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Ein Killer, der an Grausamkeit nicht zu überbieten ist – diese Mordserie lehrt Berlin das Fürchten ...
Viktor Puppe vom Berliner LKA und sein Partner Ken werden zum Schauplatz eines grausamen Verbrechens gerufen. Auf einem abgesperrten Gelände wurde eine Leiche gefunden, gezeichnet von schrecklichen Verbrennungen. Bei dem Toten handelt es sich um einen Botschafter des Vatikans. Am Tatort finden sie eine römische Ziffernfolge. Bei der Autopsie stellt sich heraus, dass der Mann während der tödlichen Folter zwar bewegungsunfähig, jedoch bei vollem Bewusstsein war. Dann taucht ein weiteres perfide ermordetes Opfer auf, getötet durch unzählige Wespenstiche ... Auch bei diesem werden römische Ziffern gefunden. Ganz offensichtlich hängen die Morde zusammen. Die Ermittlungen führen Ken und Viktor an eine Schule, wo sie jedoch auf eine Mauer des Schweigens stoßen. Und der Mörder hat gerade erst angefangen …
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Seitenzahl: 423
Buch
Viktor Puppe vom Berliner LKA und sein Partner Ken werden zum Schauplatz eines grausamen Verbrechens gerufen. Auf einem abgesperrten Gelände wurde eine Leiche gefunden, gezeichnet von schrecklichen Verbrennungen. Bei dem Toten handelt es sich um einen Botschafter des Vatikans. Am Tatort finden sie eine römische Ziffernfolge. Bei der Autopsie stellt sich heraus, dass der Mann während der tödlichen Folter zwar bewegungsunfähig, jedoch bei vollem Bewusstsein war. Dann taucht ein weiteres perfide ermordetes Opfer auf, getötet durch unzählige Wespenstiche … Auch bei diesem werden römische Ziffern gefunden. Ganz offensichtlich hängen die Morde zusammen. Die Ermittlungen führen Ken und Viktor an eine Schule, wo sie jedoch auf eine Mauer des Schweigens stoßen. Und der Mörder hat gerade erst angefangen …
Autor
Thomas Elbel, geboren 1968 in Marburg, studierte Rechtswissenschaften in Göttingen, Hannover und den USA. Er arbeitete u.a. für eine amerikanische Anwaltskanzlei, das Bundesministerium des Innern und das Land Berlin. Heute ist er Professor für öffentliches Recht der Hochschule des Bundes in Berlin. In seiner Freizeit singt er klassischen Bariton und schreibt Romane. 2017 legte er mit »Der Todesmeister« seinen ersten Thriller um den Berliner Ermittler Viktor von Puppe vor. Thomas Elbel lebt mit seiner Familie in Berlin.
Weitere Informationen unter: www.thomaselbel.de
Von Thomas Elbel bereits erschienen
Der Todesmeister · Die Todesbotin· Der Todesbruder
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THOMAS ELBEL
der
todes
bruder
THRILLER
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Copyright © 2020 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Husjak; Ensuper; Kletr; Magnia; Kerstin Schoene)
WR · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25521-3V002www.blanvalet.de
Für Chris, Jascha, Niklas und Svea
Winter.
Ich liebe den Winter.
In der frostig klaren Luft ist mir, als ob Schuld und Scham von mir abfallen wie eine alte Haut.
Unter meinen Schuhen knirscht der Schnee, und ich fühle, wie die Kälte durch das dünne Leder meiner Sohlen dringt.
Rechts und links von mir reihen sich die Lauben aneinander. Alles ist ruhig. Nur meine Schritte stören die Stille.
Der Draht des Trageseils schneidet in meine Handfläche. Das Gefäß daran wiegt schwer. Bei jedem Schritt schlägt es an mein Kniegelenk. Es ist das Gewicht des Todes. In meiner Brusttasche spüre ich das Fläschchen mit dem Pheromon.
Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Trotzdem brennt kein Licht hinter den Fenstern. Die meisten Besitzer haben ihre bescheidenen Besitztümer längst winterfest gemacht. Nur weit vorn sehe ich Rauch, der sich aus einem schlichten Stahlschornstein in den Himmel kräuselt, und ein paar erleuchtete Fenster. Warmes Gelb im winterlichen Abendgrau.
Mein Ziel.
Die letzten Meter noch. Dann stehe ich vor dem Schwingtörchen, das mich in den kleinen Garten führt. Die rostigen Scharniere quietschen. Der Stamm des Kirschbaums, damals nur ein dürres Ding, ist jetzt dicker als mein Oberschenkel. Von den Wänden des Geräteschuppens blättert allerorten die einstmals strahlend blaue Lasur. Und doch sieht alles so vertraut aus, dass mir ein Anflug von Wehmut das Herz zusammendrückt.
»Mein Bester.«
Ich zucke zusammen. Während ich mich in der Betrachtung des Gartens verloren habe, ist die Tür aufgegangen.
»Ianua patet, cor magis«, murmeln ein paar spröde Lippen.
»Die Tür ist offen, mehr noch das Herz«, übersetze ich und lasse es zu, dass er mich mit seinen knotigen Fingern ergreift.
Unser alter Gruß.
Kurz scheint sich der Boden unter meinen Füßen zu öffnen, und fast wünsche ich mir, dass er mich tatsächlich verschlingt, doch der feste Griff seiner Hände an meinen Schultern weckt mich aus der Starre.
Mit prüfendem Ernst bohrt sich sein Blick in den meinen, und für einen Moment fürchte ich, dass er alles durchschauen wird. Doch dann wandeln sich die Runzeln in seinen Augenwinkeln zu freundlichen Spinnweben. Er klopft mir auf die Schulter.
»Dein Latein hast du wenigstens nicht vergessen«, sagt er.
Noch bevor ich antworten kann, dreht er sich um und winkt mir, ihm über die Veranda ins Innere zu folgen. Mein Blick streift den hellen Fleck an der Wand neben der Tür, jene Stelle, an der früher das Schild hing. Dann bin ich bereits drinnen, und die wohlbekannte Mischung aus altem Holz, Bienenwachs und Pfeifenrauch wirbelt eine Flut von Erinnerungen an die Oberfläche meines Bewusstseins.
»Setz dich.«
Gehorsam lasse ich mich in den wuchtigen Sessel sinken. Für einen Moment werde ich wieder zu jenem Halbwüchsigen, der hier so oft Platz genommen hat. So klein und schon so zornig auf die Welt.
Sein Blick fällt auf das Tongefäß, das ich neben der Lehne abgestellt habe. Es kostet mich einige Selbstbeherrschung, so zu tun, als würde ich seine Neugierde nicht bemerken.
»Danke, dass Sie mich empfangen haben«, sage ich und wundere mich, wie ernst ich es meine.
»Ach …«
Er winkt ab. Geht mit steifem Schritt um den Glastisch und lässt sich ächzend auf den Polstern nieder, bevor er das rechte Bein über das linke schlägt und die Hände auf die Lehnen legt. Genau wie damals. Eine Marotte oder vielmehr ein Ritual.
»Ich bin derjenige, der zu danken hat«, erwidert er, und seine Stimme holpert und schlingert dabei wie ein altes Kutschrad über nasses Geröll. Ein Hustenanfall kommt und schüttelt ihn tüchtig durch. Schließlich räuspert er sich ausgiebig. Als er wieder spricht, klingen seine Worte seltsam dünn und heiser. Fast gequält. So als würden sie ihm Schmerzen verursachen.
»Und Dank ist das Geringste, was ich dir nach all dem, was geschehen ist, schulde, mein Junge. Ganz ehrlich: Ich hätte nicht auf die Gnade zu hoffen gewagt, dich auf Erden noch einmal sehen zu dürfen«, fährt er fort. Dann stockt er auf einmal. Sein Blick wandert zum Fenster. Stille.
Ich bin gebannt. Kann mich nicht rühren. Nicht einen Millimeter, während die Sekunden sich zu einer kleinen Ewigkeit ausdehnen.
Er legt die Hände vor sein Gesicht. Schluckt schwer. Wischt sich die Wange.
»Ich habe es gewusst«, sagt er schließlich, die Augen zu Boden gerichtet. »Die ganze Zeit über habe ich es gewusst.«
Keine Überraschung. Trotzdem ein Schock.
