gehen tagtäglich ein Haufen Leute ein und aus und hinterlassen ein wahres Sammelsurium an Spuren inklusive DNA. Da das entscheidende Puzzleteilchen zu finden, hat was von der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.«
»Na, haben wir bisher überhaupt etwas Brauchbares?« Der Dezernatsleiter machte aus seiner Unzufriedenheit keinen Hehl.
»Leider nicht allzu viel. Alle drei wurden aus nächster Nähe getötet. Keinerlei Hinweise auf irgendwelche Abwehrbewegungen, geschweige denn einen Kampf – weder an der Rezeption noch in Bocks Büro –, was bedeutet, dass der Mörder zielstrebig und überraschend zugeschlagen haben muss.« Lina ließ ihren Gedanken freien Lauf, während sie mit dem Beamer einige wahllos aneinandergereihte Fotos vom Tatort an die Leinwand warf. »Die Tatwaffe ist eine Neun-Millimeter. Die Opfer weisen allesamt gezielte Kopfschüsse auf – die beiden Frauen jeweils in die Stirn, Bock dagegen in den Hinterkopf. Bei ihm kommen außerdem noch drei Rückentreffer hinzu, was darauf hindeuten könnte, dass er sozusagen das Hauptopfer ist. Aber genauso gut könnte das natürlich auch Zufall sein.«
»Ich glaube ebenso wenig an Zufälle wie an den Weihnachtsmann«, meinte Christoph spöttisch und erntete ein bestätigendes Nicken von Stahlbeck. »Wie’s aussieht, hatte es der Täter einzig und allein auf Bock abgesehen, und die Ladys waren lediglich Staffage oder schlicht und ergreifend zur falschen Zeit am falschen Ort …«
»… was man freilich auch gezielt so aussehen lassen kann«, ergänzte Wosniza nebulös. »Aber ganz offensichtlich hatte Olaf Bock was mit seiner Assistentin am Laufen. Also sollten wir auch die Rache der betrogenen Ehefrau nicht ausschließen.«
»Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, Schatz«, hielt Christoph dagegen, »aber unser Freund und seine Göttergattin lebten bereits seit längerem getrennt und sind mittlerweile auch offiziell geschieden.«
»Respekt vor so viel detektivischem Spürsinn«, erwiderte die Angesprochene und schob ihrerseits ein ironisches »Schatz« hinterher. »Natürlich kann genauso gut ein abgelegter Lover des Mädchens die Finger im Spiel gehabt haben.«
»Ja, klar doch«, kam es bärbeißig zurück. »Und die Amis waren nie auf dem Mond, die Titanic war in Wahrheit die Olympic, und George W. Bush höchstpersönlich hat die Twin Towers zum Einsturz gebracht. Willkommen im Club der Verschwörungstheoretiker!«
»Meine Herrschaften, ich muss doch sehr bitten. Wenn ich Sie daran erinnern darf: Wir haben den Mord an drei Menschen aufzuklären, da ist kein Platz für solche Späße«, fuhr Heinig dazwischen. »Was ist mit unzufriedenen Kunden, verprellten Geschäftspartnern, entlassenen Mitarbeitern und so weiter?«
»Wir arbeiten dran«, antwortete Lina dienstbeflissen. »Die Friedrich und die Tschauner wollen uns bis morgen entsprechende Listen zusammenstellen. Und Jan wird sich in der Zwischenzeit die Bürocomputer vornehmen.«
»Gut«, quittierte der Dezernatsleiter, während er beiläufig seine Brille putzte. »Außerdem sollten Sie unbedingt Bocks geschiedene Frau befragen. Auch wenn sie und ihr Mann seit längerem getrennt waren, wird sie uns sicher einiges über ihn erzählen können, was uns möglicherweise weiterbringt.«
»Das dürfte im Moment etwas schwierig sein«, entgegnete Stahlbeck zaghaft.
»Warum denn das?«, brummte Heinig mürrisch.
