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Die Flitterwochen in Linz hat sich das frisch vermählte Paar aus Deutschland wahrlich anders vorgestellt: Zuerst finden die beiden eine menschliche Hand im Safe ihrer Honeymoon-Suite in St. Magdalena, dann entdecken sie im Riesenrad auf dem Urfahraner Markt einen toten Geschäftsmann aus Wels. Chefinspektorin Diana J. Pölz und Carlos See ermitteln zwischen Schießbuden, Bierseidln und Kokosbusserln.
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Seitenzahl: 397
Kurzbeschreibung: Die Flitterwochen in Linz hat sich das frisch vermählte Paar aus Deutschland wahrlich anders vorgestellt: Zuerst finden die beiden eine menschliche Hand im Safe ihrer Honeymoon-Suite in St. Magdalena, dann entdecken sie im Riesenrad auf dem Urfahraner Markt einen toten Geschäftsmann aus Wels. Chefinspektorin Diana J. Pölz und Carlos See ermitteln zwischen Schießbuden, Bierseidln und Kokosbusserln.
Sophia Scheer
Der Tote am Urfahraner Markt
Der dritte Fall für Kommissarin Pölz
Kriminalroman
Edel Elements
Edel Elements
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ISBN: 978-3-96215-473-8
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Sophia Scheer hat als Juristin Verhandlungen in aller Welt geführt und arbeitet nun als Verhandlungstrainerin, Vortragende und Autorin. Mehrere ihrer historischen England-Romane unter dem Pseudonym Sophia Farago landeten auf der Bestsellerliste. Als begeisterte Linzerin hat sie ihre Heimat Oberösterreich bereits in »Alles Tote kommt von oben«, »Bis die Fetzen fliegen« und der Geschichte »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat drei« in der Anthologie »Mordsbescherung 2« in den Mittelpunkt ihrer originellen Krimis gerückt und wird das mit mörderischem Vergnügen auch weiterhin tun. www.sophias-romane.at
Nein, nein, der Urfahraner Markt ist alles andere als mörderisch. Er ist höchst lebendig, bunt und vielfältig. Und darum sind die Geschichte und alle Personen, die darin vorkommen, auch frei erfunden. Sollte sich jemand wiedererkennen oder gar meinen, er sei Rudolf Saxenpichler - mein aufrichtiges Beileid!
Im Jahr 1817 erteilte Franz I.,
von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich,
der unterthänigsten Ortsgemeinde Ufer Linz das Recht,
das Jahr hindurch zwey Mal Jahrmärkte abzuhalten.
Aus dem kaiserlichen Dekret
Die Frage ist die: Hätte der fesche Fritz von den »Fidelen Mühlviertler Spitzbuam« auch so ungeniert mit der Brünetten am ersten Biertisch vor der Bühne zu flirten versucht, hätte er gewusst, dass sie eine knappe Stunde später einen besonders grausamen Mord begehen wird? Dass sie mit einem scharfen japanischen Küchenmesser das Rückenmark der alten Huberta Hauzenberger so gekonnt durchtrennt, dass der Gerichtsmediziner später in seinem Bericht vermerken wird, da müsse ein absoluter Profi am Werk gewesen sein?
An diesem Abend Anfang September stand der fesche Fritz nichts ahnend und breitbeinig auf der Bühne des größten Bierzelts des Urfahraner Jahrmarkts und sang mit Schmalz und dem, was er für sein Gefühl für Rock ’n’ Roll hielt, »Sweet little Rehlein«. Wie sein Vorbild Andreas Gabalier trugen er und die anderen drei »Fidelen« rot-weiß karierte Halstücher zu weißen T-Shirts und ließen den Latz ihrer aufwendig bestickten ledernen Kniebundhosen nach unten baumeln. Fritz hätte sich auch gern die Haare mit Gel zu einer Elvis-Tolle frisiert, hatte aber schweren Herzens einsehen müssen, dass das bei einer Glatze unmöglich war.
»So a liabes Rehlein, mit himmelblauen Augen«, sang er gerade und sah der Brünetten tief in ihre braunen, während der Ferdl neben ihm seine Ziehharmonika nach allen Regeln der Kunst auseinanderzog und wieder zusammenquetschte, »hob i übahaupt no gor nie gsehn. Du host mi anglocht...«
Er wünschte sich, die Brünette würde ihn auch endlich anlachen, doch stattdessen zog sie nur eine Augenbraue hoch und trank ihr Weinglas in einem Zug leer.
Sweet little Rehlein, so ein Schmarrn, dachte sie dabei abschätzig und wandte sich an ihre Freundin zur Rechten: »Wie viele Rehlein haben wohl für dem seine Hose ihr Leben lassen müssen?«
Die überlegte nur kurz und sagte dann: »Höchstwahrscheinlich gar keines. Die schaut doch ohnehin aus wie ein billiges Imitat aus China.«
Das Lied war verklungen, Applaus brandete auf. Die Brünette schaute in die Runde und stellte fest, dass sich ihre fünf Freundinnen tatsächlich zu amüsieren schienen. Sie hatten beim Refrain mitgesungen, und nun klatschten sie aus Leibeskräften und stimmten in den grölenden Chor derer ein, die »No amal!« riefen.
Doch während sich die anderen Musiker aus ihren Biergläsern stärkten, war der Fritz nicht bereit zu singen, denn jetzt stand erst einmal ein Witz auf dem Programm. »Weil heut so viel holde Weiblichkeit bei uns ist, muss ich euch etwas erzählen. Da sitze ich neulich bei meinem Lieblingsitaliener, kommt eine Blondine herein und bestellt sich eine Pizza. ›Bitte aufgeschnitten‹, sagt sie zum Kellner. ›Gern, in sechs oder in acht Teile?‹, fragt der. Darauf sie: ›In sechs, weil acht sind mir am Abend zu viel.‹«
Obwohl er den Witz sicher schon mehr als hundert Mal zum Besten gegeben hatte, tat er so, als würde er sich dabei königlich amüsieren, und klopfte sich begeistert auf seine ledernen Oberschenkel. Seine Kollegen an den Instrumenten hatten die Gläser wieder weggestellt und spielten nun einen Tusch, damit ja alle Gäste im gerammelt vollen Zelt wussten, dass sie jetzt zu lachen und zu klatschen hatten. Die Freundinnen der Brünetten brauchten keine solche Ermunterung. Zuerst hatten sie sich das eine oder andere Bier zum Grillhuhn genehmigt und waren mittlerweile längst bei der dritten Flasche Grüner Veltliner angelangt. Sie klatschten, dass die Bettelarmbänder rasselten und die Brüste in den tief ausgeschnittenen, engen Dirndlkleidern im Takt mitwippten.
»Mir ist das zu blöd«, unterbrach die Brünette das allgemeine Gelächter. Sie trug an diesem Abend als Einzige Bluejeans und eine knallgelbe Bluse, eine für sie eher ungewöhnliche Wahl. Die obersten Knöpfe der Bluse standen offen und gaben den Blick auf ein Dekolleté frei, von dem der fesche Fritz sich wünschte, er könnte nicht nur seine Blicke darin versenken.