Ich spüre, wie jetzt auch über mein Gesicht die Tränen rollen, nur dass es sich nicht anfühlt, als ob es tatsächlich mein eigenes Gesicht und meine Tränen wären, denn ich … ich bin innerlich immer noch gefroren.
»Ich weiß, ich hätte etwas tun müssen, doch ich war zu schwach«, sagte er.
Aus unendlicher Ferne rieseln seine Worte auf die Oberfläche meines Bewusstseins wie seichter Regen auf eine Fensterscheibe. Ihr Sinn erschließt sich mir kaum.
»Ich hätte euch davor bewahren müssen … vor ihm bewahren müssen. Das wäre meine Pflicht gewesen.«
Er seufzt. Schwer und verzweifelt. Fast wie der letzte Atemzug eines Sterbenden.
»Ich weiß, Gott wird mir das niemals verzeihen«, sagt er mit brüchiger Stimme. »Aber ich hoffe, nein, ich bete, du kannst es.«
Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit suchen seine Augen wieder die meinen. Das Flehen darin verursacht mir fast körperliche Schmerzen.
»Kannst Du mir vergeben, mein lieber Junge?«, fragt er noch mal, als fürchte er, ich könne es beim ersten Mal nicht verstanden haben.
Seine Stimme ist jetzt kaum mehr als ein Flüstern. Und im schläfrig dämmrigen Licht der Stehlampe scheint es mir, als ob nicht nur seine Stimme verschwände, sondern als ob er gleich selbst zum Schemen würde.
Und dann fällt schlagartig die Starre von mir ab, und noch bevor ich es weiß, weiß mein Körper, was zu tun ist.
Ich erhebe mich. Er tut es mir gleich. Und eine Sekunde später liegen wir uns in den Armen. Heulend. Schluchzend. Wie zwei alte Waschweiber. Und ich beginne zu befürchten, dass ich mich bald buchstäblich in Tränen auflösen werde, bis gar nichts mehr von mir übrig ist.
Gar nichts, außer einem Krug voller Zorn, neben dem Sessel hinter mir.
Verzeihen solle ich ihm, darum hat er gefleht.
»Nein«, antworte ich. »Das kann ich nicht.«
»Eins, zwei, drei, wir ko-o-ommen, du blöde Junkie-Fotze!«
Adela Prochazka konnte die Stimmen der beiden Glatzen so deutlich hören, als ob sie direkt neben ihr stünden. Und sie jagten ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Zwei Meter schräg über ihr war die Öffnung zu sehen, wo vorhin der Kopf von einem der beiden aufgetaucht war. Im Gegenlicht hatte sie ihn nicht erkannt, aber sie glaubte, dass es der Kräftige war. Der, der den getunten Golf gefahren war, den die beiden vor der alten Eisfabrik abgestellt hatten. Ausgerechnet drei Meter neben der Nische, in der sie sich gerade einen Druck gesetzt hatte.
Sie war aufgesprungen und hatte versucht davonzurennen, aber einer von den beiden hatte sie verfolgt und am Kragen erwischt.
»Scheiß Junkie-Nutte«, hatte er sie angezischt und ihr ins Gesicht geschlagen. Einfach so.
Doch sie hatte Glück im Unglück gehabt. Der Schwinger hatte ihn auf dem Schnee ins Rutschen gebracht, und sie hatte sich losreißen können. Sie war von draußen in die Halle gelaufen. Erst als sie etwas ratlos zum Stehen kam, war ihr aufgefallen, was für eine beschissene Idee das war. Da hatte sie die beiden schon hinterherkommen hören. Über eine Treppe war sie in die Dunkelheit des Kellers geflüchtet.
Vorsichtig betastete sie ihre Wange an der Stelle, an der er sie getroffen hatte. Die Schmerzen waren auszuhalten. Andererseits war sie ganz schön drauf.
Schritte hinter ihr. Auf der Treppe, auf der sie heruntergekommen war.
Scheiße. Wie lange …?
Das Problem mit dem Stoff war, dass man jegliches Zeitgefühl verlor. Egal. Sie musste zurück nach oben. Gott sei Dank gab es einen zweiten Weg dorthin. Nämlich ein paar Meter vor ihr, wo das riesige Schwungrad war, das sich über beide Etagen erstreckte. Im dämmrigen Licht, das von oben durch die Öffnungen fiel, konnte sie die Umrisse einer Leiter erkennen.
Der Gedanke, sich auf dem Höhepunkt ihres Rausches auf das rostige Ding zu stellen, verursachte ihr zwar einen Schweißausbruch, aber sie hatte keine Wahl. Auf Zehenspitzen und das Licht der Deckenöffnung vermeidend, huschte sie quer durch den Raum. Unter ihren Füßen knirschte zerbrochenes Glas. Die vage Mischung aus Brandgeruch und Heizöl, die sie vorhin schon wahrgenommen hatte, wurde wieder stärker.
Endlich war sie am Fuß der Leiter angekommen.
»Wo bist du, du kleine Nutte?«
Das war die Stimme von dem Schläger. Viel zu nah. Sie waren schon unten, irgendwo hinter ihr im Dämmerlicht. Immerhin befand sie sich hier im dunkelsten Teil des Raumes. Erst wenn sie oben auf der Leiter angekommen war, würde sie wieder zu sehen sein, aber dann hätte sie es auch schon fast geschafft. Was aber, wenn der andere oben auf sie wartete? Sie wischte den Gedanken beiseite. Die beiden warenIdioten Das stand ihnen auf die Stirn unter ihren kahlen Schädeln geschrieben.
Sie ergriff die Stangen der Leiter, setzte den Fuß auf die erste Sprosse und zog sich hoch. Zu ihrem Entsetzen ächzte das Metall unter ihrem Gewicht laut auf.
»Da is sie«, schrillte es durch den Raum.
Sofort war lautes Trampeln zu hören. Panisch zog sie einen Fuß nach oben, als zu allem Überfluss die Sprosse, auf der nun ihr ganzes Gewicht lastete, unter ihr nachgab.
Für einen Moment hing sie nur noch an den Händen, dann rutschte sie ab. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihren rechten Fuß, mit dem sie als Erstes auf dem Boden aufprallte. Dann fiel sie der Länge nach auf den Rücken.
Der Aufschlag presste ihr die Luft aus ihrer Lunge. Einen Moment lang war sie zu benommen, um zu reagieren.
Dann hörte sie wieder das Getrampel. Die beiden waren nicht mehr allzu weit entfernt. Angst übernahm die Kontrolle über ihren Körper. So gut sie konnte, rollte sie sich auf den Bauch, zog die Knie an und ergriff die Leiterstange. Schließlich hievte sie sich in den Stand. Erneut zuckte der Schmerz durch ihren rechten Fuß, und für einen Sekundenbruchteil kämpfte sie um ihr Bewusstsein. Jetzt konnte sie die beiden Gestalten erkennen, die sich in ihre Richtung bewegten.
Es war zu spät. Sie waren schon viel zu …
»Aua. Verdammte Scheiße.«
Überrascht sah sie, wie einer der beiden einige Meter vor ihr niedersank, als habe ihn der Blitz getroffen. Der andere, der schon etwas näher an ihr war, drehte sich zu ihm um. Es war der Größere, der Schläger.
»Was ist los?«, fragte er.
»Scheiße, tut das weh«, jammerte der am Boden Liegende.
»Was ist denn passiert, Alter?«
»Ich glaube, ich bin in einen verdammten Nagel getreten.«
Der Große stand vielleicht drei Körperlängen entfernt mit dem Rücken zu ihr im Lichtstrahl einer der Deckenöffnungen und hielt nun einen Baseballschläger in seiner rechten Hand. Unschlüssig schaute er in ihre Richtung. Hatte er sie nicht schon längst entdeckt? Ihr stockte der Atem, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Alter, kommst du jetzt und hilfst mir, das Ding rauszuziehen, oder was?«, brüllte der Kräftige.
Endlich legte der Große den Baseballschläger ab, kehrte zu seinem Kumpel zurück und entfernte sich damit wieder ein Stück weg von ihr.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich immer noch mit einer Hand krampfhaft an der Leiter festhielt. Mühsam löste sie ihre Finger und sah sich vorsichtig um.
Ein paar Schritte rechts von ihr war ein Durchgang erkennbar, die dazugehörige Tür fehlte. Was immer sich dahinter befand, lag in völliger Dunkelheit. Wahrscheinlich eine Sackgasse. Eigentlich der letzte Ort, an den sie jetzt wollte, aber die Leiter fiel als Lösung aus, und den Weg zur Treppe schnitten ihr die beiden ab.