»Sie ist zurzeit in Asien und kommt erst in der Nacht von Donnerstag auf Freitag zurück.«
»Scheiß Urlaubszeit!«, warf Christoph dazwischen. »Die Leute lassen alle fünfe gerade sein und machen Holiday am anderen Ende der Welt, während wir uns hier den Arsch aufreißen dürfen, und das bei dieser Affenhitze.«
»Nix mit Urlaub«, erwiderte sein Kollege. »Angeblich besucht sie ihren Bruder, der seit über zehn Jahren in Hongkong lebt und vor kurzem 50 geworden ist.«
»Haben Sie die Angaben überprüft?«, hakte Heinig nach.
»Ich arbeite noch daran. Aber zumindest die Flugdaten sind sauber.«
»Nichtsdestotrotz werden wir uns in diesem Punkt wohl oder übel noch etwas gedulden müssen«, resümierte Wosniza, ehe sie einen neuen Denkansatz ins Spiel brachte. »Wie viele Todesfälle mit Schusswaffen hat es seit dem Massakeram Gutenberg-Gymnasium eigentlich in Thüringen gegeben?« Nach einer winzigen Pause beantwortete sie die Frage selbst: »Ich würde sagen, maximal ein Dutzend, eher weniger. Ergo müssen wir vor allem darüber nachdenken, was für Leute hierzulande überhaupt an ein Schießeisen und die entsprechende Munition rankommen.«
»Vielleicht war unser Mann ja auch in so ’nem Schützenverein«, sagte Christoph. »Eine Neun-Millimeter – das würde passen wie der Arsch auf ’n Eimer. Wenn ich mich recht entsinne, hat der Robert Steinhäuser damals unter anderem eine Glock 17 benutzt.«
»Kollege Zeller, Sie haben ja sicher recht mit Ihrer Feststellung, dass wir der Frage nach der Tatwaffe auf den Grund gehen müssen. Nur bringt uns Ihr Zynismus in der Sache keinen Schritt weiter«, ermahnte ihn Heinig. »Aber da Sie sich offenbar ziemlich gut mit dieser Materie auskennen, sollten Sie Ihre Kenntnisse unbedingt in den Dienst unserer Ermittlungen stellen. Also, ich erwarte Ihren Bericht zur nächsten Dienstbesprechung.«
»Ich wollte eigentlich mit Frau Bredow zur Obduktion.«
»Da kann auch jemand anders mitgehen«, erwiderte Heinig mit maliziöser Miene. »Wie wär’s mit Ihnen, Kollegin Wosniza?« Auch wenn es als Frage formuliert war, wusste doch jeder im Raum, dass er sie mitnichten als solche verstanden wissen wollte.
Die junge Polizistin wurde aschfahl. Bisher hatte sie sich stets vor derartigen Pflichten drücken können, nun aber schwebte Heinigs Befehl wie ein Damoklesschwert über ihr. Sie quittierte es mit einem knappen Nicken und packte mechanisch ihre Sachen zusammen. Heinig erklärte die Beratung für beendet.
Dienstag, 21. August
Das eintönige Klacken der Tastatur hallte durch den Raum. Auch wenn Stahlbeck nach außen hin ziemlich gelangweilt wirkte, so war er im Inneren doch voll und ganz auf seine Arbeit fokussiert. Geduldig wie ein Pferd durchforstete er mit Akribie jede noch so unbedeutende Datei von Olaf Bocks Bürorechner, machte sich gelegentlich Notizen, bereitete Ausdrucke vor und recherchierte bestimmte Namen und Begriffe im Internet. Er konnte sich stundenlang durch irgendwelche nichtssagenden Verzeichnisse und Zahlenwerke wühlen und fand die Stecknadel im Heuhaufen oft selbst dann, wenn er eigentlich gar nicht danach gesucht hatte.
»Guck mal«, wandte er sich nun an Christoph. »Hier steht was von einem gewissen Peter Steffler.«
»Interessant«, entgegnete Christoph, während sein Blick hektisch zwischen zwei aufgeklappten Leitz-Ordnern hin- und herflog, die nebeneinander auf seinem Schreibtisch lagen.
