Bis die Fetzen fliegen - Sophia Scheer - E-Book

Bis die Fetzen fliegen E-Book

Sophia Scheer

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Beschreibung

Gianni Delucci kann sein Glück kaum fassen: Am Vormittag wird sein lästigster Gläubiger ermordet, und am Nachmittag lernt er einen Mann kennen, der sein bankrottes italienisches Lokal in St. Florian retten will. Doch kurz darauf ist auch Gianni tot. Er wurde in die Luft gesprengt. Dass es Selbstmord war, darf bezweifelt werden. Chefinspektorin Diana J. Pölz drängen sich viele Fragen auf …

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Kurzbeschreibung: Gianni Delucci kann sein Glück kaum fassen: Am Vormittag wird sein lästigster Gläubiger ermordet, und am Nachmittag lernt er einen Mann kennen, der sein bankrottes italienisches Lokal in St. Florian retten will. Doch kurz darauf ist auch Gianni tot. Er wurde in die Luft gesprengt. Dass es Selbstmord war, darf bezweifelt werden. Chefinspektorin Diana J. Pölz drängen sich viele Fragen auf …

Sophia Scheer

Bis die Fetzen fliegen

Der zweit Fall für Kommissarin Pölz

Kriminalroman

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2022 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2022 by Sophia Scheer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-472-1

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www.edelelements.de

Sophia Scheer hat als Juristin in aller Welt Verhandlungen geführt und arbeitet als Managementtrainerin, Vortragende und Autorin. Ihre historischen Romane (England, 19. Jh., unter dem Pseudonym Sophia Farago) landeten in Österreich und als E-Book auf den Bestsellerlisten. Nach »Alles Tote kommt von oben« rückt die begeisterte Linzerin auch mit diesem Roman ihre Heimat Oberösterreich in den Mittelpunkt ihrer originellen Krimireihe. www.sophias-romane.at

Sämtliche Personen und Handlungen sind völlig frei erfunden. Am Flughafen Linz wären solche Vorfälle in Wirklichkeit undenkbar, und auch wenn Sie sich oder jemand anderen wiederzuerkennen glauben, ich habe weder Sie noch ihn gemeint. Ehrlich nicht

 

 

 

 

Für meinen Vater, der ein großer Agatha-Christie-Fan war

1

Die Frage ist die: Hätte sich Gianni Delucci an diesem Abend auch so zufrieden in seine Bettdecke gekuschelt, wenn er gewusst hätte, dass er sich, auf den Tag genau, eine Woche später selbst in die Luft jagen würde? Dass man sein zerfetztes Gesicht von der dezent grau in grau getupften Seitenwand einer Boeing 737 kratzen und die Zeitung »Austria« titeln würde: »Mafia! Irrer Attentäter sprengt erst Promiparty, dann sich selbst in die Luft!«?

Die letzten Wochen waren für Gianni nicht einfach gewesen. Sein Restaurant steuerte im Eilzugtempo auf den Bankrott zu. Außerdem langweilte ihn nicht nur seine Frau, sondern auch jede einzelne Stunde, die er im beschaulichen St. Florian nahe Linz verbringen musste. Aber an diesem Donnerstag im April waren Glück und prickelnde Aufregung schlagartig in seinen zähflüssigen Alltag zurückgekehrt. Sein größter und lästigster Gläubiger, Heinrich Wertzheimer IV., Generaldirektor der Wertzheimer Privatbanken AG, war ermordet aufgefunden worden. Und zwar bevor dieser seine Drohung hatte wahr machen können, seinen Kredit fällig zu stellen. Doch damit noch nicht genug mit Giannis Glück. Am Nachmittag hatte er auch noch Piet Köflach kennengelernt, einen tollen Kerl, der ihm nicht nur versprach, das Restaurant zu retten, sondern auch, seinem Leben eine entscheidende Wendung zu geben. Wie groß diese Wendung sein würde, das konnte Gianni an diesem Donnerstag natürlich noch nicht ahnen.

Dabei hatte der Tag für Gianni Delucci völlig unspektakulär begonnen. Nichts an dem strahlend schönen Aprilmorgen kündigte die großen Ereignisse an. Wie so oft in der Früh schlich er sich aus dem Schlafzimmer, bemüht, Veronika nicht zu wecken. Seine Frau schlief noch tief und fest, ihre roten Locken malerisch auf dem blau-grün karierten Kopfkissen verteilt. Am vorigen Abend war es überraschend spät geworden. Gegen acht Uhr waren die Burschen der Freiwilligen Feuerwehr aus St. Florian und Umgebung in sein Restaurant »Da Gianni« eingefallen, um feuchtfröhlich den Geburtstag eines der Kollegen zu feiern. Gianni hatte den besten Umsatz seit Monaten gemacht, nicht zuletzt dank seiner unwiderstehlichen Cocktails. Seine Frau hatte ihm im Service ausgeholfen, was sie ausschließlich ihm zuliebe gemacht hatte. So wie sie schon viel ausschließlich ihm zuliebe getan hatte. Hierherzuziehen zum Beispiel, damit er das Gasthaus ihrer Oma übernehmen konnte. Seit fast zwölf Jahren war er nun mit ihr verheiratet. Für einen Mann wie ihn eine Ewigkeit. Seine eigene Mutter hatte immer gesagt, er wäre so makellos wie ein junger Gott, eine zum Leben erweckte Figur von Michelangelo. Mit einem Herzen aus Feuer und dem südländischen Temperament, das auch sie ausgezeichnet hatte. Ein solcher Mann war viel zu schade für eine Frau allein.

Ein eigenes Restaurant mit dem Namen »Da Gianni« zu besitzen, das war sein lang gehegter Traum gewesen. Dabei war er alles andere als ein guter Koch. Stattdessen war er zweifellos eine Koryphäe am Cocktail-Shaker und ein begnadeter Ciabattabäcker. Da das Restaurant so schlecht lief, hielten sie sich mit den Brotverkäufen, aber vor allem mit den Pilatesstunden, die Veronika gab und von denen er eigentlich nichts hielt, über Wasser. Was sollte es denn für einen Sinn haben, wenn sich Frauen gruppenweise trafen, um ihren Körper zu stählen? Wenn sie dabei immer noch dünner und sehniger wurden, statt stolz zu ihren weiblichen Rundungen zu stehen? Eine Frau, die Gianni gefallen wollte, brauchte einen Hintern und natürlich ausreichend »Holz vor der Hüttn«. Den Ausdruck kannte er von den Skilehrern in Lech am Arlberg, wo er jahrelang als Barkeeper gearbeitet hatte.

Auch an diesem Morgen im April hatte er wieder Ciabatta gebacken und ab sieben Uhr an zwölf Kunden im Umkreis ausgeliefert. Anschließend war er zur Villa Wertzheimer gefahren und hatte sich wie jeden Donnerstag durch den Hintereingang in den zweiten Stock hinaufgeschlichen, um mit Tatjana, der erfreulich hübschen slowakischen Pflegerin der alten Frau Wertzheimer, zu schlafen. Dr. Henriette Wertzheimer war so etwas wie die Grande Dame des Ortes. Steinreich, vornehm und, wie nicht nur er fand, furchterregend und unglaublich bissig. Wenn irgendjemand im Ort von »der Frau Doktor« sprach, dann wusste jeder, wer gemeint war.

Seltsamerweise war Tatjana nicht auf ihrem Zimmer gewesen, als er eintraf. Also hatte er sich schon einmal die Hose ausgezogen und war unter die Bettdecke geschlüpft. Das Bett war noch warm – anscheinend hatte es Tatjana erst vor nicht allzu langer Zeit verlassen – und machte Lust auf mehr. Er blickte sich um. Was er sah, hatte ihm noch nie gefallen. Stofftiere auf dem Regal über dem Bett, ein großer Strauß Kunstblumen auf dem Tisch. Und dann waren da noch diese seltsamen Puppen, die seine Geliebte in ihrer Freizeit fabrizierte. Flaschen in selbst gestrickten Gewändern, mit einer geschminkten Styroporkugel als Kopf und Haaren aus Wolle. Die Puppen verkaufte eine Freundin in Bratislava auf dem Wochenmarkt, sodass Tatjana damit zusätzliches Geld verdiente. Gianni wunderte sich nicht zum ersten Mal: Wie konnten einem nur solche Scheußlichkeiten gefallen?

