Der tote Bäcker vom Montmartre - René Laffite - E-Book

Der tote Bäcker vom Montmartre E-Book

René Laffite

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Beschreibung

Commissaire Geneviève Morel gilt als eine der erfolgreichsten Ermittlerinnen der Pariser Polizei. Ihre Aufklärungsquote ist legendär. Kein Wunder, denn sie entstammt einer Familie von Kunstdieben und hat das Geschäft der anderen Seite von Kindesbeinen an gelernt. Doch der Familiensegen hängt schief. Welcher Meisterdieb will schon einen »Flic« in den eigenen Reihen haben? Bei der Aufklärung des Mordes am bekanntesten Pariser Bäcker muss Geneviève alle Register ziehen - und das bedeutet auch, die kriminellen Kontakte der eigenen Familie zu nutzen.

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Buecherwurm1910

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Mit Geneviève und ihrer Assistentin Lunette hat René Laffite ein starkes Ermittlerduo erschaffen. Die malerischen Beschreibungen von Paris vermitteln das Gefühl, mitten im Geschehen dabei zu sein. Die Idee, die Kommissarin aus einer Familie von Kriminellen stammen zu lassen, gefällt mir sehr gut und wird sicher noch genug Stoff für weitere Bände bieten.
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René Laffite

Der tote Bäcker vom Montmartre

Commissaire Morel ermittelt

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung von: © Illustration Lutz Eberle nach einem Foto von hassanmim2021 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7946-5

Widmung

À Faby et tous nos amis parisiens

EIN MIESES GEFÜHL

Commissaire Geneviève Morel erwachte an diesem Morgen im späten April mit einem ganz miesen Gefühl. Dabei bestand kein Grund dazu. Es war 6 Uhr, die Dämmerung stieg bereits langsam herauf, und es versprach ein sonniger Frühlingstag in Paris zu werden. Ihr innerer Wecker hatte perfekt funktioniert. Von ihrem Vater hatte sie gelernt, sich eine innere Uhr anzuerziehen, die mindestens ebenso verlässlich war wie die Smartwatch, die auf dem Nachtkästchen neben ihr lag.

Geneviève streckte sich und blickte durch das Mansardenfenster über ihrem Bett. Der Ausblick erhellte ihr Gesicht mit einem seligen Lächeln. Die Kuppeln der Basilika Sacré-Coeur ragten zum Greifen nahe vor ihr auf. Ihr Weiß so hell, dass sie auch in tiefster Nacht nicht zu übersehen waren. Wenn frühmorgens die ersten Sonnenstrahlen auf den weißen Stein der Basilika fielen, schien das Gotteshaus von innen zu leuchten. Der Stein selbst schien wie ein Geschenk Gottes. Sacré-Coeur war aus Château-Landon-Steinen erbaut worden. Diese Steine gaben bei jedem Regen Calcit ab und sorgten so dafür, dass sich die Basilika ständig selbst einen neuen, strahlend weißen Anstrich gab.

Ihre Gedanken wurden von Merlot rücksichtslos gestört. Sie hatte den fünfjährigen Maine-Coon-Kater als ausgesetztes Babykätzchen aus einem Tierheim in Paris gerettet. Am gleichen Tag, an dem sie selbst in Paris angekommen war und die Dachgeschosswohnung in einem Haus an der Ecke Rue Maurice Utrillo und Rue Paul Albert unterhalb von Sacré-Coeur bezogen hatte. Geneviève hatte sich damals nicht lange mit der Wohnungssuche aufhalten müssen. Das Haus stand im Besitz ihrer Familie, das Stockwerk unterhalb der Dachgeschosswohnung wurde von Genevièves Mamie, Olivia Morel, bewohnt. Die anderen Stockwerke waren – teuer – vermietet. Der Rest der Familie – Mutter, Vater und ihr jüngerer Bruder Frédéric samt Frau und Kindern – bevorzugte es, dem Savoir-vivre an der Côte d’Azur zu frönen. Geldsorgen gab es in ihrer Familie nicht. Alter Geldadel und eine der größten Kunstsammlungen Frankreichs machten solche Sorgen überflüssig. Es war jedoch nicht Genevièves Welt. Dafür unterschied sie sich zu sehr vom Rest der Familie. Sie schüttelte mit einem schwachen Lächeln den Kopf. Nein, darüber wollte sie wirklich nicht nachdenken. Warum auch, wenn sich ihr Kater gerade mit lautem Schnurren bei ihr einschleimte? Seinen Kopf an ihrem nackten Unterarm rieb und sich fest an sie lehnte.

»Au!«, rief sie schließlich leise tadelnd. Merlot hatte sie zärtlich und doch fordernd in den Daumen gebissen. Natürlich war seine Schmeichelei nicht reine Zuneigung. Der Kater hatte einfach Hunger.

Geneviève rollte sich aus dem Bett. Aus ihrem Schlafzimmer gelangte sie in ein großes Wohnzimmer, das einen Großteil des Dachgeschosses einnahm. Merlot war vorgetrabt und wartete an der Küchenzeile darauf, dass Frauchen endlich die Futterlade öffnete. Geneviève schüttelte ihre schulterlangen schwarzen Haare und kam der mit einem lauten Maunzen vorgetragenen Bitte nach. Sie quetschte das Katzenfutter aus dem Plastiksäckchen, leise vor sich hin fluchend, weil es gar so mühevoll war, auch die letzten Stückchen aus der Verpackung zu streifen. Merlot waren die Mühen seiner Ernährerin völlig egal. Der riesige weinrote Kater saß geduldig wartend neben Genevièves nackten Füßen. Lediglich das Hin- und Herwedeln seines buschigen Schweifs verriet die Aufregung des Tiers. Als Geneviève sich schließlich hinunterbeugte, um die Futterschüssel auf den Boden zu stellen, war es mit der Aufgeräumtheit vorbei. Als hätte der Kater seit Tagen nichts zu fressen bekommen, stürzte er sich auf sein Futter.

Geneviève streichelte Merlot einmal von Kopf bis zum Schwanz, was das Tier völlig kaltließ, und ging ins Bad. Die ausgiebige Morgenwäsche musste warten. Heute früh wollte sie ein wenig laufen gehen. So, wie sie es vier bis fünf Mal die Woche machte. Am Weg retour würde sie Baguette und Croissants für sich und Mamie mitnehmen, um mit der Großmutter kurz zu frühstücken, bevor sie ihren Dienst am Kommissariat antrat. Ein Morgenritual, das mehrmals die Woche am Programm stand.

Das miese Gefühl hatte sie die ganze Zeit über nicht verlassen, war wie ein Jucken in ihrem Rücken gesessen, das man nicht und nicht erreichen konnte. Sie checkte ihr Handy – keine Nachricht vom Kommissariat des 18. Arrondissements. E-Mail ebenfalls Fehlanzeige. Kein Alarm. Aber die Vorahnung ließ sie nicht los.

Sie streifte ihre Smartwatch über und schlüpfte in ihre Laufklamotten. Geneviève zog ihr Fitnessprogramm zwar auch im Winter durch, aber jetzt im Frühling machte es mehr Spaß und kostete deutlich weniger Überwindung. Statt zwei oder drei Schichten Kleidung konnte sie jetzt in Shorts und T-Shirt ihre Runde durch ihr Arrondissement ziehen.

