Die toten Engel vom Montmartre - René Laffite - E-Book

Die toten Engel vom Montmartre E-Book

René Laffite

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Beschreibung

Kein ruhiger Sommer für Commissaire Geneviève Morel. Auf einer der letzten Windmühlen am Montmartre wird die gekreuzigte Leiche einer Moulin-Rouge-Tänzerin gefunden - im Engelskostüm. Kurz darauf stirbt noch ein zweiter „Engel“. Die Kommissarin stürzt sich in die Ermittlungen und trifft auf eine Mauer des Schweigens, selbst in ihren eigenen Reihen. Welche Geheimnisse hüteten die Engel, dass niemand an der Aufklärung der Morde interessiert zu sein scheint? Und was führt Genevièves Großmutter Mamie schon wieder im Schilde?

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René Laffite

Die toten Engel vom Montmartre

Commissaire Morel ermittelt

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung von: © Illustration Lutz Eberle nach einem Foto von Aleh Varanishcha / stock.adobe.com und Generative AI / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-3094-2

Zitat

Lieber Papa, merke: ›Ein Leben ohne Katze ist möglich – aber sinnlos.‹

Johann Wolfgang von Goethe

EIN MÖRDERISCHER MORGEN

Es war weder die Nachtigall noch die Lerche, die Commissaire Geneviève Morel an diesem Sonntagmorgen im frühen August aus dem Schlaf riss. Es war auch nicht das Drängen von Doktor Henry Martel, der neben ihr im Bett schlummerte. Auch war es nicht Merlot, Genevièves roter Maine Coon Kater, der jedoch hochschreckte, als sich sein Frauchen mit einem Ruck im Bett aufrichtete.

Es war ihr Diensthandy. Und das konnte um 5 Uhr morgens nur eines bedeuten.

»Oui?«, hauchte sie verschlafen ins Telefon.

»Madame, entschuldigen Sie die frühe Störung«, meldete sich Commandant Yves Albouy am anderen Ende der Leitung.

»Schon gut, schon gut. Was gibt es?«, forderte sie ihn auf. Er würde sie nicht um diese Uhrzeit stören, wenn es nicht etwas Wichtiges war. Verschlafen strich sie sich eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus dem Gesicht.

»Wir haben eine tote Frau.«

Stöhnend ließ sich Geneviève zurück auf ihr Kissen fallen. Auch der Doktor wachte auf. Wenigstens öffnete er ein Auge, das sie fragend anblickte. Sie schüttelte abweisend den Kopf. Nicht jetzt.

»Mord?« Eine unsinnige Frage, Albouy hätte sie sonst nicht angerufen. Aber es war 5 Uhr morgens und Geneviève noch nicht richtig munter. Ihr Kopf musste erst auf Touren kommen. So wie ihr ganzer Kreislauf.

»En effet«, bestätigte der Commandant, wie die Geduld in Person. Sie bewunderte ihn für seinen Stoizismus.

»Ich bin schon unterwegs«, murmelte Geneviève und beendete das Gespräch.

»Wohin unterwegs?«, murmelte Martel, das eine Auge mittlerweile wieder geschlossen.

Gute Frage. Das hatte sie ganz vergessen zu fragen. Die Nacht hatte sie wohl ein wenig zu sehr mitgenommen. Ein verträumtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie die letzten Stunden Revue passieren ließ. Das Lächeln wurde noch sehnsüchtiger, als ihre Augen den Körper des neben ihr liegenden Arztes aufsaugten. Ihres Liebhabers. Ein eigenartiges Wort, aber sie fand kein anderes. Als festen Freund wollte sie Henry noch nicht bezeichnen. Ihre Romanze hatte gut drei Monate zuvor während der Ermittlungen rund um den Mord an einem Bäcker begonnen. Martel hatte sich als äußerst hartnäckig erwiesen. Hartnäckig genug, um Genevièves emotionale Mauern zwar nicht einzureißen, aber kleine Löcher in sie hineinzubohren. Sie waren noch nicht so weit, dass er bereits eine eigene Lade oder gar ein Fach in ihrem begehbaren Schrank sein Eigen nennen durfte, aber immerhin hatte sie ihm erlaubt, eine Zahnbürste in ihrem Badezimmer zu deponieren. Für andere Pärchen vielleicht nur ein kleiner Schritt, für Geneviève hingegen ein Meilenstein auf dem Weg, endlich wieder eine normale Beziehung führen zu können. Was nicht bedeutete, dass sie seine Zahnbürste nicht ein ums andere Mal, erschrocken über ihren eigenen Wagemut, musterte, wenn sie das Waschbecken benutzte. Und sich dabei fragte, welcher Teufel sie geritten hatte, als sie Henry dieses Zugeständnis gemacht hatte.

Sie wollte eben die Wiederwahltaste drücken, als sich Albouy von selbst wieder meldete. »Madame, Sie wissen doch gar nicht, wohin Sie kommen sollen.« Die Empörung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie, Commandant«, gab sie ihm recht, bevor es zu einer längeren Diskussion kommen konnte. »Es ist einfach noch so früh.«

»Natürlich, natürlich. Also: Kommen Sie zur Le Moulin de la Galette.«

»Für Frühstück haben wir später noch Zeit, Albouy. Wo ist die Leiche?«

Am anderen Ende der Leitung war ein lang gezogenes Seufzen zu hören. Man konnte förmlich spüren, wie sich die Rädchen im Kopf des Commandant drehten, um einen Weg zu finden, seiner Vorgesetzten höflich, aber bestimmt auf die Sprünge zu helfen.

»Die Leiche ist hier«, sagte er schließlich bestimmt. »Genauer gesagt auf einem der Windmühlenflügel.«

Spätestens jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit von Geneviève. »Ich bin in 10 Minuten da«, sagte sie. Nach einem kurzen Blick auf ihren schlafenden Liebhaber entschied sie: »In 15 Minuten.«

»Mais bien sûr«, gestand ihr Albouy die zusätzlichen fünf Minuten zu.

In der Zwischenzeit wurde Geneviève gleich von zwei männlichen Wesen bedrängt. Das aufdringlichere der beiden war ihr Kater, für den das Wachsein seines Frauchens gleichbedeutend mit Fütterungszeit war. Egal wie spät es gerade tatsächlich war. Aber weil Frauchen alles Mögliche im Sinn zu haben schien, außer dem armen, verhungerten Tier Futter zu geben, musste der riesige Kater von selbst aktiv werden. Was bedeutete: Kopf fest gegen die nackte Kniescheibe Genevièves drücken. Wenn das nicht funktionierte, die Schnurr-Lautstärke drastisch erhöhen. Wenn das noch immer nicht wirkte, blieb noch immer ein gezielter Sprung auf Frauchens Bauch. Selbstverständlich mit Anlauf.

»Au!«, fluchte Geneviève leise und schüttelte ihre Hand. In die Fingerspitzen beißen hatte seine Wirkung noch nie verfehlt. Außerdem war es die elegantere Variante.

»Musst du wirklich?«, murmelte Martel. Seine Hand tastete nach ihrem Körper, bekam die Taille zu fassen und zog sie an sich, bis ihr nacktes Gesäß an seinem ebenso nackten Becken zu liegen kam. Darunter bewegte sich noch etwas anderes. Geneviève entfuhr ein leiser Seufzer. Doch dann übernahm ihr Pflichtbewusstsein.

