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Bernd Werner Grundlsee, Wiener Poet mit etwas verblasstem Weltruhm, zieht medienwirksam in den Linzer Mariendom, um als Turmeremit seine Memoiren zu schreiben. Kurz darauf fällt er 68 m in die Tiefe - und erschlägt dabei einen Studenten. "Bad luck!", urteilt der Inspektor Karl-Heinz See, auch der schöne Carlos genannt, "zur falschen Zeit am falschen Ort." Selbstmord und Unfall, Akt abgeschlossen. Doch leider hat seine neue Chefin Diana J. Pölz auch noch ein Wort mitzureden. Und die hat Blut des Studenten in einer Seitenstrasse entdeckt. Wer bitte legt eine Leiche unter einen fallenden Selbstmörder? Als dann auch noch die Hollywood-Diva Caro LaBelle verschwindet, haben Diana und ihr - na ja, nennen wir es -Team alle Hände voll zu tun. Denn nichts ist so, wie es zuerst scheint.
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Seitenzahl: 448
Kurzbeschreibung: Bernd Werner Grundlsee, Wiener Poet mit etwas verblasstem Weltruhm, zieht medienwirksam in den Linzer Mariendom, um als Turmeremit seine Memoiren zu schreiben. Kurz darauf fällt er 68 m in die Tiefe - und erschlägt dabei einen Studenten. "Bad luck!", urteilt der Inspektor Karl-Heinz See, auch der schöne Carlos genannt, "zur falschen Zeit am falschen Ort." Selbstmord und Unfall, Akt abgeschlossen. Doch leider hat seine neue Chefin Diana J. Pölz auch noch ein Wort mitzureden. Und die hat Blut des Studenten in einer Seitenstrasse entdeckt. Wer bitte legt eine Leiche unter einen fallenden Selbstmörder? Als dann auch noch die Hollywood-Diva Caro LaBelle verschwindet, haben Diana und ihr - na ja, nennen wir es -Team alle Hände voll zu tun. Denn nichts ist so, wie es zuerst scheint.
Sophia Scheer
Alles Tote kommt von oben
Der erste Fall für Kommissarin Pölz
Kriminalroman
Edel Elements
Edel Elements
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ISBN: 978-3-96215-471-4
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Sophia Scheer hat als Juristin in aller Welt Verhandlungen geführt und arbeitet als Managementtrainerin, Kabarettistin und Autorin. Zwei ihrer historischen Romane (England, 19. Jh., unter dem Pseudonym Sophia Farago) landeten in Österreich und als E-Book auf den Bestsellerlisten. Als begeisterte Linzerin will sie ihre Heimat Oberösterreich in den Mittelpunkt ihrer originellen Krirnireihe rücken. www.sophias-romane.at
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden - und zwar völlig! In Linz gibt es ausschließlich sympathisch e, kompetente Politiker, Medienleute und Kriminalbeamte. Und keine Leichen.
Die Frage ist die: Würde sich Stefan Stösser an diesem Abend anders verhalten, wüsste er, dass er, auf die Minute genau, in drei Monaten sterben wird? Dass sein Kopf, von einer kräftigen Pranke im Genick gepackt, gegen einen blauen, viereckigen Parkautomaten krachen und dann ein gezielter Schlag gegen die Halsschlagader folgen wird? Stösser wird noch einige Sekunden Zeit haben, überrascht zu sein, aber ein langes Leiden wird ihm erspart bleiben. Tot wird er trotzdem sein. Und das passt ihm derzeit so gar nicht ins Konzept, denn er ist soeben dabei, Jenny Pichlinger aufzureißen. Es ist Viertel nach zehn, wie man hier in Oberösterreich sagt. Viertel elf, so sagt man in Wien, und Stefan Stösser hat sich angewöhnt, die Wiener Regeln zu befolgen. Er studiert in der Hauptstadt. Publizistik und Kommunikationswissenschaften, um genau zu sein, um irgendwann einmal Journalist zu werden. Nein, besonders gut formulieren kann Stefan nicht, das weiß er selbst. Dazu fehlen ihm Kreativität und das, was seine eifrigen Studienkollegen Inspiration nennen. Was er hingegen zweifellos kann, ist abschreiben. Stefan liest viel, und er liest schnell. Und er merkt sich alles. Fast könnte man sagen, er hat ein fotografisches Gedächtnis. Und dazu Improvisationstalent. Er schreibt ab und kombiniert. Macht aus zehn alten Artikeln einen neuen. Bisher ist das niemandem aufgefallen. Den Professoren gefallen seine Texte sogar, also hat er ohne eigene Ideen gute Noten, der Stefan. Doch er wird sich hüten, das irgendjemandem zu erzählen.
Jenny sieht hübsch aus heute Abend. Kurzer Jeansrock, pinkfarbenes Top, die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Es ist nichts Besonderes an ihr. Sie ist weder besonders groß noch besonders dünn. Stefan hat schon einen üppigeren Busen in der Hand gehabt und sinnlichere Lippen geküsst. Und doch hat er die Jenny haben wollen. Von dem Tag an, an dem sie mit Joesi Drazal das erste Mal hier im »Cleese« aufgekreuzt ist. Das war vor drei Monaten, und seitdem kommt Stefan immer, wenn er in Linz ist – und er ist derzeit oft in Linz, weil bald Ferien sind und er die nächsten Prüfungen auf den Herbst verschoben hat –, ins »Cleese« in der Hoffnung, Jenny allein anzutreffen. Denn auch, wenn er keinerlei Skrupel hat, anderer Männer Freundinnen anzubaggern, so ist es ihm doch lieber, wenn diese dabei nicht in unmittelbarer Nähe sind. Vor allem dann nicht, wenn sie ihn um fast zwanzig Zentimeter überragen und sich Landesmeister im Kickboxen nennen. Vollkontakt. Mit Händen und Füßen und allem, was dazugehört.
Heute Abend scheint er Glück zu haben, kein Joesi Drazal weit und breit. Jenny ist mit ein paar Mädels da, die in der rechten hinteren Ecke sitzen, jedes ein Glas mit einem bunten Cocktail in der Hand. Der Lautstärke ihres Lachens nach ist es nicht ihre erste Runde. Stefan Stösser steht mit dem Rücken zur Bar, einen Ellbogen aufgestützt, die kurzen dunkelblonden Haare mit Wetgel – »So wet! So stark! So hot!« – zum Stehen gebracht, ein Bein lässig vor das andere gestreckt. Es hat keinen Sinn, sich in eine Mädchenrunde drängen zu wollen. Er würde sich nur zur Zielscheibe boshaft origineller Bemerkungen machen, und kein Mädchen würde sich trauen, zuzugeben, dass es ihn gut findet. Auch nicht Jenny. Der kluge Mann wartet ab. Irgendwann wird das Beutetier schon an ihm vorbeikommen, und dann – schnapp! Und wieder hat Stefan Stösser Glück: Jenny geht zur Toilette. Und er hat sogar noch größeres Glück, denn sie geht allein. Ohne Begleitschutz einer Freundin, wie Mädchen das sonst so machen, weiß der Himmel, warum. Sie ist schon fast an ihm vorbei, als er leise, aber doch unüberhörbar, und etwas heiser etwas sagt. Heiser ist ganz wichtig – Insidertipp Nr. 29 aus dem für Aufreißer extrem nützlichen Werk »So bekommst du jede, Mann!«.
»Mein Gott, die Jenny ist wirklich das süßeste Mädchen, das ich kenne!« Den Text hat er von ebendort geklaut.
Abrupt bleibt sie stehen, sieht ihm ins Gesicht und lächelt. »Oh, hi, Stefan! Ich hab dich echt nicht gesehen. Was hast du grad gesagt?« Natürlich hat sie ihn zuvor gesehen und auch genau gehört, was er gesagt hat.
Er lächelt zurück. Stefan Stösser kann sehr charmant sein, wenn er will. Und jetzt will er. »Magst was trinken?«
Jenny überlegt nicht lange. Stefan ist einer von den Geldigen. Den reichen Burschen aus gutem Haus, die über einen einflussreichen Vater und einen eigenen Mini in der Garage verfügen. Joesi ist bei einem Kampf in Wiener Neustadt. Langsam wird es lästig mit seiner Eifersucht, sein Vater ist ein gewalttätiger Maschinenschlosser, und ein eigenes Auto hat er auch keines. »Ein Cola-Rot wär echt super. Wart auf mich, ich bin gleich zurück.«
Stefan grinst zufrieden. Er dreht sich zum Barkeeper um: »Du hast es gehört, Chef. Ein Cola-Rot für meine neue Freundin und für mich noch ein kleines Bier. Aber flott, wenn ich bitten darf!«
Der Barmann wischt in Ruhe das Glas trocken, das er in der Hand hält, bevor er die Bestellung ausführt. »Wenn ich du wäre, würde ich die Finger von der Jenny lassen, Stösser. Der Joesi versteht keinen Spaß.«
»Muss er ja auch nicht.« Stefan nimmt ein paar Erdnüsse aus der Schale neben sich und steckt sie in den Mund. »Hauptsache, ich hab ihn, den Spaß.«
»Nachhaltigkeit! Haben Sie das noch immer nicht begriffen? Wir brauchen Nachhaltigkeit!« Der Herr Stadtrat brüllt so laut, dass sein wohlfrisierter Schädel rot anläuft und an seinem Hals Zornesadern hervortreten.