»Wenn ich das richtig sehe, hat der bis vor gut einem Jahr bei Bock & Partner gearbeitet.«
»Interessant.«
»Hier ist sogar ein Bild von ihm …«
»Interessant.«
»Wahnsinnig komischer Typ: etwa 8,90 Meter groß, fünf Zentner schwer, lila Haare, drei Arme und zwei riesige, birnenförmige Köpfe mit langer, spitzer Pinocchio-Nase.«
»Interessant.«
»Hallo! Jemand zu Hause? Hörst du mir eigentlich zu?«
»Jaja. Was hast du gesagt?«
»Peter Steffler«, wiederholte Stahlbeck leicht angesäuert.
»Peter Steffler?«, echote Christoph. »Und wer soll das bitte schön sein?«
»Okay, spulen wir noch mal zurück.« Stahlbeck unterstrich seine Worte mit einer zynischen Grimasse. »Der Typ hat bis vor ziemlich genau dreizehn Monaten zu Bocks Team gehört – entweder als angestellter Architekt oder womöglich sogar als Teilhaber.«
»Interessant.«
»Du wiederholst dich. In welchem Film warst du denn gerade?«
»Nun, die haben, wie mir scheint, einen recht elitären Kundenkreis. Ein paar öffentliche Auftraggeber und darüber hinaus – soweit ich das beurteilen kann – eine Reihe äußerst potenter privater Klienten.« Christoph klappte einen der Ordner zu und warf ihn ohne Vorwarnung zu seinem Kollegen herüber. »Da drin findest du Ausschreibungen, Verträge, Rechnungen und so weiter – und das sind erst mal nur die dicksten Fische.«
»O, là, là«, entfuhr es Stahlbeck, nachdem er einige Blätter überflogen hatte. »Sieht ja nach ’ner wahren Goldgrube aus.«
»Mit einer kleinen, aber womöglich nicht ganz unbedeutenden Ausnahme.«
»Nun mach’s mal nicht so spannend!«
»Eine Firma Greiling. Wie es aussieht, liegen B&P seit einigen Jahren mit denen im Clinch. Es gibt sogar eine separate Akte dazu, nämlich diese hier.« Christoph reichte ihm den zweiten Ordner. »Und darin bin ich auf einen regen und ziemlich deftigen Schriftwechsel mit einer Anwaltskanzlei namens Röder, Weibel & Strunz gestoßen …«
»… die diese Firma Greiling vertritt?«
»Helles Köpfchen!«
»Und worum genau geht’s dabei?«
»Hier steht was von schwerwiegenden Baumängeln und Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe gegen Bock & Partner. Ich arbeite noch an den Details. Aber auf alle Fälle sollten wir uns mal mit den Damen und Herren Rechtsverdrehern – am besten beider Seiten – unterhalten …«
»… und unbedingt Lina und Anita informieren, und zwar bevor sie mit den beiden Sekretärinnen sprechen«, vollendete Stahlbeck den Satz. Er nahm den Telefonhörer zur Hand und hämmerte eine Ziffernfolge in die Tastatur, ohne Christophs missmutigen Gesichtsausdruck zu beachten.
***
Sie benötigten fast zwei Stunden für die gerade mal 60 Kilometer lange Strecke von der Kripo-Inspektion bis zum rechtsmedizinischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Wie so oft hatte sich der Verkehr zwischen Apolda und Göschwitz über die A4 gequält, und auch die langgezogene Betonröhre des Lobdeburgtunnels hatten sie wegen einer Ölspur nur im Schritttempo durchfahren können. Angesichts dessen, was die Kommissarinnen wenig später im Sektionssaal erwartete, sollte sich die sinnlos vertändelte Zeit jedoch als das geringere Übel erweisen.