»Nicht jetzt«, meinte sie abwehrend, während sie wieder von ihm abrückte.

»Letzte Chance für die nächsten Tage«, gab Henry zu bedenken.

»Ich weiß«, erwiderte Geneviève. Sie drehte sich zu ihm und gab ihm den Hauch eines Kusses auf die Mundwinkel. »Aber jetzt braucht mich mein Arrondissement.«

»Der Satz hätte aus einem schlechten Film sein können«, spottete Henry, jedoch nicht unfreundlich.

Geneviève ließ die letzte Meldung unbeantwortet. Sie rollte sich aus dem Bett. Ein Blick zum Mansardenfenster hinaus ließ sie den verpassten Schlaf vergessen. Etwa 200 Meter entfernt den Hügel hinauf strahlte die Basilika Sacré-Coeur sogar noch in den späten Nachtstunden. Die schneeweiße Basilika war nicht nur das Wahrzeichen des Montmartre, sondern überhaupt eines der bestimmenden Gebäude von ganz Paris. Auf der Spitze des 130 Meter hohen Hügels thronte sie wie eine wachende Mutter über der schlafenden Stadt. Als wäre sie immer da gewesen, als würde sie immer da sein. So wie ihre weiße Farbe, die sie dem speziellen Stein, der für ihre Errichtung verwendet worden war, verdankte. Dieser Kalkstein namens Château Landon gab bei jedem Regen Calcit ab und tünchte die Kirche damit immer wieder in frischem Weiß.

Der um ihre Beine streichende Merlot brachte Geneviève wieder in die Realität zurück. Schnell und unzeremoniell – wie es Merlot am liebsten hatte – öffnete sie ihm eine Dose und platzierte die angefüllte Futterschüssel am Ende der zum großen Wohnzimmer offenen Küchenzeile auf einem Plastikuntersetzer. Es war unglaublich, was für eine Sauerei der Kater beim Fressen anstellte. Und wie stark die Futterreste auf dem sündteuren Parkettboden klebten.

Schnell schlüpfte sie in Jeans und ein T-Shirt. Bevor sie die Wohnung verließ, ging sie nochmals in ihr Schlafzimmer. Dort hatte sich Henry inzwischen ebenfalls angezogen.

»Du hättest noch bleiben und dich ausschlafen können«, gab sie zu bedenken.

Henry schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein. So gut kenne ich dich schon, chérie. Aber es ehrt dich, mir das anzubieten. Und wer weiß? Vielleicht bist du ja in ein paar Monaten tatsächlich so weit, mich ganz in dein Leben zu lassen.«

»Vielleicht«, flüsterte sie sehnsüchtig und gab ihm einen weiteren Kuss. Diesmal nicht flüchtig auf die Mundwinkel. Konnte diese Leiche nicht noch etwas warten?

Nein, konnte sie nicht. Sie riss sich von ihm los, was mehr Überwindung kostete, als ihr lieb war.

»Letzte Chance«, wiederholte Henry.

»Wann geht dein Flieger?«

Henry sah auf seine Armbanduhr. »In fünf Stunden«, antwortete er.

»Bist du eigentlich auf mehreren Kongressen im Jahr?«

»Es hält sich in Grenzen. Als Vortragender wie diesmal vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr.« Er griff wieder nach ihrem Arm, mit dem Geneviève noch immer am Bett lümmelte. »Holst du mich vom Flughafen ab?«

Geneviève lachte laut auf. »Wie ein hormonschwangerer Teenager? Vorher friert die Hölle zu.«

Henry ließ sich zurück ins Bett sinken. Der verletzte Stolz war unübersehbar. Da war Genevièves Mundwerk wieder einmal schneller als ihr Hirn gewesen. Oder die Löcher in ihrem Panzer waren doch noch nicht so groß, wie sie angenommen hatte.

»Sei mir nicht böse«, entschuldigte sie sich. Der Entschuldigung ließ sie einen Kuss folgen. Dieser dauerte mehrere Sekunden und versprach mehr. So viel mehr.

Nur eben nicht in diesem Moment.

»Ich muss wirklich los. Melde dich, wenn du in Glasgow gelandet bist.« Damit ließ sie den Arzt allein in ihrer Wohnung zurück. Eine Premiere, seitdem sie vor etwas mehr als fünf Jahren von der Côte d’Azur in das familieneigene Haus am Fuß der Rue Maurice Utrillo am Montmartre gezogen war. Sie musste sich dazu zwingen. So weit hatte sie noch keinen anderen Mann in ihr Leben gelassen. Es sprach für ihr Vertrauen in Henry, dass sie ihn allein mit Merlot ließ. Sie hoffte, dass der Arzt diese Geste zu schätzen wusste. Und dass Merlot keinen Blödsinn machte. Er tendierte zu Eifersuchtsszenen gegenüber männlichen Gästen, wie sich in den letzten Monaten immer wieder gezeigt hatte, wenn Henry zugegen war.

Als sie die Eingangstür hinter sich geschlossen hatte, drehte sie sich nochmals um. Die Gewohnheit war eben ein Luder. Beziehungsweise in diesem Fall das Ungewohnte. Sie hatte, bis auf Mamie und ihren Kater, noch niemanden alleine in ihrer Wohnung gelassen. Es fühlte sich einfach falsch an. Was, wenn Henry begann, in ihren Sachen zu wühlen? Nicht dass es bei ihr groß etwas zu finden gab – ganz im Gegenteil zu ihrer Großmutter ein Stockwerk tiefer, aber dennoch fühlte sie sich unwohl. Es kostete beinahe übermenschliche Anstrengung, die Hand wieder vom Türknauf zu nehmen, sich umzudrehen und die Stufen hi­nunterzulaufen. Sie überlegte einen Moment, sich auf ihre Maschine zu setzen, entschied sich schließlich aber dagegen. Bis zur Moulin de la Galette war es nur etwas mehr als einen halben Kilometer zu Fuß.

Geneviève nahm die von Straßenlampen beleuchteten Stufen der 65 Meter langen Rue Maurice Utrillo hinauf zur Basilika im Laufschritt. Um diese Uhrzeit war noch weniger los als während ihrer üblichen Morgenrunde. Es war Sonntag, und vor 6 Uhr lag das Quartier rund um Sacré-Coeur noch im Tiefschlaf. Noch immer laufend, bog sie in die Rue Norvins ein, welche die Place du Tertre an deren nördlichem Rand abgrenzte. Auch hier herrschte noch gespenstische Stille. Die einzigen Geräusche kamen aus dem Le Palais des Pains, ihrer Stamm-Boulangerie. Durch die offene Eingangstür hörte sie Geräusche aus der Backstube der Boulangerie, die nach dem Mord an François Beauvais mittlerweile von dessen Neffen Cédric und dem tunesischstämmigen Lehrling Khaled betrieben wurde. Lunette, Genevièves Assistentin und Vertraute, hatte mithilfe der Sekretärin des Innenministers die Sache mit Khaleds abgelaufenem Visum aus der Welt geschafft.