2

Die Frau, die die dunkelgrüne Hochglanztür öffnete, trug eine gestärkte blütenweiße Schürze, die ihre untersetzte Figur unvorteilhaft betonte. Das Kleid darunter war violett, die kurzen lockigen Haare braun mit einzelnen weißen Strähnen. Sie sah aus wie eine brave Oma aus den fünfziger Jahren.

Diana hielt ihr die Dienstmarke entgegen. »Chefinspektorin Pölz«, die Hand mit der Plakette zeigte über ihre linke Schulter, »das sind Abteilungsinspektor See und Bezirksinspektor Wöglinger. Wir sind gekommen, um ...«

»Pst, ich bitte Sie, nicht so laut! Die Frau Doktor hat sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Ist ja auch kein Wunder, nach diesem Schock! Wir wollen sie doch auf keinen Fall stören.«

Diana nickte reflexartig und legte entschuldigend die Hand an die Lippen. See sah dazu offensichtlich keine Veranlassung. »Mir scheint, ich bin im falschen Film! Man könnte fast glauben, gleich geht die Tür auf und Hans Moser kommt um die Ecke. Oder Theo Lingen oder wie die früher alle geheißen haben.«

Die Chefinspektorin rollte mit den Augen und atmete tief durch, bevor sie sich umwandte. »War das jetzt wirklich notwendig?«

Nicht dass sie seinen Kommentar nicht witzig gefunden hätte, aber See ging ihr schon den ganzen Morgen auf die Nerven. Außerdem schadeten seine lässigen Bemerkungen dem Ansehen ihrer Funktion.

»Aber sicher«, lautete da auch schon die nächste freche Antwort. »Wer, bitte, spricht heute denn noch ernsthaft von Gemächern und Herrschaften und trägt dabei ein derart affiges Schürzchen?«

Wöglinger kicherte. See hatte dem Bezirksinspektor vor einigen Jahren den Spitznamen »der kleine Fritz« verpasst, eine nicht wirklich schmeichelhafte Bezeichnung für jemanden, der sich stets verbissen darum bemühte, ernst genommen zu werden. Dennoch war See seit Langem sein großes Idol. Erst der strenge Blick seiner Chefin ließ ihn innehalten.

Die Haushälterin ignorierte Wöglinger und wandte sich stattdessen an See. »Ich weiß nicht, wo Sie herkommen, Herr Inspektor, aber hierorts wird so gesprochen. Der Grund, warum ich Sie kommen ließ ...«

Diana unterbrach sie. Sie hielt es für angebracht, die Zügel wieder an sich zu reißen. »Dann haben also Sie die Polizei verständigt? Sehr gut. Ihr Name?«

»Trude Gomez. Ich bin die Haushälterin des Anwesens von Frau Dr. Wertzheimer. Seit beinahe vier Jahren. In der Früh bin ich hinauf zum IV., also zu Herrn Mag. Wertzheimer, um ihm seinen early morning tea zu bringen. Sie können sich vorstellen, wie erschrocken ich war, als ich ihn tot an seinem Schreibtisch sitzen sah.«

»Seinen early morning tea!«, wiederholte See, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er auch von dieser noblen Sitte reichlich wenig hielt.

»Bringen Sie ihm den jeden Morgen?«, erkundigte sich Diana.

Die Haushälterin nickte. »Das heißt, natürlich nur, wenn er in St. Florian ist, also war. Wollen Sie in sein Zimmer hinaufschauen? Ihre Kollegen von der Spurensicherung sind schon oben. Und der Arzt auch.«

Der Tote war vollständig bekleidet. Ein etwas zerknittertes weißes Hemd steckte in einer anthrazitfarbenen Anzughose, dazu trug er schwarze Socken und glänzende schwarze Lackschuhe, die zwischen den beiden Schubladenelementen des massiven antiken Holzschreibtisches hervorschauten. Es saß auf seinem ebenfalls schwarzen ledernen Schreibtischstuhl, den Oberkörper vornübergebeugt, die Stirn ruhte auf der Schreibtischplatte. Seine schüttere graue Haarpracht, die wohl sonst mit Gel nach hinten gekämmt war, fiel nun in einzelnen Strähnen nach vorne. Der rechte Ärmel des Sakkos war aufgekrempelt, in der Armbeuge steckte die Nadel einer Spritze.

»Was haben wir denn da?«, fragte See den Gerichtsmediziner anstelle einer Begrüßung und begann sich mit ihm zu unterhalten.

»Guten Morgen allerseits«, sagte Diana und drehte sich dann zur Haushälterin um. »Danke, Sie warten jetzt bitte draußen, Frau ... äh ...« Verflixt, ihr Namensgedächtnis!

»Der arme Herr Magister!« Die Haushälterin seufzte laut und vernehmlich. »Ich bin in der Küche, wenn Sie mich suchen. Von der Eingangshalle aus die äußerst rechte Tür.«

»Ach, eines noch, bevor Sie gehen: War Ihr Chef Diabetiker?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Weder – noch.«

Sie traf ein erstaunter Blick aus vielen Augen.

»Er war weder Diabetiker noch mein Chef.« Mit diesen Worten machte sie kehrt und stieg die Treppe hinunter.

»Geben Sie doch bitte der Mutter des Toten Bescheid, wir möchten sie in einer Viertelstunde sprechen!«, rief Diana ihr nach.

Die Haushälterin verharrte im Schritt. »Ich werde sehen, was sich machen lässt. Kommen Sie zu mir herunter, wenn Sie hier fertig sind.«

Diana nickte, betrat den wahrscheinlichen Tatort und schloss die Tür hinter sich. »Also noch einmal: Guten Morgen! Was wissen wir schon?«

»Der Mann hat sich den goldenen Schuss verpasst«, erklärte See, dem es diebisches Vergnügen bereitete, Diana immer einen Schritt voraus zu sein. Schließlich hatte auch er sich für die Stelle der Chefinspektion beworben gehabt, aber die Verantwortlichen hatten ihn ja unbedingt übergehen müssen. Und das, obwohl er seit Jahren erfolgreich für das oberösterreichische Landeskriminalamt in Linz tätig war. Nein, eine Wienerin hatte man holen müssen. Ausgerechnet! Aber der würde er schon zeigen, wo der Bartl den Most holte, also wer der wahre Herr in der Mordkommission war. Sein Ärger darüber, eine Chefin vor die Nase gesetzt bekommen zu haben, war auch in dem knappen Jahr noch nicht verraucht, in dem sie jetzt schon zusammenarbeiteten. Obwohl sie durchaus erfolgreich waren und miteinander schon einige Verbrechen aufgeklärt hatten. Ihr gemeinsamer Vorgesetzter, der Herr Oberst, wollte zwar, dass sie zu einem Team zusammenwuchsen, aber darauf konnte er lange warten.

»Mir scheint, wir können wieder zusammenpacken. Wenn sich einer mit der Nadel ins Jenseits befördert hat, sind wir dafür nicht zuständig.«

»So kann man das nicht sagen, Carlos«, widersprach da der Mediziner. Fast die gesamte Mannschaft des LKA nannte Karl-Heinz See Carlos, wenn sie mit ihm redeten, und oftmals »der schöne Carlos«, wenn über ihn. Es würde Diana stets ein Rätsel bleiben, wieso. Sie fand See ganz und gar nicht schön. Eher schon schmierig, mit seinen etwas zu langen braunen Haaren und der Brustbehaarung, die ihm aufgrund zweier meist offener Hemdknöpfe aus dem Ausschnitt quoll.

»Aber du hast doch selbst gesagt, du tippst auf Heroin, Doc?« See drehte sich verwundert zum Mediziner um.

»Seht euch die Armbeuge einmal genauer an«, antwortete dieser. »Ein paar offensichtliche Einstichversuche, aber kein einziger richtiger Einstich außer eben dem tödlichen. Das ist ziemlich ungewöhnlich. Vor allem für einen Mann seines Alters und seiner Position.«

»Aber es könnte trotzdem Selbstmord gewesen sein.« See wollte sich von seinem ursprünglichen Gedanken nicht verabschieden.