»Warum müssen wir hier eigentlich durch halb Thüringen fahren, wo doch die Pathologie in der Nordhäuser Straße fast vor unserer Haustür liegt?«, protestierte Wosniza in Anspielung auf die inzwischen seit 18 Jahren bestehende Außenstelle in der Erfurter Andreasvorstadt, die zwar nur einen Steinwurf vom Präsidium entfernt lag, aber offenbar nichts weiter als ein nutzloser Papiertiger war.
»Frag mich was Leichteres!«, erwiderte Lina leicht gereizt. »Ist doch ’n netter Betriebsausflug. Oder etwa nicht?«
Sie kannte das Gebäude am Fürstengraben in unmittelbarer Nähe des Botanischen Gartens und des Zeiss-Planetariums bereits von früheren Besuchen. Wie gewohnt parkte sie den Wagen auf dem Innenhof und begab sich entschlossenen Schrittes in die Höhle des Löwen. Sie hasste Autopsien wie die Pest, verlor dabei jedoch niemals die Kontrolle über sich.
Wosniza folgte ihr mit schlotternden Knien und hängenden Schultern und sah dabei aus, als würde sie aufs Schafott geführt. Ihr Herz pochte vor lauter Anspannung wie das einer Erstklässlerin am ersten Schultag.
Ich könnte dir die Gurgel umdrehen!, fluchte sie auf Christoph und dessen unverbesserliche Aufmüpfigkeit. Eigentlich hätte er an ihrer Stelle der Obduktion beiwohnen sollen. Es hätte ihm gewiss weit weniger ausgemacht als ihr, vielleicht hätte es ihm ja sogar Freude bereitet, jedenfalls prallten für gewöhnlich selbst die grausigsten Details an ihm ab wie Regentropfen von einer Autoscheibe. Beinahe schien es, als trüge er eine dicke Hornhaut auf seiner Seele. Seit mehr als fünf Jahren bildete er mit Lina ein Ermittlerduo, das, allen persönlichen Differenzen zum Trotz, auf beruflicher Ebene erfolgreich funktionierte. Doch nun hatte Werner Heinig kurzerhand die Teams neu zusammengewürfelt und damit nicht nur Zeller einen Denkzettel verpasst, sondern vor allem seiner jüngsten Untergebenen ein ernstliches Problem beschert.
»Grüß Gott, die Damen!« Ingo Altmann, ein kräftiger, vollbärtiger Holzfällertyp mit ausladendem Feinkostgewölbe, graumeliertem Bürstenschnitt und von offenkundiger Vorliebe für Hochprozentiges gezeichneter Gesichtshaut, nahm sie im Foyer in Empfang. Sein Dialekt und die Grußformel verrieten seine oberfränkische Herkunft. Die Liebe hatte ihn vor fünf Jahren nach Thüringen verschlagen. Seitdem arbeitete er am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Jena als Sektionsassistent, hätte aber mit seiner Statur genauso gut in einen Schlachthof gepasst. »Vor uns liegt ein umfangreiches Programm. Ich hoffe, Sie haben gut gefrühstückt.«
Witzbold! Ich habe keinen Bissen runtergekriegt – und das ist vermutlich auch gut so, ging es Wosniza durch den Kopf, doch sie zog es vor, es für sich zu behalten.
Wenig später stand sie neben Lina in einem weitläufigen, hellerleuchteten Raum mit bis unter die Decke weiß gefliesten Wänden, in denen sich der süßliche Geruch des Todes mit den Jahren wie ein unersättlicher Parasit festgefressen hatte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verwandelte sich ihr Teint in den einer Wachsfigur. Er unterschied sich nur unwesentlich von demjenigen der drei Leichen, die auf nebeneinanderstehenden Edelstahltischen aufgebahrt lagen und darauf zu warten schienen, dass sich endlich die eiskalte Schneide des Skalpells in ihr lebloses Fleisch senkte.