Der Duft von frischem Baguette, der aus der Backstube auf die Straße zog, war verlockend. Aber Geneviève würde Khaled am Heimweg vom Tatort einen Besuch abstatten, um das Frühstück für Mamie zu besorgen. So schwer es ihr auch fiel, nicht gleich auf einen Sprung hineinzuschauen und sich eine Stange des backfrischen Brots mitzunehmen.

Nach weiteren 200 Metern bog sie links in die Rue Girardon ein und wenige Meter später stand sie an der Kreuzung mit der Rue Lepic, an deren Ecke die Moulin de la Galette stand. Albouy erwartete sie bereits unter dem weißen Torbogen des Restaurants, über dem die letzte noch funktionstüchtige – und zugleich namengebende – Mühle des Montmartre thronte.

»Madame«, wurde sie von Albouy begrüßt.

»Commandant«, gab Geneviève zurück. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah hoch zur Mühle. Am untersten der vier Windmühlenflügel hing die Leiche einer toten Frau.

»Ich habe veranlasst, dass die Leiche noch nicht angerührt wird. Der Rest des Tatorts wurde bereits untersucht und gesichert«, erklärte Albouy das Fehlen der Spurensicherung auf der Dachterrasse des Lokals, die der einzige Weg war, die historische Mühle zu erreichen. »Die Kollegen warten im Restaurant auf Sie.«

Geneviève ging voran durch den kleinen vorgelagerten Gastgarten. Auf grobem Kopfsteinpflaster standen verstreut Tische und Stühle für vielleicht 20 Gäste. Umringt wurde dieser Vorhof von grünen Hecken und jeder Menge Topfpflanzen, die das tagsüber hektische Treiben der Straßen draußen hielten und dem Gastgarten eine verwunschen-verspielte Note verliehen. Die Fassade des Restaurants war mit dunkelblau lackiertem Holz verkleidet.

Durch eine Glastür betraten sie das Innere, das vom sanften Licht mehrerer Lampen erhellt wurde. Linker Hand dominierte eine lang gezogene, weiß lackierte Bar den Raum, zur Rechten öffnete er sich zu einem großen, hellen Speisesaal, der durch einige scheinbar wahllos aufgestellte Zwischenwände mehrere kleine Separees bot. Große Panoramafenster gaben straßenseitig den Blick auf die tagsüber vorbeiflanierenden Spaziergänger frei. Die Sängerin und Montmartre-Ikone Dalida hatte hier noch ihren eigenen Tisch, der durch eine bronzene Plakette ausgewiesen war. Selbstverständlich hing hier auch eine Kopie von Renoirs Bal du Moulin de la Galette aus dem Jahr 1876, in welchem der berühmte Maler eine Tanzveranstaltung verewigt und damit dazu beigetragen hatte, den Ruf des Lokals auf immer und ewig zu zementieren.

»Guten Morgen, Boss«, grüßte einer der weiß gewandeten Spurensicherer Geneviève. Ihr Team wartete an dreien der Tische, an einem vierten saß eine stämmige Frau. Der Schock über das Geschehene stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr Kopf war leicht gesenkt, die Hände in ihrem Schoß gefaltet. Geneviève schätzte sie auf etwa 50 Jahre.

»Das ist Henriette Muller, sie ist die Besitzerin des Restaurants«, informierte Albouy seine Chefin.

»Hat sie die Leiche gefunden?«, erkundigte sich Geneviève.

Albouy schüttelte entschieden den Kopf: »Nein, ein junger Mann hat uns verständigt. Er war am Heimweg von einer Party, als er die Leiche gesehen hat. Wir haben dann Madame Muller aus dem Schlaf geläutet, damit Sie mit ihr sprechen können.«

»Haben wir eine Aussage des jungen Mannes?«

Wieder ein Kopfschütteln Albouys: »Er wollte uns keinen Namen und keine Adresse nennen. Die Kollegin beim Notruf meinte, dass er sehr verstört geklungen hat.«

»Kein Wunder. Man stolpert nicht jeden Tag über eine Leiche.«

»Außer man ist bei der Polizei«, konterte Albouy.

»Commandant!«, entfuhr es Geneviève. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so ein Zyniker sind.«

»Es war auch eher als … Scherz gemeint«, entschuldigte sich Albouy.

»Schon gut. Kümmern wir uns erst mal um die Leiche. Madame Muller läuft uns nicht davon. Außerdem muss ich mir mal ein Bild machen.«

»Es wird kein schönes sein«, murmelte Albouy, während er Geneviève durch den Speisesaal und zu einer Tür mit der Aufschrift »Privé« führte. Hinter der Tür befand sich ein kurzer, hell erleuchteter Flur, an dessen Ende eine weitere Tür wartete. Diese mit der Aufschrift »Terrasse«. Der Commandant öffnete auch diese Tür und gab den Blick auf eine schmale Wendeltreppe preis.

»Sie gestatten?« Geneviève drängte sich an Albouy vorbei und stieg die Treppe hoch, an deren Ende sie wieder eine Tür öffnen musste, um schließlich im Freien zu stehen. Im ersten Moment schnappte sie nach Luft. Nur wenige Meter von ihr entfernt ragte die Mühle aus einem Stück unverbautem Hügel in den Himmel. Aus der Nähe betrachtet ein Ungeheuer, das vor rund 400 Jahren von Menschenhand aus Holzbrettern zusammengenagelt worden war. Und zugleich die einzige – theoretisch – noch voll funktionsfähige Mühle der Stadt.

»Schauriger Anblick, n’est-ce pas?«, kam von hinter ihr die Stimme Albouys.

»Hm?«

»Na, die Leiche.«

»Ach ja. Natürlich«, flunkerte Geneviève. Sie hatte die Leiche noch gar nicht betrachtet, zu beeindruckt war sie von der Holzkonstruktion, die sie in ihrem Leben schon Hunderte Male passiert hatte, der sie aber noch nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Sie richtete ihren Blick auf die Frauenleiche, die an einen der Windmühlenflügel gefesselt hing und von einem Polizeischeinwerfer angestrahlt wurde. Albouy hatte recht. Der Anblick war grausig.

Der Mörder oder die Mörderin der jungen Frau war äußerst kaltblütig zu Werke gegangen und hatte sein Opfer mit mehreren Schüssen direkt ins Gesicht umgebracht. Oder mit mehreren Stichen in den Bauch. Was letztlich zum Tod geführt hatte, musste Isabelle Thibaut, die Gerichtsmedizinerin, feststellen. Unter der Leiche hatte sich eine Blutlache am Boden der Terrasse gebildet. Im Mund der jungen Frau steckte ein Knebel. Vom Rest des Gesichts war nicht mehr viel zu erkennen. Die Schüsse aus nächster Nähe, wie Geneviève annahm, hatten das Gesicht komplett zerstört. Rote Locken umrahmten nun nur mehr eine entstellte Fratze.

»Sie wurde hier getötet«, schlussfolgerte Geneviève aufgrund der Blutlache am Boden unter der Leiche.

»Das ist ebenfalls die Annahme der Spurensicherer«, bestätigte Albouy.