Geneviève zog die Eingangstür hinter sich zu und nahm die Treppen. Ein Stockwerk tiefer öffnete sie die Tür zur Wohnung der Großmutter. Vielleicht hatte das miese Gefühl ja etwas mit ihr zu tun?

Auf Zehenspitzen schlich sie in das Appartement, das den kompletten vierten Stock des Hauses einnahm. Alter Geldadel eben.

In der Wohnung der Großmutter war es mucksmäuschenstill. Aramis, der Cocker Spaniel von Mamie, blickte aus seinem Hundekörbchen im Vorzimmergang der Wohnung kurz auf und setzte seinen Schlaf fort, nachdem er Geneviève erkannt hatte. Als Wachhund taugte der alte Spaniel nicht, stellte Geneviève fest. Was sie jedoch nicht abhielt, sich zu ihm zu beugen und ihm sanft über den Kopf zu streicheln. Immerhin waren seine Manieren besser als jene von Merlot. Bevor Mamie nicht aufstand, würde er auch nicht um Futter betteln. Andererseits war es genau diese Eigenwilligkeit, die Geneviève an ihrem Kater – und grundsätzlich allen Katzen – so schätzte. Es entsprach mehr ihrem eigenen Charakter als die kopflose Hörigkeit von Hunden.

Geneviève stahl sich auf Zehenspitzen über den mit teuren Perserteppichen ausgelegten Parkettboden. Das Schlafzimmer lag am anderen Ende der Wohnung, im Gegensatz zu ihrem eigenen nicht mit Blick auf die prachtvolle Kirche weiter oben am Hügel, sondern hofseitig, sodass Mamie garantiert morgens ihre Ruhe hatte. Die Tür zum Schlafzimmer war einen Spalt offen. Vorsichtig stieß sie die Tür weiter auf. Es war stockfinster, die Jalousien waren runtergelassen. Sie steckte ihren Kopf durch den schmalen Spalt und hörte das leise Schnarchen der Großmutter. Sie war mit einigen anderen feinen Damen der Pariser Gesellschaft am Vorabend unterwegs gewesen und hatte sich einen kleinen Damenspitz zugelegt. Vorzugsweise mit dem einen oder anderen Glas Kir, so wie Geneviève sie kannte.

Leise zog sie die Schlafzimmertür hinter sich zu und schlich sich aus der Wohnung. Mit Mamie war alles in Ordnung. Aber noch immer war dieses nagende Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Vom unguten Gefühl getrieben lief sie die restlichen Stockwerke hinunter und hinaus ins Freie. Links vom Eingangstor war ein Bistro, zur Rechten ein schmaler Vorgarten. Ein zwei Meter hoher schwarzer Eisenzaun hielt Eindringlinge davon ab, das Grundstück zu betreten.

Geneviève stand nun am Rand eines kleinen namenlosen Platzes, in dessen Mitte in einem Halbkreis gleich vier schmale Gassen zusammenstießen. Geneviève nahm keine davon. Stattdessen wandte sie sich rechts und nahm die Rue Maurice Utrillo – eine gewagte Bezeichnung für eine etwa drei Meter breite und 65 Meter lange Steinstiege, die bis hinauf zum Fuß von Sacré-Coeur reichte.

Kaum jemand war um diese Zeit auf den Straßen von Montmartre unterwegs. Geneviève hatte die Gegend ganz für sich allein. So wie es ihr am liebsten war. Die frische, klare Luft belebte sie, machte sie sogar ein klein wenig übermütig. Jeweils zwei Treppen auf einmal nehmend, lief sie die Stiegen den Hügel hinauf. Die Treppe war in der Mitte durch ein schmiedeeisernes Geländer geteilt und von hohen Eisenzäunen links und rechts abgegrenzt. Auf der rechten Seite reihte sich ein wunderschönes altes Haus an das nächste. Auf der linken Seite säumten Bäume die steil ansteigende Treppe, dahinter erstreckte sich gleich der weitläufige Park, der in abfallenden Etagen von der Basilika bis hi­nunter zur Place Saint Pierre reichte und den südöstlichen Teil des Butte dominierte.

Oben angekommen machte Geneviève für einen Moment Halt. Die Stufen im Sprinttempo zu nehmen hatte den Puls selbst für eine durchtrainierte Frau wie die Kommissarin in ungesunde Höhen getrieben. Aber das miese Gefühl war ein wenig in den Hintergrund getreten. Ihr Herz war damit beschäftigt, Blut durch den Körper zu pumpen. Sie schmunzelte und setzte ihre Runde in gemäßigterem Tempo fort. Nur vereinzelt traf sie auf Passanten. Hier ein Zeitungsausträger, da ein Bäcker, der für eine Zigarette vor seine Boulangerie getreten war, eine Handvoll anderer Läufer. Man nickte sich freundlich zu und hing sonst seinen eigenen Gedanken nach. Geneviève ließ ihre Gedanken schweifen. Sollte sie für Mamies Frühstück Baguette besorgen? Ein Pain au Chocolat? Ein Pain au Raisin? Oder gleich alles davon?

Genevièves Weg führte sie vorbei an Sacré-Coeur, die nördliche Seite des Hügels hinunter bis zum Boulevard Ornano, über die Rue de Clignancourt zurück in südlicher Richtung bis zum Boulevard Marguerite de Rochechouart und schließlich über mehrere verwinkelte, kleine Gassen auf die Place du Tertre. Hier, am nördlichen Ende des bei Touristen so beliebten Platzes, in der Rue Norvins, lag ihre Stammbäckerei, Le Palais des Pains.

Am Platz angekommen lief sie locker aus und ging langsam unter den austreibenden Laubbäumen, die den gesamten Platz einnahmen, weiter. Den Künstlern, die hier tagsüber ihrer Profession nachgingen, und den Gastgärten der zahlreichen Restaurants spendeten sie im Sommer bitter nötigen Schatten.

Frühmorgens strahlte der Platz eine ganz eigene Atmosphäre aus. Ruhe und Ungeduld zugleich. In wenigen Stunden würden hier Touristenhorden durch die Gassen getrieben werden, viele von ihnen ein Porträt von sich anfertigen lassen, andere im Schatten der Bäume einen Kir, einen Cidre oder ein Glas Rosé aus der Provence genießen. Momentan lag der Platz aber noch da wie ein schlafender Hund. Geneviève hatte das Gefühl, dass der Hund bereits ein Auge geöffnet hatte und auf seine Beute wartete.

Schließlich sah sie auf die Uhr. Kurz vor 7 Uhr. Der Bäcker sperrte erst um Punkt 7 Uhr auf. Geneviève nahm auf einer Bank Platz, holte ihr Handy heraus und checkte ihre Werte auf der Fitness-App. Etwas über sieben Kilometer in knapp 32 Minuten. Okay für einen lockeren Morgenlauf. Im Notfall konnte sie auch etwas schneller. Das hatte nicht erst ein Verbrecher verdutzt einsehen müssen, der gedacht hatte, einer Polizistin zu Fuß entkommen zu können.

Ein Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Sie sprang auf und sah sich um. Nichts. Außer den Bäumen und ein paar Tauben war nichts zu sehen. Doch dann wieder: ein Schrei. Jetzt, wo sie darauf vorbereitet war, erkannte Geneviève, dass der Schrei gedämpft klang. Als würde er aus dem Inneren eines der Häuser, welche den Platz auf allen Seiten säumten, kommen. Sie schloss die Augen und wartete auf den nächsten Schrei. So noch einer kommen sollte. Aber damit rechnete sie felsenfest. Die ersten beiden Schreie, so viel hatte sie unbewusst registriert, hatten nicht auf eine unmittelbare Bedrohung schließen lassen. Es waren Schreckensschreie. Weibliche Schreckensschreie.