Der Mediziner nickte. »Ja, klar. Das wäre zwar möglich, aber ebenfalls ziemlich ungewöhnlich. Zum Glück ist es eure Aufgabe herauszufinden, ob es dafür Motive gab, nicht meine. Ich werde prüfen ...« Er hob den Kopf des Toten vorsichtig mit seinen behandschuhten Fingern an und roch an den Lippen. »Whisky! Das ist eindeutig Whisky. Er hat also vor seinem Tod getrunken. Allerdings sehe ich hier nirgendwo ein Glas.«

Diana deutete auf die Flasche mit der honiggelben Flüssigkeit, die neben dem Toten stand. »Vielleicht hat er ja direkt aus der da getrunken?«

See kam näher. »Was steht da drauf? Strathisla? Was soll das denn für eine Marke sein? Die habe ich ja noch nie gehört. Warum trinkt ein Banker, der sicher Geld wie Heu hat, so einen No-Name-Whisky?«

»Das heißt Stresaiisla«, meldete sich zu Sees Überraschung Bezirksinspektor Wöglinger zu Wort. »Und der Whisky ist alles andere als ein No-Name-Produkt! Das ist ein Single Malt. Höchste Qualität. Aus Schottland.«

Karl-Heinz See konnte es nicht leiden, wenn jemand mehr wusste als er. Und schon gar nicht der kleine Fritz.

»Woher willst du das denn wissen, du Klugscheißer?«

Fritz zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es eben. Mein Opa war Whiskytrinker.«

Der Arzt hatte inzwischen den Verschluss aufgedreht und roch an der Flasche. »Also, Whisky ist es mit Sicherheit. Ich habe aber weder eine Ahnung, ob sich um einen Single Malt handelt, noch, ob das dieselbe Flüssigkeit ist, die der Tote zu sich genommen hat.«

»Dann ab ins Labor damit«, bestimmte Diana an den Spurensicherer gewandt, der soeben den Inhalt des Schreibtisches überprüfte.

»Sobald ich den Mann auf meinem Tisch gehabt habe«, erklärte der Arzt nun, »kann ich euch sagen, ob der Tote den Whisky selbst getrunken hat oder ob er ihm nachträglich eingeflößt wurde, um irgendetwas zu verschleiern. Dann weiß ich auch, ob der Whisky rein war oder kontaminiert. Also, ob irgendjemand das Opfer damit betäubt hat, was ich für wahrscheinlich halte. Niemand lässt sich so mir nichts, dir nichts von irgendjemandem eine Spritze in den Arm jagen.«

»Irgendwelche Abwehrspuren?«, wollte Diana wissen.

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Kommen Sie, Kollege See«, sagte Diana, »wir werden jetzt der Hausherrin unsere Aufwartung machen, wie es in solchen Kreisen wohl heißt. Wahrscheinlich wartet sie schon unten im Wohnzimmer. Und ich bitte um ein bisschen mehr Feinfühligkeit, falls das möglich wäre.«

Doch See sah nicht so aus, als ob er große Lust auf Feinfühligkeit hätte. »Und du, Fritz«, befahl er stattdessen, »gehst durchs Haus und stellst fest, wer zur Tatzeit... Ach ja, was war denn die Tatzeit, so ungefähr zumindest, Doc?«

Der Arzt verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich tippe so auf zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht.«

»Du hast es gehört, Fritz. Finde also heraus, wer zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht sonst noch im Haus war.«

Diana hasste es, wenn See dem Bezirksinspektor Befehle erteilte, gerade so, als wäre sie nicht anwesend. Allerdings hatte sie keine Lust, ihm vor allen Leuten eine Szene zu machen, also schwieg sie. Um genau zu sein, hatte sie überhaupt nie Lust auf eine Szene. Sie wusste, dass das ein Fehler war und der Grund dafür, dass sich der schöne Carlos immer noch so viele Freiheiten herausnahm, und sie beschloss, an ihrem Führungsverhalten zu arbeiten.

3

Es war knapp nach zehn Uhr, und Tatjana war immer noch nicht aufgetaucht. Gianni beschloss, ihr eine SMS zu schicken, und ging dann in ihr Bad, das direkt von ihrem Schlafzimmer abging. Beim Rückweg fiel sein Blick zufällig durch den Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen, und die Geschehnisse vor der Villa Wertzheimer fesselten umgehend seine Aufmerksamkeit.

Ein Polizeiauto mit Blaulicht parkte auf dem gekiesten Vorplatz neben zwei Mittelklassewagen, ein Uniformierter stand breitbeinig vor dem Portal. Gianni überlegte noch, was das alles bedeuten mochte, da wurde die Zimmertür aufgerissen, und Tatjana stürmte in den Raum. »Entschuldige bitte, Gianni, Liebling, ich hatte völlig dich vergessen. Du nicht ahnen, was hier los ist! Oh, du bist nackt? Besser, du dich anziehen.«

Gianni bedeutete ihr, zu ihm ans Fenster zu treten. »Das musst du dir anschauen! Ein Riesenaufgebot an Carabinieri. Cosa è successo? Was wollen die denn hier? Da muss euer guter Heinrich ja allerhand ausgefressen haben.«

»Ausgefressen? Was soll das heißen: ausgefressen?«

»Er muss sich allerhand zuschulden kommen haben lassen, sonst wären nicht so viele Polizisten hier. Die anderen beiden Autos sollen wohl unverdächtig wirken, aber mich können sie damit nicht täuschen. Wahrscheinlich ist das die Kriminalpolizei. Das ist ja wie im Film, incredibile!«

Tatjana war sofort an seiner Seite. »Ich weiß, dass das ist Kriminalpolizisten. Um Himmels willen, Gianni, du musst gehen! Wenn sie dich hier erwischen, dann sie erzählen Frau Doktor, und ich verlieren meinen Job! Da, deine Hose! Schnell! Rýchle! Rýchle!«

Sie griff nach seinen Jeans, die er achtlos über einen Stuhl gelegt hatte, und warf sie ihm zu. Er fing sie zwar auf, konnte aber seinen Blick nicht von den Geschehnissen vor dem Haus lösen. »Schau nur, da sind welche von der Spurensicherung. Sie tragen wirklich so weiße Anzüge, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Wenn ich nur wüsste, was der gute Wertzheimer –«

»Herr Wertzheimer ist tot, Gianni!«

Er fuhr herum. »Tot? Echt? Das ist ja toll! Hast du ihn umgebracht, cara mia?«

Er lachte laut auf, aber Tatjana war weit davon entfernt, einzustimmen. »Bist du verrückt? Ist nicht gute Zeit für Witze! Wenn sie dich so hören, sie dich nehmen mit. Ich müssen jetzt zurück zu Frau Doktor. Gianni, zieh endlich Hose an!«

Er tat es und war eben dabei, die Knöpfe seiner Jeans zu schließen, als sich die Tür abermals mit einem Schwung öffnete und ein junger Mann mit Brille seinen Kopf zur Zimmertür hereinsteckte. Er war eher klein und schlank, seine braunen Haare kurz, das junge Gesicht so ernst, wie es die Sachlage erforderte.

»Bezirksinspektor Fritz Wöglinger.« Er hielt ihnen seine Dienstmarke hin. »Wer sind Sie, und was machen Sie hier?«

Für kleine Wichtigtuer wie den, der vor ihm stand, hatte der Italiener nicht das Geringste übrig. »Ich bin Gianni Delucci«, antwortete er daher betont lässig, »und ich schließe meine Hose.«

»Hinsetzen. Alle beide«, befahl der Bezirksinspektor, der nichts mehr hasste, als nicht gebührend ernst genommen zu werden.

»Aber ich müssen zur Frau Doktor!«, protestierte Tatjana.