Hans Pichler vom Linzer Veranstaltungsverein LIVEVE nickt ergeben. Wenn der Herr Stadtrat in einer derart gereizten Stimmung ist, hat es ohnehin keinen Sinn, vernünftig mit ihm diskutieren zu wollen. Nachhaltigkeit! Wenn er das Wort nur hört, muss er schon kotzen. Und er hat es in letzter Zeit oft gehört. Viel zu oft. Regelrecht überfressen hat er sich an diesem Wort. Vor ein paar Jahren ist es plötzlich aufgetaucht. Linz 09 – Kulturhauptstadt Europas. Sie hatten das Großereignis jahrelang vorbereitet. Wie viele gescheite Menschen - und viele andere Menschen auch - haben dabei mitgeredet! Jetzt ist das Jahr längst vorbei. Das Kulturhauptstadtjahr ist Geschichte, doch wenn es nach den Stadtpolitikern ginge, hätte es gefälligst nachzuwirken. Und zwar mehrere Jahre. Nachhaltig nachzuwirken.
Aber was soll er denn machen, wenn es sich nicht so verhält, wie es sich die Herren vorstellen? Die meisten Gescheiteren von damals haben sich längst vertschüsst und sind weitergezogen, um anderswo gescheit zu sein. Doch er, Hans Pichler, ist immer noch da. Vielleicht hätte er sich doch für Riga 2014 bewerben sollen? Aber was hätte er in Riga tun sollen, bitte schön? Auch der Stadtrat ist noch da. Zusammen mit diesem Wort: Nachhaltigkeit.
Nach einem Schluck Kaffee folgt ein neuer Anlauf. »Es ist uns gelungen, das höchst erfolgreiche Projekt des ›Eremiten im Dom‹ auch dieses Jahr wieder fortzusetzen. Schon 2009 hatten sich bekanntlich Freiwillige jeweils eine Woche im Turmzimmer hoch über der Stadt einsperren lassen, um zu meditieren und über ihr Leben nachzudenken. In Kürze zieht nun der über die Grenzen unseres Landes bekannte Literat Bernd Werner Grundlsee in das Turmzimmer, um seine Memoiren zu schreiben. Und zwar für ganze drei Monate! Sämtliche Medien haben schon darüber berichtet. Hier die gestrigen Ausgaben der ›Austria‹ und des ›Tagesblattes‹, ich weiß nicht, ob Sie schon Zeit gefunden haben, die Artikel zu lesen«, er schiebt dem Politiker zwei aufgeschlagene Zeitungen über den blank polierten Tisch, »aber natürlich sind sie auch online im Internet nachzulesen.«
Doch die Begeisterung des Stadtrats hält sich in überschaubaren Grenzen. »Ein Schreiberling allein macht das Kraut auch nicht fett.«
»Im Herbst wird überdies die Fernsehshow ›Wetten, dass.. .?‹ aus der Sporthalle übertragen«, setzt Pichler fort. Er ist ermutigt, weil der Stadtrat aufgehört hat zu brüllen.
»Wir haben damit neuerlich die Möglichkeit, Linz einem Millionenpublikum zu präsentieren. Man hat uns eine Außenwette auf dem Hauptplatz versprochen.«
Unvermittelt erhebt sich der Stadtrat von seinem Stuhl. »Das höre ich mir nicht länger an. Wiederschau’n, Herr Pichler.« Er streckt seinem Gast die Hand zum unmissverständlichen Abschied hin. »Bringen Sie mir einen Star in die Stadt oder lassen Sie sich sonst etwas einfallen. Ich will einen Kracher!«
Hans Pichler ergreift die Hand, verbeugt sich höflich und knirscht insgeheim mit den Zähnen. Kracher, das nächste Unwort. Wenn es schon im Kulturhauptstadtjahr nicht gelungen ist, die gewünschte Anzahl von Krachern auf die Beine zu stellen, wie soll ihm das jetzt gelingen? Vier Jahre danach? Wo die Welt schon längst auf Riga blickt? So die Welt denn überhaupt auf Kulturhauptstädte blickt. Er verlässt das Büro des Stadtrats, bohrt seine Fäuste in die Taschen seines Sakkos und macht sich eiligen Schrittes auf den Rückweg zur LIVEVE.
»Bringen Sie mir einen Star«, nuschelt er vor sich hin, während er das Gesicht des Stadtrats zu imitieren versucht. »Bringen Sie mir einen Star!« Ja, was glaubt der denn? Dass die Stars Schlange stehen, um in Linz auftreten zu dürfen? Er erinnert sich an die legendäre Theaterszene mit Helmut Qualtinger. Zwei Schauspieler unterhalten sich in der Theatergarderobe, und einer sagt wehmütig: »In Linz müsste man sein.«
Pichler lächelt säuerlich. Ja, glaubt der Stadtrat vielleicht, dieser Satz sei ernst gemeint gewesen? Welcher Star kommt schon freiwillig nach Linz, noch dazu bei dem begrenzten Budget, das ihm zur Verfügung steht? Sofort nach dem Kulturhauptstadtjahr wurde der Gürtel wieder enger geschnallt, da war Schluss mit lustig. Jetzt kann nur mehr ein Wunder helfen. Hans Pichler ist ein gläubiger Mensch, der Ostern in die Kirche geht, seine Kinder hat taufen und firmen lassen und keine Weihnachtsmette verpasst, aber an Wunder glaubt selbst er nicht. Zu Unrecht, wie sich bald darauf herausstellen wird.
Kaum hat er sein Büro betreten, da stürmt ihm auch schon seine Sekretärin entgegen. »Du kannst dir nicht vorstellen, was ich hier habe!«
Noch ist er unbeeindruckt. »Schaut aus wie ein ausgedrucktes E-Mail.«
Sie nickt strahlend, ihre Wangen glühen. »Aber du errätst nie, von wem.«
»Dann sag’s mir halt.«
Sie schweigt einen Augenblick lang, um die Dramatik zu erhöhen. Dann haucht sie: »Hollywood!«
»Wer soll denn das sein?« Hans Pichler knallt die Aktentasche so vehement auf seinen Schreibtisch, dass es kracht. Er könnte dem Stadtrat gut und gern auch eine krachen, aber das ist wohl nicht die Art von Kracher, von der er immer spricht.
»Jetzt schau doch einmal her!« Seine Sekretärin hält ihm das E-Mail unter die Nase.
»›Matthew McCortney Agency‹«, liest er laut und versteht noch immer nichts. Doch je mehr Worte er überfliegt, desto mehr stockt ihm der Atem. Schließlich blickt er fassungslos zu seiner Sekretärin, die noch immer strahlt und so schnell nickt, wie er noch nie jemanden hat nicken sehen. Er liest den Text noch einmal, dann brüllt er aus Leibeskräften und so laut, wie seine Sekretärin noch nie jemanden hat brüllen hören: »Alle sofort in mein Zimmer! Die LaBelle kommt!«
Schlagartig erscheinen die Köpfe sämtlicher Mitarbeiter in seinem Türrahmen. »Die LaBelle? Die richtige Caro LaBelle?«, fragt die Rothaarige aus der Buchhaltung.
»Die Oscar-Preisträgerin? Der Star?«
Hans Pichler nickt so stolz, als wäre das Ganze sein persönlicher Verdienst.
»Was um Gottes willen will die denn bei uns in Linz?«
»Lieder singen«, sagt Pichler und kann es selbst kaum glauben.
»Und darum ist es höchste Zeit geworden, dass einmal auch eine Frau etwas bei uns im LKA wird.« Der Herr Oberst kommt so richtig in Fahrt. »Ich meine, wir wollen uns schließlich nicht nachsagen lassen, dass wir Männer, na ja, Sie kennen doch alle das Gerede wegen Diskriminierung und den ganzen Schwachsinn.«
Etwa zwanzig Mitarbeiter des Landeskriminalamts haben sich zu der spontan einberufenen Vorstellungsrunde im Besprechungsraum 1 versammelt. Unter ihnen alle acht des Fachbereiches »Leib und Leben«, dazu der Fachbereichsleiter von »Betrug« – aus Höflichkeit – und der von der »Sitte« – aus Neugierde. Schließlich geht es darum, einen ersten Eindruck von der neuen Chefinspektorin zu bekommen. Diana J. Pölz, Fachbereichsleiterin »Leib und Leben«, also die, die ab dem nächsten Ersten maßgeblich für die Aufklärung von Mord und Totschlag zuständig sein wird.