Der dritte Schrei kam. Und diesmal war sich Geneviève sicher, woher er kam. Sie sprintete Richtung Rue Norvins. Zwischen Souvenirläden und Restaurants nahm eine Boulangerie das gesamte Erdgeschoss eines Hauses ein. Nicht irgendeine Boulangerie. Ihre Boulangerie.

Die Tür zum Palais des Pains stand sperrangelweit offen. Von innen konnte sie eine Frauenstimme schluchzen hören. Unverständliches Gebrabbel. Noch mehr Schluchzen. Jammern. Unendlicher Schmerz lag in der Stimme.

Vorsichtig näherte sich Geneviève dem offenen Türspalt. Automatisch fuhr ihre Hand zum Brusthalfter, aber sie hatte ihre Dienstwaffe, eine SIG Sauer Special Police, natürlich nicht mit. Wer ging bewaffnet joggen? So ein Zwischenfall war ihr in ihrer Karriere noch nie untergekommen.

Noch immer klang die jammernde Stimme gedämpft. Geneviève überflog mit einem Blick den Verkaufsraum der Boulangerie. Es war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Ein Teil der Boulangerie wurde von einer Handvoll runder Stehtische eingenommen, an denen Gäste ihren morgendlichen Kaffee und ihr Croissant oder Pain au Chocolat gleich im Lokal konsumieren konnten. Vor der Rückwand des großen Raums stand eine lange Theke mit Glasvitrine, in der die in den letzten Stunden gebackenen Leckereien präsentiert wurden. An der Rückwand hingen mehrere Körbe mit verschiedensten Baguette-Variationen. Stets griffbereit, um sie der Kundschaft noch warm in eine Tüte zu packen und zu überreichen. Der Geruch stieg ihr verführerisch in die Nase. Geneviève liebte den Duft frischer Backwaren. Er erinnerte sie an ihre Kindheit in Cannes. Der Weg zum Bäcker war einer der wenigen, den ihre Mutter gemeinsam mit ihr absolviert hatte. Die restlichen Einkäufe wurden vom Personal der Familie Morel erledigt. Man gönnte sich ja sonst nichts.

Die schluchzende Person war noch immer nicht zu sehen.

Auf Zehenspitzen durchquerte Geneviève den leeren Raum. Der verlockende Duft der frischen Backwaren erweckte in Geneviève weitere, zu diesem Zeitpunkt absolut unpassende Assoziationen an ihre Kindheit. Es hatte schon mit dem Teufel zugehen müssen, wenn der Stammbäcker der Familie Morel in Cannes nicht auch immer wenigstens ein Petit Pain au Chocolat für die kleine Geneviève übriggehabt hätte. Dem zarten Schoko-Blätterteig-Gebäck war Geneviève heute noch verfallen. Interessant, wie sich gewisse Kindheitserinnerungen im Kopf festsetzten, für immer blieben und das Verhalten steuerten. Heute war sie immerhin in der Lage, den inneren Schoko-Schweinehund soweit unter Kontrolle zu halten, dass sie sich nicht auf jedes unbewachte Pain au Chocolat stürzte.

Geneviève schüttelte den Kopf. Jetzt war wirklich nicht die Zeit, sich von einem Duft in Kindheitserinnerungen fangen zu lassen. Es gab Dringenderes zu erledigen.

Gebückt schlich sie weiter. Sie konnte die flennende Frauenstimme noch immer hören. Hinter der Theke stand eine Tür weit offen. Es war der Eingang zur Backstube, die auch tagsüber in Betrieb war, um stets Nachschub an frischem Gebäck zu liefern. Von dort kam die Stimme, war sich Geneviève sicher. Sie ging um die Theke, sah sich um und nahm ein Brotmesser. Besser als nichts, wenigstens war sie jetzt bewaffnet.

Ihre Sneaker verursachten auf dem verfliesten Boden leise Quietschgeräusche. Die geheimnisvolle schluchzende Frau, von der Geneviève nach wie vor keinen Blick erhaschen konnte, schien davon nichts zu merken. Sie heulte weiter vor sich hin.

Geneviève schob ihren Kopf langsam um den Türrahmen und warf einen Blick in die Backstube. Endlich konnte sie die schluchzende Frau sehen. Sie kannte sie. Es war Natalie Beauvais. Die angeheiratete Nichte des Boulangerie-Besitzers. Sie und ihr Mann, der leibliche Neffe Beauvais’, führten eine Patisserie nur wenige Häuser weiter.

Natalie kniete hinter einem lang gezogenen Tisch, auf dem frische Teiglinge darauf warteten, in den Ofen geschoben zu werden. Geneviève konnte von ihrer Position nur den Kopf Natalies sehen, der Rest wurde vom Tisch verdeckt. Der Kopf war nach vorne gesenkt, Tränen liefen aus ihren Augen.

Was war geschehen? Geneviève musste annehmen, dass es Natalie war, die zuvor geschrien hatte. Sie hatte niemanden aus dem Geschäft stürmen gesehen, und es gab keinen weiteren Ausgang. Was machte sie hier bei ihrem Onkel? Sollte sie um diese Uhrzeit nicht in ihrem eigenen Geschäft stehen und Viennoiseries zubereiten?

Als sie um den Tisch herumgetreten war, offenbarte sich der Grund, warum die junge Frau so aufgelöst war. Natalie Beauvais kniete am Boden, in ihrem Schoß ruhte der Kopf des Onkels. Der Rest des Körpers lag schlaff und über und über mit Blut bespritzt am kalten Fliesenboden. Seine Gurgel war durchgeschnitten – ein schräger Schnitt quer über den Hals.

Die Frau strich abwesend über das graue Haar des Onkels. Die Augen des Opfers stierten offen und leer an die Decke. Das bleiche Gesicht unter dem stoppeligen Dreitagebart wurde von Sekunde zu Sekunde fahler. Es war nicht Genevièves erste Leiche. Trotzdem berührte sie es jedes Mal aufs Neue, wenn sie zusehen musste, wie sich der Körper eines Toten veränderte. Alles Menschliche verlor, bis nur mehr eine leere Hülle übrig war.

Blutlachen hatten sich mit dem Mehl am Boden vermischt. Das weiße Bäckergewand war vom Blut aus der Wunde rot und braun gefärbt. Blutspritzer waren auch gut zwei Meter entfernt am Boden und an Kästen der Backstube zu erkennen. Natalies weißer Kittel war ebenso über und über mit Blut verschmiert. So wie das Blut über die ganze Backstube verteilt war, sprach für Geneviève alles für eine Spritzblutung. Der Schnitt, der Beauvais getötet hatte, musste recht tief gegangen sein. All das nahm Geneviève mit einem Blick wahr.

»Natalie?«, fragte Geneviève ruhig. »Was ist passiert?«

Die Angesprochene sah verwirrt auf. Die Anwesenheit Genevièves fiel ihr eben erst auf. »Ich … ich bin herüber zu Onkel François und … und habe ihn … so gefunden.« Ihre Stimme stockte, neue Tränen flossen aus ihren Augen.