»Wissen wir schon etwas über sie?«

Albouy schüttelte den Kopf. Dann zeigte er auf das Kostüm, das die Frau trug: »Aber wir gehen davon aus, dass es sich um eine Tänzerin aus dem Moulin Rouge handelt.«

»Das wäre auch mein Tipp gewesen«, bestätigte Geneviève.

»Solche Kostüme werden nur dort getragen.«

Die Leiche trug zwei große rote Flügel aus Federn am Rücken, befestigt mit einem Schultergurt. Ihre Brüste waren nackt, sie trug ein knappes rotes Höschen und durchsichtige Strümpfe, die Füße steckten in aufwendig gearbeiteten Tanzstiefeln. Alles sündteuer, alles mit Blut bespritzt.

Geneviève machte einige Schritte zurück, um das große Ganze zu sehen. Albouys erster Kommentar kam ihr wieder in den Sinn: ein schauriger Anblick. Aber es war mehr. Das rote Haar, die ausgebreiteten Flügel, die gesamte Drapierung der Leiche – als hätte man einen Engel gekreuzigt. Einen sündigen Engel vielleicht, aber einen Engel allemal.

Bevor Geneviève fragen konnte, sagte Albouy bereits: »Major Faivre ist mit einigen Männern gerade dabei, die Anrainer zu befragen. Vielleicht hat jemand die Schüsse gehört.«

»Formidable!«, lobte Geneviève, schoss aber gleich hinterher: »Wird leider nichts bringen.«

»Warum?«

»Hätte jemand Schüsse gehört, hätten wir einen Notruf bekommen. Wir sind am Montmartre, nicht in den Banlieues.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das hier war ein Profi. Er oder sie hat 100-prozentig mit einem Schalldämpfer gearbeitet. Alles andere würde mich überraschen.«

»Aber diese Brutalität …«

»Sie meinen, dass sich hier ein verschmähter Liebhaber gerächt hat?«, fragte Geneviève. »Nein, ganz sicher nicht. Hier will jemand eine Botschaft schicken. Eine Warnung.«

»Aber wem? Und warum?«

»Das herauszufinden, mein Lieber, ist unsere Aufgabe.« Geneviève wusste schon jetzt, dass das nicht einfach werden würde. »Etwas anderes: Wissen wir schon, wie der Mörder mit seinem Opfer hier heraufgekommen ist?«

»Er hat einen Dietrich verwendet, um die Schlösser aufzusperren, Madame. Alles sehr professionell und geräuschlos. Beim Verschwinden hat er sich nicht die Mühe gemacht, wieder abzusperren.«

»Heute sind wir aber besonders witzig unterwegs«, sagte Geneviève süffisant.

»Ich versuche nur, die Situation etwas erträglicher zu machen«, konterte Albouy todernst.

Inzwischen ging es bereits auf 6.30 Uhr zu und die Dämmerung war mit voller Wucht über Paris hereingebrochen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen fast waagrecht auf die Dächer der alten kleinen Häuser der Rue Lepic. Erste Frühaufsteher öffneten die Fensterläden, der eine oder andere wagte sich bereits auf die Straße, um einen Morgenlauf zu machen.

»Holen Sie die Spurensicherer«, wies sie den Commandant an. »Es wird Zeit, dass wir die Leiche wegschaffen, bevor wir die ersten Bilder auf Instagram finden.«

Albouy nickte und lief die Treppen hinunter. Kaum war er verschwunden, erschien Isabelle Thibaut im Türrahmen. Die Gerichtsmedizinerin war berufsbedingt einiges gewöhnt, beim Anblick der Leiche schlug aber auch sie sich kurz die Hand vor den Mund.

Nach einigen Sekunden hatte sie sich gefangen und gab Geneviève zur Begrüßung zwei Bisous auf die Wangen. Die Kommissarin bewunderte es, wie die Schwarze Gerichtsmedizinerin zu jeder Tages- und Nachtzeit wie aus dem Ei gepellt aussah. Selbst in der Morgendämmerung glänzte ihre rabenschwarze Haut. Wenn sie den Mund zum Reden öffnete, glänzten die Zähne hell wie Alabaster. Dass sie selbst einen noch stärkeren Eindruck auf ihre Umgebung machte, fiel Geneviève gar nicht mehr auf. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ihr makelloses Äußeres mehr Fluch denn Segen war.

Wenigstens so lange, bis sie Docteur Henry Martel getroffen hatte.

In der Hektik des Morgens hatte sie ihre langen schwarzen Haare lediglich zu einem schnellen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Augen waren noch ein verschwommenes Blau. Lediglich ihre sportliche Figur war immer dieselbe. Daran änderte auch die Tageszeit nichts. Ebenso wenig wie an ihrer Größe, die wie ihre Figur einem Model zur Ehre gereicht hätte. Das Spezielle an Geneviève war die Selbstverständlichkeit, mit der sie all ihre körperlichen Vorzüge durch die Welt trug. Nicht prahlerisch, nicht stolz, nicht affektiert. Meist war sie sich gar nicht bewusst, welchen Eindruck ihr Aussehen auf andere Menschen machte.

»Bist du fertig?«, riss Isabelle sie schließlich aus ihren Gedanken.

»Ja, ja, natürlich. Sie gehört ganz dir.«

»Tänzerin«, stellte die Gerichtsmedizinerin mit Kennerblick ebenfalls sofort fest.

»Nehmen wir an.«

In diesem Moment kehrte Albouy mit der Spurensicherung zurück.

»Holt die Tote mal da runter«, wurden sie von Isabelle angewiesen. Die weiß gekleideten Männer machten sich an die Arbeit. Geneviève ließ sie tun. Sie wollte sich mit der Besitzerin unterhalten. Vielleicht wusste Madame Muller ja, wen man ihr da an die Mühle gehängt hatte. Oder wenigstens, warum. Zuvor machte sie mit ihrem Handy aber noch rasch ein paar Fotos des toten roten Engels am Windmühlenflügel.

NICHT DAS ERSTE MAL

»Madame Muller?« Geneviève setzte sich an den Tisch, an dem die Lokalbesitzerin ungeduldig gewartet hatte, um befragt zu werden. Jetzt war endlich Zeit, sich die Frau genauer anzusehen. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, aber Geneviève glaubte, dass Muller zwischen 50 und 60 sein musste. Genauer ließ es sich nicht festmachen. Die Züge ihres rundlichen Gesichts wirkten jugendlich, die Haut glatt, aber Fältchen in den Augenwinkeln und an ihrem Hals verrieten, dass die Frau schon älter sein musste. Die Haare waren ganz offensichtlich gefärbt – ein dunkles Kastanienrot. Und entweder hatte die Frau tatsächlich so volles lockiges Haar, oder eine Dauerwelle half dabei nach. Ihre Haut zeigte ein kräftiges, der Sonne geschuldetes Braun, von dem sich der hektisch aufgetragene Lippenstift kaum unterschied. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid, das ihre üppige Oberweite nur schwer bändigen konnte. Alles in allem fühlte sich Geneviève an eine etwas übergewichtige Sophia Loren erinnert – in den Jahren nach ihrer Hochblüte.