Vorsichtig, Schritt für Schritt, schlich sie zu dem Durchgang, ohne die beiden dabei aus den Augen zu lassen.
Zu ihrem Glück jammerte der am Boden Liegende so laut, dass er damit jegliche Geräusche, die sie vielleicht verursachte, übertönte. Andererseits durchfuhr sie jedes Mal ein Stromschlag, wenn sie mit dem rechten Fuß auftrat. Immerhin nahm das Dope dem Schmerz ein wenig die Spitze, hielt ihn auf Distanz.
Einige wenige Schritte, dann war sie unbemerkt von den beiden durch den Durchgang und in der Dunkelheit dahinter verschwunden. Endlich wagte sie es, sich nach den Typen umzudrehen.
Benommen stand sie da, den Blick auf das helle Viereck gerichtet, das sie soeben durchschritten hatte, und lauschte dem Gespräch ihrer Verfolger. Sie mochte ihnen unbemerkt entwischt sein, aber vielleicht nur für den Augenblick. Also beschloss sie, sich noch etwas tiefer in den Raum zurückzuziehen, nur zur Sicherheit.
Doch das war leichter gesagt als getan, denn sobald sie dem Durchgang wieder den Rücken zuwandte, sah sie sich absoluter Finsternis gegenüber. Der Brandgeruch, den sie vorhin schon wahrgenommen hatte, war jetzt betäubend. Außerdem roch es schweflig, so wie im Keller ihrer Oma. Irgendwelche Idioten hatten hier unten mit Heizöl oder so was gezündelt, was sie nicht groß verwunderte. Orte wie dieser zogen allerhand Durchgeknallte an.
Oder Junkies wie mich, fügte sie in Gedanken hinzu.
Umso wichtiger war es, vorsichtig zu sein.
Zentimeter für Zentimeter tastete sie sich ins Innere des Raums voran, jeden Moment darauf gefasst, mit den Füßen oder den voraustastenden Händen gegen ein Hindernis zu stoßen. Der Schmerz hatte sich jetzt in eine Art dumpfes Pochen verwandelt. Hinter sich konnte sie immer noch die Stimmen hören, aber sie entfernten sich mit jedem Meter, den sie tiefer in den Raum eindrang.
Auf einmal stießen ihre Finger tatsächlich an etwas Festes.
Eine Wand?
Aber als sie etwas stärker dagegendrückte, gab das Hindernis ein wenig nach, und eine Art metallisches Schaben erklang.
Sie tastete die Umgebung ab. Was immer es war, es war keine Wand. Die Oberfläche war sehr uneben, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass es keine gute Idee war, sich links oder rechts an dem Hindernis vorbeizustehlen.
Einfach stehen bleiben? Oder …
Eine Idee nahm Form an. Vorsichtig und ganz langsam zog sie ihre Handtasche hoch und begann darin zu wühlen, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
Ein Feuerzeug.
Langsam drehte sie sich wieder um. Der kaum wahrnehmbare Durchgang war jetzt vielleicht fünfzehn Schritte entfernt, genau in ihrem Rücken.
Wenn sie die Flamme mit einer Hand in Richtung des Durchgangs abschirmte und nur ganz kurz lodern ließ, würde man draußen kaum etwas sehen. Außerdem signalisierte ihr das fortgesetzte Gejammer, dass die beiden Typen immer noch mit sich beschäftigt waren.
Sie hob das Feuerzeug vor das Hindernis und hielt die andere Hand zwischen sich und die Flamme.
Nichts.
War das verdammte Ding leer? Aber sie hatte damit doch noch vorhin das Heroin … Oder war es eine Fügung des Schicksals? Der Brand- und Ölgeruch an dieser Stelle war so stark, vielleicht bestand die Gefahr, dass sich etwas entzündete.
Sie beschloss, zwei Schritte zurückzugehen, dann unternahm sie einen neuen Versuch.
Diesmal funktionierte das Feuerzeug. Die Flamme erzeugte einen begrenzten Lichtschein, in dem jetzt das Hindernis erkennbar wurde, auf das sie eben gestoßen war.
Und der Anblick war so grauenerregend, dass sie laut aufschrie.
***
Viktor Puppe, zu seinem Leidwesen eigentlich von Puppe, war Oberkommissar im Dezernat 11 des Berliner LKA und damit zuständig für Tötungsdelikte. Er konnte die Stimme schon von Weitem hören.
»Oder muss ich dir erst die Fresse polieren?«, schallte es ihm von jenseits der noch etwa zwanzig Meter entfernten Absperrung entgegen. Viktor sah sich genötigt, die noch verbleibende Strecke im Laufschritt zurückzulegen, bevor sein Kollege Ken Tokugawa seine Drohung vielleicht wahrmachte.
»Was ist hier los?«, rief er, um Zeit zu gewinnen.
Der Beamte, der den Zugang zum Tatort regelte, wandte ihm sein jugendliches, ja fast noch kindlich wirkendes Antlitz zu.
»Der Typ …«, begann er und wies dabei auf Ken, der mit einer geballten Portion Unmut im bronzebraunen Samuraigesicht auf der anderen Seite des Flatterbands stand, »… wollte sich hier einschleichen.«
»Einschleichen?«, brauste Ken auf. »Ich hör wohl nicht richtig, du Korinthenkacker.«
»Ach, jetzt auch noch Beamtenbeleidigung?«, schoss der so Bezeichnete zurück.
»Als ob’s bei dir noch was zu beleidigen gäbe …«
»Aber, aber, Kollegen«, ging Viktor dazwischen. »Ein bisschen mehr Professionalität bitte. Wir haben die Presse hier.«
Er wies hinter Ken, wo sich ein einsamer Fotograf, der das Objektiv auf sie gerichtet hatte, gerade die Finger wund klickte. Die beiden Streithähne schienen ihn tatsächlich erst jetzt zu bemerken. Viktor nutzte das Überraschungsmoment und fuhr gleich fort: »Das ist Oberkommissar Kenji Tokugawa, ebenfalls vom LKA 11.«
»Okay. Warum hat er dann nicht einfach seine Dienstmarke gezeigt?«, fragte der junge Beamte grantig.
»Hab ich in deiner Mutter stecken lassen«, grummelte Ken, während er unter dem Absperrband durchtauchte.
»Was?«, rief der Beamte, dessen Gesicht sich in Sekundenbruchteilen dunkelrot verfärbte.
»Äh … aber mit deiner Mutter in einem Gespräch festzustecken, ist doch kein Grund, die Dienstmarke zu vergessen«, sagte Viktor etwas lauter als nötig zu Ken.
Keine Glanzleistung, aber die spontane Verwirrung, die sich auf dem Gesicht des Beamten abzeichnete, reichte ihm.
Bevor der Mann sich sortieren konnte, zog er Ken schnell mit sich. Gemeinsam liefen sie an der Außenfront der alten Eisfabrik entlang zum Eingang.
»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, zischte er seinem Kollegen zu.
»Alter, wenn der mit zwölf schon so ’n Bürokratenarsch ist, wie wird der dann erst im Erwachsenenalter sein?«, erwiderte Ken.
»Vielleicht solltest du, wenn du das nächste Mal deine Marke vergisst, wenigstens einen annähernd dienstlichen Aufzug erwägen«, sagte Viktor.
Abrupt blieb Ken stehen und zwang Viktor damit, sich zu ihm umzudrehen.
»Alter, was ist daran bitte nicht dienstlich?«
Viktor kratzte sich seufzend am Kopf. Womit sollte er anfangen?
»Ich weiß nicht. Ein rehbrauner Mantel aus … aus …«
»Das ist Teddyfleece, du vernagelter Kulturbolschewist.«
Viktor schüttelte den Kopf. An einem Mailänder Männermodel hätte der Mantel vielleicht sogar wie ein extravagantes Statement ausgesehen, aber am Körper eines etwas korpulenten Halbjapaners, noch dazu in Kombination mit blauen Moonboots, wirkte er einfach nur … außerirdisch.
»Immerhin sehe ich nicht so aus, als ob ich in Talkshows Offshore-Steuersparmodelle schönlabere«, sagte Ken mit einem missbilligenden Blick auf seinen Kollegen.
Viktor schaute an seinem zweireihigen Bugatti Streetcoat herunter. »Stella gefällt es«, erwiderte er.