»Das Einzige, was Sie müssen, ist, meinen Anweisungen Folge zu leisten«, sagte der kleine Fritz streng. Dann fugte er hinzu: »Außerdem wird Sie Frau Wertzheimer derzeit nicht vermissen. Sie wird von meiner Chefin befragt.«

Tatjana erbleichte. »Aber warum befragen alte Dame? Ist Mutter. Hat sicher nicht umgebracht eigene Sohn!«

Der kleine Fritz wurde hellhörig. »Ach, tatsächlich? Und wer war es dann? Sie vielleicht? Wo waren Sie gestern zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«

Während Tatjana ihm ihren Tagesablauf schilderte, der damit endete, dass sie um zweiundzwanzig Uhr ihre Dienstherrin zu Bett gebracht hatte, um dann gegen dreiundzwanzig Uhr auf ihr Zimmer zu gehen, was den Bezirksinspektor zu einem »Aha, also kein Alibi zur Tatzeit!« veranlasste, dachte Gianni an das Gespräch zurück, das er mit dem Toten am Vortag geführt hatte. Er war sich sicher, dass Heinrich Wertzheimer IV. nur aus einem einzigen Grund regelmäßig in St. Florian auftauchte, nämlich, um ihn zu schikanieren. Kein Mensch glaubte doch, dass er seine Mutter besuchen wollte! Wer begab sich denn schon freiwillig in die Nähe dieser furchterregenden Frau? Jeden Mittwoch um neunzehn Uhr, man hätte die Uhr nach ihm stellen können, war Wertzheimer in den letzten Wochen im »Da Gianni« erschienen, um mit perverser Befriedigung festzustellen, dass die Geschäfte noch immer nicht besser liefen, und die sofortige Kündigung seines Kredites anzukündigen. So auch gestern.

»Mein lieber italienischer Freund«, hatte Wertzheimer mit einem Blick über die fast leeren Tische gesagt und seine schmalen Lippen zu einem hämischen Lächeln verzogen. »Das hier nennen Sie ein Erfolgskonzept?«

»Warten Sie ab, Signore Wertzheimer, das wird schon noch –«

»Warten Sie ab, warten Sie ab«, hatte er ihn nachgeäfft und war sich dabei nicht einmal zu blöde, die italienische Färbung seiner Aussprache zu imitieren. »Zeit vergeuden, das geht vielleicht in Sizilien oder wo immer Sie herkommen –«

»Roma!«

»Aus Rom? Egal. Aber hierzulande ist Zeit Geld. Time is money. Und Sie, mein lieber italienischer Freund, haben kein Geld und damit auch keine Zeit mehr.«

Das Wortspiel hatte ihn sichtlich amüsiert, auch wenn es deutlich war, dass er es nicht zum ersten Mal zum Besten gegeben hatte. »Sie haben sich den Kredit bei meinem Bankinstitut arglistig erschlichen. Der vorgelegte Businessplan war erstunken und erlogen. So etwas ist strafbar! Gleich morgen werde ich zu unserem Anwalt gehen und ihn damit beauftragen, Anzeige zu erstatten. Sie werden in Kürze von ihm hören. Und in der Zwischenzeit können Sie sich schon mal Gedanken darüber machen, wie Sie die neunzigtausend Euro zurückzahlen, denn den Kredit stelle ich in jedem Fall fällig!«

Gianni hatte außer dem Wort »Anwalt« und dem genannten Betrag nicht viel verstanden, denn Wertzheimer sprach schnell, und Gianni waren die meisten Ausdrücke, die er gebrauchte, nicht geläufig. Trotzdem wusste er, worum es ging, und dem Banker erging es unter dem Schwall an italienischen Beschimpfungen, der sich daraufhin über ihn ergoss, nicht viel anders.

Und jetzt war er tot. Sehr wahrscheinlich gestorben, noch bevor er den Anwalt hatte aufsuchen können.

Gianni Delucci, du bist ein Glückskind!, dachte er im Stillen, während er mit tragischer Miene ausrief: »Èincredibile! Doch nicht der Herr Wertzheimer! Wie ist es denn passiert? Wissen Sie schon, wer es war?«

»Sie vielleicht?«, lautete die Gegenfrage.

»Aber das können Sie doch nicht wirklich ernst meinen, commissario!«, lautete die entrüstete Antwort, die Hand ans Herz gelegt.

»Wo waren Sie gestern am Abend, zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr? Hier bei der Dame?«

Gianni machte eine abwehrende Handbewegung. »Wo denken Sie hin? Ich war in meinem Lokal, dem ›Da Gianni‹. Kennen Sie mein Lokal, commissario? Der beste Italiener weit und breit.«

»Wer kann das bezeugen?«

Zum Erstaunen der beiden Männer gab die slowakische Altenbetreuerin ein amüsiertes »Ha!« von sich.

»Bitte?« Bezirksinspektor Wöglinger war irritiert.

»Sie haben doch gefragt, wer kann bezeugen, dass Gianni hat bestes italienischen Lokal? Muss ich lachen. Niemand kann bezeugen, denn Lokal ist nicht gut. Gar nicht gut!«

»Das ist jetzt aber nicht nett von dir, carissima! Außerdem ist mein Restaurant ohne Zweifel das beste italienische Lokal in St. Florian.«

Tatjana lachte noch mehr. »Es ist das einzige, Gianni, mein Schatz!«

»Wie gut Ihr Restaurant ist, interessiert doch hier keinen«, fuhr der Inspektor dazwischen. »Meine Frage war: Wer kann bezeugen, dass Sie zur offensichtlichen Tatzeit in Ihrem Lokal waren?«

»Meine Frau und die gesamte Freiwillige Feuerwehr St. Florian!«, antwortete Gianni mit Vergnügen.

4

»Sie haben Glück, die Frau Doktor ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.«

Frau Trude strich die weiße Schürze glatt, klopfte an der hohen weißen Flügeltür, beugte den Kopf vor, um das »Herein!« besser hören zu können, und hielt Diana die Tür zum Salon auf.

Wenn sie je in einem Raum gewesen war, der die Bezeichnung »Salon« verdient hatte, dann war es dieser. Mindestens viereinhalb Meter hohe, mit beigegrauer Seide tapezierte Wände, eine kunstvoll verzierte Stuckdecke, gegenüber der Tür mannshohe weiße Sprossenfenster, von denen man einen herrlichen Ausblick auf die weitläufigen Gartenanlagen hatte. Daneben eine Vitrine mit bunten Glasfiguren. Weitere Figuren standen auf dem Tischchen vor der ausladenden weinroten Couch. An der Wand rechts mehrere Jagdszenen in schweren goldenen Rahmen. An der Wand links, akkurat nebeneinanderhängend, Porträts von vier Männern in dunklen Anzügen. Die Standuhr in der Ecke daneben tickte laut und vernehmlich. Es war bereits zwanzig Minuten nach elf.

Der Rollstuhl neben dem prasselnden Kaminfeuer war leer. Die Hausherrin thronte am Kopfende des massiven Tisches. Eine große, hagere Frau, aufrecht wie die hohe, steife Lehne ihres Stuhls. Die weißen Haare waren hochgesteckt. Sie trug ein Hörgerät in beiden Ohren, eine dicke, schwere Silberkette und große silberne Ohrclips als einzigen Schmuck. Das Gewicht der Clips hatte die Ohrläppchen im Laufe der Jahre geradezu grotesk in die Länge gezogen. Der Anblick der Frau erinnerte Diana an ihre Großmutter, die strenge Frau Landesgerichtsrat Holzer, ebenfalls Mitte achtzig. »Natürlich habe ich keine Löcher in den Ohren, wo denkst du hin!«, hatte sich diese vor ein paar Jahren entrüstet, als Diana sie fragte, ob das Tragen der Clips nicht äußerst schmerzhaft wäre. »Ich bin schließlich eine Dame.« Gerade so, als hätte sie Diana nach einem Bauchnabelpiercing gefragt.

»Sind Sie gekommen, um mich anzustarren? Ich dachte, Sie hätten Fragen.« Die Stimme der Hausherrin klang streng.

Diana riss ihren Blick von den baumelnden Ohrclips los, beeilte sich zu grüßen, die Dienstmarke zu zücken und sich und ihren Kollegen See vorzustellen, der ihr, die Hände in den Taschen vergraben, langsam in den Salon gefolgt war. »Unser tiefstes Beileid zum Tod Ihres Sohnes.« Sie hasste es, diese Worte auszusprechen. Wie sollten sie eine betagte Mutter darüber hinwegtrösten, dass ihr Kind vor ihr gestorben war? Doch die Hausherrin schien keines Trostes zu bedürfen.