Nicht dass die Leute dem Herrn Oberst mit voller Aufmerksamkeit zuhören würden. Wenn er nicht wirklich meint, was er sagt, dann redet er immer so umständlich, und seine Schmähs kennt eh schon jeder. Außerdem waren sämtliche Informationen vorab im Intranet nachzulesen, aber die gute Frau Kollegin persönlich in Augenschein zu nehmen, sich ein erstes Bild zu verschaffen und dabei freundliche Nasenlöcher zu machen, das hat noch niemandem geschadet.
»Eine Wienerin, die haben wir gerade noch gebraucht«, flüstert Inspektor Wöglinger - auch genannt: »der kleine Fritz« - seinem Kollegen Karl-Heinz See – auch genannt: »der schöne Carlos« – zu.
Letzterer lehnt an der hinteren Wand des Raumes. Seine dunklen, etwas zu langen Haare hat er mit flottem Schwung nach hinten gekämmt, sein Gesichtsausdruck ist betont unwillig, die Hände hat er in den Hosentaschen vergraben. Als er antwortet, bemüht er sich nicht im Geringsten, seine Stimme zu dämpfen. »Wurscht, woher die kommt, wir haben die überhaupt nicht gebraucht.« Er unterstreicht die Ernsthaftigkeit seiner Aussage mit einer energischen Handbewegung.
Diana steht vorn beim Oberst und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass der Zirkus, den man ihretwegen veranstaltet, endlich zu Ende ist. Sie steht nicht gern im Rampenlicht und mag es noch weniger, von fremden Augen kritisch gemustert zu werden. Dazu noch die peinlichen Worte des Herrn Oberst. Es ist nicht einfach, still zu stehen und mit eingemeißeltem Lächeln in die Runde zu blicken. Die versammelten Männer und die vereinzelten Frauen machen nicht den Eindruck, als würden sie sie mit offenen Armen empfangen, und die Worte des gelangweilten Kollegen mit den etwas zu langen Haaren passen perfekt zu ihrem Eindruck. Natürlich hat sie ihn gehört, ihre Ohren sind so gut wie ihr Namensgedächtnis schlecht. Wie heißt der Kollege doch gleich, dieser oberlässige?
Der Herr Oberst beginnt ihren Werdegang von einem weißen DIN-A4-Papier abzulesen. Sie hört nur mit einem Ohr zu, sie kennt ihn schließlich. Jetzt fällt ihr auch wieder ein, wer der große, gelangweilte Kollege sein könnte. Ein gewisser »schöner Carlos«, der sich ebenfalls für ihren Job beworben hatte. Klar, dass der sich über ihre Bestellung nicht freut. Hannes, ihr Lieblingskollege in Wien, hat mit ihm die Polizei-Ausbildung absolviert und sie bereits vorgewarnt. »Pass auf den Carlos auf, Diana, das ist ein ganz unguter Hund. Seine fachlichen Fähigkeiten kann ich nicht beurteilen, aber seine Arroganz ist unbeschreiblich. Wenn der für sich irgendwo einen Vorteil sieht, dann wird er ihn ergreifen - ohne Rücksicht auf Verluste.«
Der Herr Oberst betet inzwischen ihre gesamte Lebensgeschichte herunter. Er erzählt von ihrer Geburt in Linz als Tochter des international anerkannten Architekten Gerhard Kropetz, dem für den aufsehenerregenden Entwurf der Santa-Catarina-Mariana-Kirche in Sevilla einer der begehrtesten europäischen Architekturpreise verliehen wurde. Woher hat er bloß die Informationen?, fragt sie sich. Sie kann sich kaum vorstellen, dass das die Kollegen interessiert. Die Tatsache, dass Diana auch eine Mutter hat, wird im Gegenzug dazu nicht mit einem Wort erwähnt. Aber die Mutter betreibt ja auch nur ein Aura-Soma-Studio in Linz/Ebelsberg, das hätte bei Weitem nicht so imponierend geklungen wie die Sache mit Sevilla.
»Frau Pölz ist in Linz aufgewachsen und kann so gesehen als eine von uns gelten«, sagt der Herr Oberst, weil ihn die Tatsache offensichtlich freut, dann liest er weiter von seinem Zettel ab. »Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr ist sie auch hier zur Schule gegangen, dann erfolgte die Übersiedlung nach Wien.« Er überspringt einige Zeilen, um etwas später unvermittelt fortzusetzen: »In der Zwischenzeit ist sie geschieden. So frisch, dass man noch gratulieren kann.« Der Oberst lacht, einige tun es ihm gleich, und weil Diana ohnehin schon die ganze Zeit ein eingemeißeltes Lächeln auf den Lippen trägt, lächelt sie unverdrossen weiter und denkt sich, dass der Herr Oberst ein ziemlicher Idiot ist.
Wieder flüstern der schöne Carlos und der kleine Fritz miteinander. Diesmal kann sie nichts verstehen. Da der blasse junge Mann mit Brille und blonden Stichelhaaren jedoch zu kichern anfängt, wird es nichts Nettes gewesen sein.
Doch der Oberst lässt sich in seiner Rede nicht beirren. Er spricht nun schneller, liest nur mehr halbe Zeilen von seinem Zettel ab und sagt dafür mehrmals »und so weiter und so weiter«. Es scheint, als wolle er seine Aufgabe möglichst schnell hinter sich bringen. Diana ist das nur recht. Er erwähnt noch, dass sie eine Tochter hat, die derzeit in den USA studiert, dann folgen zu ihrem Erstaunen, aber auch zu ihrer Entrüstung weitschweifende Überlegungen zur Zukunft ihrer Abteilung. Überlegungen, die mit ihr in keinster Weise abgesprochen wurden und die die alleinigen Vorstellungen des Herrn Oberst wiedergeben. Zwei Kollegen schauen verstohlen auf die Uhr.
»Und darum, liebe Diana Pölz, machen Sie Ihrer Namensvetterin Diana, der Göttin der Jagd, alle Ehre.« Der Herr Oberst erhebt die Hand mit seinem Sektglas. »Gehen Sie in die Welt hinaus und jagen Sie die Verbrecher.«
Allgemeiner Applaus, Stimmengewirr, manche Kollegen kommen auf sie zu, um ihr die Hand zu schütteln und auf gute Zusammenarbeit anzustoßen, andere verlassen bereits den Raum.
Wenn der Oberst wüsste, denkt Diana und lächelt unverdrossen weiter - sie hat sich schon daran gewöhnt -, während sie die Glückwünsche zu ihrer Bestellung entgegennimmt. Von wegen Göttin der Jagd. Ihre wirkliche Namenspatronin ist die Musikerin Diana Ross von den Supremes. Und nicht zu vergessen Janis Joplin, die sich hinter ihrem zweiten Vornamen, der stets mit J. abgekürzt wird, versteckt. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt ein sechzehnjähriger Hippie, dem die römischen Götter völlig egal waren.
»Komm, nimm Platz, Mam, ich habe schon alles vorbereitet, wie du es gewünscht hast.«
Er schiebt den breiten, bequemen Schreibtischsessel unter ihren zarten Hintern und rollt sie auf ihm direkt vor den Computer. Sein muskulöser Arm streift ihre blonde Mähne, als er sich nach vorn beugt, um die Maus zu bedienen. »Da haben wir zuerst einmal den Zeitungsausschnitt, den du ja schon kennst.«
Als er weiterklicken will, hält sie ihn zurück. »›Bernd Werner Grundlsee‹«, liest sie laut, und der Hohn in ihrer Stimme überwiegt kurz Hass und Verbitterung. »Grundlsee. Wie ist er bloß auf diesen idiotischen Namen gekommen?«
»Was bedeutet Grundlsee, Mam?«
»Soweit ich mich erinnern kann, ist das ein kleiner See in der Steiermark, ein Gewässer. Aber wer wählt einen See als Pseudonym, bitte schön?«
»Und in Wirklichkeit heißt er Wernher?«
Sie nickt: »Bernd Wernher, ganz normal. Nix Grundlsee. Schau, hier steht es«, sie liest laut vor, »›Grundlsee, geboren als Bernd Wernher‹ ... bla, bla, bla ... ›einer der bedeutendsten Literaten deutschsprachiger Zunge‹ – ha, dass ich nicht lache – ›zieht ins Turmzimmer in die Einsamkeit und Stille hoch über der Stadt, um in sich zu gehen‹ ... So etwas Lächerliches! In sich gehen will er also, der Herr Grundlsee? Der soll bloß aufpassen, dass er dabei nicht in einen seiner inneren Abgründe stürzt.« Sie lacht.