»Frau Medizinaldirektorin gefällt nach eigener Aussage auch der Klang eines Skalpells, das durch die Bauchdecke einer Wasserleiche schneidet. Das sollte dir zu denken geben.«
Viktor musste grinsen. Darauf ließ sich schwerlich etwas erwidern.
»Apropos Leiche«, fuhr Ken fort. »Was haben wir denn heute Feines?«
»Komm mit«, sagte Viktor. »Das siehst du dir am besten mit eigenen Augen an.«
Zwei Minuten später standen sie vor einem Durchgang, der sich im Keller unterhalb der ehemaligen Produktionshalle befand.
Da es hier weder elektrisches Licht noch Fenster gab, hatte die Spurensicherung den Raum hinter dem Durchgang ausgeleuchtet wie eine Szene bei einem Film. Die Tatsache, dass der Keller gerade mit einem halben Dutzend Menschen in weißen Einmaloveralls bevölkert war, passte irgendwie zur allgemeinen Atmosphäre des Unwirklichen.
Ken und Viktor nahmen sich Overalls nebst Füßlingen aus einer neben dem Eingang bereitstehenden Plastikkiste und streiften sie über ihre Kleidung. Dann durchschritten sie den Durchgang und tauchten vollends in das Scheinwerferlicht ein.
»Heilige Monsterscheiße«, entfuhr es Ken, und ausnahmsweise fand Viktor die platte Vulgarität seines Kollegen einmal nicht unpassend. Wer immer das hier angerichtet hatte, musste in der Tat ein Monster sein. Und zwar eines, das sein Opfer mit geradezu heiligem Eifer zu Tode gequält hatte.
Ken trat ein paar Schritte näher an ebendieses Opfer heran, das sich in der Mitte des Raumes befand oder vielmehr hing. Der Täter hatte ihm schwere Handschellen von altertümlicher Machart angelegt; die Schellen waren mit einer langen Kette verbunden, die der – oder die – Täter über einen eisernen Deckenbalken geworfen hatte.
Und auf diese Art hatte man das Opfer für den eigentlichen Tötungsakt in Position gebracht:
Die Leiche war völlig verbrannt.
An dem erbarmungswürdigen Körper war nicht ein Quadratzentimeter Haut, den die Flammen nicht lückenlos in eine Art brüchige schwarze Rinde verwandelt hatten. Zu allem Überfluss war sie hier und da aufgeplatzt, wie eine überreife Frucht, und gab den Blick auf das darunterliegende, nicht weniger versengte Gewebe frei.
Der verkohlte Leichnam wirkte eigentümlich mager. Offensichtlich hatte das Feuer das gesamte Unterhautfett aufgezehrt. Vom Kopfhaar waren nur noch vereinzelte Reste zu sehen, die wie struppige Grasbüschel aus einem schaurig schwarzen Moor aufragten. In den Augenhöhlen war nichts als Dunkelheit zu erkennen. Wahrscheinlich hatte das Feuer die darin liegenden Augäpfel auf Erbsengröße eingedampft.
Das Bild erinnerte Viktor ein wenig an die Mumie eines Pharaos, die er bei einem Besuch der ägyptologischen Abteilung des Deutschen Historischen Museums gesehen hatte. Nur dass von ihr wenigstens nicht dieser widerliche Geruch ausgegangen war.
»Hat er versucht, sich zu befreien?«, fragte Ken.
»Woher weißt du, dass es ein Er ist?«, fragte Viktor zurück.
Ken zuckte mit den Schultern.
»Der Mann hat recht. Ist definitiv ein Kerl«, erklang eine Stimme von der Seite.
Er und Ken wandten sich dem Sprecher zu.
»Schmulke, meine Sonne«, rief Ken freudig.
Der Leiter der Spurensicherung legte zum Gruß zwei Finger an den Kapuzenrand seines Overalls.
»Woran erkennen Sie das?«, fragte Viktor. »Da …«, er wies auf die Körpermitte des Toten, wo zwischen den Beinen einfach nur dieselbe schwarze Kruste zu finden war wie am restlichen Körper, »ist nichts zu sehen.«
»Doch, doch. Kieken se ma, da!«, widersprach Schmulke und zeigte auf eine haselnussgroße Kugel etwa einen halben Meter neben den Füßen.
»Und was soll das sein?«, fragte Ken. »Sein Schwanz etwa?«
»Nee. Den ham wa noch nich jefunden. Is eventuell vollständig verbrannt. Ditte is eins von seinen Eiern.«
»Autsch«, sagte Ken und verzog das Gesicht. Auch Viktor jagte der Gedanke einen Schauer über den Rücken.
»Ja, et jibt bestimmt anjenehmere Arten der Jeburtenkontrolle«, versetzte Schmulke trocken.
»Was ist das mit seinen Armen und Beinen?«, fragte Ken. »Hat er versucht, sich aus den Ketten zu befreien?« Er wies auf die seltsam gekrümmten Extremitäten des Opfers. In der Tat konnte man auf die Idee kommen, der Unglückliche habe verzweifelt versucht, die Handgelenke aus den Schellen zu zerren. Aber in diesem Fall wusste Viktor es besser.
»Nein. Das ist typisch für Brandopfer«, hakte er ein. »Unter der Hitzeeinwirkung der Flammen ziehen sich Muskeln und Sehnen zusammen. Typischerweise sind die Beuger stärker betroffen, sodass Brandopfer häufig in so einer Art Embryonalhaltung angetroffen werden.«
»Ick seh schon, ick werde hier nich mehr jebraucht«, sagte Schmulke und klopfte Viktor mit anerkennendem Lächeln auf die Schulter, bevor er sich zum Gehen wandte.
»Ey, Schmulke«, jammerte Ken ihm hinterher. »Lass mich bloß nicht mit diesem Klugscheißer allein.«
Doch der winkte nur einen wortlosen Abschiedsgruß und ließ die beiden stehen.
»Wer hat ihn eigentlich gefunden?«, fragte Ken.
Viktor, der schon eine Stunde vor Ken am Tatort eingetroffen war, fasste seinen Wissensstand zusammen.
Alles hatte mit einem Notruf begonnen. Der Anrufer – seiner Stimme und seinem Dialekt nach ein junger Kerl aus der Region – hatte einen Toten »unten in der alten Eisfabrik« gemeldet. »Voll eklig. Sieht aus wie ’n Broiler«, hatte er noch hinzugefügt. Als der Beamte aus der Notrufzentrale begonnen hatte, ihn nach Identität und möglicher Beziehung zum Opfer zu befragen, hatte der Anrufer einfach aufgelegt. Da der Anruf von einem der wenigen in der Gegend vorhandenen öffentlichen Fernsprecher kam, in dessen Umgebung keine Überwachungskameras zu finden waren, schien eine Identifizierung des Anrufers ausgeschlossen.
Der Kriminaldauerdienst war dann kaum fünfzehn Minuten später mit einem Leichenhund eingetroffen und hatte sich Zugang verschafft.
Die alte Eisfabrik war ein bauliches Relikt aus den letzten Jahren des Kaiserreichs. In einer Ära, in der Kühlschränke noch Zukunftsvision waren, hatten die Berliner ihre verderblichen Lebensmittel mit den ein Meter fünfzig langen Eisstangen der Norddeutschen Eiswerke AG gekühlt. Trotz stetig abnehmenden Bedarfs war in der Anlage noch bis Anfang der 1990er-Jahre Eis produziert worden. Eigentlich war der Zutritt auf das ehemalige Betriebsgelände für die Öffentlichkeit verboten, aber seiner pittoresken Baufälligkeit wegen ein Junkie- und Touristenmagnet. Deshalb hatte es für den Spürhund einiges an olfaktorischer Ablenkung gegeben, mit dem Hinweis »unten« allerdings war es den Beamten recht schnell gelungen, die Leiche zu lokalisieren.
In Anbetracht der speziellen Auffindesituation, wie es im Polizeijargon hieß, hatte man zügig entschieden, dass es zur Spurensicherung eines größeren Teams bedurfte und bei der Gelegenheit gleich die Mordkommission benachrichtigt.
Viktors ehemalige Kollegin und neue Chefin Begüm Duran hatte sich den Fall sogleich unter den Nagel gerissen. Seit ihrer Beförderung schienen Begriffe wie Aufklärungsquote und Dezernatsauslastung eine bis dahin untypische erotische Faszination auf sie auszuüben.