Sybille Weniger schenkte den Polizistinnen zur Begrüßung nicht mehr als ein flüchtiges, kaum wahrnehmbares Nicken. Mit über 30 Dienstjahren auf dem Buckel verfügte sie über die gesammelte Erfahrung unzähliger Autopsien und gehörte mittlerweile zum Inventar des Instituts. Ob aufgedunsene Wasserleichen, deren verschrumpelte Waschhaut sich an Händen und Füßen wie ein Handschuh abzulösen begann, Brandopfer mit der charakteristischen Fechterstellung der verkohlten Gliedmaßen, die grausam entstellten Leiber misshandelter Kinder, vergewaltigter Frauen oder was auch immer der rauhe Alltag ihres Fachgebiets irgendwo in der Grauzone zwischen Dasein und Vergänglichkeit bereithielt – es gab kaum etwas, das sie während ihres Berufslebens nicht schon gesehen hätte. Im Februar 2004 war sie zur Professorin ernannt worden und wenig später zur Nummer eins im Hause aufgestiegen. Mit ihren herben Gesichtszügen und der unkonventionellen schwarzen Kurzhaarfrisur wirkte sie auf den ersten Blick wie ein Mann. Sie schleppte einige Kilo zu viel mit sich herum, was sie zu einem nicht unerheblichen Teil ihrer üppigen Oberweite verdankte. Soweit bekannt, war sie nie verheiratet gewesen, sondern lebte seit vielen Jahren mit einer Frau zusammen, die gut und gern ihre Mutter hätte sein können. Hartnäckig hielt sich das Gerücht einer homoerotischen Liaison, doch sosehr die Gerüchteküche auch brodelte, Sybille Wenigers einzige wirkliche Geliebte war die Rechtsmedizin.
»Let the show begin«, sagte sie sarkastisch, als befände sie sich in einem Varieté. Kurz darauf setzte sie die scharfe Klinge in ihrer behandschuhten Hand an Bocks rechtem Schulterblatt an. Nachdem sie den typischen Y-Schnitt vorgenommen hatte, entfernte sie Rippen und Brustbein, hob die inneren Organe aus der Höhlung, legte sie für weitere Untersuchungen in dafür vorgesehene Metallschalen und sprach die äußeren Befunde leise und emotionslos in ihr Diktiergerät. Unterdessen hatte Ingo Altmann die Kopfhaut des Toten aufgeschnitten und sie wie eine Strumpfmaske übers Gesicht gezogen.
Hatte Wosniza der grausigen Prozedur bis hierher noch tapfer standgehalten, so war es spätestens dann um sie geschehen, als Altmann die Oszillationssäge ansetzte, um mit einem markerschütternden Geräusch das Schädeldach des Mannes zu öffnen. Wie vom Schlag getroffen verdrehte sie die Augen und plumpste wie ein nasser Sack auf den harten Fliesenboden.
»Die Kleine scheint mir doch etwas zartbesaitet zu sein«, entfuhr es der Professorin, ohne dass sie sich durch diesen unbedeutenden Zwischenfall in ihrem Tun beirren ließ. »Schaffen Sie sie raus, Ingo! Nicht, dass sie uns noch hierherkotzt.«
Der Assistent legte augenblicklich sein Arbeitsgerät zur Seite und trug die zierliche Polizistin wie eine Puppe aus dem Obduktionssaal. Mit einem missmutigen Blick über die dicke, auf dem Mundschutz ruhende Brille hinweg sah Weniger dem ungleichen Paar hinterher, bis die Tür hinter ihnen mit einem metallischen Klacken ins Schloss gefallen war.
»Es ist heute ihr erstes Mal«, erklärte Lina den plötzlichen Zusammenbruch ihrer Kollegin, erntete jedoch nur ein Achselzucken. Während ihrer mittlerweile gut acht Jahre bei der Kripo Erfurt hatte sie schon mehrfach mit Sybille Weniger zu tun gehabt und kannte ihre unkonventionelle Art zur Genüge. Auf gewisse Weise empfand sie Bewunderung für die lebenserfahrene Frau und ihre Arbeit, aber zugleich auch eine nicht unerhebliche Portion Abneigung ob der Kaltherzigkeit, mit der sie sich stets umgab. Unnahbar wie eine Schneekönigin.