Er versteht nicht ganz, was sie meint, stimmt jedoch in ihr Lachen ein, froh darüber, dass sie zum ersten Mal seit vielen Stunden überhaupt den Anflug von Fröhlichkeit zeigt. Doch es ist kein heiteres Lachen.
Sie beugt sich vor und kneift die Augen zusammen. »Auf diesem Foto kann man nichts erkennen. Hast du kein besseres? Ich will seine Visage sehen. Ich will sehen, wie der Sauhund heute aussieht.«
Gehorsam klickt er weiter.
Gebannt sehen sie, wie sich ein Video öffnet. Es zeigt einen Mann um die vierzig mit Bart und Brille, der durch gotische Spitzbögen sinnierend ins Weite starrt. Hinter ihm der sandfarbene Stein einer Kathedrale und der hellblaue Himmel, unter ihm die Dächer einer Stadt. Er trägt die Kutte eines Mönchs.
»Das soll er sein? Nein, das ist er nicht! Dieser Mann ist viel zu jung ...«
»Die Türmerstube im neugotischen Linzer Mariendom wurde im Zweiten Weltkrieg eingebaut«, ertönt eine sonore Stimme aus den Lautsprechern des PCs. »Sie diente als Beobachtungsposten, um schneller Bombentreffer lokalisieren und Hilfe koordinieren zu können. Aufgrund der exponierten Lage hat man von ihr einen guten Überblick über die Stadt. Während des Kulturhauptstadtjahres 2009 nützten wöchentlich wechselnde Turm-Eremiten die Symbolkraft des markanten Ortes, der für sie über das Kunsthistorische, Musikalische und Liturgische hinaus eine Qualität auslösbar machte, die sie in kaum einem anderen Kontext hätten erfahren können.«
»Hä?« Sie wendet sich zu ihm um. »Was soll das heißen?«
Er zuckt mit den Schultern. Wenn sie es schon nicht versteht, wie soll er es dann tun?
»In diesem Raum wird ab Anfang September auch Bernd Werner Grundlsee seine Tage verbringen, um abgeschieden von der Hektik der Welt seine Memoiren zu schreiben. Die Arbeit soll in drei Monaten abgeschlossen sein, doch wie sagte Grundlsee bei seiner Pressekonferenz so treffend? ›Ich verweile ohne Eile, bis das Werk Vollendung findet.‹«
»Gib das weg«, fordert sie angewidert, und der nächste Zeitungsartikel folgt.
»›Meine Memoiren, sagt Grundlsee bei seiner gestrigen Pressekonferenz im Wiener Cafe Landtmann, ›dienen nicht in erster Linie dazu, mir selbst ein Denkmal zu setzen. Das natürlich auch ...‹, fügt er augenzwinkernd hinzu und lässt all den Charme erkennen, mit dem er seit mehr als zweiundsiebzig Jahren die Damenwelt verzaubert. Grundlsee hat sie, wie gut informierte Kreise zu wissen glauben, alle ›gehabt‹. Die Stars der heimischen Bühnen ebenso wie Politikergattinnen und Damen der sogenannten besseren Gesellschaft - oder die, die sich dafür halten beziehungsweise hielten. ›Ich habe mein Leben lang meinen Mund gehalten, denn ein Gentleman, so sagt man doch, genießt und schweigt. Aber jetzt bin ich alt und grau ...‹ Sein verschmitztes, noch immer jungenhaftes Lächeln straft seine Worte Lügen ...« Es war der Journalistin offensichtlich ein persönliches Anliegen, diese Tatsache herauszustreichen. »›... und daher denke ich mir: Pfeif auf deine Diskretion! Erzähl frei von der Leber weg, wie es so zugeht in der Welt der Reichen und Schönen. Und ich sage Ihnen, so schön wie gedacht geht es dort meist gar nicht zu.‹ Freie Worte, die für zustimmendes Gelächter sorgen. Grundlsee verspricht unseren Lesern: ›Ich sage Ihnen, da kann ich Geschichten erzählen, na, lassen Sie sich überraschen!‹ Wie man hört, will Grundlsee nicht nur pikante Details aus seinem unerschöpflichen Liebesleben zu Papier, sondern auch düstere Familiengeheimnisse manch prominenter Zeitgenossen ans Tageslicht bringen. ›Bevor ich vor meinen Schöpfer trete‹, so formuliert es der Literat in der ihm eigenen poetischen Sprache, ›möchte ich schonungslos, ich betone: schonungslos die Wahrheit über manche Menschen aufdecken, die als Lieblinge der Massen ihr wahres Gesicht und gar manch böse Tat früherer Tage zu verschleiern suchen.‹«
Die Frau vor dem Computer lacht nun nicht mehr, sondern lehnt sich stumm nach vorn, um das Bild unter dem Artikel genauer in Augenschein zu nehmen. Ein Herr, ein Sir mit kleinem Bärtchen über der Oberlippe, das ihm gut steht. Sie würde es nur ungern zugeben, deshalb spricht sie ihren Gedanken nicht aus. Volles Haar, natürlich inzwischen grau, fast weiß. Seine schönen Hände liegen auf der Tischplatte, ein schmaler Ehering ziert einen Finger. Er ist noch immer so schlank wie vor vielen Jahren und sieht schlichtweg gut aus. Dabei hätte er seinem ausschweifenden Lebenswandel nach so zerfurcht sein müssen wie Keith Richards von den Rolling Stones. Mindestens. Und doch ähnelt er einem gealterten Clark Gable. Findet sie. Und ärgert sich darüber.
»Da haben wir den alten Sack. Schaut jetzt schon aus wie eine Leiche«, meint der Mann hinter ihrem Rücken und freut sich offensichtlich darüber.
Sie lacht kurz auf. »Zeigst du mir noch einmal das Video?«
»Mam, hör mal«, der große Mann geht in die Knie, um mit ihr auf Augenhöhe zu sprechen, »es ist mir nicht recht, dass du ... Ich meine ... Soll nicht lieber ich ...? Du weißt, ich würde alles für dich tun.« Sein Blick ist eindringlich. »Wirklich alles.«
Energisch schüttelt sie den Kopf. »Nein, Bernd, Herr Grundlsee, und ich haben noch eine Rechnung offen, und die werde ich persönlich begleichen. Ich habe lange genug damit gewartet. Viel zu lange.« Sie schnauft unwillig. »Ich will nicht warten, bis es zu spät ist.«
»Dann lass mich dir wenigstens helfen. Dieser Mann ist größer als du, stärker und -«
»Das vielleicht, aber nicht wendiger. Und klüger auch nicht, auch wenn er das natürlich vehement bestreiten würde. Weißt du, Bub, seelische Qual ist etwas Furchtbares. Sie wächst und wächst, wenn man nichts dagegen unternimmt. Ich habe keine Lust mehr, mich von ihr auffressen zu lassen.«
»Du meinst also, dass dir die Rache helfen wird? Aber du hast doch immer gesagt -«
Sie tätschelt seine Hand. »Ich weiß, Bub, ich weiß, was ich gesagt habe. Aber das hier ist etwas anderes, das verstehst du nicht. Und jetzt möchte ich noch einmal das Video –«
Wie auf Kommando erscheint der Mönch wieder zwischen den neugotischen Rundbögen. Sie dreht sich nicht um, als sie fragt: »Wann beginnt heute die Trainingseinheit?«
»In einer Stunde.«
»Gut. Ist das neue Gerät, dieser Stepper, bereits geliefert worden?«
Der Mann ist aufgestanden. »Selbstverständlich, Mam. Mit einer Zählvorrichtung, so wie du es wolltest. Es ist bereits alles installiert.«
Wieder tätschelt sie eine seiner Hände, die auf ihrer Schulter liegen. »Das ist sehr gut. Hast du Mat beauftragt?«
Der Druck seiner Hände auf ihren Schulterknochen verstärkt sich. »Gestern, Mam. Es läuft alles genau so, wie du es dir gewünscht hast.«
Sie streichelt noch einmal seine Hand. »Bist ein braver Bub.«
Er freut sich.