Da sie selbst gerade einen dreimonatigen Führungskräftelehrgang am Ausbildungszentrum der Polizei in Spandau besuchte, hatte sie die Ermittlungen Ken und Viktor übertragen. Oder vielmehr erst mal nur an Viktor, der – anders als Ken – auch schon vor halb elf im gemeinsamen Büro in der Keithstraße aufzutauchen pflegte.
Ihre dienstliche Weisung, die Ermittlung aufzunehmen, hatte Begüm mit der mittlerweile schon zur Gewohnheit gewordenen Bemerkung »Aber pass auf, dass er keine Scheiße baut!« garniert. Gemeint war natürlich Ken und sein mehr als nur gelegentlich aufkommender Hang zu Alleingängen während einer Ermittlung.
Das war ironischerweise ein Charakterzug, den Begüm mit Ken teilte, zumindest früher, als sie noch »Gleiche unter Gleichen« gewesen war. Aber statt sie nach einem besonders krassen Fehltritt zu bestrafen, hatte Direktor Erich Richter, Leiter des Berliner Landeskriminalamts, sie zur Hauptkommissarin befördert und ihr die Leitung des Trios übertragen.
Die auf den ersten Blick recht skurrile Maßnahme hatte auf den Fluren der Behörde für Kopfschütteln und allerhand Gegeifer gesorgt, und einige böse Stimmen hatten Richter sogar ein amouröses Interesse an »der kleinen Türkenschlampe« unterstellt. Offensichtlich hatte sich noch nicht überall herumgesprochen, dass Richter glücklich verheiratet war – mit einem Opernsänger.
Aber Richter galt eben auch als Fuchs, und Viktor selbst hatte daher ganz andere Vermutungen zu Richters Motivation für Begüms Karrieresprung angestellt, die sich im Laufe der Zeit auch mehr oder weniger bestätigt hatten. Denn wie sich nach der Beförderung zeigte, hatte gerade Richters überraschender Vertrauensvorschuss bei Begüm eine Art wundersame Entfaltung an Seriosität bewirkt. Aus der kratzbürstigen, dauernd übelgelaunten Kollegin mit ausgeprägter Gehorsamsallergie war in Rekordzeit die wahrscheinlich ehrgeizigste Führungskraft der Mordkommission geworden. Hatte Richter eventuell genau das vorausgesehen? Zuzutrauen war es dem republikweit anerkannten Verhörexperten und Menschenkenner allemal.
Viktor seinerseits war nicht unfroh, zwischen sich und dem Chuck Norris unter den LKA-Chefs – wie Ken ihren Direktor gerne nannte – eine Frau als Puffer zu wissen.
Ken allerdings hatte den Aufstieg seiner Ex-Kollegin weniger gut verdaut, so empfand Viktor es jedenfalls. Denn auch wenn Ken seinen Neid hinter dem für ihn alltagstypischen Obrigkeits-Spott verbarg, war doch spürbar, dass zwischen ihn und Begüm mittlerweile etwas mehr als das sprichwörtliche Blatt Chinapapier passte, das sie früher getrennt hatte.
Kens Stimme riss Viktor aus seinen Gedanken. »Auf Tatzeugen braucht man hier unten wohl kaum zu hoffen.«
»Eher nicht«, pflichtete Viktor ihm bei.
»Wie hat er das gemacht?«, fragte Ken. »Ich meine, ich sehe da irgendwie keinen Scheiterhaufen oder so was.«
»Das Tatwerkzeug wurde schon gefunden«, sagte Viktor. »Komm mit.«
Mit aufreizender Gemütlichkeit schlurfte Ken ihm hinterher in eine weiter entfernte Ecke, wo inmitten des für einen derartigen Lagerraum typischen Schutts ein länglicher Gegenstand aus goldenem und sichtlich gealtertem Metall lag, direkt neben einem Wimpel der Spurensicherung. Ken hockte sich davor hin.
»Was ist denn das für ein schräges Ding?«, fragte er.
»Das überlass ich mal dem Experten«, sagte Viktor. »Herr Reimer?«, rief er dann in den Raum.
Ein anderes Mitglied des emsig vor sich hin arbeitenden Teams erhob sich, kam zu ihnen herüber und streifte die Kapuze des Overalls ab.
»Moment«, sagte Ken. »Sie kenn ich doch.«
»Bernhard Reimer«, sagte der Angesprochene grinsend. »Mitarbeiter am KTI und dort unter anderem Experte für alles, was Krach macht und stinkt. Wir kennen uns aus der alten Kinderklinik im Weißensee. Der gesprengte Reisekoffer … Sie erinnern sich?«
»Ja, klar«, rief Ken. »Sie haben uns auf die Spur mit dem chinesischen Handy gebracht. Und was hat es mit diesem Stück Altmetall hier auf sich?«
»Platt gesagt, handelt es sich dabei um so eine Art primitive Handpumpe«, erklärte Reimer. »Damit hat er den Brandbeschleuniger auf das Opfer gespritzt. Quasi ein selbstgemachter Flammenwerfer. Das dicke Rohr in der Mitte ist der Tank mit dem Pumpmechanismus, obendrauf ein Füllstutzen. Untendran der Haltegriff. Die Stange hinten mit dem zweiten Griff ist der Pumpkompressor zum Verkleinern der Kammer und dieser Trichter vorne die Düse.«
»Und dieses kleine Dingsda unten an der Düse, das aussieht wie ein Tintenfass, was ist das?«, fragte Ken.
»Das ist die Zündvorrichtung«, antwortete Reimer. »Darin wird ein Zündstoff langsam abgebrannt und liefert so die Flamme, die dann das Gemisch in Brand setzt, das aus dem Tank durch die Düse nach draußen gepresst wird.«
»Sieht irgendwie … antik aus«, murmelte Ken nachdenklich.
»Ich vermute auch, dass das irgendeinem historischen Vorbild nachempfunden ist«, sagte Reimer. »Flammenwerfer wurden angeblich schon bei antiken Seeschlachten eingesetzt.«
»Griechisches Feuer«, ergänzte Viktor.
»Stimmt«, pflichtete Reimer ihm bei. »Jetzt, wo Sie’s sagen. So nannte man das wohl.«
»Ist aber eigentlich eine moderne Bezeichnung. Die Byzantiner, die es verwendet haben sollen, nannten es pyr thalássion, also Seefeuer«, ergänzte Viktor.
»Au Backe«, sagte Ken kopfschüttelnd. »Jetzt geht das wieder los. Achtung, Reimer, er verfällt in den Doziermodus.«
»Es tut mir leid, wenn meine Ausführungen dich über Gebühr beanspruchen sollten«, sagte Viktor, der sich nach drei Jahren Zusammenarbeit langsam daran gewöhnte, dass sein Kollege ihn in solchen Momenten immer behandelte wie einen penetrant mit den Fingern schnipsenden Klassenstreber. Wahrscheinlich wollte er damit umso deutlicher sein eigenes Image als »Polizeipunk« herausstreichen, so vermutete es Viktor jedenfalls.
»Also ich fand’s interessant«, kam Reimer Viktor zu Hilfe.
»Herr Reimer ist ein Schleimer«, sagte Ken grinsend, um dann noch ein »Geht doch knutschen« hinterherzuwerfen.
Auch das gehörte zu Ken: Humor unter Missachtung jeglicher Fremdschamgrenze.
»Wonach riecht das eigentlich?«, fragte Ken dann und wandte sich wieder dem Gerät zu.
»Öl«, antwortete Reimer. »Wahrscheinlich sogar Rohöl. Aber da ist noch mehr. Schwefel vielleicht, eventuell auch Salpeter. Das muss eine Analyse erbringen.«
»Passt also zu Griechischem Feuer«, meinte Viktor.
»Wenn Sie das sagen«, erwiderte Reimer.
»Bist ein braves Schlaubergerchen«, frotzelte Ken. »Kriegst später auch ein Leckerli. Haben wir schon was zur Identität des Opfers?«, wechselte Ken das Thema.
»No, Sir«, sagte Viktor. »Laut Schmulke war der Tote bei der Verbrennung nackt. Seine Kleidung hat vermutlich der Mörder, und bis jetzt wurde hier unten auch nichts weiter gefunden, das man eindeutig dem Toten, geschweige denn dem Täter zuordnen könnte. Neben der Festlegung des Geschlechts getraut sich Schmulke nur noch die Einschätzung zu, dass der Tote wohl mittelgroß und gut genährt war.«
»Gut genährt«, wiederholte Ken mit einem skeptischen Blick über die Schulter, wo hinter ihnen immer noch die Leiche baumelte.