»Wer von Ihnen beiden leitet die Ermittlungen?«

»Ich!« Diana wunderte sich nicht, dass See hinter ihr unwillig schnaufte. Ihm wäre es anders lieber gewesen.

»Bravo! Endlich ist auch die Polizei so weit, Frauen gehobene Positionen bekleiden zu lassen. Das wurde aber auch Zeit. Trude, den Tee!«

Nun besann sich auch See seiner Kinderstube, nahm die Hände aus den Taschen und grüßte höflich. Diana war immer wieder fasziniert, wie er innerhalb von Sekundenbruchteilen vom muffigen in den charmanten Modus wechseln konnte, wenn er sich davon einen Vorteil erhoffte.

»Beeindruckende Gemälde, Frau Wertzheimer.« Er deutete an die Wand. »Alles Ihre Ahnen, nehme ich an?«

»Frau Dr. Wertzheimer«, korrigierte Trude streng, bevor sie den Raum verließ, um dem Befehl nach Tee nachzukommen.

Ihre Dienstherrin nickte. »Sehr richtig, Frau Dr. Wertzheimer, so viel Zeit muss sein. Und das sind selbstverständlich nicht meine Ahnen. Wenn Sie mitgedacht hätten, wüssten Sie, dass das alles Männer der Familie Wertzheimer sind.« Sie griff zu ihrem schwarzen Ebenholzstock mit dem fein verzierten silbernen Griff und deutete auf das erste Bild, das einen Mann im dunklen Anzug zeigte. »Heinrich I., er hat unsere Bank gegründet.« Der Stock rückte nach rechts. »Daneben sein Sohn, Heinrich der II., mein Schwiegervater. Ein unangenehmer Mensch, der IV. war ihm sehr ähnlich. Ich habe beide nie gemocht.«

Während sich Diana noch stirnrunzelnd fragte, ob sich die alte Dame eben wirklich vernichtend über ihren eigenen Sohn geäußert hatte, rückte der Stock zum nächsten Gemälde weiter.

»Hier haben wir den III., meinen lieben Mann, Gott hab ihn selig. Eine Seele von Mensch, doch völlig untauglich fürs Geschäft. Ein Künstler. Er hat oben im Augustiner Chorherrenstift die Bruckner-Orgel gespielt. Zum Glück hatte er ja mich für die Bank.« Der Stock rückte zum letzten Bild. »Den Herrn hier brauche ich Ihnen wohl nicht vorzustellen, den haben Sie ja schon gesehen. Das ist der IV., mein Sohn. Nehmen Sie Platz. Ich mag es nicht, wenn ich die ganze Zeit zu jemandem hinaufschauen muss.«

Der Mann auf dem Gemälde blickte ernst und streng auf die Betrachter. Rote Wangen, eine hohe Stirn, die Haare schütter und, wie Diana bereits angenommen hatte, nach hinten gekämmt. Unverkennbar der Tote aus dem Arbeitszimmer, auch wenn der um einiges blasser gewesen war.

»Der Tod Ihres Sohnes scheint Ihnen nicht wirklich nahezugehen«, sprach See Dianas Gedanken aus, während er sich setzte. »Hatten Sie Streit?«

»Ich streite prinzipiell nicht«, entgegnete die alte Dame kühl. »Und schon gar nicht mit meinen Kindern. Der IV. war einfach ein unangenehmer Mensch.« Sie zögerte kurz, bevor sie fortfuhr. »Das sollte ich wohl besser nicht sagen, aber es entspricht den Tatsachen. Er war rechthaberisch und völlig humorlos. Jede menschliche Regung wie Mitgefühl oder Empathie war ihm fremd.«

»Wer außer Ihnen und Ihrem Sohn lebt noch in diesem Haus?«, wollte See wissen.

»Aber mein Sohn wohnte doch nicht hier. So weit kommt es noch, dass ein Mann Mitte fünfzig bei seiner Mutter wohnt! Was haben Sie denn für Vorstellungen vom Leben, junger Mann?«

»Es geht nicht um meine Vorstellungen, sondern darum, dass wir Ihren Sohn heute in seinem Zimmer gefunden haben. In diesem Haus. Tot. Höchstwahrscheinlich ermordet.«

»Das weiß ich inzwischen auch, aber vielen Dank, dass Sie mich auf so einfühlsame Weise daran erinnern.« Frau Dr. Wertzheimer wandte sich an Diana. »Sehen Sie, das meinte ich mit fehlender Empathie. Wenn Sie also wissen wollen, was für ein Mensch der vierte Wertzheimer war, dann brauchen Sie ihn sich nur so wie Ihren Kollegen vorzustellen.«

Während See hörbar mit den Zähnen knirschte, beschloss Diana, die alte Dame zu mögen. »Wenn Ihr Sohn nicht hier wohnte, wo dann?«

»In Wien. Bitten Sie Trude, Ihnen seine Adresse zu geben. Er ist in den letzten Jahren mehrfach umgezogen, die jeweils aktuelle Adresse konnte ich mir nie merken. Der IV. leitete die Bank seit meiner Pensionierung. Ich bin vor sechzehn Jahren mit fünfundsechzig in Pension gegangen, wie es sich gehört. Ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass in Österreich für Frauen andere Regeln für das Pensionseintrittsalter gelten sollen. Warum sollen sie früher in den Ruhestand gehen können als Männer? Aber das ist ja jetzt nicht das Thema. In letzter Zeit kam Heinrich jedenfalls oft nach St. Florian. Offiziell, um hier«, sie zeichnete mit beiden Händen Gänsefüßchen in die Luft, »nach dem Rechten zu sehen. Aber in Wahrheit wollte er mich kontrollieren und mir auf die Nerven gehen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich mich lieber heute als morgen aus dem Aufsichtsrat zurückziehen sollen, aber den Gefallen habe ich ihm natürlich nicht getan.«

»Sie sitzen noch im Aufsichtsrat der Bank?«

Frau Wertzheimer sah Diana streng an. »Selbstverständlich. Ich bin seit meiner Pensionierung die Vorsitzende und gedenke, es auch noch geraume Zeit zu bleiben.«

»Frau Doktor, der Tee, bitte schön!« Frau Trude kam geschäftig herein, ein voll beladenes Tablett vor ihrem üppigen Busen. »Ich habe auch ein paar Kekserl mitgebracht. Darf ich gleich einschenken?« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern verteilte das Geschirr, stellte den Teller mit den Plätzchen in die Mitte, Milch und Zucker daneben und goss dann den Tee in das zarte blütenweiße Porzellan mit schmalem Goldrand.

See nahm seine Tasse und murmelte: »Ich schau mir mal die Küche an.« Dann folgte er Frau Trude nach draußen.

»Eine tüchtige Haushälterin«, sagte Diana, weil sie das Gefühl hatte, es würde von ihr erwartet.

Frau Wertzheimer nickte. »Das kann man wohl sagen. Ein Glücksfall heutzutage. Trude ist jetzt schon seit fast vier Jahren bei mir. Ich mag sie gern. Lieber jedenfalls als meine Kinder. Sie tut wenigstens etwas für mich und gibt keine Widerworte.«

Widerworte? Was war denn das für ein schrecklicher Ausdruck? Diana beschloss, die Frau Doktor doch nicht gar so sehr zu mögen. »Sie haben mehrere Kinder?«

»Na ja, jetzt nur mehr eines, meine Tochter Gabriele. Gabriele Quiterail. Sie hat vor mehr als zwanzig Jahren nach Amerika geheiratet und nennt sich jetzt Gaby.« Es klang wie Gäääbü. »Wir sehen uns nicht oft. Ich kann Amerika nicht leiden. Keine Geschichte, keine Kultur. Natürlich hat sie ihr amerikanischer Lover schon vor Jahren sitzen lassen, aber das war ja zu erwarten. Ich darf später nicht vergessen, sie zu verständigen. Trude soll mir dann das Telefon bringen.«

»Sie wohnen also alleine in diesem großen Haus«, nahm Diana den ursprünglichen Faden wieder auf.