Diana geht zu Fuß nach Hause. Nach Hause! Sie kann es selbst noch nicht glauben, dass sie jetzt also wieder in Linz zu Hause ist. In der Mozartstraße, keine fünfzehn Minuten von der Polizeidirektion entfernt, in der auch das Landeskriminalamt LKA untergebracht ist. Sie ist erleichtert, den Vormittag überstanden zu haben. Jetzt kann es kaum noch schlimmer werden, so hofft sie, irrt aber.
Hannes, ihr Wiener Kollege, hat recht gehabt: Der Einstieg in Linz wird nicht leicht sein. Sie hat seine Worte noch genau im Ohr: »Wir hier in Wien sind ein eingespieltes Team, Diana. Wir vertrauen einander blind, unser Oberst ist erträglich und stört uns nicht, weil er ohnehin kaum da ist, sondern lieber im Innenministerium gescheit daherredet. So gut wie bei uns wird’s dir nie wieder gehen. Und Eifersüchteleien und Grabenkämpfe haben wir in unserer Abteilung auch längst überwunden, wohingegen sie dort, wo du hinkommst, erst anfangen. Überleg dir gut, ob du diesen Schritt tatsächlich gehen willst.«
Doch was heißt schon »gehen willst«? Sie ist jetzt zweiundvierzig, so eine Chance, die Karriereleiter hinaufzuklettern, wird sich ihr kaum noch einmal bieten. Außerdem wollte sie weg von Wien, auch wenn sie die Scheidung von Norbert mittlerweile überwunden hat. Diana versucht, in sich hineinzuspüren, so wie es ihre Mutter immer wieder gepredigt hat: »Spüre, Didschei«, die mütterlich originelle Zusammenziehung der Anfangsbuchstaben ihrer beiden Vornamen mit amerikanischem Akzent, »spüre das Leben! Nur in dir wirst du die Wahrheit finden.« Aber in ihr ist weder Schmerz noch ein taubes Gefühl. Und trotzdem: Dem Exmann dabei zuzusehen, wie er mit seiner Neuen noch einmal Vaterfreuden entgegenblickt, nein, das musste nun wirklich nicht sein. Außerdem braucht Tante Gusti sie. Sie ist einundachtzig und lebt allein. Wenn sie jetzt im selben Haus wohnen, dann kann Diana zumindest ab und zu bei ihr nach dem Rechten sehen. Sie hat nie vorgehabt, in die Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren, aber das Leben spielt manchmal so, und jetzt hat sie es doch getan.
Diana betritt den Hausflur. Raus aus den Stöckelschuhen, immer zwei Stufen auf einmal nehmen, bis hinauf in den zweiten Stock. Im Flur riecht es noch so wie vor fünfunddreißig Jahren. Woran das wohl liegt? Hat jedes Haus eine eigene Duftnote? Oder hängt das mit seiner Bewohnerin Tante Gusti zusammen?
Sie schließt die Tür auf, die Tür zu ihrer neuen Wohnung, in der es anders riecht. Nach frischer Farbe und geöltem Parkett. Sie geht in ihre neue Küche, klein, aber fein, mit einem Fenster zum winzigen Garten, wo inmitten von kurz gemähtem Rasen üppig die Hortensienbüsche blühen. Sattes Rosa auf der einen, tiefes Blau auf der anderen Seite. Eine unerwartete Idylle inmitten der Stadt. Sie öffnet das Fenster, beugt sich hinaus, aber statt des erhofften zarten Blumendufts zieht der deftige Geruch von Schweinsbraten zu ihr herauf. Tante Gusti hat zur Feier des Tages gekocht. Sie liebt Hausmannskost. Diana muss grinsen, als sie daran denkt, dass sie selbst sich seit Jahren bemüht, zu Mittag nur Salat und, wie Ernährungsexperten wie ihre Mutter raten, eine »faustgroße« Portion Eiweiß zu essen.
»Du wirst sehen, Didschei«, hat ihr die Mutter vor zwei Jahren angekündigt, »bald wirst du zehn Kilo zulegen, so schnell kannst du gar nicht schauen. Und das, obwohl du nicht mehr isst als vorher.«
Die Voraussage hat ihr einen ordentlichen Schrecken eingejagt, darum der Salat zu Mittag, wenn sie denn in der Hektik des Alltags überhaupt Zeit zum Essen findet. Morgens gibt es nur Müsli, Vollwert, ohne Zucker, aber mit zweiundzwanzig Prozent Ballaststoffen, und Soja-Joghurt, natürlich gentechnikfrei. Wenn man Beeren unterrührt oder einen Apfel reinreibt, schmeckt die Mischung gar nicht mal so grauslich, wie sie klingt. Aber am Abend lässt sie sich nicht in ihre Ernährung hineinreden. Da isst sie, was ihr schmeckt, so wie heute - Tante Gusti zuliebe. Außerdem würde sie sich nie die Chance auf ein selbst gekochtes Essen ihrer Tante entgehen lassen, das sie an ihre frühe Kindheit erinnert. Irgendwie ist es doch schön, wieder in Linz zu sein. Back to the roots, sozusagen.
Der Herr Oberst hat es schon angesprochen - auch wenn sie sich lange Jahre als eine gefühlt hat, ist sie doch keine wirkliche Wienerin, sondern war stets eine waschechte Linzerin. Tochter von Marianne Holzer, damals sechzehn, und Gerhard Kropetz, damals achtzehn. Geboren 1971, als die wilden Siebziger begannen. Sie war alles andere als geplant und auch alles andere als erwünscht.
»Was war das damals für eine tolle Aufbruchsstimmung, Didschei, das kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen.« Die Sprüche ihrer Mutter haben Dianas Kindheit geprägt. Einer Mutter, die heute noch wie ein Hippie herumläuft. Mit wallenden, etwas strohig gewordenen grauen Locken, die an den Schläfen zu Zöpfen geflochten und am Hinterkopf mit einer Spange zusammengehalten werden, auf der, dem jetzigen Zeitgeist entsprechend, ein Yin-Yang-Symbol prangt. In den Siebzigern war es wohl noch das Peace-Zeichen, von Yin-Yang war damals ja noch keine Rede. Einer Mutter, die sich »Hazel« nennt. »Hazel Wood«, um genau zu sein.
»Gerhard war mein erster Versuch der freien Liebe, und prompt hat es mich erwischt. Was bin ich die Treppen hinauf- und hinuntergesprungen in der Hoffnung, dadurch nicht mehr schwanger zu sein! Aber genützt hat es nichts. Du warst schon damals äußerst hartnäckig, Didschei, das muss ich dir lassen.«
Ja, so ist Dianas Mutter, immer offen und direkt. Sie nimmt auf niemanden Rücksicht und ignoriert die Gefühle anderer, das ist ihre Art von Freiheit. Ob sich Diana solche Worte zu Herzen nimmt? Nicht mehr. Früher einmal, ja, da hat sie bittere, einsame Tränen geweint, weil sie nicht gewollt war. Doch jetzt, mit zweiundvierzig? Die Sätze sind schon längst zur Gewohnheit geworden. Und zu der Gewissheit, dass eingeschränkte Mutterliebe zwar eine harte Schule fürs Leben ist, aber zumindest einen Vorteil hat: Diana hat gelernt, sich durchzusetzen. Nicht aufzugeben. Schon als Fötus war sie hartnäckig und hat ihr Ziel erreicht? Nun, dann wird sie das bei ihrem neuen Job wieder schaffen.
Diana schließt das Fenster und dreht den Wasserhahn auf, um sich einen Espresso zu machen. Ein Hoch auf ihre neue italienische Kaffeemaschine. Doch so leicht es ist, sie einzuschalten, so schwer ist es, Mutters Stimme im Kopf abzuschalten: »Du glaubst gar nicht, was die damals für einen Wirbel veranstaltet haben. Ich bin umgehend von der Schule geflogen. Eine Schwangere war eine Schande für das ach so keusche Mädchengymnasium. Das muss man sich mal vorstellen! Diese elenden Heuchler. Meine Eltern sind förmlich durchgedreht!«
Diana sieht im Geiste ihre Mutter die Augen verdrehen und folgt ihrem Beispiel. Ein prüfender Blick durch die offene Küchentür in den Vorzimmerspiegel, neben den unbedingt noch ein Kästchen für Telefon und Schlüssel muss, dann ein befreites Aufatmen. Sie erblickt ihr schmales Gesicht, die schulterlangen dunklen Haare. Die braunen Augen und die kleine gerade Nase hat sie vom Vater. Die Falten um die Augen vom Lachen und der Zeit. Nein, sie sieht ihrer Mutter Hazel nicht ähnlich. Noch nicht? Hoffentlich wird es nie so weit kommen.