Geneviève schätzte, dass der alte Bäcker schon länger tot sein musste. Das Blut war bereits gestockt, die Haut bleich, jegliches Leben lange aus dem Körper gewichen. Wenn sie schätzen müsste, dann hätte sie gesagt, dass Beauvais vor ein bis zwei Stunden getötet worden war. Zum Glück war das nicht ihre Aufgabe.

Sie strich der verzweifelten jungen Frau mit der einen Hand beruhigend durchs Haar. Mit der anderen Hand nahm sie ihr Handy, rief im Kommissariat an und forderte Verstärkung an.

TAUSCHGESCHÄFT

Keine 15 Minuten später war Genevièves Team am Tatort und begann diesen abzusperren. So verschlafen die Place du Tertre eine halbe Stunde zuvor noch gewesen sein mochte, so sehr drängten sich jetzt Schaulustige um die Bäckerei. Yves Albouy, Commandant des Kommissariats des 18. Arrondissements und die rechte Hand Genevièves, hatte mit seinen Leuten alles im Griff.

Das Verhältnis zwischen Albouy und Geneviève war nicht immer so friktionsfrei abgelaufen, wie es sich heute gestaltete. Als Geneviève vor fünf Jahren von der Côte d’Azur ohne Vorankündigung in seinen Bezirk versetzt und umgehend mit der Leitung des Kommissariats betraut worden war, hatte Albouy sich zunächst wie im falschen Film gewähnt. Der Job des Commissaire de Police war eigentlich für ihn vorgesehen gewesen, nachdem sich der alte Kommissar in die Pension verabschiedet hatte. Dann war auf einmal Madame Morel in der Tür gestanden und hatte seinen Job bekommen. Wo sie doch zehn Jahre jünger und also unerfahrener war. Wie er meinte.

Commissaire Geneviève Morel war schön. Beinahe zu perfekt. Das war Glück und Fluch zugleich. Immer wieder war sie von ihren männlichen Gegenübern unterschätzt und herablassend behandelt worden – waren es nun Kollegen oder Verbrecher. Für die meisten war es denkunmöglich, dass eine schöne Frau auch kompetent war. Oder sich selbst wehren konnte. In beiden Fällen irrte man sich in Bezug auf Geneviève. Sie war nicht nur kompetent und klug, sondern konnte sich auch im Nahkampf zur Wehr setzen. Eine Tatsache, die so mancher Ganove erst zu spät erkannte.

In Bezug auf ihr Liebesleben war Genevièves Äußeres mehr Fluch als Segen. Meist geriet sie nur an Männer, die zur Selbstüberschätzung neigten. Für die meisten anderen war ihr Aussehen zu einschüchternd. Was ein Problem war, denn sie selbst neigte zur Selbstunterschätzung. Oder anders ausgedrückt: Sie war schüchtern, was den Umgang mit dem anderen Geschlecht anging. Vielleicht auch einfach vorsichtig. Keine ihrer Beziehungen hatte bislang gut geendet. Also hatte sie sich einen Schutzschild aufgebaut, durch den es kaum ein Durchdringen gab. Körperliche Nähe war natürlich trotzdem ein Bedürfnis. Länger als eine Nacht durfte es dann jedoch nicht dauern. Dabei machte sie inzwischen keinen Unterschied mehr, ob sie mit einem Mann oder einer Frau ins Bett ging. Mit Letzteren war es sogar unkomplizierter. Die meisten verabschiedeten sich am nächsten Morgen und waren nicht mehr gesehen. Männer tendierten dazu, immer wieder aufzutauchen. Ein Klotz am Bein, mit dem sie sich nicht auseinandersetzen wollte. Tief in ihrem Inneren wusste Geneviève, dass das alles nur Ausreden waren. In Wirklichkeit ließ sie niemanden an sich heran, weil sie niemanden ihrer Familie vorstellen wollte. In einer Beziehung hätte sie das früher oder später tun müssen. Für Geneviève war das wenigstens im Moment keine Option. Aber selbst das war eine vorgeschobene Notlüge. In Wirklichkeit war sie von ihrer letzten Beziehung zu traumatisiert. Egal, dass die über ein Jahrzehnt her war. Aber was damals in Cannes passiert war, hatte eine tiefe Wunde in ihr hinterlassen, die nicht und nicht heilen wollte. Die sie vielleicht auch einfach nicht heilen lassen wollte. Nur um sicherzugehen, dass ihr nicht wieder eine zugefügt werden konnte.

Ihre Schönheit und Distanziertheit hatten schnell dazu geführt, dass noch mehr Gerüchte aufgekommen waren, wie die Mademoiselle aus dem Süden, wie sie zu Beginn hinter ihrem Rücken abschätzig genannt wurde, zu ihrem Job gekommen war. Keines der Gerüchte war von der netten Sorte. Keines der Gerüchte kratzte auch nur ein wenig an der Tatsache, dass Mademoiselle Morel einfach eine gute Polizistin war. Am hartnäckigsten hielt sich das Gerücht, dass der Innenminister höchstpersönlich interveniert hatte, um Geneviève die Leitung des Kommissariats zu übertragen. Interessanterweise war es jenes Gerücht, das der Wahrheit am nächsten kam. Der Innenminister hatte Geneviève tatsächlich das Kommissariat des 18. Arrondissements übertragen. Aber nicht, weil er eine Affäre mit ihr hatte oder sie anderweitig protegieren wollte. Geneviève hätte eigentlich ein Kommissariat an der Côte d’Azur übernehmen sollen – ihre Leistungen und ihre Erfolgsbilanz hatten dies schon längst gerechtfertigt. Diese Versetzung hatte sie aus für den Minister nicht nachvollziehbaren Gründen abgelehnt. Auf Intervention von Genevièves gut vernetztem Vater war es schließlich Montmartre geworden.

Albouy hatte damals selbst Genevièves Geschichte recherchiert und war sehr schnell auf ihren familiären Background gestoßen. Ein paar Recherchen später hatte er Fotos von Genevièves Vater mit dem Innenminister gefunden. Mehr hatte er nicht gebraucht. Genevièves Erfolgsquote hatte er erfolgreich ignoriert. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein. An diesem Abend war er in seine Stammkneipe gegangen und hatte versucht, seinen Frust in Alkohol zu ertränken. Aber wie üblich war Alkohol keine Lösung, und Probleme und Frust erwiesen sich als hartnäckige Schwimmer.

Also war er in den Kampfmodus übergegangen. Und er war nicht allein gewesen. Am gesamten Kommissariat hatte man sich über den ungebetenen Neuzugang wenig erfreut gezeigt. Geneviève hatte das ab ihrem ersten Tag zu spüren bekommen. Trotz aller Hürden, die man ihr in den Weg legte, hatte sie sich von Anfang an kompetent und erfolgreich gezeigt. Das war der erste Fingerzeig, dass man es bei ihr nicht einfach mit einem Protektionskind zu tun hatte. Kleinere Frechheiten hatte sie ignoriert. Bei den größeren hatte sie sich die entsprechenden Personen in ihr Büro geholt und ihnen freundlich, aber eindringlich erklärt, wie das Leben am Kommissariat ab nun lief. Wem es nicht passte, der konnte ja kündigen oder sich versetzen lassen. Als Geneviève dann auch eine fast schwindelerregend gute Aufklärungsquote an den Tag zu legen begann, drehte sich die offene Feindseligkeit in Akzeptanz und später sogar in Respekt. Das war der Moment, als Albouy nochmals die Vergangenheit seiner neuen Chefin recherchierte. Diesmal ignorierte er ihre Erfolgsquote an der Côte d’Azur nicht mehr. Ebenso wenig die Auszeichnungen, die sie schon in jungen Jahren eingeheimst hatte.