Die Angesprochene blickte auf und nickte. Ihre Augen waren noch immer tränenverschwommen. »Und Sie sind?«

»Commissaire Geneviève Morel. Ich leite das Kommissariat des Arrondissements.« Wieder ein teilnahmsloses Kopfnicken als Bestätigung.

»Madame, ich kann verstehen, dass Sie schockiert sind. Aber Sie müssen jetzt trotzdem mit mir sprechen.«

»Warum? Ich war doch nicht hier, als … als das passierte, was auch immer passiert ist.«

»Sie haben also keine Vorstellung, wieso man Ihnen eine Leiche an die Windmühle gehängt hat?«

»Natürlich nicht. Solche Sachen kenne ich nur aus dem Fernsehen. Ich bin Restaurantbesitzerin und Köchin. Mit Verbrechern habe ich nichts zu tun.«

»Das wollte ich damit nicht insinuieren, Madame. Au contraire! Sie werden mir dennoch zugestehen, dass man eine Leiche nicht einfach aus Spaß an der Freude an eine Windmühle bindet.«

»Es war ja nicht das erste Mal«, entgegnete Muller mit stockender Stimme.

»Wie bitte?«

»Es hat so etwas schon einmal gegeben, Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Mühle hat ja eine lange Geschichte.«

»Das ist mir bewusst«, bestätigte Geneviève. »Aber dass es hier schon mal einen Mord gegeben hat? Wollen Sie mir vielleicht davon erzählen?« Geneviève hatte gemerkt, dass bei der Erwähnung der Geschichte ihrer Mühle wieder etwas Leben und Feuer in Muller gekommen war. Vielleicht taute sie so ein wenig auf.

»Es war das Ende der Napoleonischen Kriege«, begann Muller und richtete sich dabei auf. »Paris wurde von den Koalitionstruppen – Russen, Preußen, Österreicher und Deutsche – angegriffen und eingenommen. Die Mühle und das Lokal gehörten damals der Familie Debray. Ihnen ist der Name Moulin de la Galette überhaupt erst zu verdanken.«

»Inwiefern?«

»Nun, die Mühle hieß ursprünglich Blute-fin und existiert seit dem Jahr 1622. Anfang des 19. Jahrhunderts fiel sie in den Besitz der Familie Debray, die aus dem dort gemahlenen Mehl ein dunkles Brot herstellte, das sie Galette nannten. Hat mit den heutigen Galettes nicht viel zu tun, aber war damals ein großer Renner. Die Debrays haben dann begonnen, dieses Brot mit einem Becher Milch zu verkaufen, und schließlich etablierte sich der Name La Moulin de la Galette in der Bevölkerung. 1870 wurde der Mühlenbetrieb obsolet, da es noch die benachbarte Moulin Radet gab. Die Blute-fin wurde schließlich endgültig in eine Schenke umgewandelt und auch für Bälle und Tanzabende genützt.« Madame Muller schmunzelte verträumt: »Natürlich nicht die Mühle selbst, die war und ist nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, aber eben das Lokal unterhalb, das die Debrays gegründet haben.«

Geneviève hatte Muller gespannt zugehört. Die Geschichtslektion war interessant, führte jedoch am Thema vorbei. »Und wie war das mit dem Toten auf dem Windmühlenrad?«, versuchte sie, Muller wieder auf das ursprüngliche Thema zurückzuführen.

»Ach ja, der Tote.« Muller schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Verzeihen Sie, aber wenn ich über meine Mühle erzähle, verliere ich mich gerne in der Vergangenheit.«

»Pas de problème.«

»Wie schon erwähnt, die Sache passierte gegen Ende der Napoleonischen Kriege. Die Bevölkerung des Montmartre verteidigte den Hügel gegen die angreifenden Armeen, war aber unterlegen. Als Bestrafung gegen den Widerstand wurde Charles Debray 1814 von den Besatzern getötet und an die Flügel seiner eigenen Windmühle genagelt.«

»Ein Racheakt also.«

»Ja, so wird es wenigstens geschichtlich überliefert.«

Stellte sich nur die Frage, was das mit diesem Mord zu tun hatte. Sie würde das mit Lunette besprechen müssen. Ihre Assistentin war clever, und in ihren Diskussionen kam Geneviève immer wieder auf neue Denkansätze.

»Haben Sie eine Ahnung, wer die Tote auf der Mühle sein könnte?«, fragte Geneviève schließlich.

»Nein, wieso auch? Man hat mich die Leiche ja nicht sehen lassen.«

Geneviève rief auf ihrem Handy die Fotos auf, die sie zuvor gemacht hatte, und zeigte sie Madame Muller. Die Lokalbesitzerin wurde noch blasser, schlug sich die Hand vor den Mund und lief auf die Toilette. Fünf Minuten später kehrte sie zurück an den Tisch.

»Geht es wieder?«

»Oui, excusez-moi. Es ist die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe. Also, die erste echte.«

»Verständlich. Glauben Sie, dass Sie sich die Fotos noch einmal ansehen könnten?«

Madame Muller nickte. Diesmal ging es besser. Trotzdem hielt die Restaurantbesitzerin das Handy mit ausgestrecktem Arm von sich. So als ob die Leiche sie aus dem Display heraus anspringen könnte.

»Vom Gesicht ist nicht viel zu erkennen«, stellte auch Muller fest. »Aber die Kleidung – ich würde sagen, dass es sich um eine Tänzerin aus dem Moulin Rouge handelt. Oder um eine junge Dame, die auf einer Kostümparty war. Wer weiß schon, was die jungen Dinger heutzutage alles aufführen?«

Madame Muller war bereits die Dritte oder Vierte, die die Vermutung mit dem Moulin Rouge anstellte. Es hätte ihre Meinung aber gar nicht gebraucht, um Geneviève davon zu überzeugen. Die Idee mit dem ausgefallenen Kostüm wollte sie nicht glauben. Die Federn-Flügel vielleicht noch, aber der Rest des Kostüms? Beziehungsweise das quasi nicht vorhandene restliche Kostüm? Wer ging barbusig auf einen Kostümball? Natürlich könnte es sein, dass der Mörder seinem Opfer das Oberteil oder den BH abgenommen hatte, um die junge Frau noch extra zu demütigen, dagegen sprach aber der aufwendige Schmuck, den die Frau trug. Die Rundungen ihrer nackten Brüste waren mit feinen Perlenketten umrahmt. So etwas trug man nicht unter einem BH, sehr wohl aber als Dekoration auf der Bühne des berühmt-berüchtigten Kabaretts am Fuß des Montmartre.

Damit waren wenigstens ihre nächsten Schritte klar: Sie würde dem Moulin Rouge noch heute einen Besuch abstatten. Dort würde man die junge Frau garantiert identifizieren können. Und Geneviève hoffentlich erzählen, wer ein Interesse am Tod der Frau haben könnte.