Die mollige Freundin, die der Brünetten am Tisch gegenübersaß, sah sie mit großen Augen an. »Aber was hast du denn? Warum regst du dich so auf? Du bist doch eh keine Blondine!«
»Nein, aber ich bin müde. Und mir ist nicht mehr nach diesem lauten Hum-ta-ta.« Sie stand auf und griff zur Handtasche und der weißen Plastiktüte, die neben ihr auf der Bierbank lagen. »Ich geh nach Hause, Mädels. Morgen muss ich wieder früh raus.«
Der allgemeine Protest folgte umgehend.
»Jetzt sei doch keine Spielverderberin und setz dich wieder nieder. Ich habe grad eine Runde Prosecco für uns alle geordert«, sagte die hagere Blondine neben ihr und zog sie auf die Bank zurück. »Du wirst mich doch nicht hängen lassen!«
»Danke, Ingrid«, versuchte die Brünette es abermals und wollte sich aus dem festen Griff ihrer Freundin befreien, »aber ich habe eh schon mehr intus, als ich vertrage.«
»Ein Glaserl geht immer noch«, beharrte Ingrid. »Ist ja nur Prosecco, also kein Alkohol im eigentlichen Sinn.«
»Recht hat sie!«, rief die Mollige von gegenüber, die jetzt, zu fortgeschrittener Stunde, die am wenigsten Nüchterne war. »Fräulein, eine Runde Vogelbeerschnaps! Und für die Musiker gleich noch eine dazu! So jung kommen wir nicht mehr zusammen.«
Die anderen begannen, sich quer über den Tisch darüber zu unterhalten, welcher der Musiker am meisten Sex-Appeal hatte, und die Brünette amüsierte sich nun doch über ihren Eifer.
»Siehst du, jetzt musst du selbst lachen«, stellte Ingrid zufrieden fest. »Also verdirb uns nicht die Gaudi und bleib da. Auf dich wartet daheim doch ohnehin keiner.«
Die Brünette seufzte und ergab sich ihrem Schicksal. So oft sah sie ihre Freundinnen ja wirklich nicht. Wenn die anderen sich nach Feierabend trafen, musste sie meistens arbeiten. Warum sollte sie sich nicht auch einmal vergnügen? Und es stimmte ja auch, was Ingrid gesagt hatte: Zu Hause wartete niemand auf sie, nur der Hund. Und der würde es überleben, wenn er sein Fressen ausnahmsweise einmal etwas später bekam. Im Stillen beschloss sie, auf dem Heimweg die viel befahrene Freistädter Straße zu meiden. Denn dort standen die Polizisten gern in Scharen und kontrollierten die Besucher des Urfahraner Markts, die sich auf dem Weg nach Hause befanden. Nein, sie würde sich langsam quer durch die Wohngebiete schlängeln und dann die kleine Straße durch den Wald hinauf nach St. Magdalena nehmen. Mit diesem Plan dürften ein Glas Prosecco und der Schnaps hoffentlich wirklich kein Problem sein.
Huberta Hauzenberger trug ein wadenlanges schwarzes Kleidungsstück, das sie gern »meinen praktischen Staubmantel« nannte und das ihr bereits gute Dienste geleistet hatte, als sie noch als selbstständige Hebamme zu Hausbesuchen unterwegs war. Dass das nun schon gut zehn Jahre nicht mehr der Fall war und der Mantel fadenscheinige Stellen aufwies, störte sie nicht. Ihre braun gefärbten Haare waren wie immer am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefasst, und weil ihr Unordnung jeder Art auf das Höchste zuwider war, hatte sie den Knoten mit einem Haarnetz bedeckt. Haarnetze wie dieses waren heutzutage nur mehr schwer zu bekommen, und darum hatte sie sich, als sie eine Lieferquelle im Internet entdeckte, gleich ein ganzes Lager davon angelegt. Sie liebte das Internet, und sie liebte die Natur. Doch noch mehr liebte sie alte Rituale, deren Spuren auf die Kelten zurückgingen. Jahrtausendealt und hochmodern, das war für Huberta Hauzenberger kein Widerspruch.
Da sich bei ihren Touren mit dem Fahrrad immer wieder Insekten im Haarnetz verfingen und das penetrante Surren der dahinscheidenden Fliegen ihr mehrmals den letzten Nerv geraubt hatte, war sie dazu übergegangen, ein Kopftuch zu tragen. Sie besaß eines, das sie vor mehr als einem Jahr auf der Beerdigung ihres Nachbarn, des Sensenwirts, getragen hatte. Und weil sie nicht einsah, warum sie Geld für ein neues ausgeben sollte, war sie also an diesem Abend ganz in Schwarz gekleidet. Fast ganz in Schwarz. Ihre Wollstrümpfe und die knöchelhohen Stiefeletten waren anthrazitgrau.
Sie ging hinter das Haus und holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen. Ein kurzer prüfender Blick genügte, dann lehnte sie ihren Drahtesel mit einem unwilligen Schnaufen wieder an die Wand, stürmte ins Haus zurück und ließ die Holztür mit einem Knallen hinter sich zufallen. »Sigiii!«
Ihr Sohn Siegfried, seit ein paar Wochen dreiundvierzig Jahre alt, hatte es sich in der rustikal eingerichteten Wohnküche gemütlich gemacht. Er saß auf der hölzernen Eckbank, die Beine auf die Sitzfläche gelegt, auf den Ohren große Kopfhörer mit Musik, und drehte sich im Vertrauen darauf, dass seine Mutter längst zur Waldlichtung aufgebrochen war, in aller Seelenruhe einen Joint. Den verwaschenen, ehemals strahlend blauen Trainingsanzug mit den weißen Streifen an beiden Ärmeln und der Hosenseite hatte er in den neunziger Jahren zu Weihnachten bekommen und trug ihn immer noch gern. Bei Tag und auch in der Nacht. Untertags ergänzt von grau-orange-türkis changierenden Wollsocken, die ihm seine Mutter letztes Jahr gestrickt hatte. Vor ihm stand eine volle Flasche Bier. Den feuchten Kreisen auf der Tischplatte nach zu urteilen, war es nicht seine erste an diesem Abend.
Als er bemerkte, dass er sich nicht mehr allein in der Küche befand, beeilte er sich, den Joint hinter seinem Rücken zu verstecken, riss den Kopfhörer herunter und schnauzte ungehalten: »Hat man denn hier nie seine Ruh? Was ist denn jetzt schon wieder, Mama?«
»Frag doch nicht so blöd, wenn du es ohnehin genau weißt!«, keifte ihn seine Mutter an. »Und nimm die Füße von der Bank. Man lümmelt nicht unter dem Herrgottswinkel. Was ist mit dem kaputten Rücklicht an meinem Radl? Ich habe dich schon vor Tagen gebeten, es zu reparieren, aber es ist immer noch hin.«
Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, krümmte sich ihr groß gewachsener, hagerer Körper vor Schmerzen, ein gequältes »Au weh, geht das schon wieder los?« entrang sich ihrem Mund, und sie ließ sich auf einen der Stühle fallen.