»Das schließt er aus der Menge des in verflüssigter Form ausgetretenen und dann am Boden verbrannten Körperfetts«, entgegnete Viktor.
»Pfui Teufel«, sagte Ken naserümpfend. »Manche Dinge will man auch in diesem Beruf nicht so genau wissen.«
Viktor zuckte mit den Schultern. Ihm war schon häufiger aufgefallen, dass sein altgedienter Kollege in diesen Dingen etwas zartbesaiteter war als er. Vielleicht lag es daran, dass Viktor im Rahmen eines abgebrochenen Medizinstudiums schon mal selbst mit einem Skalpell tote Haut geöffnet hatte.
»Also DNA und Zahnstatus«, bemerkte Ken knapp.
»Und Knochen«, ergänzte Reimer.
Sie sahen aus wie Spülhandschuhe, nur reichten diese Exemplare Stella bis über die Ellenbogen. Mit routinierten Bewegungen zog sie ihr nächstes Zielobjekt aus dem Mazerationsbecken und hielt es ins Licht der Obduktionslampe.
»Clavicula dextra«, stellte sie fest.
Rechtes Schlüsselbein, übersetzte Viktor stumm.
Mit großer Behutsamkeit platzierte Stella den Knochen auf dem Abtropftisch, auf dem bereits der größte Teil vom Skelett des Opfers von den Füßen an aufwärts anatomisch korrekt ausgelegt war.
Viktor schaute aus dem Fenster, an dem ein paar einsame Schneeflocken vorbeirieselten. Es war Dienstagvormittag, Tag eins nach dem Leichenfund in der Eisfabrik. Stella hatte gleich nach der Einlieferung beschlossen, dass eine herkömmliche Obduktion angesichts der starken Verbrennungen der Leiche kaum Sinn ergab. Nachdem sie noch am Abend zuvor immerhin die vorgeschriebene Öffnung der drei Körperhöhlen an Kopf, Brust und Bauch vorgenommen und dort die verschmorten Überreste der inneren Organe geborgen hatte, hatte sie das Mazerationsverfahren eingeleitet. Dabei wurden die Knochen durch längeres Abkochen von allem Weichgewebe befreit, bis nur noch die Knochensubstanz übrig blieb. Anders als in so manch populärer Krimiserie dargestellt, befand sich die Flüssigkeit allerdings nicht in einer Art riesigem Aquarium, in dem die Knochen beim Abkochen permanent zu sehen waren, sondern in einem hüfthohen Sarkophag aus Stahl, aus dem Stella jetzt einen Halswirbel fischte. Auch diesmal platzierte sie ihn mit so viel Bedacht und Präzision, als handele es sich dabei um Nitroglycerin.
»Warum bin ich so vorsichtig?«, fragte sie den jungen Assistenzarzt, der ihr von der anderen Seite des Tisches aus zuschaute.
Der Angesprochene, ein schlankes Bürschchen von vielleicht Mitte zwanzig mit noch nicht völlig ausgeheilter Akne, lief augenblicklich dunkelrot an und begann, heillos zu stottern. »D-die Lage d-der Kno… äh, ich meine … also«, stammelte er.
Kein Wunder, dachte Viktor. Makellos schön wie die Himmelskörper, nach denen ihre Eltern sie benannt hatten, und mit einem Verstand gesegnet, der ebenso kalt und klar erstrahlte, brachte Stella auch gestandene Männer aus der Fassung. Viktor hielt es nicht mehr aus und fiel ihm ins Wort: »Durch die hohen Temperaturen einer Verbrennung werden die Knochen mitunter spröde wie Glas.«
»Tz, tz, tz.« Stella schüttelte missbilligend den Kopf. »So vorschnell bist du bei mir doch sonst nicht, mein lieber Viktor.«
Jetzt war es an Viktor, rot anzulaufen, auch wenn der Assistenzarzt gerade nicht aussah, als ob er Stellas kaum verhüllte Anzüglichkeit überhaupt bemerkt hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte Viktor.
Stella seufzte und zuckte mit den Schultern.
»Nun ja. Dann muss der liebe Herr Schönstedt mir sein Können eben auf andere Art beweisen.«
Damit drehte sie sich um und begann wieder in dem Tank zu fischen, während Viktor sich mit aufkeimendem Magengrummeln fragte, ob auch dieser Satz einen doppelten Boden hatte.
Gerade weil Stella und er mit einer kleineren Unterbrechung seit über einem Jahr eine Art Beziehung führten, wusste er, dass ihr in dieser Hinsicht einiges zuzutrauen war. Doch noch bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, brummte es in seiner Tasche, und ein lautes Ping ertönte.
Viktor zog sein Diensthandy hervor.
Neue Nachricht von Ken, war auf dem Bildschirm zu lesen.
Während Stella einen neuen Knochen aus dem Tank holte, rief er die Anwendung auf, und Kens Nachricht öffnete sich:
Hey Püppi, gerade kam ein Anruf von KTI/Reimer. Du hattest wohl recht mit deinem Griechischen Feuer, sagt er. Die chemische Zusammensetzung passt zu irgendwelchen alten Rezepturen. Er faselte was von Lieber Ignatz, oder so. Wie ich dich kenne, sagt dir das doch bestimmt was.
Viktor lächelte still in sich hinein. Der Liber Ignium war ein mittelalterliches Buch über den Einsatz von Feuer als Kampfmittel. Ein Potpourri noch älterer arabischer Texte, so jedenfalls der Vortrag eines Historikers in der Urania, an den er sich noch gut erinnerte. In dem Text fanden sich in der Tat Anweisungen zur Herstellung des Griechischen Feuers, und zwar aus solchen Zutaten, die – zur Zeit seines Erscheinens – im Mittelmeerraum schon zur Verfügung standen. Dem Täter musste dieser Umstand wichtig gewesen sein, dachte Viktor und scrollte weiter nach unten.
Erinnerst du dich noch an dieses Flammenwerfer-Dingsda?, schrieb Ken weiter. Als sie es vom Tatort entfernt haben, haben sie so eine Art Inschrift auf der Unterseite gefunden. Ich schick dir ein Foto. Vielleicht fällt dir dazu ja auch was ein. Wie sieht’s bei euch aus? Hat Stella die arme Sau schon identifiziert, oder bläst sie dir erst mal einen?
Kopfschüttelnd tippte Viktor das Bild an, das Ken ihm geschickt hatte.
Die Inschrift, von der sein Kollege schrieb, war mit einzelnen Schlägen eines spitzen Werkzeugs in die Unterseite gestanzt worden. In simpler, aber sorgfältiger Handarbeit hatte der Konstrukteur des Flammenwerfers dort eine Folge römischer Ziffern eingeschlagen, die er nun halblaut ablas: »I, XIV, XXXVII–XLII.«
»Was murmelst du da?«, fragte Stella neugierig, während sie gerade den Schädel des Opfers platzierte.
Er hielt ihr das Handy vor die Augen. »Das ist in den Boden des Tötungswerkzeugs graviert.«
»Ein Zahlencode?«, fragte sie.
Viktor zog die Schultern hoch. »Tja. Auf jeden Fall mittelalterliche Schreibweise. Zu Zeiten des Römischen Weltreiches hätte man die Zahl 42 als XXXXII geschrieben.«
»Rrrrr«, schnurrte Stella wohlig. »Derartige Beweise deiner Bildung fachen doch immer wieder meine Libido an. Hast du heute Abend schon was vor?«
Die Tatsache, dass ihr Assistent sie jetzt mit kaum verhohlener Fassungslosigkeit anstarrte, schien sie nicht zu interessieren, falls sie es denn überhaupt bemerkte. Viktor beschloss, dass es das Beste war, ihre Frage für den Moment einfach zu ignorieren.
»Gibt es schon irgendwelche Erkenntnisse, die uns bei der Identifizierung helfen könnten?«, fragte er stattdessen zurück.