Außerdem hatte Albouy an sich selbst neue Seiten entdeckt. Oder anders: sich selbst besser einzuschätzen gelernt. Er war kein Alphatier. Nein, war es in Wirklichkeit niemals gewesen. Er würde den Job Genevièves nie so ausfüllen können, wie sie es tat. Er war eine klassische Nummer 2. Als er sich das erst einmal eingestanden hatte, war das kein Pro­blem. Jede Leiterin brauchte eine rechte Hand, auf die sie sich bedingungslos verlassen konnte. Albouy hatte gelernt, stolz darauf zu sein. Besser eine perfekte Nummer 2 als eine fehlerhafte Nummer 1.

Nachdem der Tatort gesichert war, hatte Albouy Zeit, seine Chefin zu beobachten, wie sie die erste Zeugeneinvernahme durchführte. Geneviève saß mit Natalie an einem der Tische im Verkaufsraum. Ein dritter Stuhl war ebenfalls besetzt: Cédric Beauvais, der Neffe des Ermordeten, war inzwischen auch verständigt und zum Tatort gebeten worden. Da seine Patisserie, La Framboise Gourmande, gleich zwei Häuser weiter lag, hatte es nur kurz gedauert, bis sich der sichtlich unter Schock stehende Mann in der Boulangerie eingefunden hatte.

Geneviève hatte ihre Hände um eine Tasse heißen Kaffee gelegt. Die warme Tasse half ihr, sich zu fokussieren und ihre Gedanken zu ordnen. Wer ermordete einen Bäcker?

Sie konnte davon ausgehen, dass der alte Beauvais in seiner eigenen Backstube umgebracht worden war. Alle Spuren deuteten darauf hin, allen voran die großen Blutlachen, die nicht verschmiert waren, was bedeutete, dass François Beauvais an Ort und Stelle sein Leben gelassen hatte und nicht erst nach dem Mord in seine Backstube transportiert worden war. Nach der Tatwaffe wurde nach wie vor gesucht. Es musste eine scharfe Klinge gewesen sein, aber keines der vorhandenen Messer zeigte Blutspuren. Wenn sie es nicht fanden, konnte es der Täter nur mitgenommen haben. Das war wohl sogar die wahrscheinlichere Variante. Ohne Tatwaffe war die Mördersuche noch schwieriger.

»Also, Natalie«, hob Geneviève an. Sie blickte der blassen jungen Frau in die verheulten grünen Augen. »Für die offizielle Einvernahme muss ich Sie und Ihren Mann im Lauf des Tages zu uns aufs Kommissariat bitten, aber ich würde mir schon jetzt gerne ein erstes Bild machen. Praktisch solang der Tatort noch frisch ist.«

Natalie nickte langsam und nahm mit zittrigen Händen einen Schluck von ihrem Kaffee. »Aber natürlich, Madame. Wir stehen selbstverständlich zu Ihrer Verfügung.«

»Natalie, erklären Sie mir doch, was Sie um diese Uhrzeit, vor offizieller Ladenöffnung, im Geschäft Ihres Onkels getan haben.«

»Das ist ganz leicht …«, versuchte Cédric zu antworten, wurde aber von Geneviève mit einem strengen Blick unterbrochen.

»Ihre Frau, wenn es recht ist«, erklärte sie ihm kühl. Einvernahmen und Verhöre leitete sie. Von einem Zeugen oder Beschuldigten ließ sie sich keinesfalls das Heft aus der Hand nehmen. Ihr Äußeres war dabei behilflich. Unter ihren eisblauen Augen waren schon ganz andere Kaliber zusammengebrochen.

Cédric sank zurück in seinen Stuhl, faltete die Hände und vergrub sein Gesicht darin.

»Natalie?«

»Ja also, es ist tatsächlich ganz einfach«, nahm die Angesprochene den Gesprächsfaden ihres Mannes auf. »Es ist seit Jahren unser morgendliches Ritual. Ich bringe Onkel François ein paar unserer Spezialitäten, und er gibt uns dafür Baguette und Croissants oder was auch immer wir haben wollen. So haben wir alle ein ordentliches Frühstück. Außerdem …« Natalie brach ab und griff sich mit der linken Hand an die Schläfe, die sie mit Zeige- und Mittelfinger zu massieren begann.

»Außerdem?«

»Außerdem konnten wir uns so jeden Tag versichern, dass es ihm gut geht.«

»Was hätte mit ihm sein sollen?«, hakte Geneviève nach.

»Darf ich?«, mischte sich der Neffe ein. Geneviève nickte ihm aufmunternd zu.

»Mein Onkel war herzkrank. Er hatte vor einigen Jahren einen Herzinfarkt. Aber auch nach dem Infarkt wollte er nicht kürzertreten. Er hat ja auch kaum Hilfe. Tagsüber kommen zwei Damen, die den Verkauf übernehmen, während er allein in der Backstube steht und für drei oder vier Leute auf einmal arbeitet. In dieser Hinsicht war er leider sehr stur.«

»Er hatte keine Mitarbeiter?«

»Nicht in der Backstube«, antwortete Natalie.

»Wie hat er das geschafft? Hat er nicht auch das Élysée mit Baguette beliefert?«

Cédric lächelte stolz. »Ja, er hat in den letzten drei Jahren den Wettbewerb zum besten Baguette der Stadt gewonnen.«

»Wundert mich nicht«, antwortete Geneviève. Ein Lächeln ließ die Kälte in ihren Augen schmelzen.

»Sie waren Stammkundin, nicht?«

Geneviève nickte. »Familientradition. Mamie hat hier seit Jahren ihr Gebäck gekauft.«

Natalie musterte Geneviève eingehender. »Ihre Großmutter … ist das vielleicht die Baronin?« Sie betonte das letzte Wort ganz besonders. »Eine gewisse Ähnlichkeit ist Ihnen nicht abzusprechen.«

Geneviève lief rot im Gesicht an. Sie fühlte sich ertappt. Dabei gab es nichts, wofür sie sich schämen müsste. Nun, fast nichts.

»Ja, da liegen Sie richtig. Aber Sie wissen schon, dass das lediglich ein Spitzname ist? Meine Familie ist viel, aber nicht adelig.«

Natalie sah erstaunt drein. »Nicht? Dabei macht Ihre Großmutter so einen, wie soll ich sagen, vornehmen Eindruck. Wie eine richtig feine Dame. Sie liebt unsere Macarons ganz besonders.« Als ob das ein Qualitätsmerkmal für eine feine Pariser Dame war.

Geneviève schüttelte den Kopf. Ja, im Täuschen und Tarnen war ihre Familie richtig gut. »Nun«, antwortete sie, »das eine schließt das andere nicht aus. Ich denke, man muss keinen Adelstitel tragen, um eine feine Dame zu sein.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Zurück zu Ihrem Onkel. Wer übernimmt jetzt die Lieferungen an den Präsidentenpalast?«, wollte Geneviève wissen.