Jetzt jammert sie schon wieder, dachte der Sigi angeödet und schob den Joint heimlich unter das mit Kreuzstich bestickte Kissen. Gut, dass er ihn noch nicht angezündet hatte. Ein schneller Blick streifte die in sich zusammengesunkene Gestalt seiner Mutter. Würde sie ihn denn nie in Ruhe lassen? Er konnte ihr doch ohnehin nicht helfen. Ihre Schmerzen interessierten ihn ebenso wenig wie ihr dummes Fahrrad. Doch er wusste, dass es nicht ratsam war, diese Gedanken laut auszusprechen, und so sagte er um des lieben Friedens willen nur: »Ja, ich weiß. Bin halt nicht dazu gekommen.«
»Als wenn du je etwas zu tun hättest!«, fuhr sie ihn an. Anscheinend hatten die Schmerzen schon wieder nachgelassen, denn sie richtete sich auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Du liegst doch ohnehin den ganzen Tag nur auf der faulen Haut und lebst von meiner Pension. Aber damit ist jetzt Schluss, das sag ich dir. Schau hinein ins Internet, da gibt es jede Menge freie Stellen. Sogar für solche Versager wie dich.«
Er blähte seine Wangen auf, die noch röter als bei ihm üblich geworden waren. »Also bitte, ich bin alles andere als ein Versager, Mama. Ich bin Künstler, und das weißt du genau. Ich habe ganz sicher keine Zeit für einen anderen Job.«
»Künstler, dass ich nicht lache!« Ihre Stimme klang schrill, ihr Auflachen hämisch. »Was willst du denn für ein Künstler sein? Faul in den Tag hineinzuleben ist doch keine Kunst.«
»Ich mache computerakustische Popmusik mit Himmelstönen«, sagte der Sigi und legte die Füße zurück auf die Bank, im Gesicht einen Ausdruck wie ein in die Jahre gekommener, trotziger Dreijähriger. »Aber davon verstehst du nichts. Im nächsten Herbst werden sie mich sicher einladen, damit beim ›Ars Electronica Festival‹ aufzutreten, wirst schon sehen.«
Sie lachte abermals auf und sagte dann spöttisch: »Dort werden sie auf dich gewartet haben.«
Er verstand die Ironie in ihren Worten nicht. »Ganz genau! Und jetzt schleich dich, Mama, und lass mich weiterarbeiten.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte er sich den Kopfhörer wieder auf die schüttere Haarpracht.
»Ruf die Bruni an, dass ich sie morgen am Nachmittag sprechen will«, wies ihn seine Mutter noch an und stand vom Stuhl auf. »Sag ihr, sie soll mit dem Auto kommen, ich will ihr etwas mitgeben. Und jetzt fahr ich halt in Gottes Namen ohne Licht hinaus in den Wald. Wenn mein Herr Sohn keine Zeit für die Bedürfnisse seiner alten Mutter hat, dann kann ich es auch nicht ändern.«
»Ja, Mama«, sagte dieser folgsam, wobei die Himmelstöne aus seinem Kopfhörer die irdischen seiner Mutter übertönten.
»Die beiden Warzen am linken Fuß sind schon wieder größer geworden, die gehören besprochen. Und vielleicht verschwindet das andere, was da so grauslich in mir zu wachsen begonnen hat, ja auch dadurch, wer weiß. In jedem Fall muss ich den Vollmond ausnutzen.«
»Ist schon recht«, sagte der Sigi und dachte an den Joint unter dem Kissen. Bald hatte er seine Ruhe. Gott sei Dank!
Dass diese Ruhe für immer sein würde, ahnte er freilich noch nicht. Sonst hätte er sich zur Feier des Tages doch glatt ein Glas zu seiner Bierflasche aus dem Schrank geholt.
Es stellte sich heraus, dass es doch keine so gute Idee gewesen war, für die Heimfahrt die schmale, wenig befahrene Straße durch den Wald zu nehmen. Die Brünette hatte schon seit einiger Zeit Probleme mit dem Sehen bei Nacht, und hier war es stockdunkel. Dicht stehende hohe Nadelbäume säumten die Fahrbahn zu beiden Seiten. Straßenlaternen, die ihr den Weg durch die Wohngegenden geleuchtet hatten, gab es in freier Natur nicht mehr. Bis vor wenigen Metern hatte sie sich noch an den weißen Holzpflöcken mit Rückstrahlern orientieren können, aber jetzt fehlten auch die. Sie traute sich nicht, schneller als Schritttempo zu fahren. In der Hoffnung, so ein wenig besser sehen zu können, lehnte sie sich weit nach vorne und kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Wo war denn nur die verflixte Straße? Ah, da! Sie machte eine scharfe Linkskurve. So, jetzt über die Kuppe, sehr gut. Da, eine lange Gerade. Die Frau atmete auf und ließ sich im Sitz zurückfallen. Endlich konnte sie die Straße besser überblicken. Sie wurde mutig, erhöhte die Geschwindigkeit wieder, schaltete in den dritten Gang. Und in den vierten. Jetzt nur noch ...
Der Aufprall war so heftig und kam so unerwartet, dass sie, ohne nachzudenken, reflexartig das Richtige tat. Sie sprang mit beiden Füßen und voller Kraft aufs Bremspedal. Der Wagen kam nach wenigen Metern abrupt zum Stillstand, und der Airbag öffnete sich mit einem so lauten Knall, dass sie vor Schreck alles rund um sich vergaß. Vor allem aber verhinderte er, dass sie mit voller Wucht gegen das Lenkrad geschleudert wurde. Einige Augenblicke lang saß sie regungslos da, den Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Sitzlehne gedrückt. Im Wagen war es wieder vollkommen still. Allerdings waren ihre Ohren durch den Knall so in Mitleidenschaft gezogen worden, dass sie bestimmt noch einige Zeit lang Mühe haben würde, gut zu hören. Der Steg ihrer Brille drückte unangenehm gegen die Nase. Ihre Finger betasteten eine Stelle an der rechten Wange. Sie fühlte sich an, als wäre sie verbrannt. Aufstöhnend lehnte sie sich wieder nach vorne, nahm die Brille ab und überprüfte die Gläser. Sie hatten nicht einen einzigen Kratzer abbekommen, obwohl das Gestell leicht verbogen war.
Ein Reh, dachte die Brünette benommen. Das musste ein Reh gewesen sein. Ein sweet little Rehlein! Energisch wies sie sich selbst zurecht. So ein Unsinn! Die Lieder, die ihr immer noch in den Ohren dröhnten, machten sie noch ganz verrückt. Es konnte genauso gut ein Hirsch gewesen sein. Aber wie käme ein Hirsch ins Linzer Stadtgebiet? Der Wald war doch viel zu klein, um scheuen Wildtieren geeigneten Unterschlupf zu bieten. Und warum hatte sie das Tier nicht gesehen? Wieso hatte sie bloß den Weg durch den Wald nehmen müssen? Die Ingrid mit ihrem depperten Prosecco! Wäre sie doch nur die Freistädter Straße gefahren! War sie verletzt?
Sie betastete noch einmal das Gesicht und diesmal auch den Nacken. Sie schien den Unfall unbeschadet überstanden zu haben. Gott sei Dank! Dann warf sie einen prüfenden Blick an sich hinunter. Au, jetzt tat der Nacken doch weh.
Hoffentlich habe ich kein Schleudertrauma, fuhr es ihr durch den Kopf. Sollte sie das zur Sicherheit im Spital abklären lassen? Besser nicht. Dort würde man nur feststellen, dass sie zu viele Promille Alkohol im Blut hatte, um Auto zu fahren.