Stella trat wieder an den Tisch, wo nun das vollständige Skelett auslag. »Hm … Also womit ich nicht dienen kann, ist eine sinnvolle Eingrenzung des Todeszeitpunkts. Bei derart starker Verbrennung des Gewebes gibt es keine Leichenflecken, keine Leichenstarre, keine Körperresttemperatur und auch kaum noch etwas, das verwesen könnte. Da seid ihr also auf andere Erkenntnisquellen angewiesen.«
»Schade«, sagte Viktor. »Gibt es denn sonst irgendwelche Hinweise, die du mit uns teilen kannst?«
»Nun, dass es ein männliches Individuum ist, haben ja bereits die Weichteilfunde verraten.«
Während Viktor sich schmerzergriffen an die verkohlten Fortpflanzungsorgane des Opfers erinnerte, ging Stella zur »Einbauküche«, wie Viktor sie im Stillen getauft hatte. Sie bestand aus einer langen Flucht von Schränken und Arbeitsflächen an der Kopfseite der Sektionstische unter den hochgelegenen Fenstern. Sie nahm ein Maßband aus einer Schublade und legte es an den rechten Oberarmknochen der Leiche.
»Etwa achtunddreißig Zentimeter«, sagte sie. »Multipliziert mit fünf ergibt das eine ungefähre Körpergröße von eins neunzig. Dabei wäre allerdings zu berücksichtigen, dass die Hitze die Knochen zumindest teilweise schrumpfen lässt.«
»Ein großer Kerl«, staunte Viktor und fragte sich, wie der Täter ihn wohl überwältigt haben mochte.
Stella schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Und mit einem breiten Kreuz gesegnet. Würde mich nicht wundern, wenn die Knochendichtebestimmung eine gut ausgeprägte Rückenmuskulatur ergibt.«
»Also eher ein Arbeiter?«, fragte Viktor.
»Oder ein ehemaliger Leistungssportler. Ein Schwimmer zum Beispiel.«
»Kannst du auch was zum Alter sagen?«
»Nicht ganz einfach, angesichts der Schädigung durch die Verbrennungshitze, aber wenn ich mir die bereits weit fortgeschrittene Verknöcherung der Symphyse und der Verbindungen zwischen Rippen und Sternum anschaue, würde ich tippen, dass er mindestens fünfzig war, wahrscheinlich sogar noch deutlich älter. Genaueres kann ich auch erst nach der Bestimmung der Knochendichte sagen.«
»Hm«, brummte Viktor. »Also ein großer, kräftiger Mann, der die besten Jahre hinter sich hat.«
»Mit einem liebevoll gepflegten Gebiss. So eine aufwendige Mischung aus Keramik-Überkronung und Brücke, wie hier zwischen den beiden Prämolaren links unten … das zahlt keine Gesetzliche. Den Zahnstatus solltet ihr auf jeden Fall bei den Berliner Dentisten abklären lassen. Wer das hier gemacht hat, wird sich daran eventuell …«
Ein metallisches Kreischen ließ Stella innehalten. Alle wandten sich den Türflügeln des Haupteingangs der Sektionshalle zu, die gerade aufschwangen.
»Hallo.«
Begüm hatte die Hände tief in die Taschen ihres Mantels vergraben und stapfte jetzt an den drei leeren Sektionstischen vorbei auf sie zu.
»Begüm. Welch … Überraschung«, sagte Stella, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es keine angenehme.
»Tag«, murmelte Begüm, ohne einen von ihnen beiden anzuschauen.
»Ein wirklich schicker Zwirn«, sagte Stella mit einem ungläubigen Blick auf Begüms Aufzug. Auch Viktor war vom neuen Look seiner Kollegin überrascht … positiv überrascht. Der sandfarbene Hosenanzug mit blauer Bluse und dunkelbraunem Trench stand ihr mindestens so gut wie ihre früher nahezu angewachsene Lederjacke mit dem ebenso üblichen engen T-Shirt. Seinen verstohlenen Blicken auf die üppigen Wölbungen unter Begüms Jackett nach zu urteilen, schien auch der Assistenzarzt beeindruckt von ihrer Erscheinung.
Begüm musterte Stella misstrauisch, so als ob sie sich nicht sicher war, ob ihr Kompliment nicht ehrlich gemeint war. Viktor war geneigt, ihr zuzustimmen.
»Danke«, sagte Begüm schließlich und wandte ihre Aufmerksamkeit den aufgereihten Knochen zu. »Was haben wir hier?«
»Ein Skelett«, sagte Stella mit dem unschuldigsten Lächeln, dessen sie fähig war. Sofort zuckte Begüms Blick zu ihr zurück.
»Das ist der Tote aus der Eisfabrik«, erläuterte Viktor schnell, noch bevor Begüm zum Gegenangriff übergehen konnte. Egozentrische Industriellentochter und jüngster Spross einer türkischen Einwandererfamilie war eine schwierige Kombination, wie er wieder einmal bedauernd feststellen musste. Dabei hatten die beiden aus Viktors Sicht mehr als nur die Tatsache gemeinsam, dass sie als Frauen in Männerberufen reüssierten. Doch wie Ken bei anderer Gelegenheit bemerkt hatte, würde es eher Frost in der Hölle geben als Freundschaft zwischen diesen beiden Frauen.
»Ist er schon identifiziert?«, fragte Begüm.
»Nein«, antwortete Viktor. »Wir wissen bis jetzt nur, dass es ein kräftiger Mann über fünfzig war. Wohlsituiert, dem Gebiss nach zu urteilen. Stella meinte, da hat ein Zahnarzt ein Kabinettstückchen vollbracht. Eventuell kommen wir über den Zahnstatus an die Identität.«
»Hm, hm«, brummte Begüm, den Blick wieder auf den Toten gerichtet. »Klingt gut.«
»Freut mich, dass unsere Strategie deine Zustimmung findet«, warf Stella schnippisch ein.
Viktor seufzte innerlich. Offensichtlich war es illusionär, die beiden Raubkatzen dauerhaft voneinander zu trennen.
Doch Begüm schien sich zu Viktors Überraschung fürs Erste entschlossen zu haben, Stellas spitze Bemerkung zu ignorieren. Innerlich verneigte er sich wieder einmal vor Direktor Richter, der mit seiner Entscheidung, sie mittels Beförderung zur Führungskraft auch menschlich reifen zu lassen, offensichtlich recht behielt.
»Geht die Vermisstenanzeigen durch«, sagte sie zu Viktor. »Lasst an der Eisfabrik nach falsch oder dauergeparkten Fahrzeugen suchen und beschlagnahmt Bilder von Überwachungskameras in der Umgebung. Irgendwie muss er ja dahin gekommen sein.«
»Aye-Aye«, sagte Viktor, der genau das schon längst getan hatte, aber Begüms Elan nicht bremsen wollte.
»Na, die Führungskräfteseminare scheinen sich ja bereits tüchtig auszuzahlen«, sagte Stella mit nun unüberhörbar spöttischem Unterton.
»Hast du ein Problem damit, dass ich diese Kommission jetzt leite?«, schnappte Begüm zurück.
»Warum sollte ich?«, fragte Stella achselzuckend. »Wenn Richter seine Führungsposten jetzt nach Minderheitenquote vergibt, ist das schließlich allein seine Sache.«
Für einen Moment schienen sich die Blicke der beiden Frauen ineinander verhakt zu haben. Hätte Viktor so etwas wie Gelassenheitszauberpuder besessen, er hätte ihn am Liebsten pfundweise verstreut.
»Ach, fickt euch doch ins Knie«, sagte Begüm, drehte sich um und stapfte zurück in Richtung Eingang. Stella blickte ihr mit unverhohlener Befriedigung hinterher.
In den Augenblicken, die Viktor brauchte, um sich von seiner Sprachlosigkeit zu erholen, hatte sie bereits die Halle durchquert.
»Hey, warte doch«, rief er endlich.
Mit hastigen Schritten eilte er ihr an den drei leeren Sektionstischen vorbei hinterher und streckte die Arme in Richtung Schwingtür aus, die sich schon wieder hinter seiner Kollegin geschlossen hatte. Erst als die Flügel sich erneut – und diesmal in seine Richtung – öffneten, sah er das Unglück auf sich zukommen. Ein Sektionsassistent schob eine fahrbare Trage mitsamt Leiche darauf in den Saal.
Das laute »Stopp!« des Mannes kam zu spät. Mit voller Wucht prallte Viktor gegen die Trage, wodurch Letztere scheppernd zur Seite kippte und der darauf befindliche Leichnam mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlug.
»Autsch.« Viktor rieb sich den schmerzenden Oberschenkel.