»Das ist richtig.« Frau Wertzheimer nickte bestätigend. »Wenn man von den Dienstboten absieht, die im zweiten Geschoss ihre Räumlichkeiten haben. Trude bewohnt dort einige Zimmer und Tatjana die anderen.«

»Tatjana und wie weiter?«

Frau Wertzheimer verzog unwillig die Lippen. »Rntschitz, Trantschitsch, was weiß denn ich? Irgendetwas Slowakisches. Fragen Sie am besten Trude.«

»Das werde ich. Und diese Tatjana ist ...?«

»Sie geht mir bei meiner Körperpflege zur Hand. Ich habe mir ein Auto gekauft, mit dem sie mich herumkutschiert, außerdem achtet sie darauf, dass ich meine Tabletten rechtzeitig nehme und solche Dinge.«

»Ihre Altenpflegerin also«, fasste Diana zusammen und wusste, kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, dass sie ein Fehler gewesen waren. »Sonstige Personen?«, fragte sie schnell weiter.

Frau Wertzheimer hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, ersparte Diana aber eine rügende Bemerkung, die ihr offensichtlich auf der Zunge lag. »Absolut niemand. Nur Dragan, der Gärtner. Aber der wohnt nicht im Haupthaus, sondern in einem Anbau. Hier hatten wir für ihn zu wenig Platz.«

»Den Nachnamen des Gärtners erfahre ich dann auch von Frau Trude?«

»Selbstverständlich.«

»Um es noch mal zusammenzufassen: Im Erdgeschoss gibt es also dieses Wohnzimmer –«

»Sie meinen den Salon.«

»Richtig, den Salon. Dann noch eine Küche ...«

»Ein Frühstückszimmer, das Esszimmer und diverse Wirtschaftsräume. Und natürlich noch die große Eingangshalle.«

»Natürlich. Und oben?«

»Im ersten Stock befinden sich meine privaten Räume. Sie haben den Treppenlift gesehen? In einem Stiegenaufgang aus Marmor! Ein entsetzlicher Anblick, aber eben auch ein notwendiger.«

»Und außerdem?«

»Das große Zimmer meines Sohnes, das er sowohl als Büro als auch als Schlafgemach verwendete, wenn er hier war. Aber ich nehme an, das kennen Sie bereits. Sicher haben Sie dort schon alles durchsucht.«

»Und weiter?«

Die alte Dame überlegte. »Nur noch ein paar Gästezimmer, nichts Besonderes«, sagte sie schließlich.

»Wer bewohnt diese zurzeit?«

Frau Doktor machte eine ausholende Handbewegung. »Sehen Sie hier vielleicht irgendwo Gäste? Die Zimmer stehen leer. Aber tun Sie sich keinen Zwang an, schauen Sie ruhig nach, ich habe nichts zu verbergen.«

»Wann haben Sie Ihren Sohn das letzte Mal gesehen?«

»Das war hier im Salon, gestern um zweiundzwanzig Uhr. Ich gehe immer pünktlich um zehn ins Bett. Ich brauche meinen Schlaf, schließlich bin ich nicht mehr die Jüngste. Auch wenn ich betonen möchte, dass ich noch nicht so alt bin, eine Altenpflegerin zu brauchen. Bei Weitem noch nicht so alt!«

Diana musste innerlich grinsen. Das war ja klar gewesen, dass eine Retourkutsche kommen würde. Sie ging nicht darauf ein. »Und Ihr Sohn?«

»Der blieb noch vor dem Fernseher hocken, wollte aber auch bald darauf schlafen gehen. Er bat Trude, ihm schon den Whisky im Schlafzimmer herzurichten. Heinrich trank täglich ein Glas Whisky zum Einschlafen. Er sagte stets: ›Nach einem Glas Whisky schlafe ich wie ein Baby.‹ Na ja, wird wohl so gewesen sein.«

»Das heißt, Ihr Sohn nahm keine Schlafmittel?«

»Wo denken Sie hin! Er hasste Tabletten. Er nannte sie Gift für den Körper und wollte mir sogar ausreden, die Medikamente zu schlucken, die mein Arzt mir regelmäßig verschreibt.«

»Können Sie sich erklären, wie es dazu kam, dass heute Morgen eine Nadel mit Heroin in dem Arm Ihres Sohnes steckte?«, fragte Diana geradeheraus.

»Was steckte wo? Wer oder was soll das sein?« Die Fragen klangen scharf.

Diana stutzte. War es möglich, dass die alte Frau tatsächlich noch nie etwas von Heroin gehört hatte? »Heroin ist ein Rauschgift«, begann sie zu erklären.

»Wirkstoff Diacetylmorphin, ich weiß. Ich bin alt, aber nicht blöd«, lautete die vernichtende Antwort. »Ich habe lediglich nachgefragt, weil ich Sie akustisch nicht verstanden habe. Mit mir müssen Sie etwas lauter reden. Und nein, mein Sohn hat mit Sicherheit nicht freiwillig Drogen genommen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Er war ein unguter Mensch, dem Ehre und Moral über alles gingen. So jemand nimmt keine Drogen!«

»Und wie erklären Sie sich dann die Spritze, die in seiner Armbeuge steckte, als wir ihn gefunden haben?«

Frau Wertzheimer überlegte. »Mein Sohn könnte zum Beispiel Diabetiker gewesen sein.«

»Und, war er Diabetiker?«

»Nein.«

Diana beschloss, vor Frau Wertzheimer auf der Hut zu sein. Niemand sagte, dass es eine alte Frau nicht faustdick hinter den Ohren haben konnte. »Aber warum sagen Sie dann ...? Ach, ist ja auch egal. Das Labor wird klären, ob es sich beim Inhalt der Spritze um Heroin gehandelt hat.«

»Na, dann warten wir das Ergebnis wohl zuerst einmal ab. Und was geschieht als Nächstes?«

»Meine Kollegen sind soeben dabei, Ihre Bediensteten zu befragen. Der Leichnam Ihres Sohnes ist wahrscheinlich schon auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Das Zimmer, in dem wir ihn gefunden haben, bleibt versiegelt, also unternehmen Sie keinen Versuch, es zu betreten, bis wir es nicht freigegeben haben. Ich muss Sie auch bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten.«

»Wohin sollte ich auch fliehen? Mit dem Rollstuhl komme ich nicht weit.«

»Ernsthaft, Frau Wertzheimer ...« Ein strenger Blick aus eisblauen Augen stoppte Diana. »Frau Dr. Wertzheimer«, verbesserte sie sich. »Angenommen, Ihr Sohn wurde wirklich ermordet, hatte er Feinde?«

»Aber ja, jede Menge.«

»Und wen, zum Beispiel? Wer hatte ein Motiv?«

»Da kann ich gar nicht alle aufzählen, die in Frage kommen. Allerdings kenne ich niemanden, der meinen Sohn mochte. Keinen Einzigen in unserer Bank. Keiner meiner Angestellten. Aber die haben ihn deshalb sicher nicht umgebracht. Wahrscheinlich war es einer seiner Schuldner. Heinrich stellte jeden Kredit bedingungslos fällig, wenn er dazu halbwegs eine Chance erkannte. Ich habe es Ihnen ja gesagt, er war völlig ohne Mitgefühl. Ohne jede Empathie. Apropos mangelnde Empathie: Ihr Kollege ist jetzt aber schon lange in der Küche.«

5

Die drei Inspektoren trafen sich am südlichsten Ende der ausgedehnten Parkanlage wieder, die zur Villa Wertzheimer gehörte. Direkt am Ufer eines großzügig angelegten, malerischen Seerosenteichs. Frau Trude hatte ihnen das idyllische Plätzchen vorgeschlagen. Abgeschirmt von bereits grünen Fliederbüschen standen hier zwei Bänke. Die Fliederblüten waren noch geschlossen, doch ein zarter Hauch ließ die Duftexplosion der kommenden Wochen bereits erahnen. Zwischen den Bänken stand ein grober Holztisch, auf den die Haushälterin aufmerksam, wie sie nun mal war, eine Platte mit belegten Brötchen und eine Kanne Eistee mit Gläsern gestellt hatte. Hier konnten sie sich ungestört über die bisherigen Ergebnisse unterhalten und so lange warten, bis die örtliche Filiale der Wertzheimer Privatbank wieder geöffnet hatte. Es war warm für Mitte April.