Geneviève blickte auf ihre Uhr. Es ging inzwischen auf 7 Uhr zu. Von Madame Muller war nichts von Bedeutung mehr zu erfahren. Außer vielleicht über die Geschichte der Mühle. Was zweifellos interessant, aber im Moment komplett unerheblich war. Vielleicht könnte sie ja mal mit Henry zum Abendessen vorbeischauen. Die Speisekarte am Tisch zwischen ihr und Muller versprach recht typische französische Spezialitäten: Weinbergschnecken in Knoblauchbutter (überhaupt nicht ihr Ding), Foie Gras, Froschschenkel auf provenzalische Art, Coq au vin oder auch Miesmuscheln. Klang alles fast schon zu typisch. Schon zu sehr nach Touristenfalle. Die Moulin de la Galette stand natürlich in jedem Reiseführer. Dementsprechend war hier die Klientel. Was aber nicht bedeutete, dass das Essen nicht trotzdem exzellent oder wenigstens gut sein könnte.

Geneviève konnte nicht widerstehen: »Wer kocht bei Ihnen eigentlich?«, fragte sie im Aufstehen.

»Wie bitte?« Madame Muller konnte der neuen Gesprächsrichtung nicht folgen.

»Wer ist hier der Koch? Machen das Sie selbst?«

Madame Muller lachte: »Mon Dieu! Natürlich nicht. Wenigstens nicht mehr. Als ich den Laden vor gut zehn Jahren übernommen habe, habe ich noch selbst in der Küche gestanden. Inzwischen habe ich Personal. Das Geschäft läuft gut.« Madame Muller verzog den Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Ich weiß schon, wo­rauf Sie anspielen. Ja, ich bediene hier viele Touristen, aber es kommen auch viele Pariser, und speziell die Montmartroises essen gerne bei mir. In meiner Küche kocht nicht irgendwer, sondern einer der vielversprechenden jungen Garde. Hat in den großen Restaurants unserer Stadt gelernt und darf sich bei mir jetzt austoben«, schloss sie mit einem Augenzwinkern.

Okay, Geneviève würde definitiv mit Henry hierher essen kommen. Diesen jungen Wunderkoch musste sie persönlich kennenlernen. Vielleicht würde sie sich ja überwinden, nach vielen, vielen Jahren wieder einmal Escargots zu probieren.

Nein, werde ich garantiert nicht, dachte sie mit einem Grinsen und verließ die Moulin de la Galette.

Für Geneviève gab es hier im Moment nichts mehr zu tun. Der Tatort war abgesperrt, und die ersten Schaulustigen – eigentlich auf dem Weg, um Frühstück zu besorgen – scharten sich bereits um das Eckhaus mit der darüber thronenden Holzmühle.

Gerade als Geneviève durch den Torbogen des Gastgartens der Moulin de la Galette auf den Bürgersteig trat, parkte gegenüber ein kleiner Fiat 500 im Parkverbot ein. Die Tür des blitzblauen City-Flitzers öffnete sich, und ein großer, schlaksiger Mann schälte sich aus dem Wagen. Sein Kopf wanderte von links nach rechts, die Augen ebenso unstet wie der gesamte Kopf. Was ihm ein wenig das Aussehen einer Eule verlieh. Dann fiel sein Blick auf Geneviève, seine Gesichtszüge erhellten sich, und er sprintete auf sie zu. Die Tür seines Fiats ließ er dabei einfach offen.

»Commissaire!«, hechelte er, als er sich vor Geneviève einbremste, wobei er beinahe über seine eigenen Füße stolperte. Seine Motorik schien mit dem gewaltigen Wachstum – sie schätzte ihn auf über zwei Meter groß – nicht ganz mitgehalten zu haben.

»Ja?« Sie kannte den Mann nicht, schätzte ihn auf etwa 20 Jahre. Äußerlich machte er einen netten Eindruck, wenngleich ein wenig schlampig. Die blonden Wuschelhaare standen wirr von seinem Kopf ab, sein Sakko schien ein bis zwei Nummern zu klein, war vielleicht aber auch nur übertriebener Slim Fit. Das Weinrot des Sakkos passte allerdings überhaupt nicht zum Kanariengelb seiner weiten Leinenhosen und dem Blau der Sneakers. Das Einzige an ihm, was nicht lauthals nach Aufmerksamkeit schrie, war das weiße Hemd.

»Benoit Paire, ich bin Reporter für Le Parisien. Können Sie mir schon etwas über den Mord erzählen?«, hechelte er.

Daher wehte also der Wind. Nach ihren Ermittlungen zum Mord am preisgekrönten Baguette-Bäcker war sie unversehens oft in den Medien aufgetaucht. Mit Foto und Namen. Es war garantiert nicht ihr spektakulärster Fall gewesen, wenigstens war das Genevièves Meinung, aber weil es sich dabei noch dazu um das Baguette des Präsidenten gehandelt hatte, war mehr an Staub aufgewirbelt worden, als ihr lieb war. Die damit einhergehende Medienpräsenz nach der erfolgreichen Lösung des Falls ging ihr gehörig auf die Nerven. Doch auch das gehörte zum Job, wie sie in den letzten Monaten leidvoll hatte realisieren müssen.

Was natürlich nicht bedeutete, dass sie nun zu jeder Tages- und Nachtzeit den Medien Rede und Antwort stehen musste. »Nein, Monsieur, kann ich noch nicht.«

»Wer ist die Tote?«, fragte Benoit unbeirrt weiter. Er musste noch ganz neu sein, so wie er für seinen Job zu brennen schien. Oder einfach nur auf beiden Ohren taub.

»Kein Kommentar.« Woher zum Teufel wusste er, dass es sich bei dem Opfer um eine Frau handelte? Wenn sie sich so umblickte, lag die Antwort auf der Hand. Schaulustige mussten die Zeitung verständigt haben. Details waren von der Straße aus zwar nicht zu erkennen gewesen, aber dass es sich um eine Frau handelte, war offensichtlich. Sie war froh, dass ihre Leute die Leiche inzwischen vom Windmühlrad geholt hatten. So konnte der Journalist wenigstens keine Fotos mehr machen.

»Wie wurde die Frau ermordet?«

»Kein Kommentar.« Geneviève hatte sich in Bewegung gesetzt, aber der Reporter ließ nicht locker und lief neben ihr her.

»Wie werden Sie jetzt weiter vorgehen?«

»Kein Kommentar.« Sie beschleunigte in den Laufschritt. Noch immer ließ der Reporter nicht locker.

»Werden Sie eine Pressekonferenz geben?«

Alter Schwede, der junge Mann war wirklich hoch motiviert. Geneviève begann zu laufen, irgendwann musste er sich ja abschütteln lassen.

Paire begann ebenfalls zu laufen. Mit seiner Schrittlänge konnte er locker mit Geneviève mithalten.

»Also?«

»Nein, keine Pressekonferenz«, antwortete Geneviève kurz angebunden und erhöhte das Tempo. Endlich blieb der Reporter zurück. Sie blickte sich noch einmal um. Paire stand vornübergebeugt und schnappte nach Luft. Noch einmal richtete der lange Schlaks sich auf: »Darf ich Sie so zitieren?«, rief er schnaufend.

Geneviève ersparte sich eine Antwort. Sie lief die Rue Norvins entlang und machte erst vor dem Palais des Pains halt. Die Boulangerie hatte inzwischen ihre Pforten geöffnet und wurde bereits von Kundschaft gestürmt.

Die wenigen 100 Meter vom Tatort hierher hatten sie keine Anstrengung gekostet. Normalerweise lief sie morgens eine Runde von fünf bis sieben Kilometern, um sich fit zu halten.