»Ein Richter vom Landesgericht und die werte Frau Gemahlin«, setzt Mutter in ihren Gedanken fort. »Ich mit meinem Bankert passte nicht mehr in die Jugendstilvilla am noblen Freinberg, also haben sie mich rausgeschmissen. Der Gerhard hat’s da natürlich besser gehabt. Weil er Vater geworden ist, hat keiner auch nur mit einem Ohrwaschl gewackelt. Anstandslos hat er die Matura machen können und ist dann zum Studium nach Wien. Typisch! Mich hat er mit meinem Kind, also mit dir, und all meinen Sorgen alleingelassen.«
Was so nicht ganz stimmt. Ihre Mutter hat ihr Baby bei Tante Gusti abgeladen, der jüngeren Schwester ihres Vaters, und ist mit den Musikern der »Frightful Angels« nach London abgerauscht. Und weil dem Drummer ihre braunen Augen so gut gefallen haben, heißt sie seither »Hazel«. Wie eine englische Haselnuss. Und »Wood« klingt allemal besser als Holzer, außerdem passt es somit natürlich perfekt, dass der Song aus den sechziger Jahren »These Boots Are Made for Walkin’« von einem gewissen Lee Hazlewood heute das Motto ihrer Praxis ist und in ihrem Wartezimmer in Endlosschleife läuft. Hazel Wood spielt Hazlewood, wirklich komisch. In der »Praxis für Aura-Soma und Frauenmut«, einem Ort, den Diana meidet, wann immer es geht. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hält sie wenig von übersinnlicher Esoterik. Bei ihr zählen Fakten, Fakten, Fakten, ihr eigener untrüglicher Instinkt und ihr Humor - eine Qualität, die sie ebenfalls von ihrem Vater geerbt hat. Denn Hazel hat ihre Freiheit und Leichtigkeit schon immer verdammt ernst genommen.
Die Nachricht, dass die Oscar-Preisträgerin Caro LaBelle, noch bevor sie nach Wien reist, beabsichtigt, in Linz Station zu machen, um einen ihrer seltenen, aber umso geschätzteren Cole-Porter-Abende zu geben, eine ganze Woche zu bleiben und dann auch noch Stargast bei »Wetten, dass...?« zu sein, macht rasch die Runde. In der Stadt. In Österreich. Im ganzen deutschsprachigen Raum. Weltweit?
Hans Pichler von der LIVEVE ist am Ziel seiner Träume. Der Herr Stadtrat gibt eine Pressekonferenz, und er darf direkt neben ihm sitzen, im gleißenden Scheinwerferlicht der nationalen und internationalen Presse. Der große Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Pichlers Sekretärin ist hinter den Kulissen aufgeregt damit beschäftigt, Nachschub für den anschließenden groß angekündigten, aber viel zu knapp kalkulierten Imbiss heranzuschaffen, während vor den Kulissen der Stadtrat und Pichler mit stolzgeschwellter Brust Rede und Antwort stehen. Ja, natürlich ist es richtig, dass die LaBelle die ersten dreiundzwanzig Jahre ihres Lebens in Wien verbracht hat und in Wirklichkeit Caroline Schönhuber heißt. Wer erinnert sich nicht an die Filmtrilogie »Maria Theresia, Kaiserin unserer Herzen«, »Maria Theresias große Liebe« und »Maria Theresias schwere Zeiten«, in denen sie die Irrungen und Wirrungen der jungen Erzherzogin so anschaulich verkörperte? Die Filme lockten damals ebenso viele begeisterte Zuschauer in die Kinos wie die Sissi-Streifen mit der unvergessenen Romy Schneider.
»Ich war natürlich in den fünfziger Jahren noch nicht auf der Welt. Ich bin viel zu jung«, ist es dem Herrn Stadtrat, geboren am 2.1.1960, wichtig zu betonen, »aber meine Mutter hat mir erzählt, dass es damals so etwas wie einen regelrechten Glaubenskrieg gab. Wer ist unsere bessere Kaiserin? Die Romy oder die Caro, also Caroline, wie sie damals noch hieß?«
»Und wer hat gewonnen?«, fragt der Mann vom Sportmagazin, der eigentlich nur des Buffets wegen gekommen ist – der Herr Stadtrat ist bekannt dafür, dass ihm nur Feinstes gut genug ist - und plötzlich den vertrauten Duft eines Sieges wittert.
Aber so weit will sich der Stadtrat nun doch nicht aus dem Fenster lehnen. Schließlich gibt es jede Menge Wählerinnen und Wähler, die Romy Schneider glühend verehren. Warum sollte er die unnötig vergrämen? Darum sagt er, während Hans Pichler schon »Na, unsere Caro natürlich!« auf den Lippen hat, mit der Diplomatie, die ihn als Politiker von Format auszeichnet: »Es stand damals und steht bis heute unentschieden.«
»So ähnlich wie bei den Beatles und den Rolling Stones? Da gab’s in den Sechzigern doch auch einen Glaubenskrieg.« Der Mann von dem neuen Musikmagazin »30 Something« scheint sich auszukennen. Der Stadtrat stutzt kurz, gibt ihm aber dann recht. Je mehr berühmte Namen und Vergleiche fallen, desto besser für die Veranstaltung.
»Es heißt, LaBelle soll im nächsten James-Bond-Film die Mutter des Geheimagenten spielen. Was können Sie darüber sagen?« Ein Mann aus Deutschland. Der Stadtrat weiß nicht mehr genau, von welchem Blatt, und kennt auch das Gerücht nicht. Doch wer kann es ihm verdenken, dass er die Chance, die potenzielle Mutter von James Bond in Linz begrüßen zu dürfen, mit Freuden ergreift?
»Vom Alter her käme die eher als Großmutter in Frage«, meldet sich eine Stimme zu Wort, noch bevor er antworten kann. Natürlich kommt der beißende Spott von Hubert Grobian, dem Kulturredakteur vom heimischen »Tagesblatt«. Kann der Mann nicht ein einziges Mal seinen Mund halten? Muss er immer das eigene Nest beschmutzen?
Als die Journalisten lachen, beschließt der Stadtrat, das Ruder schleunigst wieder an sich zu reißen. »Man sagt, es schaut gut aus. Die LaBelle hat den Vertrag für James Bond, selbstverständlich für die Mutter des Geheimagenten, bereits so gut wie unterschrieben.«
Das Gelächter verstummt, ein Raunen geht durch die Menge, einige kritzeln fleißig in ihre Notizblocks, und Hans Pichler will noch eins draufsetzen. »Vielleicht gelingt es uns ja sogar, die Dreharbeiten für diesen James-Bond-Film nach Linz zu holen. Was den Bregenzer Festspielen bei ›Ein Quantum Trost‹ recht war, ist uns Oberösterreichern schließlich nur billig.«
Der Stadtrat wendet sich mit anerkennendem Blick zu ihm um. Pichler platzt vor Stolz. Jetzt hat er dem depperten - er könnte natürlich auch »dämlichen« denken, aber das ist hierzulande nicht üblich - Hubert Grobian das Maul gestopft. Der Journalist geht ihm so etwas von auf die Nerven. Seitdem er zu Beginn des Kulturhauptstadtjahrs Ressortleiter des Bereiches Kultur beim »Tagesblatt« geworden ist, stellt er immer wieder Fragen, die er selbst wohl für kritisch hält, die aber in Wirklichkeit nur blöd, provokant und überflüssig sind. Keine einzige enthusiastische Kritik für all die Veranstaltungen der LIVEVE hat er sich abringen können. Ein paar wohlwollende Beurteilungen sind zwar dabei gewesen, ja, aber keine enthusiastische.
»Weiß man eigentlich, warum die LaBelle damals nach Amerika gegangen ist? Steckte da auch so eine Liebesgeschichte dahinter wie bei der Schneider mit dem Delon?«, fragt eine Dame in der letzten Reihe.
Da Pichler keine Ahnung hat, sagt er: »Wenn Hollywood ruft, wer würde da schon zögern? Und der Erfolg gibt ihr recht. Zuerst glänzte sie in zahlreichen Filmen an der Seite von Robert Redford und Paul Newman, dann kam der Oscar für –«
»Vielleicht haben sie ja braune Flecken auf ihrer angeblich so blütenweißen Weste aus dem Land getrieben?« Während er Pichler mit diesen unglaublichen Worten unterbricht, kratzt sich Hubert Grobian mit dem Kugelschreiber hinter dem Ohr, als würde er nachdenken. Wieder der Grobian. Immer dasselbe mit diesem Querulanten. Pichler und der Stadtrat ringen gleichzeitig nach Luft, während alle Augen auf den »Tagesblatt«-Redakteur gerichtet sind.