»Also, was haben wir?« See ließ sich auf eine der Bänke fallen, streckte seine langen Beine von sich und hielt sein Gesicht in die Sonne. Seine etwas zu langen Haare verdeckten im Nacken den Kragen seines beigen Hemdes.

Diana ging zum Wasser, um zu sehen, ob schon eine Seerosenblüte zu entdecken war. Aber nein, dafür war es wohl doch noch zu früh im Jahr. Sie mochte Seerosen und fand, dass sie in ihrer makellosen Schönheit fast unwirklich aussahen. Ihr achtloser Blick streifte den zu einer runden Kugel geschnittenen Buchsbaum neben dem Weg und verharrte. »Was haben wir denn da? Herr Wöglinger, ab damit in ein Nylonsackerl!«

Der Bezirksinspektor streifte einen Handschuh über und zog eine Flasche aus dem Busch, die er weisungsgemäß in eine Tüte steckte.

See hatte nur kurz die Augen geöffnet. »Großartig, eine Flasche. Der Fall ist gelöst, halleluja!«

»Das ist eine Flasche derselben Marke wie die, die wir im Zimmer des Toten sichergestellt haben. Strathisla«, stellte der kleine Fritz verwundert fest.

»Na und? Vielleicht hat sich der Tote Mut angetrunken, bevor er sich den goldenen Schuss verpasste.« Trotz der Bedenken des Mediziners war See noch immer nicht gewillt, seine Selbstmordtheorie zu begraben. »Der Doc hat schließlich Whisky an seinen Lippen gerochen.« Er dehnte und streckte sich auf seiner Bank, bevor er die Augen erneut öffnete und sich umschaute. »Oder aber das hier war sein heimlicher Saufplatz. Hier hätte ihn seine strenge Mutter nie erwischt. Oder es handelt sich um einen simplen Zufall, und die Flasche gehörte jemand ganz anderem.«

»Das glaube ich nicht, Carlos. Wie ich schon gesagt habe, diesen edlen Whisky bekommt man hier nirgendwo, ich glaube, den gibt es nur in Schottland. Daher gehe ich sicher davon aus, dass die Flasche dem Toten gehörte.«

»Das wird das Labor klären«, machte Diana der Diskussion ein Ende. »Also, was wissen wir noch?«

»Wenn ihr mich fragt, dann war dieser Wertzheimer ein Riesenungustl, der sich jede Menge Feinde gemacht hat. Dass ihn jemand umgebracht hat, das ist neben der Selbstmordvariante, die ich immer noch bevorzuge, eine durchaus nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit«, sagte See, ohne die Flaschenfrage weiter zu kommentieren, und schloss wieder die Augen. »Nicht einmal die Alte, seine hochherrschaftliche Mutter, mochte ihn. Allerdings hat sie kein Motiv. Sie ist selbst reich genug, kann sich kaum mehr bewegen und wird wahrscheinlich eher selten Heroin zu Hause horten.«

»Die Mutter schließe ich auch aus«, sagte Diana. »Wie hätte die auch heimlich in sein Zimmer gelangen sollen? Sie braucht ja für alles und jedes Hilfe.«

Wöglinger zog die Stirn in Falten. »Was ist mit einem Komplott? Diese Pflegerin könnte der alten Frau geholfen haben, und dann ...«

»Das glaubst du doch selbst nicht, Fritz! Hören wir endlich auf zu phantasieren. Laut Spurensicherung haben wir jede Menge Fingerabdrücke im Raum, die in den nächsten Tagen ausgewertet werden. Dann wissen wir bestimmt mehr.«

Fritz, der, wenn er ehrlich war, selbst ein Komplott für unwahrscheinlich gehalten hatte, bemühte sich eifrig, wieder etwas Konstruktives zum Gespräch beizutragen. »Den Schuhabdruck, der in einem Beet vor dem Fenster des Toten gefunden wurde, dürfen wir auch nicht vergessen, Carlos! Größe sechsundvierzig, sagt der Alfred.«

Diana nickte. »Das kann uns weiterbringen, muss es aber nicht. Der Abdruck könnte auch von einem der letzten Abende stammen. Das Fenster zum Zimmer stand anscheinend jede Nacht sperrangelweit offen, weil der Tote ein Frischluftfanatiker war. Das wird der Täter ausgenutzt haben. Wir haben jedenfalls keinerlei Einbruchspuren. Man muss nicht besonders sportlich sein, um in das Zimmer im ersten Stock zu gelangen.«

»Besonders, da der Gärtner praktischerweise eine angelehnte Leiter hat stehen lassen, bevor er auf Urlaub fuhr«, sagte Diana.

»Der Mörder ist immer der Gärtner«, warf Wöglinger ein und war der Einzige, der darüber lachte.

See machte die Augen wieder auf und wandte sich Diana zu. »Richtig, das habe ich Ihnen ja noch gar nicht erzählt. Als ich von der Haushälterin erfahren habe, dass der Gärtner vorgestern in seine Heimat gefahren ist, habe ich ihn von der Küche aus angerufen und auf einer bosnischen Festnetznummer erreicht. Damit dürfte er als Verdächtiger ausscheiden.«

»Es sei denn, er ist nicht bereits vorgestern, sondern erst heute in der Nacht abgereist.«

»Sehr richtig, Fritz.« See nickte. »Er kommt in ein paar Tagen wieder zurück, dann kannst du ihn dir vorknöpfen.«

»Dann ist da noch die Haushälterin ...«, sagte Diana, die gegen den Plan nichts einzuwenden hatte.

See lachte. »Die gute Frau Trude. Eine freundliche, liebe Frau, eine Art treue Seele. Ich finde zwar ihr Schürzerl nach wie vor deppert und das ganze Heimatfilmgetue ebenfalls, aber sonst ist die harmlos. Außerdem ist sie eine ehrliche Haut. Sie hat offen zugegeben, dass sie vom Toten nicht begeistert war, weil er kein idealer Sohn gewesen sein soll, aber sie redet auch nicht schlecht über ihn. Neben der alten Wertzheimer selbst macht auch die mir nicht den Eindruck, als laufe sie mit Heroinspritzen in ihrer Handtasche durch die Gegend. Außerdem hat sie kein Motiv.«

Doch Diana war nicht überzeugt. »Der hausbackene Schein kann trügen. Gehen wir den Tatabend noch einmal durch: Frau Wertzheimer und die Pflegerin gingen um zehn nach oben.«

»Etwa zur selben Zeit brachte Trude ein Glas mit Eiswürfeln ins Zimmer des Opfers, da dieses seinen Whisky angeblich immer eiskalt trank«, ergänzte See.

»Was für ein Banause!« Wöglinger verzog angewidert das Gesicht. »Bourbon kann man auf Eis trinken, wenn es unbedingt sein muss, aber doch keinen schottischen Single Malt. Den trinkt man bei Zimmertemperatur.«

»Ich kenn mich da ja nicht aus, aber wenn das so ist, wie Fritz sagt, dann wurde unserem Heinrich danach vielleicht so schlecht, dass es kein Wunder ist, dass er Domofortil zum Einschlafen brauchte. Ich würde auch –«

Diana stutzte. »Schlaftabletten? Seine Mutter hat gesagt, dass Wertzheimer nie Tabletten nahm.«

»Gestern schon«, widersprach See ungerührt. »Frau Trude hat ihm eine Domofortil aus der Hausapotheke gebracht, bevor sie selbst zu Bett ging.«

Während Diana noch grübelte, ob dieser Widerspruch etwas zu bedeuten hatte, meldete sich wieder Fritz zu Wort. »Ich habe die Altenpflegerin Tatjana Rasinic und ihren italienischen Lover befragt. Das ist eine fesche Tussi, das kann ich euch sagen. Sie gibt an, mit Wertzheimer nicht viel zu tun gehabt zu haben, weil sie ausschließlich für die Bedürfnisse der Alten zuständig sei. Aber sie hat bestätigt, Frau Wertzheimer um zehn Uhr ins Bett gebracht zu haben, ihre normale Schlafenszeit. Tatjana sei dann noch etwas bei ihr geblieben und habe ihr Gesellschaft geleistet, weil sie nicht einschlafen konnte. Als sie selbst ins Bett ging, war es dann schon nach elf.«