Während ihn der Sektionsassistent mit einer Kaskade wilder Flüche bedachte, konnte er hinter sich schon Stella und ihren Assistenzarzt herbeieilen hören.
»Jetzt stehen Sie da halt nicht so dumm rum, sondern helfen Sie mir gefälligst, ihn wieder aufzuladen«, schimpfte der Mann, während er mühsam die fahrbare Trage wieder aufstellte.
»Selbstverständlich«, murmelte Viktor peinlich berührt.
Mittlerweile waren auch Stella und der Assistenzarzt bei ihnen angekommen.
»Sie an den Schultern, ich am Kopf und Sie am Hinterteil«, dirigierte der Sektionsassistent Viktor und den Assistenzarzt.
»Und zieht euch um Gottes willen die an!«, rief Stella und hielt ihnen eine Box Einmalhandschuhe hin.
»Meine Güte«, murmelte Viktor mit einem Blick auf den Toten, während er die Handschuhe überstreifte. »Was ist denn mit dem passiert?«
»Wespen«, sagte der Sektionsassistent. »Da war wohl ein ganzes Nest in seiner Gartenlaube.«
»Ein Wespennest? Im Winter?«, fragte Viktor. Vorsichtig schob er seine Hände unter die Schultern der Leiche, dessen Gesicht tatsächlich extrem verunstaltet war.
Der Sektionsassistent zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie Hauptkommissar Bartkowiak«, sagte er knapp.
Viktor kannte den Leiter der dritten Mordkommission nur allzu gut, immerhin hatte der Mann ihn selbst einmal unter Mordverdacht festgenommen. Kein wirklich sympathischer Kerl, aber ein hartnäckiger Ermittler.
Fünf Minuten später stand Viktor auf dem Parkplatz vor dem rechtsmedizinischen Institut und atmete fast genüsslich die kalte Luft ein. Begüm war längst verschwunden, und unter ihrer Handynummer meldete sich nur die Mailbox. Er hatte keine Nachricht hinterlassen. Was hätte er ihr auch sagen sollen. Nicht Viktor war ihr Problem, sondern Stella.
Vielleicht sollte er Stella deswegen zur Rede stellen. Nein, er würde sie deswegen zur Rede stellen. Allerdings waren sie erst für den nächsten Tag wieder verabredet. Er schaute auf die Uhr. Auch wenn die Abenddämmerung bereits heranbrach, war es noch eindeutig zu früh, den Dienst für heute zu beschließen. Im Büro erwarteten ihn immerhin ein warmer Kaffee und vielleicht sein Kollege.
Also ging er zum Dienstwagen hinüber und fischte den Schlüssel aus der Hosentasche.
Da hörte er Schritte.
Hinter ihm.
Das schnelle Klacken der Absätze verhieß nichts Gutes.
»Herr von Puppe?«
Viktor seufzte. Die Stimme war ihm leider nur allzu gut bekannt.
»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«
Der Mann in der Tür war vielleicht Anfang fünfzig, tat aber alles Ersichtliche dafür, um jünger zu wirken, vom gleichmäßig gebräunten Teint bis zum sorgsam in Form geföhnten Seitenscheitel. Hätte er nicht das klassische Kollarhemd eines Priesters getragen, man hätte ihn für ein in die Jahre gekommenes Model halten können. Ein Wolfgang Joop im katholischen Ornat.
»Kriminalpolizei«, sagte Ken. »Ich bin Oberkommissar Kenji Tokugawa, und das hier ist mein Kollege Oberkommissar Viktor Puppe. Können wir mal kurz reinkommen?«
»Kriminalpolizei?« Das angeknitterte Priestermodel zog die sorgsam frisierten Augenbrauen zusammen. »Worum geht es denn? Ist irgendwas passiert?«
»Hier steht der Name von Konrad Bürmeyer«, sagte Ken und wies auf das Klingelschild. »Sie sind aber nicht Konrad Bürmeyer.«
»Nein. Selbstverständlich nicht«, lautete die indignierte Antwort.
»Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier tun?«, fragte Ken scharf.
Die Gesichtsfarbe des Mannes wurde einen Ton dunkler, doch abgesehen davon hatte er sich gut im Griff.
»Kommen Sie doch erst mal herein«, sagte er mit steinerner Miene und trat zur Seite.
Viktor und Ken gingen an ihm vorbei in das Haus, eine Jahrhundertwendevilla mit einem verschwenderisch großen Grundstück. Hier in Dahlem würde man für ein solches Objekt einen höheren einstelligen Millionenbetrag hinblättern müssen. Erst jetzt fiel Viktor auf, dass das schmale Fenster neben der Tür aus farbigen Glasfragmenten bestand, fast wie das einer Kirche. Der Boden des Flurs war mit schwarzweiß karierten Granitfliesen ausgelegt, ähnlich wie die Küche von Villa Puppe auf Schwanenwerder.
Auch wenn das Gebäude deutlich kleiner war, kam Viktor die Atmosphäre nur allzu bekannt vor. Von den düsteren Eichenmöbeln in dem riesigen Wohnzimmer, in das sie nun geleitet wurden, bis zu den mächtigen Ledercouches, auf denen sie sich schließlich niederließen, atmete alles althergebrachte Berliner Großbürgerlichkeit. Das Biotop seiner Kindheit. Doch was ihm früher Geborgenheit bedeutet hatte, fühlte sich mittlerweile eher nach muffiger Enge an.
Aber das Ambiente entsprach seinen Erwartungen. Die Brandleiche in der alten Eisfabrik hatte sich als hoher katholischer Würdenträger entpuppt. Das unweit von der Eishalle geparkte Auto des Opfers und der Zahnstatus hatten die Identifizierung beschleunigt und die Oberkommissare nun zu dieser Dienstwohnung geführt.
»Mein Name ist Joachim Niebuhr. Ich bin der persönliche Sekretär von Herrn Kardinal Doktor Bürmeyer«, begann ihr Gesprächspartner würdevoll. »Und nun würde ich wirklich gerne wissen, was es mit Ihrem Besuch auf sich hat, meine Herren. Hat es mit meiner Vermisstenanzeige zu seiner Eminenz zu tun? Hat man ihn endlich gefunden? Ist ihm etwas geschehen?«
Seine Mimik verriet keine Regung, aber eine schwellende Ader in der Mitte seiner Stirn zeigte die innere Anspannung des Mannes. Ken und Viktor tauschten einen kurzen Blick aus. Sie hatten vorher verabredet, dass Ken die Initiative übernehmen sollte. Mit seinem exotischen Habitus sorgte er in solch konservativen Kreisen regelmäßig für Unbehagen. Und ein gewisses Unbehagen auf Seiten des Befragten war eine gute Basis für eine erste Befragung.
»Herr Niebuhr«, begann Ken also mit dem Unausweichlichen. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Herr Bürmeyer aller Wahrscheinlichkeit nach einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Seine Leiche wurde vorgestern in der alten Eisfabrik an der Köpenicker Straße in Mitte gefunden. Wie sich jetzt herausgestellt hat, stand dort in der Nähe auch sein Wagen vor einer Hauseinfahrt geparkt.«
»Oh, mein Gott«, keuchte Niebuhr, der nun plötzlich so kreidebleich wurde, dass man es sogar im Dämmerlicht des Wohnzimmers erkennen konnte. Er schlug die Hände vors Gesicht. »Ist … weiß man … aber«, stammelte er und brach dann ab.
Sah er da sogar Tränen in Niebuhrs Augen? Viktor war sich nicht ganz sicher.
»Herr Niebuhr, Sie haben den Toten laut Protokoll der Kollegen vom Abschnitt 45 am Freitagnachmittag vergangener Woche vermisst gemeldet, also vor vier Tagen. Ist das richtig?«
Niebuhr schwieg, den Blick auf den Boden gerichtet, die Kiefer in ständiger Mahlbewegung. Offensichtlich hatte er Ken gar nicht gehört.
»Herr Niebuhr?«
»Was?« Der Angesprochene blickte auf.
»Haben Sie Herrn Bürmeyer letzten Freitag vermisst gemeldet?«, wiederholte Ken.
»Äh … ja. Das stimmt. Er war Donnerstagabend nicht wie geplant von einer Tagung zurückgekehrt. Da habe ich mir Sorgen gemacht.«
»Kam es manchmal vor, dass er solche Dienstreisen unangekündigt verlängerte? Vielleicht hat er ja noch einen freien Tag drangehängt«, mischte Viktor sich ein.