In der Bäckerei hatte sich optisch nicht viel geändert seit dem Mord am ehemaligen Besitzer François Beauvais. Cédric, der Neffe, hatte alles beibehalten, wie es war. Es hatte jahrelang hervorragend funktioniert. In der Backstube hatte sich dafür einiges geändert. Khaled, der ehemalige Lehrling von Beauvais’ größtem Konkurrenten, Baptiste Buffet, schwang hier nun das Zepter. Und er hatte das Beste aus zwei Welten zusammengeführt. Beziehungsweise das Beste aus den Baguette-Rezepten von Beauvais und Buffet, die in den letzten Jahren regelmäßig um den Preis für das beste Baguette der Stadt gekämpft hatten. Khaled hatte nach der Lösung des Mordes bei seinem alten Chef gekündigt und war auf Anraten von Geneviève umgehend von Cédric Beauvais angeheuert worden. Der Abschied war Khaled nicht schwergefallen, immerhin hatte sein alter Chef ihn für ein falsches Alibi missbraucht und sich auch sonst nicht sonderlich um den jungen Tunesier gekümmert. Erst deshalb war der Junge in die Schwierigkeiten mit dem Aufenthaltsvisum geraten.

Im Palais des Pains konnte sich Khaled kreativ austoben. Cédric hatte zwar die Bäckerei von seinem Onkel geerbt, konzentrierte sich aber meist auf seine Patisserie ein paar Hausnummern weiter. Schuster, bleib bei deinen Leisten – Khaled war der Spezialist für Baguette, Brot und andere Bäckereien. Cédric jener für Viennoiseries, die er in seiner Framboise Gourmande produzierte und verkaufte. Auf Dauer war das natürlich kein haltbarer Zustand und die beiden Geschäfte würden zu einem einzigen zusammengelegt werden. Fehlte nur noch ein Lokal in der entsprechenden Größe, das nicht zu weit weg vom jetzigen Standort war.

»Madame, quelle bonne surprise!«, wurde sie von der Verkäuferin hinter der Glastheke empfangen, als sie an der Reihe war. Was für eine Übertreibung, sie war hier seit Jahren Stammkundin, aber seit der Aufklärung des Mordes am ehemaligen Besitzer wurde sie noch freundlicher als früher begrüßt und bedient.

Geneviève winkte beschämt lächelnd ab, bestellte eine Stange von Khaleds neuem, verbessertem Baguette und dazu noch zwei Croissants, bezahlte und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs rief sie ihre Assistentin Lunette an, die sie an einem Sonntag um diese Uhrzeit natürlich noch aus dem Schlaf riss.

»Oui?«, meldete diese sich schlaftrunken.

»Entschuldige die Störung, aber wir haben einen Mord.« Geneviève war auf Lunettes Reaktion gespannt. Seit ein paar Monaten war sie nämlich in einer Beziehung mit Major Faivre, die beiden lebten aber nicht zusammen. Hatte er sie schon vorgewarnt? Immerhin war er ebenfalls am Tatort gewesen und befragte momentan die Bewohner der umliegenden Häuser.

»Wie bitte?« Lunette war plötzlich hellwach.

Okay, nein, er hatte sie nicht vorgewarnt und hatte offenbar auch die Nacht nicht bei ihr verbracht.

»Ich brauche dich vor Ort. Es scheint sich um eine Tänzerin aus dem Moulin Rouge zu handeln. Sobald ich daheim alles erledigt habe, möchte ich, dass du mich dorthin begleitest. Wir müssen die Tänzerin noch identifizieren.«

»Und Fragen stellen«, fügte Lunette scharfsinnig hinzu.

»Genau.«

»Kannst du mir erzählen, was passiert ist?«

Geneviève fasste ihre wenigen Erkenntnisse zusammen und schickte Lunette die Fotos der Leiche aufs Handy.

»Sieht aus wie ein toter Engel«, stellte nun auch Lunette fest.

»Hast du schon mal einen Engel im Moulin Rouge gesehen?«

»Hey«, empörte sich Lunette, »nur weil sie dort halb nackt tanzen, sind das ja keine schlechten Menschen.«

»Das meinte ich doch nicht«, stöhnte Geneviève. »Aber unter einem Engel stelle ich mir dennoch etwas anderes vor.«

»Ich mache mich gleich auf den Weg«, schloss Lunette das Thema.

»Lass dir Zeit. Ich muss ohnehin noch heim. Treffen wir uns gegen 10 Uhr vor dem Kabarett. Dann sollte dort schon jemand sein, der uns hineinlässt und hoffentlich Auskunft geben kann.«

Geneviève trabte gemütlich die Stufen der Rue Maurice Utrillo hinunter. Zu ihrer Rechten breitete sich hinter einem Eisenzaun der weitläufige Square Louise Michel aus, der den südlichen Teil des Hangs zwischen Sacré-Coeur an der Spitze und der Place Saint-Pierre am Fuß des Hügels einnahm. Sie erreichte den kleinen namenlosen Platz am Ende der Treppe, von dem drei Straßen sternförmig wegführten, und ging in das erste Eckhaus zur Linken. Das Haus war seit Jahrzehnten im Besitz ihrer Familie. Das Erdgeschoss war an das Bistro Chez Frédéric verpachtet. Im vierten Obergeschoss logierte ihre Großmutter, das Dachgeschoss wurde von Geneviève selbst bewohnt. Die Appartements in den anderen Stockwerken waren vermietet.

Gegenüber räumte ein Obst- und Gemüsehändler den Stand vor seinem Geschäft mit frischer Ware voll: riesige Wassermelonen, teils im Ganzen, teils bereits aufgeschnitten; knallgelbe, überdimensionierte Zitronen; dunkelrote Kirschen; Auberginen, glänzend, als wären sie mit Pianolack überzogen, und viele weitere Leckereien. Solche Ware, wusste Geneviève, bekam man nur bei diesen kleinen Händlern, aber niemals in den großen Supermarktketten. Im benachbarten Zeitungskiosk wurde ebenfalls neue Ware eingeschlichtet – in diesem Fall Tageszeitungen und Magazine, und im Tabakladen nebenan deckten sich die ersten Kunden bereits mit Rauchwaren ein. Sucht kannte keine Pause und keinen Ladenschluss. Nur bei Chez Frédéric herrschte noch Stille. Das Bistro öffnete sonntags erst zu Mittag.

Gerade als sie die Eingangstür zum Haus aufsperren wollte, lief ihr ausgerechnet Mamie in die Arme.

EINE SHOPPING-TOUR DER ANDEREN ART

»Bonjour, ma puce!«, wurde sie von Mamie begrüßt. Sie versuchte, sich an ihrer Enkelin vorbeizudrängen, und wirkte mindestens ebenso überrascht wie Geneviève. Nicht nur überrascht, sondern, so hatte Geneviève den Eindruck, auch ertappt. Aber wobei? Geneviève musterte ihre Großmutter von oben bis unten. Für ihre Verhältnisse war sie beinahe im Camouflage-Look gekleidet: beigefarbene Leinenhose, eine einfache weiße Bluse, die Füße in Sneakers, was Geneviève an Mamie überhaupt noch nie gesehen hatte. Selbst auf ihren üblichen Dutt, festgesteckt mit einem sündteuren Bleistift mit den Initialen der Großmutter, hatte sie verzichtet.