»Klingt nicht nach einem wasserdichten Alibi. Wer ist der italienische Lover?«

»Einen Augenblick, Frau Pölz, das ist ein gewisser«, Wöglinger blätterte in seinem Block, »Gianni Delucci. Er hat anscheinend ein Restaurant hier in St. Florian, direkt im Zentrum, hinter der Polizeistation am Gendarmerieplatz.«

»Gianni?«, entfuhr es Diana. »Gianni Delucci war bei der Altenpflegerin? Na, das ist ja die Höhe! Die arme Veronika!«

Jetzt setzte sich See doch auf. »Sie kennen den Typen?«

»Gianni ist der Mann meiner Pilatestrainerin. Sie erinnern sich an den Fall im Herbst, als wir das letzte Mal in St. Florian waren? Da habe ich Veronikas Firmenschild gesehen, und seither besuche ich ihren Kurs mindestens einmal die Woche. Sie gibt die Stunden einen Stock über dem italienischen Restaurant ihres Mannes. Wenn ich daran denke, wie sie immer von ihrem Gianni schwärmt, und jetzt erfahre ich ... Also, so etwas!«

»Der langen Rede kurzer Sinn«, meinte Kollege See in seiner unnachahmlich charmanten Art, »die Pilatesfrau hätte also guten Grund, ihren Mann umzubringen, aber der lebt noch. Die Frage lautet daher: Hatte der Italiener ein Motiv, Wertzheimer zu töten?«

Wöglinger schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, welches. Der hatte doch mit Wertzheimer gar nichts zu tun.«

»Wieso weißt du das? Der Wertzheimer könnte doch auch auf die Altenpflegerin scharf gewesen sein, wenn die wirklich so fesch ist, wie du sagst. Das werde ich noch überprüfen.«

Wöglinger grinste, und Diana rollte mit den Augen. Klar, dass der schöne Carlos keine Möglichkeit verstreichen ließ, eine gut aussehende Frau genauer unter die Lupe zu nehmen.

»War er die ganze Nacht bei dieser Rasinic?«, fragte sie.

Wöglinger schüttelte abermals den Kopf. »Er will erst heute hergekommen sein, so gegen zehn.«

»Alibi?«

Jetzt nickte der kleine Fritz. »Anscheinend war die gesamte Freiwillige Feuerwehr zum Tatzeitpunkt bei ihm im Lokal. Ich hab einige Namen aufgeschrieben, die werde ich überprüfen ... He, wer sind Sie denn? Was schleichen Sie hier herum?«

Dianas Hand ging reflexartig zum Pistolenholster und sank wieder, als sie sah, wer vor ihnen stand. Ein alter Mann, ungefähr einen Meter achtzig groß, die grauen Haare am Ansatz schütter und im Nacken zu einem dünnen Rossschwanz zusammengebunden. Wache Augen in einem wettergegerbten Gesicht, dazu ein ungepflegter grauer Vollbart. Wie alt mochte er sein?, überlegte sie. Achtzig? Vielleicht ließ ihn der graue Vollbart aber auch älter erscheinen, als er tatsächlich war. Seine Brille war groß und so altmodisch, dass sie fast schon wieder als retro durchgehen hätte können, wäre sie am Nasensteg nicht mit durchsichtigem Klebeband zusammengeflickt worden. Der Mann trug ein graues Hemd zu einer grünen Kniebundhose, unter der fleckigen schwarzen Jacke waren Hosenträger zu sehen. Die Kleidung wirkte abgenutzt und fadenscheinig, die Hände in löchrigen Wollhandschuhen hielten jeweils eine bunte Tragetasche vom Discounter, ein gelber Rucksack baumelte über seiner Schulter. Der Mann war ohne Zweifel ein Sandler.

»Das geht Sie einen feuchten Dreck an! Ich frag Sie ja auch nicht, was Sie hier machen.«

»Kriminalpolizei«, sagte der kleine Fritz in wichtigem Tonfall und hielt dem Mann seine Dienstmarke unter die Nase. »Wir ermitteln –«

»Gegen den Wertzheimer?«, fiel ihm der Mann ins Wort. »Das wundert mich nicht. Ich habe mir schon lange gedacht, dass bei dem irgendwas faul ist.«

Wöglinger wurde hellhörig. »Aha, das heißt, Sie kannten Heinrich Wertzheimer?«

»Wer kennt den nicht? Rennt ja überall herum und spielt den Herrn Oberwichtig. Außerdem ist er der Sohn von der Frau Doktor, und die kennt im Ort nun wirklich jeder. Was hat er denn ausgefressen, der Heinrich?« Der Alte schien höchst interessiert, beantwortete seine Frage aber gleich selbst. »Na ja, Steuerhinterziehung wahrscheinlich. Oder Betrug? Zuzutrauen wär ihm beides.«

»Sie haben den Toten offensichtlich nicht gemocht?«, schlussfolgerte Wöglinger messerscharf.

»Was denn für einen Toten? Wo soll denn ein Toter sein? Da im Teich etwa?« Mit schleppenden Schritten ging der Alte ans Ufer und suchte die Wasseroberfläche zwischen den Seerosenblättern ab.

»Ich spreche von Heinrich Wertzheimer.« Fritz Wöglinger kam immer mehr in Fahrt. »Anscheinend haben Sie ihn gehasst.«

Der Alte fuhr herum. »Gehasst, gehasst!«, äffte er den Bezirksinspektor nach. »Was für ein großes Wort. Ich hab den Mann doch gar nicht persönlich gekannt. Glaubst du vielleicht, der redet mit unsereinem? Heißt das jetzt, dass der tot ist, oder was?«

Was der Sandler sagte, klang schlüssig, fand Diana. Wie sollte er außerdem ungesehen in die Villa gekommen sein? Sie hielt es für ausgeschlossen, dass der Mann die Leiter hochgeklettert sein konnte. Er tat sich ja schon beim Gehen auf ebener Erde schwer.

»Wissen wir, ob die Türen zum Haus versperrt waren?«, fragte sie ihre Kollegen.

»Die Frau Trude ist sich sicher, sämtliche Zugänge kontrolliert zu haben«, bestätigte See ihre Vermutung. »Alles war in Ordnung.«

»Wo waren Sie gestern zwischen zweiundzwanzig und vierundzwanzig Uhr?«, fragte der kleine Fritz trotzdem.

»Auf meiner Matratze, wenn Sie’s genau wissen wollen. Wo hätte ich denn sonst gewesen sein sollen, mitten in der Nacht? Ich bin alt, ich brauche meinen Schlaf.«

»Kann das jemand –«

»Geh, Fritz, das bringt doch nichts!« Inspektor See war ganz offensichtlich gelangweilt. Für ihn war diese Vernehmung sinnlos und musste schnellstmöglich beendet werden. »Zeigen Sie dem Kollegen noch geschwind Ihren Ausweis, dann können Sie gehen!«

Der Alte murmelte etwas Unverständliches, nahm aber den gelben Rucksack von der Schulter und fischte einen zerfledderten rosa Führerschein aus dem Seitenfach. »Bitte schön, da haben S’!«

»Der ist aber auch nicht mehr der neueste«, urteilte der kleine Fritz streng. »Hans-Peter Schoiswohl, lassen Sie sich bei Gelegenheit einen neuen ausstellen. Mit einem aktuellen Foto.«

»Aber sicher nicht, ich fahr nicht mehr Auto und werde ganz bestimmt nicht sinnlos Geld hinausschmeißen! Kann ich jetzt gehen?«

See verabschiedete den Obdachlosen mit einer energischen Handbewegung und einem ebenso energischen »Wiederschauen!«.

Der Mann nickte, brummte irgendetwas in seinen Bart und trottete seines Wegs.

6

»Hallo! Ich bin es, deine Großmutter! Hallo! Hörst du mich?«

»Ja, Granny, sure, mit deinem Geschrei könntest du ja Tote aufwecken.«

»Sei vorsichtig, was du sagst. Wo bist du?«

»Mit Adriana in Bratislava, aber das weißt du doch, Granny. Sie will mir ihre Heimatstadt zeigen. Warum –«