Cédric antwortete: »Keine Ahnung. Aber Sie werden verstehen, wenn das aktuell unsere geringste Sorge ist.«

Geneviève nickte. Inmitten all des lecker duftenden Gebäcks fiel es ihr schwer, sich auf den Fall zu konzentrieren. Ihr Magen knurrte. »Darf ich?«, gab sie sich schließlich einen Ruck und zeigte auf das im Verkaufsraum ausgestellte Gebäck.

»Jaja, natürlich«, antwortete Cédric geistesabwesend. Geneviève ging rüber zur Verkaufstheke und nahm sich ein Croissant. Sie drehte sich von den beiden anderen weg und stopfte sich das Kipferl recht unzeremoniell und ganz und gar nicht fein oder adelig in den Mund. Herrlich! Außen kross, innen flaumig, jedes Gramm Butter im Teig brachte die Geschmacksknospen auf ihrer Zunge zum Explodieren. Welche Küche wusste das besser als die französische?

Nach nicht einmal einer Minute wischte sie sich die letzten Krümel von den Lippen. Frisch gestärkt setzte sie sich wieder zu den beiden Hinterbliebenen des ermordeten Bäckers.

»Hatte Ihr Onkel Feinde?«, stellte sie schließlich die Frage aller Fragen. Noch selten hatte sich aus dieser auf der Hand liegenden Frage eine brauchbare Spur ergeben. Denn entweder hatten die Opfer laut der Befragten »natürlich keine Feinde, wieso auch?«. Oder es waren so viele, dass man schnell einmal den Überblick verlor. Gestellt werden musste sie trotzdem.

Natalie und Cédric sahen sich an. Dann nickten sie im Gleichklang. Es war Natalie, die erklärte: »Einen Feind. Onkel François hatte einen Feind. Oder höflicher ausgedrückt, einen Konkurrenten.« Sie stockte. Geneviève nickte ihr aufmunternd zu. »Baptiste Buffet. Das ist sein Name.«

Bei Geneviève klingelte nichts. Im Gegenteil. Sie musste sich zurückhalten, ob des eigenartigen Namens nicht in lautstarkes Lachen auszubrechen. Erst als Cédric sie vorwurfsvoll ansah, hakte sie nach. »Sollte mir der Name etwas sagen?«

»Nein, natürlich nicht«, entschuldigte sich Cédric für den unausgesprochenen Vorwurf. »Buffet ist ein Bäcker aus dem 5. Arrondissement. Er hat sich in den letzten Jahren mit meinem Onkel um den Titel des besten Baguettes der Stadt gematcht.«

»Und dabei zuletzt jedes Mal den Kürzeren gezogen«, fiel ihm Natalie ins Wort.

»Mein Onkel hat die letzten drei Jahre in Folge den Wettbewerb für das Meilleure baguette de Paris gewonnen«, wiederholte Cédric stolz seine Aussage von zuvor. »Das hat vor ihm noch niemand geschafft.«

Geneviève nickte angemessen beeindruckt. Als Pariserin konnte sie diese Auszeichnung hinreichend einordnen. »Hatten die beiden viel Kontakt?«

Schnippisch antwortete Natalie: »Ich weiß es nicht. Wir stehen nicht ständig bei ihm in der Bäckerei. Aber vorstellen könnte ich es mir.«

Cédric ergänzte: »Buffet hat ihm vorgeworfen, er hätte die Auswahlkommission beim Baguette-Wettbewerb bestochen. Das ging damals sogar durch die Medien. Buffet hat es einfach nicht verkraftet, dass mein Onkel der bessere Bäcker war.«

Geneviève ließ die Informationen erst einmal sacken. Natürlich hatte die Wahl zum Meilleure Baguette de Paris, dem besten Baguette der Stadt, im Volksmund auch gerne das Baguette des Präsidenten, ein gewisses Renommee. Der Sieger erhielt nicht nur 4.000 Euro Preisgeld, sondern durfte ein Jahr lang exklusiv das Élysée mit seinen Backwaren beliefern. Ein schönes Geschäft, kein Zweifel. Viel wichtiger und ertragreicher war aber die Steigerung des Bekanntheitsgrades. Jeder Baguette-Connaisseur der Stadt wollte das Baguette des Jahres probieren. So konnte die Stammkundschaft gleich um eine erkleckliche Zahl gesteigert werden.

Aber ob das tatsächlich ein Motiv für einen Mord war?

»Major Faivre?« Der Angesprochene hatte bislang den Eingang zur Bäckerei bewacht. Auf Genevièves Rufen trat er in das Geschäftslokal.

»Madame?«

»Ich glaube, fürs Erste habe ich genug vom Ehepaar Beauvais erfahren. Bitte bringen Sie die beiden auf das Kommissariat. Albouy soll dort offiziell die Stellungnahmen der beiden aufnehmen.«

»Aber unser Geschäft?«, fragte Cédric entsetzt mit einem Blick durchs Schaufenster. Die Rue Norvins hatte sich gefüllt. Menschen machten sich auf den Weg zur Arbeit, zur Schule oder genossen einfach diesen Frühlingsmorgen im April. Eines war ihnen allen gleich: Jeder wollte eine Kleinigkeit zu essen mit auf den Weg. Der Morgen war die umsatzstärkste Zeit des Tages.

Geneviève war kein Unmensch. »Vergessen Sie es, Major«, korrigierte sie sich. »Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie in …«, sie sah auf die Uhr, »… etwa zwei Stunden aufs Kommissariat kommen, damit wir Ihre Aussagen offiziell aufnehmen können?«

Die beiden nickten und verschwanden aus der Boulangerie.

Geneviève sah ihnen lange nach, selbst als sie bereits in der Menschenmenge, die sich durch die Rue Norvins wälzte, verschwunden waren. Dann zuckte sie mit den Schultern und stand selbst auf. Natürlich mussten die beiden auch an ihr Geschäft denken. Was hatte jemand davon, wenn La Framboise Gourmande aus Trauer schloss? Die Viennoiseries waren bereits zubereitet, die Kundschaft wartete vor dem Eingang, und der Onkel wurde so oder so nicht mehr lebendig. Zu beneiden waren die beiden jungen Beauvais dennoch nicht. In diesem seelischen Zustand auch noch ans Geschäft denken zu müssen war mehr, als man einem Menschen zumuten durfte. Aber die Zeiten waren hart. Jeder musste schauen, wie er irgendwie über die Runden kam.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ging Geneviève in die Backstube, in der die Spurensicherer noch immer ihrem Werk nachgingen. Auffälliges hatten sie bisher nicht gefunden. Die Gerichtsmedizinerin machte sich gerade am Leichensack zu schaffen.

»Isabelle?«

Die Gerichtsmedizinerin zog den Zipp die letzten Zentimeter hoch und wandte sich Geneviève zu.

»Du erwartest von mir aber nicht im Ernst jetzt bereits einen genauen Befund?«, antwortete die Angesprochene, nachdem sie sich aufgerichtet hatte.

Geneviève zuckte mit den Schultern. »Etwas mehr, als dass man ihm die Kehle durchgeschnitten hat, schon«, konterte die Kommissarin kühl. Daraufhin entspannten sich bei beiden die Gesichtszüge. Isabelle Thibaut umarmte Geneviève und gab ihr zwei bisous.

»So wünscht man sich einen schönen Frühlingsmorgen nicht«, stellte die Gerichtsmedizinerin schließlich fest.