»Exitus durch aufgesetzten Schuss in den Hinterkopf. Eintrittsstelle direkt unterhalb des Haaransatzes, mittig bis halbrechts, ausgetreten über dem linken Auge«, soufflierte die Professorin im Stenostil in den kleinen schwarzen Knopf am Revers ihres Kittels, während sie sich akribisch den Weg der todbringenden Kugel quer durchs Gehirn vergegenwärtigte.
»Und was ist mit den drei Rückentreffern?«, erkundigte sich Lina.
»Die wurden ihm sozusagen posthum verabreicht und waren, wie’s aussieht, nur schmückendes Beiwerk.«
»Und wozu soll so was gut sein?«, fragte die Kommissarin mehr sich selbst als die Rechtsmedizinerin. »Ich meine, warum hat man ihm nach dem tödlichen Kopfschuss noch drei Zugaben verpasst?«
»Was weiß denn ich? Und offen gesagt, interessiert mich das auch nicht mehr als die letzte Wasserstandsmeldung«, entgegnete Weniger gereizt. »Sie sind die Polizei. Also finden Sie’s raus!«
»Danke für Ihre unschätzbare Hilfe.«
»Aber gerne doch.« Aufgrund ihrer Dienststellung war es Weniger nun mal gewohnt, das letzte Wort zu haben.
Unterdessen war Ingo Altmann in den Autopsiesaal zurückgekehrt und hatte an einem zweiten Obduktionstisch mit den Vorbereitungen für die äußere Leichenschau von Kim Fechtner, der Assistentin und mutmaßlichen Geliebten von Dr. Bock, begonnen. Auch wenn ihr schlanker, makelloser Körper bereits erste Verwesungszeichen offenbarte, konnte man mühelos erkennen, dass sie noch wenige Tage zuvor eine äußerst attraktive Erscheinung gewesen sein musste. Das pechschwarz gefärbte Haar und die sonnen- oder solariumgebräunte Haut verliehen ihr einen südländischen, fast indianischen Touch. Aus ihrem Gesicht sprach etwas gleichermaßen Mädchenhaftes wie Verlebtes. Den rechten Nasenflügel zierte ein winziger Stecker, und durch die linke Augenbraue war eine kleine Creole gezogen. Auf dem linken Oberarm sowie über dem Knöchel ihres linken Fußes prangten zwei Tattoos, und in ihrem Bauchnabel glitzerte ein silbernes Piercing in Sonnenform. Der blutunterlaufene Krater mitten auf der Stirn der jungen Frau war von einem subtilen Muster aus Schmauchniederschlägen und Pulverkörncheneinsprengungen umgeben, was auf einen Schuss aus kürzester Entfernung schließen ließ.
»Auch bei ihr hat der Treffer in den Kopf zum sofortigen Tod geführt«, resümierte Sybille Weniger in sachlich-nüchternem Tonfall, nachdem sie auch sie eingehend begutachtet hatte. Hier wandte sie den bei weiblichen Leichen üblichen geschwungenen U-Schnitt an. Das sollte eine spätere Aufbahrung auch in tief dekolletierter Kleidung ermöglichen. Wie erwartet zeigten die inneren Organe auf den ersten Blick keinerlei Auffälligkeiten, wurden aber dennoch routinemäßig für weitere Untersuchungen asserviert. Rückstände von Ejakulat an Vagina und After der Ermordeten ließen darauf schließen, dass sie noch kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte. »Das war bestimmt unser lieber Onkel Doktor«, kommentierte die Rechtsmedizinerin mit einem verschmitzten Grinsen.