Vorsichtig bewegte sie die Füße und ließ die Hände kreisen. Das Aufseufzen kam aus tiefstem Herzen. Keine Verletzung. Nur der Atem ging noch immer schnell, und das Herz raste. Die Arme schmerzten und fühlten sich schwer an. Aber das kannte sie. Das war ganz normal, wenn sie sich erschreckte und das Adrenalin ihre Blutbahn überschwemmte. Sie brauchte dringend frische Luft.
Sie drehte den Zündschlüssel einmal um und ließ das Fenster hinunter. Ah, schon besser! Was sollte sie jetzt tun? Weiterfahren, das war ihr erster und einziger Impuls. So schnell wie möglich nach Hause kommen, sich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und so tun, als wäre nichts geschehen. Wenn man morgen das Tier fand, würde niemand wissen, dass sie etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Sie kannte eine Werkstätte im Süden von Linz, da würde man keine unnötigen Fragen stellen und ihr Auto einfach reparieren.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn: Was, wenn das Reh nicht tot war? Gab es eigentlich so etwas wie eine Tierrettung? Und wenn ja, war sie verpflichtet, die anzurufen? Aber dann könnte sie gleich die Polizei holen, und das war das Letzte, was sie wollte. Nie mehr trinke ich Prosecco!, schwor sie sich im Stillen. Und Vogelbeerschnaps schon gar nicht. Der hatte ihr ohnehin noch nie geschmeckt, darum hatte sie das Zeug ja auch in einem Zug hinuntergeschüttet. Was war denn das schon wieder? Hatte da etwa jemand gerufen?
Sie schaute aus dem Seitenfenster, konnte aber nichts erkennen. Ein prüfender Blick durch die Windschutzscheibe: Die schmale Straße durch den Wald lag weiterhin ruhig und leer vor ihr. Und doch war sie sich sicher, etwas gehört zu haben. Das war ja richtig unheimlich! Sie spürte, wie ihr die Gänsehaut über den Rücken kroch und ihre Hände leicht zu zittern begannen. Nichts wie weg hier!
Aber konnte man mit einem offenen Airbag überhaupt fahren? Der weiße Sack lag schlaff auf ihren Oberschenkeln. Sie trat auf die Kupplung und drehte den Schlüssel im Zündschloss ein weiteres Mal um. Der Wagen sprang sofort an. Dankbar klopfte sie aufs Lenkrad. Gute japanische Wertarbeit. Erster Gang, ein Tritt aufs Gaspedal. Der Wagen rührte sich nicht vom Fleck. Sie verstärkte den Druck, doch das Auto fuhr keinen Millimeter weit.
»Herrschaftszeiten!«, fluchte sie und hatte Probleme, sich einzugestehen, dass anscheinend ein Hindernis vor ihrem rechten Vorderreifen lag. Etwas, das sie von ihrem Sitz aus nicht sehen konnte, das aber offensichtlich das Rad blockierte. Sie stellte den Motor wieder ab, löste den Gurt und griff zur Tür, um diese vorsichtig zu öffnen. Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Was, wenn das Reh doch nicht tot war? Wenn das waidwunde Tier sie angriff? Tiere in Todesangst waren unberechenbar, das wusste sie noch aus ihrer Ausbildungszeit. Sie griff zur weißen Plastiktüte, die auf dem Beifahrersitz lag, und entnahm ihr ein längliches minttürkisfarbenes Kunstlederetui.
Auf dem Urfahraner Markt gab es Zelte, in denen es allerhand Waren zu kaufen gab, nach denen man in den Geschäften der Innenstadt vergeblich suchte. Sie hatte ein schmales Küchenmesser erstanden, dessen tschechischer Verkäufer Stein und Bein schwor, es würde sich bei ihm um ein echtes japanisches Aogami handeln, also ein Messer aus Blaupapierstahl, das mit Chrom und Wolfram legiert wurde und so einen besonders hohen Härtegrad und enorme Robustheit aufwies.
»Hilfe!«, hörte sie in diesem Augenblick eine krächzende Stimme. »So helfen Sie mir doch endlich!«
Die Brünette atmete auf. Nach einem gefährlichen waidwunden Tier klang dieses Geräusch nicht. Sofort erschrak sie über ihre eigene Reaktion. War sie wahnsinnig geworden? Sie hatte offensichtlich einen Mann angefahren. Das war noch viel schlimmer als ein Tier! Aufseufzend stellte sie fest, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als nachzusehen, wer der Rufer war. Vielleicht hätte sie es geschafft, ein verwundetes Tier liegen zu lassen, aber bei einem Menschen kam das natürlich nicht in Frage. Allerdings war es in diesem Fall wohl ratsamer, das Messer zu ihrem Schutz mit in die Dunkelheit hinauszunehmen.
Ein weiterer Blick durch die Windschutzscheibe: Es war noch immer nichts zu sehen. Also atmete sie tief durch, nahm allen Mut zusammen und das Messer in die rechte Hand, öffnete die Fahrertür und trat ins Freie. Die Scheinwerfer hatte sie wohlweislich eingeschaltet gelassen, sodass sie den Grund, der sie am Weiterfahren hinderte, sofort sah. Ein völlig verbeultes Fahrrad lag mitten auf der Straße. Wahrscheinlich hatte das Auto es beim Bremsen mitgeschleift.
Aber wo um Himmels willen war der Mensch, der zu diesem Fahrrad gehörte? Sie spürte, wie ihr Herz noch rasender zu klopfen begann und sich Panik in ihrer Brust ausbreitete. Wo war der Mann? War er verletzt? Lauerte er ihr in der Dunkelheit auf, bereit, sich an ihr zu rächen? Hilfesuchend blickte sie sich um. Warum nur kam kein anderes Auto vorbei? Warum half ihr niemand? Sie musste von hier verschwinden! Je eher, desto besser.
Die Brünette legte das Messer ins Gras, um beide Hände frei zu haben. Mit der Kraft der Verzweiflung riss sie am verbeulten Fahrrad und schaffte es tatsächlich, das Hinterrad unter dem Reifen ihres Wagens herauszuziehen.
»Jetzt lassen Sie doch das blöde Radl liegen! Mir müssen Sie helfen!«, hörte sie da wieder die krächzende Stimme.
Die Brünette schleuderte das Rad in hohem Bogen in den Wald, schnappte sich ihr Messer und drehte sich um. Sie entdeckte eine gekrümmte Gestalt auf einer kleinen Wiese neben der Fahrbahn, etwa dreißig Meter vom Auto entfernt. Sie lag auf der Seite, die Hälfte des Gesichts vom Gras und einem schwarzen Stück Stoff verdeckt.
Langsam und zögerlich ging sie näher. »Hallo? Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie. »Sind Sie verletzt?«
Sie verharrte im Schritt, um die Antwort abzuwarten, und blinzelte. Ihr eigenes Gesicht wurde jetzt von den roten Rückscheinwerfern ihres Autos angestrahlt, während sich der Mensch auf der Wiese immer noch in völliger Dunkelheit befand.
»Glauben Sie vielleicht, ich liege hier freiwillig herum?«, antwortete die krächzende Stimme auch schon. »Sie haben mich über den Haufen gefahren, also fragen Sie nicht so blöd!«
Dann war es kurz still. Und während die Brünette beschloss, langsam näher zu gehen, und sich dabei den Kopf zerbrach, was sie tun sollte, sprach die Stimme auch schon weiter.