»Nein, ganz sicher nicht. Aber es ist eben unser Job. Wir können uns nicht aussuchen, wann ein Verbrechen geschieht.«

Isabelle nickte zustimmend, dabei fielen schwarze Locken in das dunkle Gesicht der Ärztin.

»Im Ernst«, nahm Geneviève den Gesprächsfaden wieder auf. »Gibt es irgendwelche Ungereimtheiten?«

»Bis auf die Tatsache, dass das Opfer so viel Blut verloren hat, als hätte man ihn geschächtet?«

Geneviève forderte sie mit einer Handbewegung auf weiterzumachen.

»Der Tod muss einige Stunden vor Auffinden der Leiche eingetreten sein. So in etwa gegen 5 Uhr morgens. Der Täter war Linkshänder, wie man an der Schnittwunde sehen kann. Außerdem wurde dem Opfer von hinten die Kehle durchgeschnitten. Und …«

»Und? Mach es nicht so spannend.«

»Und der Täter war wahrscheinlich kleiner als das Opfer.«

»Das kannst du an der Schnittwunde erkennen?«

»Oui, Madame.« Sie nahm Geneviève an der Hand und zog sie rüber zum Leichensack, den sie nochmals aufzippte. »Ich erklär es dir.«

Isabelle legte den Kopf und den Hals des alten Bäckers frei. »Das mit dem Linkshänder hättest du mit deiner Erfahrung selbst feststellen können«, klärte Isabelle die Kommissarin auf. Geneviève nickte. Wenn sie nicht so mit der völlig aufgelösten Nichte des Opfers beschäftigt gewesen wäre, wäre es ihr wahrscheinlich auch aufgefallen. »Ein kleiner Schwalbenschwanz am linken Ende des Schnitts«, stellte sie schließlich fest.

»Genau!«, bestätigte Isabelle mit einem stolzen Grinsen. »Hast du ja wenigstens etwas bei mir gelernt. So ein Schwalbenschwanz ist ganz typisch, wenn die Klinge aus der Wunde gezogen wird, während hier«, die Gerichtsmedizinerin deutete auf die rechte Seite der Wunde, »eine glatte Einstichstelle ist. Die Klinge wurde also von rechts nach links gezogen.«

Gut, das engte den Kreis der Verdächtigen fürs Erste ein. »Und die Größe des Täters?«

»Das ist nur meine Vermutung, das muss ich betonen.«

»Also warum?«

»Der Schnitt geht diagonal, nicht horizontal. Der Täter hat den Schnitt angesetzt und dann nach schräg links unten durchgezogen. Was dafür spricht, dass er kleiner ist.«

»Oder es in der Hektik des Geschehens passiert ist.«

Isabelle nickte. »Deshalb meinte ich auch, es wäre eine Vermutung. Beauvais hat auf jeden Fall nicht viel mitbekommen. Der Täter hat die Halsschlagader erwischt. Zehn, vielleicht 15 Sekunden, dann hat sein Gehirn keinen Sauerstoff mehr bekommen, und er wurde ohnmächtig. Die Sauerei hier ist auch ein Beweis, dass der Täter die Halsschlagader getroffen hat. Wäre es nur die Vene gewesen, hätten wir es nicht mit einer Spritzblutung zu tun, wie es hier der Fall ist. Außerdem schließe ich aus, dass es einen Kampf gegeben hat. Die Leiche weist keine anderen Schnitt- oder Stichwunden auf.«

Geneviève sah sich das Opfer an. Beauvais war ein Bär von einem Mann gewesen. Sicher gut zwei Meter groß. Da konnte der Täter schnell einmal kleiner sein. Das würde sie nicht weiterbringen. Dass es zu keinem Kampf gekommen war, sprach dafür, dass er den Täter gekannt haben musste. »Die Tatwaffe?«, fragte sie zum Abschluss.

»Nichts von dem, was hier in der Backstube ist«, entgegnete Isabelle. »Der Mörder hat sie wohl mitgenommen.«

»Wäre auch zu schön gewesen.«

»Und zu einfach.«

»Das sowieso.« So blöd waren allerdings die wenigsten Täter, die inkriminierende Waffe am Tatort zurückzulassen. Geneviève war das wenigstens noch nicht untergekommen. Insofern konnte das ihre Laune auch nicht schlechter werden lassen. Auf ihren Hunger hatte sich das Ganze ebenfalls nicht ausgewirkt. Eher im Gegenteil. Mittlerweile war es 8.30 Uhr, Mamie war ganz bestimmt schon munter und wartete ungeduldig auf das Frühstück.

Am Weg aus der Bäckerei schnappte sie sich ein Baguette und drei Croissants. Sie würden niemandem abgehen und heute sowieso nicht mehr verkauft werden, dachte sich Geneviève. Warum das leckere Gebäck also schlecht werden lassen?

Vor der Bäckerei wartete Albouy auf sie.

»Haben die Befragungen etwas ergeben?«, erkundigte sich Geneviève, das gemopste Gebäck verstohlen hinter ihrem Rücken versteckend.

»Nichts Ergiebiges«, antwortete der Commandant kopfschüttelnd.

Die Menschenmenge hatte sich inzwischen über die Rue Norvins und die Place du Tertre verteilt. Die ersten Künstler hatten Stellung bezogen und pinselten fleißig an ihren Karikaturen und Gemälden. Neben dem Eingang stand der schwarze Leichenwagen, die Heckklappe geöffnet, hungrig auf seine Ladung wartend.

Geneviève sah sich um. Vis-à-vis der Boulangerie lag der belebte Platz, aber keine Häuser, aus denen jemand etwas hätte beobachten können. Die Bäume des Platzes nahmen für die niedrigeren Stockwerke der Häuser an den Längsseiten ebenfalls jede Sicht auf den Eingang der Boulangerie. Aber vielleicht aus den oberen Stockwerken?

»Klappert die Häuser rund um den Platz ab und befragt die Bewohner. Vielleicht hat ja jemand etwas beobachtet.« Ihre Hoffnung auf einen Ermittlungserfolg hielt sich jedoch in Grenzen. Dem säuerlichen Gesicht Albouys nach zu schließen schien es ihm nicht anders zu gehen. Polizeiarbeit war nun mal mühsam und bei Weitem nicht so actionreich und aufregend, wie es im Fernsehen gezeigt wurde. Stattdessen wartete auf Geneviève und ihr Team anstrengende Detailarbeit mit Dutzenden Befragungen, Auswertungen von Spuren und dem Hoffen auf ein Quäntchen Glück. Wenn sich ein Täter nicht besonders blöd anstellte, dann war es fast immer ein Zufallsmoment, der die Polizei schließlich auf die richtige Spur brachte. Glücklicherweise, so hatte Geneviève in ihrer Karriere festgestellt, machten die meisten Verbrecher einen entscheidenden Fehler. Nobody is perfect.

»Machen wir. Faivre!«

Der Major kam eiligen Schrittes zu seinem Vorgesetzten. Albouy erklärte ihm die Aufgabe. Faivre salutierte und machte sich daran, den Auftrag auszuführen. Zur Seite standen ihm drei weitere niederrangige Mitglieder aus Genevièves Team.