»Also, Ihre Bedenken in allen Ehren, aber das geht nun wirklich zu weit. Die LaBelle ist Jahrgang 1944. Bei Kriegsende war sie ein Jahr alt. Woher hätten da die braunen Flecken kommen sollen?«
Die Köpfe schnellen wieder nach vorn. Die meisten rechnen nach, murmeln zustimmend.
»Natürlich nicht durch sie selbst«, Grobian kratzt sich noch immer hinter dem Ohr, »sondern durch ihre Eltern.«
»Ihre Eltern? Die Mutter war eine einfache Sekretärin, der Vater unbekannt, soweit mir bekannt ist.«
Zwei, drei Leute lachen über Pichlers unbeabsichtigtes Wortspiel.
»Es überrascht mich nicht, dass Ihnen etwas unbekannt ist, mein lieber Herr Pichler. Aber man munkelt, dass der Vater Ihrer verehrten Frau Schönhuber ein hochrangiger Nazi war, der auch nach dem Krieg über weitreichende Kontakte verfügte. Wie sonst hätte ein einfaches Mädel die Hauptrolle in einer Film-Trilogie bekommen? Romy Schneider entstammte immerhin der bekannten Schauspielerfamilie Albach-Retty. Ihre Mutter Magda war selbst Schauspielerin und hat die Karriere ihrer Tochter beinhart vorangetrieben. Aber wie sollte eine einfache Sekretärin ...? Sie wissen schon.« Von seinen Kollegen angestachelt, die ihm aufmerksam zuhören, kommt er so richtig in Fahrt.
Jetzt wird es Pichler wirklich zu blöd. Er ist ein geduldiger Mensch, hat in den letzten Jahren die Häme dieses Idioten mit nahezu stoischem Gleichmut ertragen, aber was zu viel ist, ist zu viel. Er springt auf, holt tief Luft, strafft die Schultern, wippt ein Mal auf der ganzen Fußsohle vor und zurück und nützt dann eine kurze Atempause in Grobians Monolog. »Wie heißt doch gleich noch mal der Preis, der jedes Jahr an den Journalisten vergeben wird, der die beste Aufdeckungsarbeit leistet?«
»Golden-Print-Preis!«, ruft eine junge Frau der Zeitung »Austria« wie aus der Pistole geschossen.
»Ja, richtig, der Golden Print-Preis«, bestätigt Pichler und gibt sich nachdenklich. »Und wer war bloß der Journalist, der letztes Jahr so vollmundig verkündet hat, er hätte diesen Preis so gut wie in der Tasche? Und der ihn dann doch nicht bekommen hat? Ja, der es nicht einmal unter die besten drei geschafft hat?«
Die anderen haben keine Ahnung, von wem Pichler spricht, und hätten es wohl auch nie erfahren, wäre Grobian nicht feuerrot angelaufen und hätte er nicht gerufen: »So ein hirnverbrannter Idiot!«
Ein Raunen geht durch die Menge. Hälse recken sich empor, Köpfe wenden sich, alle wollen die Zielscheibe des Spottes mit eigenen Augen sehen. Grobian schnappt seine Unterlagen, schnellt hoch und verlässt ebenso grußlos wie fluchtartig den Saal.
Na warte, Pichler, denkt er, während er die Stufen hinunterspringt, um das Haus zu verlassen, bevor ein paar Neugierige noch auf die Idee kommen könnten, ihm zu folgen, um aus dieser seiner persönlichen Blamage eine große Story zu machen. Das zahl ich dir heim, das schwör ich dir!
Mit eingezogenem Kopf geht, nein, rennt er durch die Innenstadt. Leute, die ihn grüßen, bemerkt er nicht. Er hat einen Plan zu fassen, und er fasst ihn.
Ich werde damit anfangen, dass ich die geheime Geschichte der LaBelle gnadenlos an die Öffentlichkeit zerre. Ich würde meinen Hut darauf verwetten, dass es da eine Nazi-Vergangenheit gibt. Und damit ist der Star mit einem Schlag nur mehr die Hälfte wert. Doch auch das ist ihm noch zu wenig. Er denkt nach. Wir werden von ihrem Gastspiel nur so viel berichten, wie wir es unseren Lesern unbedingt schuldig sind. Und zum Konzert werde ich gar nicht erst hingehen, auch wenn mich der Pichler auf Knien anfleht. Na, der wird schon noch bereuen, was er getan hat. Der wird erkennen müssen, was es heißt, ihn, Hubert Grobian, vor allen Leuten bloßzustellen. Ihn, den bedeutendsten Kulturjournalisten des Landes.
Grobian ist mit seinem Plan zufrieden. Als er beim Torbogen Richtung Redaktion einbiegt, lächelt er fast schon wieder und erwidert den Gruß der Frau in der Portierloge mit routinierter Freundlichkeit. In der Woche, in der die LaBelle in Linz auftritt, wird er einen wenig motivierten Praktikanten haben, den er zum Konzert schicken wird. Sein Name ist Stefan Stösser.
»Ich bring dich um!«
Bernd Werner Grundlsee, Literat von - etwas verblasstem – internationalem Ruf, hat kaum die Wohnungstür aufgesperrt, was angesichts eines überdimensionalen Koffers in seiner Linken und einem Stapel Bücher unter dem rechten Arm gar nicht so einfach war, da stürzt seine Frau schon auf ihn zu und verkrallt ihre langen dunkelroten Fingernägel in seinen Haaren. Ihr Gesicht ist wutverzerrt, ihre Wimperntusche verschmiert. Sie hat geweint, aber das merkt er nicht.
»Aua! Gwen! Bist du denn jetzt komplett übergeschnappt? Lass gefälligst meine Haare los!«
Koffer und Bücher fallen knallend auf den Steinboden, dann umklammert er mit festem Griff ihre Handgelenke. »Weißt du, was mich diese Haare gekostet haben? Mehr als den Vorschuss für meine Memoiren, die ich noch nicht einmal geschrieben habe. Was denkst du dir also dabei, sie mir wieder auszureißen?«
Okay, er hat Gwendolyn vor fünf Jahren geheiratet, weil ihm damals ihr südländisches Temperament gefallen hat. Was war sie doch für eine Wildkatze gewesen. Jung – für einen damals Siebenundsechzigjährigen ist eine Frau Anfang vierzig jung –, leidenschaftlich und wild. Doch seit ihm ihre Leidenschaft im Bett zu viel geworden ist, lässt sie sie leider im Alltag an ihm aus, was gewaltig nervt. Wie gut, dass er sie in wenigen Tagen los sein wird.
»Wo bist du schon wieder gewesen? Wer ist sie? Wie heißt sie?«
Gott, immer die gleiche Leier. Seit er im Bett nicht mehr so kann, wie sie es offensichtlich erwartet, verdächtigt sie ihn, seine Energie in Betten anderer Frauen zu vergeuden. Natürlich ist das völlig aus der Luft gegriffen. Mein Gott, er ist zweiundsiebzig, auch wenn ihm das niemand ansieht. Er kann auch nicht mehr so, wie er gern wollen würde. Höchstens noch ab und zu, und diese Schäferstündchen sind nicht einmal ganz freiwillig und finden nur selten mit seiner Frau statt. Was soll er denn machen? Er hat nun einmal den Ruf eines Weiberhelden, und dieser Ruf verpflichtet. Wenn er also schon mit einer anderen flirtet oder schläft, dann hat das vielleicht etwas mit seinem Ruf zu tun - und mit Viagra -, aber doch überhaupt nichts mit Gwendolyn. Das hat er ihr schon so oft gesagt. Weiber! Dass sie sich so etwas nie merken können.
»Das Objekt deiner Eifersucht ist dein Sohn Ferdinand. Er hat mir seinen Koffer geliehen. Ach ja, und ich soll dir bestellen: ›Schöne Grüße an Mam!‹ Mam! Was für ein grässlicher neumodischer Ausdruck für ›Mutter‹. Diese Anglizismen und Amerikanismen können mir gestohlen bleiben.«
Gwendolyn lässt von ihm ab und bricht in Tränen aus. »Es tut mir ja so leid, Bernie.« Sie hebt die Bücher vom Boden auf und trägt sie ins Wohnzimmer. »Aber ich bin so schrecklich eifersüchtig. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du mich noch einmal vor allen Leuten demütigst. Wie steh ich denn da? Immer machst du mit anderen Frauen rum, jungen Mädchen, die deine Töchter, ach, was sage ich, deine Enkelinnen sein könnten. Weißt du, wie die Leute über mich reden, wenn sie solche Bilder in den Zeitungen sehen? Sie sagen ...«
Bla, bla, bla, denkt Grundlsee, schaltet auf Durchzug und folgt ihr mit dem Koffer in die Wohnung. Weibergewäsch. Sinnloses Lamentieren. »Suderei«, wie es der Exbundeskanzler einmal genannt hat. Grundlsee tut nicht einmal so, als würde er ihr zuhören, sondern ist in Gedanken bereits bei den nächsten Monaten. Ob er wohl sämtliche seiner bisherigen Bücher mit in den Turm nehmen soll? Das würde sicher Eindruck machen. Schon sieht er den Kommentar unter entsprechenden Bildern vor sich: »Inspiriert vom Geist und der Aura seiner eigenen Werke schreibt der intellektuelle Literat an seinen Memoiren.« Außerdem würde das Turmzimmer dann nicht mehr ganz so kalt und kahl wirken, und er könnte die religiösen Bücher, die die bisherigen Turm-Eremiten gelesen haben, getrost aus den Regalen entfernen lassen. Man hat ihm bereits gesagt, dass die Bibel und der Koran bereitlägen. Die Bibel? Der Koran? Was, bitte, soll er denn damit? Und wie schaut das denn aus, wenn ihn Journalisten im Turm wegen einer Fotostory besuchen? Da sollte man doch besser die Gelegenheit nützen, seine eigenen Bücher ins rechte Rampenlicht zu rücken.