»Ach, du bist das?« Zur anfänglichen Entrüstung war nun noch Häme dazugekommen. »Das ist ja allerhand! Hätte ich mir ja denken können, dass sich das ausgschamte Luder so spät in der Nacht noch herumtreibt!«
Die Brünette verharrte abermals in der Bewegung und riss überrascht Augen und Mund auf. In der Wiese lag niemand anderes als Huberta Hauzenberger! Wäre sie nicht selbst vom Aufprall noch verwirrt und ihre Ohren vom Knall wie betäubt gewesen, hätte sie deren Stimme sicher viel früher erkannt.
»Ich hab damit gerechnet, dass ich deine Visage erst morgen wieder zu Gesicht bekomme«, setzte die Alte fort und versuchte vergeblich, sich aufzurichten. »Aber wenn du hier schon so blöd herumstehst, kann ich es dir auch gleich sagen: Meine Antwort heißt Nein und wird auch immer Nein bleiben. Jetzt erst recht, wo du mich umgefahren hast, du ...«
In diesem Augenblick wurde es auch der Brünetten erst bewusst: Sie hatte Huberta Hauzenberger angefahren. Ausgerechnet! Die Frau, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. Die, wenn man ihr so zuhörte, diesen Unfall nie und nimmer für sich behalten würde. Und das andere, worüber sie bisher glücklicherweise geschwiegen hatte, wohl auch nicht mehr. Morgen würde es ganz St. Magdalena wissen. Ach was, wahrscheinlich ganz Linz. Die Brünette spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Es waren Tränen der Hilflosigkeit, aber auch Tränen der Wut. Sie wollte gar nicht an die Konsequenzen denken, mit denen sie in der nächsten Zeit konfrontiert werden würde. Sie erwiderte kein Wort, doch ihr Griff um den Schaft des japanischen Messers verstärkte sich.
»Du Flittchen!«, beschimpfte die alte Frau sie auch schon weiter. »Weißt du was? Eines sage ich dir: Ich denk überhaupt nicht mehr daran, mich von deinem Gesülze einlullen zu lassen. Von wegen gute Beziehung zwischen uns beiden, dass ich nicht lache!« Wie zum Beweis gackerte die Stimme laut und bestätigte kurz darauf die schlimmsten Befürchtungen der Brünetten. »Ich habe lang genug geschwiegen. Damit ist jetzt Schluss. Und zwar ein für alle Mal.«
Die Hand der Jüngeren umfasste den Griff des Messers nun so fest, dass sich die kunstvollen Verzierungen in ihre Handfläche frästen und die Finger zu schmerzen begannen.
»Eine Hure bist du, eine elendigliche. Alle sollen das wissen. Und Auto fahren kannst du anscheinend auch nicht. Ich werde dafür sorgen, dass sie dir den Führerschein wegnehmen. Auf immer und ewig, das schwör ich dir!«
Die alte Frau lag noch immer auf der Seite, und auch ihre nächste Bemühung, sich aufzusetzen, scheiterte. Auf ein resigniertes Aufstöhnen folgte eine energische Handbewegung. »Komm endlich her zu mir, du dumme Nuss, und hilf mir aufl«
Die Brünette ging wunschgemäß einige Schritte näher. Fast wäre sie über die Wurzel eines Baumes gestolpert, die sie in der Wiese übersehen hatte. Nur mit Mühe konnte sie einen Sturz verhindern.
»Hauch mich einmal an!«, forderte die Alte. »Ich bin sicher, du hast gesoffen. Wie der Vater, so die Tochter. Na warte, das weiß morgen ganz Magdalena, und dann ...«
Die Brünette dachte nicht daran, sich vorzubeugen, um diesem Befehl nachzukommen. Dicht vor der dunklen Gestalt blieb sie stehen und blickte starr auf sie hinunter.
»Was glotzt du denn so? Hilf mir lieber auf, oder bist du auch dazu noch zu blöd?«
Die Brünette stand so nahe neben der Verletzten, dass sie mit den Spitzen der Schuhe ihre Hüfte berührte.
»Was ist? Hilfst du mir jetzt endlich, du Kindsmörderin, du elendigliche? Du siehst doch, dass ich mich nicht rühren kann.«
Zwar konnte sie sich nicht bewegen, doch das Mundwerk von Huberta Hauzenberger hatte beim Unfall ohne Zweifel keinen Schaden erlitten. Das war es, was der Brünetten Angst machte. So große Angst, dass es ihr die Kehle zuschnürte. So große Angst, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte als an die Finger, die ab morgen von allen Seiten auf sie zeigen würden. All ihre Bemühungen, all das Geld, das sie investiert hatte, alles wäre dann umsonst gewesen. Nein, dachte die Brünette und straffte die Schultern, nein, das lasse ich mir nicht nehmen. Von niemandem und schon gar nicht von ihr!
Als sie über den Körper der alten Frau hinwegstieg, blitzte der blanke Stahl in ihrer Hand im Licht der roten Rückscheinwerfer auf.
»Was willst du mit dem Messer?« Das Keifen in der betagten Stimme war dem Ausdruck von völligem Unverständnis gewichen.
Die Brünette antwortete nicht. Sie nahm das schwarze Stück Stoff, das halb auf und halb neben der Verletzten lag, und bedeckte damit deren Gesicht. In ihrer Ausbildung war das der Trick gewesen, mit dem man Anfängern die Skrupel nahm. Wer statt eines Gesichts nur ein lebloses Tuch vor sich sah, brachte es leichter über sich, das zu tun, was getan werden musste.
Energisch packte sie den Hals der Alten und drehte ihn so, dass sie den Nacken sehen konnte. Die faltige weiße Haut wurde in das warme Rot des Rückscheinwerfers getaucht.
Der Körper leistete im Gegensatz zum Mundwerk keine Gegenwehr. »Hör auf!«, kreischte die Alte. »Lass mich los! Was tust du denn da? Du wirst doch nicht ...! Deiner eigenen ...«
Die Brünette stach zu. Die Klinge drang direkt in die Halswirbelsäule ein und durchtrennte das Rückenmark wenige Millimeter über dem Atlas. Ein gerader Stich, von oben nach unten geführt. Als sie das Messer wieder aus dem Körper herauszog, bemerkte sie voller Stolz, dass kein Blut nach außen sickerte. Gelernt war eben gelernt.
Wie oft sollte sie sich in den nächsten Wochen und Monaten dafür verfluchen, in jener unseligen Nacht ihren Bruder zu Hilfe gerufen zu haben? Von all den Menschen, die sie kannte, ausgerechnet ihn. Und doch war die Wahl wohlüberlegt gewesen. So wie alles wohlüberlegt war, was sie tat, nachdem der erste Schreck darüber, dass sie tatsächlich einen Menschen auf dem Gewissen hatte, vorbei war. Einen Menschen, der nicht durch einen von ihr fahrlässig verursachten Unfall, sondern durch einen vorsätzlich ausgeführten Messerstich gestorben war. Das musste man als bisher unbescholtene und hoch angesehene Bürgerin dieses Landes erst einmal verkraften!