»Ach, so was versteht man also unter Doktorspielen«, gab Ingo Altmann süffisant zurück. »Der Name Bock scheint bei dem Kerl ja Programm gewesen zu sein.«
»Falls die Spermareste überhaupt von ihm stammen«, schaltete sich Lina in die wenig zielführende Diskussion ein. »Immerhin hatte die junge Frau ein Höschen an.«
»Dieses Nichts nennen Sie Höschen?«, echauffierte sich Weniger mit einem angewiderten Blick auf die Fotos vom Tatort. »Ich würde das eher als eine Einladung auffassen.«
»Wer auch immer die Lady vor ihrem tragischen Ende zuletzt beglückt haben mag, dürfte für Ihren Fall ja wohl kaum von Bedeutung sein«, ereiferte sich Ingo Altmann. »Deshalb schlage ich vor, dass wir uns nicht länger an diesem Nebenkriegsschauplatz aufhalten.«
»Aber wir reden hier – abgesehen von der Kugel in ihrem Kopf – von den einzigen Fremdspuren an oder besser gesagt in ihr«, protestierte Lina. »Und deshalb möchte ich wissen, ob tatsächlich Bock oder vielleicht doch ein anderer ihr letzter Geschlechtspartner war.«
»Wenn’s Sie glücklich macht«, entgegnete Sybille Weniger gequält und drückte die rote Aufnahmetaste des Diktiergeräts.
Nachdem auch der zweite Obduktionsbericht darauf verewigt war, wandte sich die Professorin schließlich den sterblichen Überresten von Henriette Wenzel zu. Für einen Außenstehenden wie Lina war es immer wieder beeindruckend, mit welch unglaublicher Präzision ein Rädchen ins andere griff. Vor allem aber bewunderte sie Rechtsmediziner für die professionelle Distanz zu ihrem Job irgendwo im Niemandsland zwischen Leben und Tod, ohne die sie die grausigen Geschichten, die ihnen das Fleisch der Toten zu erzählen hatte, unweigerlich mit nach Hause und schlimmstenfalls bis in ihre Träume nehmen würden.
Außer der für eine Frau recht ausgeprägten Körperbehaarung und einer kleinen, nur mit Mühe wahrnehmbaren Narbe am rechten Unterbauch – offenbar das Relikt einer lange zurückliegenden Blinddarm-OP – wies auch die Leiche der Dame vom Empfang keine erwähnenswerten äußerlichen Besonderheiten auf. Dennoch blieb auch ihrem leblosen Körper das schaurige Sektionsprocedere nicht erspart. Dem üblichen Schema folgend, wurden mit gleichsam bemerkenswerter wie eiskalter Akribie ihre Brust- und Bauchhöhle geöffnet, um Herz, Lunge, Leber und Co. zu inspizieren und für die weitere Diagnostik zu entnehmen. Henriette Wenzel war offenbar kerngesund gewesen und hätte vielleicht schon in wenigen Jahren ihren Ruhestand genießen, einen glücklichen Lebensabend verbringen und womöglich satte 100 Jahre alt werden können, wenn ihr nicht irgendjemand eine Kugel in den Schädel gejagt hätte.
»Pulvereinsprengungen, aber keine Schmauchspuren, was für eine Schussentfernung von einem, maximal anderthalb Metern spricht«, brabbelte Ingo Altmann hinter seinem Mundschutz. »Wie bei den anderen auch: Volltreffer, sofort tödlich.« Als wollte er das Gesagte unterstreichen, imitierte er mit der rechten Hand eine Pistole und führte sie theatralisch an seine Schläfe.
»Riecht nach einem Profi«, entgegnete Lina. »Der hat nicht nur genau gewusst, wohin er zielen muss, sondern offenbar auch reichlich Übung beim Schießen.«
»Und er muss ein eiskalter Hund sein«, ergänzte der Sektionsassistent. »Menschen so knallhart zu erledigen, hat schon fast was von einer Hinrichtung.«
»Und dabei dreimal mitten ins Schwarze zu treffen, das schafft wahrlich nicht jeder«, ergänzte Weniger. »Ich würde sagen, Ihr Täter hat ziemlich gute anatomische Kenntnisse. Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass er Mitglied in irgendeinem Schützenverein oder etwas Ähnlichem ist.«
»Ich werde Ihren fachlichen Rat selbstverständlich berücksichtigen«, erwiderte Lina. Mein Dank wird Ihnen ewig nachschleichen, aber Sie niemals erreichen, hätte sie am liebsten hinzugefügt, verkniff es sich aber. Die verbalen Gehässigkeiten der Professorin von vorhin lagen ihr noch immer wie ein Gesteinsbrocken im Magen.