Jetzt wurde es für Geneviève höchste Zeit. Sie hatte keine Lust, weiter vor ihrem Team in ihren Joggingklamotten he­rumzulaufen. »Ich bin spätestens zu Mittag im Büro«, verabschiedete sie sich von Albouy und machte sich im Laufschritt auf den kurzen Heimweg.

ARS EST NOSTRA ARS

Ein paar Minuten später läutete sie höflichkeitshalber bei ihrer Großmutter. Mamie musste ja nicht wissen, dass die Enkelin zwei Stunden vorher bereits heimlich die Wohnung betreten und sich nach ihrem Wohlergehen umgesehen hatte. Zudem hatte Olivia Morel auch im Alter von über 70 Jahren (das genaue Alter verschwieg sie konsequent sogar vor ihrer Enkelin) regelmäßig Sex. Und hieß es gar nicht gut, wenn man unangekündigt einfach bei ihr in der Wohnung auftauchte. Aber Regeln galten nur für andere.

»Bonjour, Chérie!«, empfing die Großmutter Geneviève mit einem abfälligen Blick auf deren Aufzug. Sie selbst hatte sich fein herausgeputzt, schien also noch etwas vorzuhaben. Sie hielt ihrer Enkelin die gerougten Wangen für die obligatorischen Morgenküsschen hin. Dabei stieg Geneviève der penetrante Rosenduft ihres Parfums in die Nase. Nahema von Guerlain. Geneviève liebte es – in geringeren Dosen. Mamie neigte dazu, zu viel aufzutragen, sodass man Angst haben musste, sie hätte in dem sündteuren Zeug gebadet. Um den Hals trug sie eine schwarze Perlenkette, in den Ohrläppchen hingen die passenden Klunker.

Die silbervioletten Haare hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt, der mit einem Bleistift befestigt war. Reines Understatement. Geneviève wusste, dass es sich bei dem Bleistift um ein exklusives Modell mit den eingravierten Initialen ihrer Großmutter handelte. Außerdem trug sie ein dunkelgraues Ensemble von Chanel, die Füße steckten in Louboutin Pumps, mit denen 50 Jahre jüngere Frauen Probleme beim Gehen gehabt hätten.

Mamie war früher ebenso groß wie Geneviève gewesen und hatte dieselbe athletische Figur gehabt. Mit dem Alter war sie ein paar Zentimeter geschrumpft. Durch die hochhackigen Schuhe wurden diese Zentimeter wiedergutgemacht. Die Figur hatte sie behalten.

Auf alten Fotos glaubte Geneviève sich manchmal eins zu eins in ihrer Großmutter wiederzuerkennen. Vielleicht einer der Gründe, warum sie die Lieblingsenkelin war. Weil auch die Großmutter so viel von sich selbst in ihr erkannte. Kein Wunder, dass die junge Zuckerbäckerin sie sofort mit ihr in Verbindung gebracht hatte.

»Spät aufgestanden?«, fragte Mamie säuerlich, während sie in den großen Speisesalon vorausging. Der Hunger hatte sich ihr auf die Laune geschlagen.

»Im Gegenteil«, antwortete Geneviève. »Ich war joggen, und dann hat es den ersten Mord gegeben. Ich bin eben erst vom Tatort zurückgekommen.«

»Wirklich?« Die Großmutter blieb stehen und sah Geneviève erstaunt an. »Wer wurde denn ermordet?«

»Unser Lieblingsbäcker.«

»François?« Mamie schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Geneviève nickte.

»Ja, Monsieur Beauvais.«

»Warum …? Wie …?« Genevièves Großmutter war fassungslos. So hatte sie sie noch nie erlebt.

»Kehle durchgeschnitten«, antwortete Geneviève wahrheitsgemäß. Mamie konnte man so etwas zumuten. »Den Grund kenne ich noch nicht.«

Olivia nahm ihre Enkelin an beiden Händen und sah ihr ernst in die Augen. »Woher nehmen wir jetzt unser Baguette?«, fragte sie. Ja, diese Reaktion entsprach eher ihrer Großmutter.

Geneviève musste leise lächeln. »Für heute habe ich vorgesorgt. Hier.« Sie reichte Mamie das Baguette und die Croissants aus dem Palais de Pains.

»Hast du dafür bezahlt?«

»Nein, wem hätte ich das Geld geben sollen? Beauvais war alleine.«

»Gutes Kind«, lobte Olivia und strich ihrer Enkelin zart über die Wange.

»Mamie!«, rief Geneviève empört.

»Gené!«, antwortete die Großmutter im selben Tonfall. »Man muss sein Handwerk üben, sonst verlässt dich dein Geschick im Notfall.«

»Aber ich bin doch Polizistin!«, protestierte Geneviève. Wenngleich nur halbherzig. Sie wusste, was als Nächstes kam.

»Ja, eine Schande!« Aber Mamie hatte es gutmütig gesagt und dabei gelächelt. »In erster Linie bist du trotz allem eine Morel. Wie heißt unser Familienmotto?«

»Mamie, bitte.«

»Unser Motto!«, beharrte die Großmutter.

Geneviève seufzte, dann rezitierte sie das Familienmotto, das sogar im Wappen der Familie enthalten war: »Ars est nostra ars.«

»Genau«, lobte die Großmutter. »Kunst ist unsere Kunst.« Ein geschickt verstecktes Wortspiel, dessen wahre Bedeutung nur dem engsten Familienkreis bekannt war. Denn es machte einen Unterschied, ob man das erste oder das dritte Wort des Mottos betonte.

*

Circa 15 Jahre zuvor

Es war der Sommer, in dem Mamie eine große Fete am Familienanwesen der Morels in Cannes geschmissen hatte. Offiziell zu ihrem Geburtstag (welchen, verriet sie nicht), inoffiziell zur Übergabe der Familiengeschäfte in die Hände ihres Sohnes, Genevièves Vater. Geneviève selbst war damals gerade 20 Jahre alt gewesen und konnte sich noch gut an die Party erinnern. Sie war den Anblick von Promis und Politikern gewöhnt. Oft wurden sie von solchen Prominenten daheim besucht. Manche wollten sich einfach mit ihren Eltern gut stellen, andere kamen, um über den Ankauf von Kunstwerken zu verhandeln. Der Massenauflauf an Promis der obersten Klasse an diesem Abend hatte aber selbst Geneviève in Erstaunen versetzt. Vom Innenminister abwärts war alles geladen, was in Frankreich Rang und Namen hatte: Schauspieler, Models, andere Kunstsammler. Niemand konnte oder wollte sich den ungenannten Geburtstag von Olivia Morel entgehen lassen. Das Polizeiaufgebot war gigantisch. Geneviève hatte den Eindruck, dass die komplette Polizei von Cannes angetreten war, um die Promi-Party zu beschützen.

Die Feier hatte jedoch noch einen zweiten inoffiziellen Grund: Nachdem Geneviève über Jahre hinweg abgelehnt hatte, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, durfte ihr kleiner Bruder an diesem Abend seine Feuertaufe absolvieren.

Und sein erstes großes Ding drehen.

Da die gesamte Prominenz an diesem Abend am Morel’schen Anwesen vertreten war, hatte der erst 15-jährige Frédéric eine große Auswahl an leer stehenden Villen und Appartements entlang der Côte. Ein Bonus war, dass eben auch ein Großteil der Polizei rund um das Morel’sche Anwesen Dienst schob. Ein Traum für jeden Einbrecher. Geschickt eingefädelt von Mamie.