Kurz nach dem Mord agierte sie wie in Trance. Sie drehte die Tote auf den Rücken und zupfte das schwarze Kopftuch zurecht, damit es ordentlich und vollständig das Gesicht bedeckte. Anschließend kontrollierte sie den Puls, und als sie erwartungsgemäß keinen fühlte, dehnte sie die Ärmel des schwarzen Übergangsmantels so lang, dass die knochigen weißen Hände in ihnen verschwanden. So würde die Tote keine neugierigen Blicke eventuell Vorbeifahrender auf sich ziehen. Dann leerte sie mit raschen Griffen die Taschen des Mantels. Außer einem frisch gebügelten blau karierten Herrentaschentuch fand sie darin nur noch ein kleines braunes Medizinfläschchen. Sie ging zum Scheinwerfer ihres Wagens hinüber, hielt es gegen das Licht und erkannte, dass es mit einem Pulver gefüllt und originalversiegelt war. Laut Etikett handelte es sich um ein Mittel mit der Abkürzung NaP. Da der Beipackzettel fehlte, hatte sie keine Ahnung, wofür es verwendet wurde. Doch da sie die Gewohnheiten der Toten nur allzu gut kannte, vermutete sie, dass es sich um ein homöopathisches Mittel handelte. Die Bezeichnung Na könnte auf irgendetwas mit Salz hindeuten. Schulterzuckend und nicht wirklich interessiert steckte sie das Fläschchen in ihre Hosentasche.
Anschließend beeilte sie sich, in ihren Wagen zu steigen, ihn im Rückwärtsgang mit raschen Zügen zur kleinen Wiese zu lenken und am Straßenrand so abzustellen, dass der Körper der Toten für vorbeifahrende Autolenker nicht mehr sichtbar war. Sie stellte den Motor wieder ab und schaltete diesmal alle Lichter aus. Keinen Augenblick zu früh. Denn schon tauchten knapp hintereinander die Scheinwerfer zweier Fahrzeuge auf der Kuppe auf. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie zuerst im Rückspiegel und dann durch die Fenster, wie die beiden Autos langsam näher kamen und an ihr vorüberfuhren, um hinter der nächsten Kurve zu verschwinden. Die Brünette blies scharf die Luft aus und merkte, dass sie sich ans Lenkrad geklammert hatte.
Es ist alles in Ordnung, sprach sie sich Mut zu, während sie langsam ihre Finger löste. Niemand war stehen geblieben. Niemandem war etwas aufgefallen.
Sie lehnte sich im Sitz zurück und atmete tief durch. Ihr Blick fiel auf den laschen Sack des Airbags. Wie lange der Unfall schon wieder her zu sein schien! Stunden. Hatte sie anfangs wirklich gedacht, der kleine harmlose Zwischenfall wäre ihr derzeit größtes Problem? Wie schnell sich die Dinge doch ändern konnten. Von einer Sekunde auf die andere war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Die Brünette biss die Zähne zusammen. Es war nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so dachte. Energisch ermahnte sie sich, einen kühlen Kopf zu bewahren und mit wachem Verstand die Dinge zu regeln, die es in dieser neuen Situation zu regeln galt. In Selbstmitleid versinken konnte sie immer noch, wenn sie endlich zu Hause in ihrem Bett lag.
Es war ein verlockender Gedanke, die tote Frau einfach liegen zu lassen und das Weite zu suchen. Doch das wäre, wie sie sehr wohl wusste, der blanke Wahnsinn gewesen. Spätestens am nächsten Vormittag würde man die Leiche finden und alle Autos aus der Umgebung auf entsprechende Schäden überprüfen. Und bei einem toten Menschen hörte sicherlich auch für die Werkstatt im Linzer Süden der Spaß auf. Bestimmt würden die Mechaniker Verdacht schöpfen und die Polizei einschalten. Außerdem waren ihre Fingerabdrücke auf dem Tatwerkzeug. Das Messer! Durch die Brünette ging ein Ruck. Sie hatte das Aogami einfach fallen lassen, als sie den Puls überprüfen wollte. Um Himmels willen, es lag noch in der Wiese! Sie riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen.
Mit schnellen Schritten umkreiste sie den schwarzen Kleiderberg, der die Tote verbarg, und fand das Messer genau dort, wo sie es vermutet hatte. Unschlüssig hielt sie es in beiden Händen. Was sollte sie damit tun? Konnte sie riskieren, es in ihrer Küche zu verwenden? Klingen wie diese sollten nicht in der Spülmaschine gereinigt werden, da sie sonst Gefahr liefen, stumpf zu werden, das wusste sie. Aber konnte sie das Messer nur mit der Hand abwaschen? Nein, dabei würde sie sich doch allzu sehr ekeln. Sollte sich je die Spurensicherung für das japanische Werkzeug interessieren, dann durfte man keinesfalls Spuren von Blut darauf finden. Allerdings ging sie nicht davon aus, dass das je der Fall sein würde, denn sie war soeben dabei, alles zu regeln, damit man sie nie mit der toten Frau Hauzenberger in Verbindung bringen würde. Sie beschloss, eine einmalige Ausnahme zu machen und das Ding in der Maschine zu spülen und dann wie geplant zu benutzen. Andererseits würde sie das Messer immer wieder an den ... an das Ereignis erinnern, wann immer sie es in die Hand nahm. Wahrlich kein verlockender Gedanke. Huberta Hauzenberger hatte ihr Leben in der Vergangenheit viel zu stark bestimmt, und nichts wollte sie weniger, als ihr dies auch in der Zukunft zu gestatten. Aus dem Grab heraus quasi, wo immer das auch sein würde.
Das weiße Licht von Xenon-Scheinwerfern tauchte auf der Kuppe auf. Sofort hockte sich die Brünette neben die Tote nieder. Was, wenn das Auto anhielt und der Fahrer sie mit dem Tatwerkzeug in der Hand erwischte? Wie von selbst begann sie, das Messer in den Waldboden neben sich zu stecken. Der Humus war weich und noch leicht feucht vom Regen am Vortag. Die schmale, scharfe Klinge durchschnitt ihn wie zimmerwarme Butter. Dennoch atmete sie befreit auf, als das Auto weiterfuhr, ohne anzuhalten. Noch einmal zog sie das Messer heraus, weil ihr eingefallen war, dass man, sollte man es je finden, ihre Fingerabdrücke nicht entdecken durfte. Sie nahm das karierte Taschentuch der Toten, reinigte Klinge und Schaft damit so gründlich wie möglich und versenkte das Messer dann, penibel darauf bedacht, nicht noch einmal damit in Berührung zu kommen, wieder senkrecht im Waldboden.
Schade, das teure Ding hätte sie bei der Küchenarbeit gut brauchen können. Sie durfte nicht vergessen, ein neues zu kaufen, solange der Jahrmarkt noch in der Stadt war. Man wusste nie, ob nicht eine der Freundinnen, die beim Kauf dabei gewesen war, irgendwann einmal danach fragte.
Das Taschentuch um die rechte Hand gewickelt, machte sie sich daran, das Messer mit Erde zuzudecken und einige Blätter, die sie sammelte, darüberzustreuen. So würde das Tatwerkzeug nie gefunden werden. Und sollte sie wider Erwarten mit ihrer Annahme unrecht haben, würde niemand auf den Gedanken kommen, ihr das Messer zuzuordnen. Außerdem würde sie auch nie jemand des Mordes bezichtigen können, denn die Leiche würde auf keinen Fall im Wald liegen bleiben, sondern musste weg. Irgendwohin, wo sie lange Zeit unentdeckt blieb. Am besten für immer.