»Versprich mir, dass du in Zukunft treu bist, Bernie.«
Gwens absurde Forderung dringt nun doch durch seine Gedanken zu ihm durch. »Versprich mir, dass man dich in Zeitschriften nie wieder in den Armen anderer Frauen abbilden wird. Dass du nie mehr ...«
Schlagartig sieht er wieder das Objektiv der Kamera vor seinem geistigen Auge, das vorgestern Abend auf ihn gerichtet war. Den Fotografen dahinter hat er leider beim besten Willen nicht erkennen können, doch der altbewährte Trick, im Restaurant die Vorhänge scheinbar beiläufig etwas zur Seite zu schieben, um den neugierigen Presseleuten ein willkommenes Fressen zu bieten, hatte wieder einmal funktioniert. Mit einigen Leuten vom ORF hatte er beim Nobel-Italiener im 1. Wiener Bezirk zu Abend gegessen, als er plötzlich das Objektiv entdeckte. Er konnte sich immer noch auf seinen durch langjährige Übung geschulten Instinkt verlassen. Rasch legte er den Arm um die hübsche Fernsehmoderatorin, die zufällig neben ihm saß, und drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. Sie war zwar sichtlich überrascht, wehrte sich aber nicht. Vielleicht auch deshalb nicht, weil die Kamera und damit auch sein Arm rasch wieder verschwanden. Von der Anwesenheit ihres Freundes auf der anderen Seite des Tisches hatte der Fotograf offensichtlich nichts mitbekommen – und der Freund hatte den Zwischenfall zum Glück ignoriert. In welcher Zeitung das Foto und die es begleitenden kecken Mutmaßungen wohl erscheinen werden?
»Ich sage es dir noch einmal, Bernie, die nächste Weibergeschichte, und ich bring dich um! Und wenn ich mich dafür heimlich deinen dummen Turm hinaufschleichen muss ...«
Bla, bla, bla, denkt Grundlsee noch einmal und hebt den Koffer auf den Wohnzimmertisch. Im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, er hätte die Worte seiner Frau ein wenig ernster genommen, aber das weiß er natürlich noch nicht.
Beim Ranking der wichtigsten Männer Oberösterreichs, das die Zeitung »Austria« auch in diesem Frühjahr wieder veröffentlicht hat, belegte Dr. Georg Stösser den dritten Platz. Damit landete er unmittelbar hinter dem Landeshauptmann und dem Generaldirektor der Raiffeisen-Landesbank, aber noch vor seinem Kollegen des benachbarten Stahlwerkes und einem Sänger mit Ziehharmonika. Als Generaldirektor der Linzer Chemiewerke LCW unterstehen Stösser fast viertausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der promovierte Chemiker zählt zu den anerkanntesten Fachleuten auf seinem Gebiet, und seine Mitarbeit in der Testphase der Polyolefin-Meltblown-Anlage sorgte selbst in internationalen Fachkreisen erst kürzlich für Aufsehen. Im näheren Umfeld gilt Dr. Stösser als machtbewusster, aber durchaus umgänglicher Manager, als ehrgeiziger Golfspieler und begnadeter Netzwerker.
»Der Georg Stösser kennt Gott und die Welt«, hatte der Landeshauptmann dem hochrangigen Publikum begeistert verkündet, als er ihm das »Goldene Ehrenzeichen des Landes« an die Brust heftete, »und Gott und die Welt kennen ihn.«
Damals hat er geschmeichelt gelächelt und seinem Laudator insgeheim recht gegeben. Doch als er jetzt so dasitzt und die Worte seines Sohnes in den Ohren nachklingen, da fühlt er sich, als hätte Gott ihn schlagartig aus seinem Bekanntenkreis verbannt.
Dabei hatte der Sonntagmorgen so friedlich begonnen. Alles war perfekt. Der Frühstückstisch elegant gedeckt, beide Kinder anwesend, seine Frau chic zurechtgemacht, korrekt frisiert und gut gelaunt, das Frühstücksei nicht zu hart und nicht zu weich und knusprig krachende Kaisersemmerln zwischen seinen Fingern.
»Ich weiß ja nicht, ob’s euch interessiert«, begann Stefan, also sein Sohn, unvermittelt, während sich seine Frau und Helene, die Jüngste der Familie, über deren Tanzstunde unterhielten, »aber die Jenny ist schwanger.«
Hätte Helene nicht erschrocken nach Luft geschnappt, wäre Georg Stösser die Tragweite dieser beiläufig geäußerten Worte gar nicht bewusst geworden.
»Und wer, bitte, ist die Jenny?«, wollte er wissen.
»Na, die Freundin vom Drazal-Joesi.« Stefan zuckte beiläufig mit den Schultern.
Er selbst schaute ratlos von seinem Sohn zu seiner Frau, dann zu Helene und schließlich wieder zu Stefan zurück. »Und warum erzählst du uns das?«
»Drazal?«, erkundigte sich seine Frau. »Der Name sagt mir etwas...« Sie überlegte kurz. »Sag jetzt nicht, dass du den Schläger meinst. Er ist Schlosser, wenn ich mich richtig erinnere. Voriges Jahr habe ich eines seiner Opfer vor Gericht vertreten. Der Mann sollte eigentlich in der Haftanstalt Stein sitzen, er ist zu achtzehn Monaten unbedingter Haft verurteilt worden.
»Und ist seit ein paar Tagen wieder auf freiem Fuß.« Stefans Stimme war düster.
»Und da hat er gleich seine Freundin geschwängert? Das ging aber prompt. Alle Achtung«, sagte Georg, weil er es nicht leiden kann, wenn ihm ein Gespräch entgleitet.
Sein Sohn schaute ihn mit großen Augen an, während Helene in ihre Serviette kicherte.
»Was redest du da? Warum sollte sich der Alte an der Jenny vergreifen?«
Er verstand gar nichts mehr. »Aber du hast doch selbst gesagt, dass der Schläger, also dieser Drazal, eine gewisse Jenny geschwängert hat, von der ich immer noch nicht weiß, wer das eigentlich sein soll. Eine Studienkollegin?«
»Der Drazal, von dem die Mama redet, ist der Vater vom Joesi«, erklärte Stefan ungeduldig und mit kaum zu überhörendem Trotz. »Der Joesi ist der Freund von der Jenny. Aber das Kind von der Jenny ist nicht vom Drazal, weder vom Joesi und schon gar nicht vom Alten, sondern von mir.«
»Dann werde ich ja Tante!« Helene war die Einzige am Frühstückstisch, die sich für ihren neuen Status begeistern konnte.
Es war nicht das erste Mal, dass sich Georg Stösser fragte, womit er einen so dämlichen Sohn verdient hatte. Seine Frau war zweifellos intelligent, das stellte sie jeden Tag in ihrer Rechtsanwaltskanzlei unter Beweis, und bei ihm selbst stand die Intelligenz ohnehin außer Frage. Aber bei Stefan war er sich nie sicher gewesen. Gut, der Junge hatte in der Schule stets annehmbare Noten, und sein Studium – Kommunikationswissenschaften, was auch immer das sein soll - verlief ohne nennenswerte Klagen. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, Stefan hätte etwas anders studiert, irgendetwas, das man in der Wirtschaft brauchen konnte, aber er hatte sich im Familienrat nicht durchgesetzt. Und nun machte ihn der Depp mit dreiundzwanzig tatsächlich zum Großvater. Kopfschüttelnd fuhr er sich mit beiden Händen durch sein schütter werdendes Haupthaar. »Schon mal etwas von Kondomen gehört, Parisern, Gummis?«