»Also, Ladies and Gentlemen, fassen wir einmal kurz zusammen«, meldete sich Weniger wieder zu Wort. »Drei Todesopfer, zwei Frauen, 22 und 57, sowie ein Mann, 46. Alle so weit kerngesund, getötet durch gezielte Kopfschüsse, aufgesetzt oder aus relativ kurzer Entfernung. Das Ganze – nach allem, was wir wissen – am Freitagabend zwischen sieben und zehn. Was haben wir noch?«
»Die Tatwaffe war eine Neun-Millimeter. Und der Täter hat einen Schalldämpfer benutzt«, fügte Altmann hinzu. »Aber, so leid es mir tut, für die Kugeln in Bocks Rücken habe ich partout keine Erklärung.«
»Machen Sie gefälligst Ihren Job, und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf für andere!«, herrschte die Professorin ihn an, und an Lina gerichtet, fügte sie hinzu: »Wenn Sie gestatten, Frau Bredow, würde ich mich jetzt gern dem leider unabdinglichen Schreibkram zuwenden. Schließlich wollen Sie ja Ihre Obduktionsberichte – wie mir aus leidvoller Erfahrung bekannt ist – lieber gestern als heute.« Mit diesen Worten und einer unmissverständlichen Geste bedeutete sie Lina, sich aus dem Autopsie-Saal zu entfernen.
***
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Wosniza verlegen, nachdem sie zusammen mit Lina das rechtsmedizinische Institut verlassen hatte. Auch wenn ihnen die schwülwarme Luft beinahe wie eine unsichtbare Faust ins Gesicht schlug, war das tausendmal besser, als noch länger das modrige Aroma des Todes inhalieren zu müssen. »Als der Typ ihm die Kopfhaut über den Schädel gezogen hat, war es einfach zu viel für mich.« Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie mit zittrigen Händen an, inhalierte ein paarmal tief und stieß den Rauch wie ein Drache über die Nasenlöcher aus. Ihr Gesicht war noch immer weiß wie eine Kalkwand. »Die anderen werden sich totlachen«, orakelte sie. »Ich höre Zeller schon lauthals tönen: Zum ersten Mal im Leichenschauhaus – und die Püppi kippt gleich aus den Latschen. Echt toll, wirklich super. Was bin ich bloß für ’ne Versagerin.«
»Das bist du nicht. Ich hab mir bei meiner ersten Obduktion die Seele aus dem Leib gekotzt – das kannst du mir glauben. Dagegen warst du heute fast so was wie ein Fels in der Brandung.«
»Verarschen kann ich mich immer noch ganz gut allein.«
»Kann ich eine bei dir schnorren?«, bat Lina. Sie hatte diesem Laster vor zehn Jahren abgeschworen, und schon nach wenigen Zügen bereute sie ihre Inkonsequenz und warf den nicht einmal zur Hälfte aufgerauchten Glimmstengel auf den Gehsteig. »Lass uns in aller Ruhe über Bock und die beiden Mädels reden, damit du bei der nächsten Dienstbesprechung up to date bist«, schlug sie vor und begann, die im Sektionssaal gewonnenen Erkenntnisse im Telegrammstil zusammenzufassen. Doch kaum hatten die ersten Worte ihre Lippen verlassen, musste sich Wosniza in hohem Bogen übergeben.
Seit 2008 lebte die Familie Tschauner in einer schmucken Reihenhaussiedlung im rund sechs Kilometer westlich des Stadtzentrums gelegenen Ortsteil Bindersleben. Der Flughafen Erfurt-Weimar war zwar gerade mal einen Steinwurf entfernt, jedoch seit Jahren dermaßen wenig frequentiert, dass er keine Beeinträchtigung des Wohnkomforts bedeutete.