Die Donau fiel ihr ein. Ja, sie würde die Tote im Fluss verschwinden lassen. Doch dazu brauchte sie Hilfe. Allein schaffte sie das nicht. Der Gedanke, eine ihrer Freundinnen anzurufen, schien ihr selbst absurd. Die hatten in den letzten Stunden noch viel mehr Alkohol getankt als sie. Und was noch viel wichtiger war: Das waren allesamt Tratschweiber. Keine würde es schaffen, mehr als einen Tag über das, was sie gesehen hatte, den Mund zu halten. Da könnte sie die Tote gleich auf dem Linzer Hauptplatz aufbahren und sich danebenstellen.
Die Brünette lachte bitter auf. Nein, ein Mann musste her, und am besten einer, der Huberta Hauzenberger zu Lebzeiten genauso wenig hatte leiden können wie sie selbst. Ja, der sogar froh darüber war, dass sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Zudem musste dieser Jemand ein großes Fahrzeug besitzen, in dem sowohl der Leichnam als auch das verbeulte Fahrrad Platz hatte. Und er musste schweigen können.
Das waren also die wohldurchdachten Gründe, warum sie in dieser Nacht ausgerechnet ihren Bruder anrief. Zudem gab es etwas, was ihr gehörte und er unbedingt haben wollte. Damit konnte sie ihn ködern. Im letzten Jahr hatte es einen Tag gegeben, da hätte sie seine Handynummer beinahe aus ihren Smartphone-Kontakten gelöscht. Nun dankte sie Gott, es nicht getan zu haben.
Er meldete sich nach dem dritten Läuten.
»Ich gebe mich geschlagen. Du kannst ein Viertel haben«, sagte sie anstelle einer Begrüßung.
Er war hörbar überrumpelt, konnte sich aber seinen spöttischen Tonfall dennoch nicht verkneifen: »Sieh an, mein holdes Schwesterherz. Welch Ehre zu so später Stunde. Was hat dich denn zu diesem Sinneswandel –«
»Spar dir deine blöden Bemerkungen und stell vor allem jetzt keine Fragen. Ich brauche deine Hilfe, und zwar sofort!«
Wie so oft, nahm er ihre Worte nicht ernst: »Sofort passt mir leider gar nicht. Lass uns lieber morgen oder übermorgen in Ruhe –«
»Ich habe ... die alte Hauzenberger ... überfahren«, fiel sie ihm ins Wort. »Sie ist tot. Komm sofort, wir müssen sie wegschaffen.«
»Ist das dein Ernst?« Der Spott war ihm vergangen. »Aber wieso denn? Wie ist das –«
»Frag nicht so viel, das erkläre ich dir alles später. Jetzt schwing dich in deinen Kübel und fahr los. Wie lange brauchst du, um hier zu sein?«
»Das kommt darauf an, wo du bist.«
Sie beschrieb ihm die Stelle, und er erkannte das Waldstück.
»Du hast Glück, dass ich noch arbeite und nicht schon zu Hause im Bett liege. Es wird nicht allzu lange dauern. Rühr dich nicht vom Fleck.«
»Das habe ich nicht vor ... und ... und danke, dass du kommst«, antwortete sie, aber er hatte schon aufgelegt.
Vom tödlichen Stich hatte sie absichtlich nichts gesagt. Er musste nicht alles wissen.
Als er kam, riss er sofort das Kommando an sich. Seine Art ging ihr zwar auf die Nerven, aber sie hatte nichts anderes erwartet. »In die Donau?«, wiederholte er. »Bist du von allen guten Geistern verlassen? In weniger als zwei Tagen fischen sie sie beim Kraftwerk Abwinden-Asten aus dem Wasser. Da kannst du sie gleich hier liegen lassen.«
»Schrei nicht so«, fuhr sie ihn mit gedämpfter Stimme an.
»Sie hier liegen zu lassen wäre das Dümmste, was ich machen könnte. Sieh dir den Kotflügel von meinem Wagen an. Jeder Idiot könnte eins und eins zusammenzählen.«
»Was ist denn überhaupt passiert? Bist du beim Fahren eingeschlafen?«
Sie erzählte ihm alles, woran sie sich erinnern konnte, und schloss mit den Worten: »Ich habe sie wirklich nicht gesehen. Du weißt doch, dass ich nachtblind bin. Was kann ich denn dafür, wenn sie mit einem unbeleuchteten Fahrrad unterwegs ist? Ganz in Schwarz in der Nacht und noch dazu im Wald. Das ist doch unverantwortlich, oder etwa nicht?«
»Wie ich das sehe«, sagte er und klang dabei ruhig und überlegt, »handelt es sich um einen ganz normalen Unfall, an dem die alte Hauzenberger die Hauptschuld trägt. Du solltest ruhigen Gewissens die Polizei holen, dann könnten wir uns den ganzen Aufwand sparen.«
Die Polizei holen? Das waren ganz und gar nicht die Worte, die sie hören wollte. Kurz hegte sie die Befürchtung, ihm auch vom tödlichen Messerstich erzählen zu müssen, doch dann kam ihr zu ihrem Glück die rettende Idee. »Du vergisst, dass ich getrunken habe«, beeilte sie sich einzuwenden. »Ich habe sicher mehr als null Komma fünf Promille im Blut.«
Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Ach ja, richtig«, sagte er, schien aber dennoch nicht überzeugt. »Genau genommen ist das alles dein Problem. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich eigentlich keine Lust, mir die Hände schmutzig zu machen. Weder in echt noch im übertragenen Sinn.«
Sie seufzte laut auf. »Na gut, dann gebe ich dir eben die Hälfte.«
Er versuchte gar nicht, sein zufriedenes Grinsen zu verbergen. »Wie gut du mich kennst, Schwesterherz. Einverstanden. Aber vergiss dein Versprechen nicht, ich habe jetzt etwas gegen dich in der Hand.«
Er reichte ihr seine Rechte, und sie schlug ein, um den Deal zu besiegeln. Dann geschah etwas, was die Brünette überraschte. Ehe sie sich’s versah, zückte ihr Bruder sein Smartphone, riss das Tuch vom Gesicht der Toten und fotografierte die Hauzenberger von allen Seiten. Das Blitzlicht zuckte hell durch das tiefe Dunkel der Nacht.
»Wirst du wohl aufhören, du Idiot! Du machst noch Leute auf uns aufmerksam!«, rief sie und hätte ihm das Handy entrissen, hätte er es nicht über den Kopf und damit außerhalb ihrer Reichweite gehalten.
»Sicher ist sicher«, sagte er und lächelte süffisant. »Du kennst meine Devise.«
Er steckte das Mobiltelefon in seine Brusttasche zurück und nestelte dann in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel, den er Richtung Kofferraum hielt, um per Fernbedienung den Deckel aufspringen zu lassen. »Dann also hinein mit dem alten Sack«, sagte er, sich wieder an seine Schwester wendend. »Du hast Glück, dass sie außer den paar Schrammen im Gesicht nicht blutet, denn mein Auto hätte ich mir auf keinen Fall versauen lassen.«
Mit Glück hat das nichts zu tun, dachte sie und war in diesem Augenblick wieder ein ganz klein wenig stolz auf sich. Sie hatte den Stich absichtlich so gesetzt, dass kein Blut hervorquoll. Wäre ihr das damals bei der Abschlussprüfung ebenso gut gelungen, hätte sie sicher eine Auszeichnung bekommen.
»Ich war neulich mit meinem Nachtsichtgerät mit Infrarotstrahlern im Kürnberger Wald«, sagte ihr Bruder, der von ihren Gedanken naturgemäß nichts ahnte. »Wenn wir Glück haben, dann habe ich das Ding hier noch irgendwo.«
Er tastete mit der Handfläche den Boden des Kofferraums ab und wurde rasch fündig. »Ah, sieh an, da ist ja das gute Stück!« Er hob es triumphierend in die Höhe. »Das wird uns perfekte Dienste leisten.«
Seine Schwester hatte sich vorgebeugt und wollte eben der Toten unter die Achseln greifen, hielt nun aber doch in der Bewegung inne und richtete sich wieder auf. »Was um Gottes willen machst du mit so einem Gerät im Kürnberger Wald?«
»Keltische Bronzemünzen suchen«, antwortete er, als sei dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Er machte einige Schritte auf sie zu. »Das ist nicht unspannend und ein großartiger Ausgleich zu meiner sitzenden Tätigkeit. Außerdem bringen die Münzen auf dem Schwarzmarkt gutes Geld.«
Die Brünette schüttelte den Kopf. Ihrem Bruder ging es bei allem immer nur ums Geld, warum hatte sie das nicht schon früher begriffen? Ihr wäre so manches erspart geblieben. Aber es hatte keinen Sinn, mit ihm darüber zu diskutieren. Weder jetzt noch irgendwann. »Also Sachen gibt’s«, sagte sie daher nur und wandte sich wieder der Toten zu.
»Hast du wirklich noch nichts darüber gelesen?« Er konnte es nicht glauben. »Das ›Tagesblatt‹ hat den Wald vor einiger Zeit ›das oberösterreichische Troja‹ genannt. Ich bin mir sicher, dass ich noch allerhand Schätze entdecken werde. Aber egal, in jedem Fall kenne ich eine Stelle, die mit Sicherheit seit Jahren niemand mehr betreten hat und auch in den nächsten Jahrzehnten niemand betreten wird. Dahin werden wir die Alte bringen. Wie gut, dass ich wegen der Ausgrabungen immer eine große Schaufel im Auto dabeihabe.«
»Das ist aber jetzt nicht dein Ernst, Oberst! So einen Schmarrn habe ich in meinem Leben noch nie gehört.« Abteilungsinspektor Karl-Heinz See vom oberösterreichischen Landeskriminalamt hatte sich, entgegen seiner sonst so lässigen Haltung, kerzengerade auf dem Besucherstuhl im Büro seines Chefs aufgerichtet. Dabei schüttelte er den Kopf derart energisch, dass seine schulterlangen Haare flogen, um sich anschließend noch unordentlicher als sonst über seinen beigen Hemdkragen zu legen. Er machte Anstalten aufzustehen, bevor der Herr Oberst seine Erklärung beendet hatte.
Selten, seitdem sie zusammenarbeiteten, und das waren immerhin schon fast drei Jahre, hatte seine direkte Vorgesetzte, Chefinspektorin Diana J. Pölz, ihrem Kollegen wie in dieser Situation aus vollem Herzen zustimmen können. Das, was der Herr Oberst über ihre Köpfe hinweg entschieden hatte, spottete jeder Beschreibung. Sie sah zu See auf, der nun neben ihr stand und ihren gemeinsamen Chef mit vorgeschobenem Kinn kampfbereit anstarrte. Diana überlegte, ob es gut wäre, ebenfalls aufzustehen, um mit See Einigkeit zu demonstrieren. Einigkeit war wichtig, wenn sie gegen ihren Vorgesetzten etwas ausrichten wollten.
»Pudel dich nicht auf, Carlos«, rügte der Herr Oberst in diesem Moment und klang streng.
Viele im LKA nannten Karl-Heinz See »Carlos«, wenn sie mit ihm, und manche »der schöne Carlos«, wenn sie über ihn sprachen. Diana würde nie verstehen, was an diesem Mann schön sein sollte. Sie verstand allerdings auch nicht, warum manche Kollegen bewundernd zu ihm aufblickten. Vor allem Bezirksinspektor Fritz Wöglinger, der ihr Dreierteam komplettierte. Obwohl ihn See spöttisch »der kleine Fritz« rief, war er dessen großes Vorbild. Für sie war See einfach nur ein anstrengender Zeitgenosse, dessen Loyalität sie sich nie sicher sein konnte und der Frauen mehr als Gespielinnen im Bett denn als Kolleginnen schätzte. Und als Vorgesetzte schon mal gar nicht. Allerdings war er ein guter Kriminalist, wie sie selbst in ihren kritischsten Momenten zugeben musste, mit wachem Verstand und manchmal auch von beeindruckendem Mut. So wie in diesem Augenblick.
Der ausgestreckte rechte Zeigefinger des Herrn Oberst deutete auf die Stuhlfläche, von der sich See eben erhoben hatte. »Setz dich wieder hin, Carlos! Du kennst ja noch nicht alle Details.« Er wartete, bis sein Mitarbeiter murrend dem Befehl Folge geleistet hatte, bevor er eine weitere Rüge hinterherschob: »Außerdem ist das kein Schmarrn.«
See schnaufte unwillig und kniff die Lippen zusammen.
Diana war froh, dass sie doch sitzen geblieben war. Wenn der Herr Oberst schon so sauer auf das Verhalten ihres Kollegen reagierte, den er normalerweise sehr schätzte, wie viel ungehaltener hätte er erst auf ihren Widerstand reagiert? Auch er hatte es nicht besonders mit Frauen in Führungspositionen. Und dies, obwohl sie in den letzten Jahren, seit sie von Wien nach Linz übergesiedelt war, um den Bereich »Leib und Leben« zu leiten, höchst erfolgreich gearbeitet hatte.
»Du kennst die Vorgabe des Ministeriums. Bürgernähe, so heißt die Devise. Das Vorhaben, von dem ich sprach, ist nichts anderes als eine gute Möglichkeit, mein lieber Carlos, unsere Bürgernähe zu demonstrieren«, hörte sie ihn nun in belehrendem Tonfall sagen. Er klang so staatstragend wie ein Politiker an.
»Sag ich ja, ein Schmarrn«, kommentierte See trocken.
Er sah zu Diana hinüber, die nicht anders konnte, als ihn zustimmend anzulächeln. Manchmal war es doch gut, See als Kollegen zu haben. Er hatte ihr zwar immer noch nicht verziehen, dass sie die Position innehatte, die seines Erachtens nur ihm selbst zugestanden hätte, aber ab und zu verhielt er sich ungewöhnlich kollegial, sodass sie die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht aufgab.
»Soll doch die Pölz das alleine machen«, sagte der ach so kollegiale Mitarbeiter in diesem Moment. »Die hat doch ohnehin nichts Besseres zu tun. Schau nur, wie sie schaut. Die freut sich schon darauf.«
Das Lächeln auf Dianas Lippen verflog, die Hoffnung starb. So ein arroganter Idiot! Wie hatte sie je annehmen können, dass es möglich wäre, mit ihm Einigkeit zu demonstrieren?