»Was geht hier vor?«, fragte Geneviève misstrauisch.

»Was soll hier vorgehen?«, gab Mamie salopp zurück.

»Wieso bist du so verkleidet?«

»Was heißt hier verkleidet?«

»Mamie! So bist du ja nicht mal daheim angezogen, wenn keiner da ist.«

»Woher willst du wissen, wie ich mich daheim anziehe, wenn keiner da ist? Wenn keiner da ist, weiß auch niemand, was ich da trage.«

Punkt für die Großmutter.

»Im Ernst, Mamie.«

Olivia Morel schnaufte einmal tief durch. Dann sagte sie: »Ich gehe shoppen.«

Genevièves Kinn klappte hinunter. »Shoppen? Am Sonntag? Um 8 Uhr in der Früh? In diesem Aufzug?«

»Warum nicht? Ist das verboten?«

»Natürlich nicht, aber was genau willst du shoppen?«

»Das geht dich nichts an, chérie.«

Spätestens jetzt klingelten bei Geneviève die Alarmglocken. Was hatte Mamie zu verheimlichen? Wollte sie einen Coup starten? Genevièves Familie hütete nämlich ein großes Geheimnis. Ein Geheimnis, das durch das Familienmotto in Wirklichkeit in alle Welt hinausposaunt wurde, aber von der Allgemeinheit völlig falsch verstanden wurde: »Ars est nostra ars – Kunst ist unsere Kunst.« Ein Motto, das zwar ganz gut zur offiziellen Betätigung der Familie – Kunstsammler und -händler – passte, aber in Wahrheit etwas ganz anderes bedeutete: Mamie war nämlich die Matriarchin der größten Kunstdiebe-Familie Frankreichs. Wenn nicht sogar Europas. Eigentlich Matriarchin in Rente, denn sie hatte das Familiengeschäft bereits vor Jahren in die Hände ihres Sohnes – Genevièves Vaters – gelegt. Und der war momentan damit beschäftigt, das Familien-Business wiederum an Genevièves fünf Jahre jüngeren Bruder weiterzugeben. Geneviève war in dieser Familie das schwarze Schaf. Oder das weiße. So ganz sicher war sie sich da nicht. Auf jeden Fall war es ein Drahtseilakt, ihren Job als Polizistin mit jenem als Tochter einer Gaunerfamilie zu vereinbaren. Man hatte sich schließlich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt: Sie stellte der Familie nicht nach, dafür führte Papa keine Coups in ihrer Stadt durch. Bei Mamie hatte es zu solch weitreichenden Geständnissen nicht gereicht. Selbst in der verdienten Gaunerpension stahl Olivia Morel noch wie eine Elster. Einzige Ausnahme: das 18. Arrondissement, Genevièves Revier.

Manchmal musste man im Leben für die kleinen Dinge dankbar sein.

»Ich komme mit«, beschloss Geneviève kurzerhand. Wenn Mamie so geheimnisvoll tat, wollte sie wissen, was dahintersteckte.

»Ist nicht notwendig«, versuchte Mamie ihre Enkelin vom Begleitdienst abzuhalten. Sie hätte genauso gut versuchen können, einen Zug mit ihren beiden Händen zu stoppen. Sturheit war eine der Eigenschaften, die Geneviève von ihrer Großmutter geerbt hatte, obwohl sie selbst es eher Entschlossenheit nannte.

»Du wartest hier!«, wies Geneviève ihre Großmutter an und verschwand im Stiegenhaus. Ein paar Sekunden später war schon der Lift zu hören.

Mamie wartete noch ein paar Sekunden, dann machte sie sich auf den Weg. Sie hastete die Stiegen der Rue Maurice Utrillo hinauf, an deren Ende sie rechts in die Rue Lamarck einbog, der sie einen guten halben Kilometer folgte. Sie schlängelte sich zwischen Passanten durch, die unterwegs zum Gottesdienst in Sacré-Coeur waren und genau in die entgegengesetzte Richtung strömten. Immer wieder blickte sie sich um, aber von ihrer Enkelin war nichts zu sehen. Gut so, die Kleine musste nicht in alles ihre Nase hineinstecken. Sie befand sich nun an der Kreuzung mit der Rue du Chevalier de la Barre, deren letztes Stück von einer weiteren, am Montmartre unvermeidlichen Treppe geziert wurde, welche direkt zur Basilika hochführte.

»Hallo, Mamie«, erklang es plötzlich von rechts. Die Angesprochene zuckte zusammen. Geneviève lehnte lässig an ihrer Straßenmaschine, einer BMW F 900 XR, und streckte ihr einen Motorradhelm entgegen. »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich mich so einfach abschütteln lasse?«

Mamie seufzte, nahm dann aber den ihr entgegengestreckten Helm an.

»Ich dachte mir, wenn du schon mal keinen Dutt trägst, könnte dir der Helm ganz gut stehen«, feixte Geneviève, während die Großmutter sich den Helm aufsetzte. »Wohin soll es gehen?«

»Nichts da, ich fahre«, stellte Mamie entschieden fest.

Geneviève zuckte mit den Schultern: »Soyez mon invité.« Sie nahm am Sozius hinter ihrer Großmutter Platz und schlang ihre Arme um deren Bauch. Mamie presste den Startknopf. Sie ließ den Motor aufheulen, legte den ersten Gang ein und fuhr mit quietschenden Reifen los. Sie hatte viele versteckte Talente, von denen außerhalb ihrer Familie niemand etwas wusste. Unter ihrem Helm grinste Geneviève wie ein Honigkuchenpferd. Natürlich war die kriminelle Ader ihrer Großmutter, ach was – ihrer ganzen Familie – nervig, aber es gab auch verdammt viel, worauf sie wirklich stolz war. Wer hatte schon eine Großmutter, die mit einer schweren Maschine durch die engen Gassen des Montmartre raste?

Ein paar Minuten später erreichten sie die Porte de Clignancourt im Norden des Bezirks. Geneviève hatte keine Ahnung, was Mamie hier wollte. Der nördliche Teil ihres Arrondissements hatte für den gehobenen Geschmack ihrer Großmutter wenig zu bieten. Vom Charme des verträumten Hügeldorfs war hier nicht mehr viel zu merken. Statt Haussmann’scher Architektur wie in den feineren Bezirken oder dem dörflichen Charme des Montmartre herrschten hier funktioneller Plattenbau, großzügig dimensionierte Supermärkte mit ebenso großzügig angeschlossenen Kundenparkplätzen und Sportstätten vor. Die Périphérique, die mehrspurige Stadtautobahn, die sich wie ein Gürtel um das Herz von Paris legte, war zu dieser frühen Stunde bereits gut befahren. Die Bürgersteige unter der hier auf Stelzen gebauten Stadtautobahn waren jedoch noch so gut wie menschenleer. Ein paar Clochards schliefen, mit Zeitungen zugedeckt, dem nächsten trost- und hoffnungslosen Tag entgegen. Ein paar Katzen streunten durch die an diesem Sonntag gottverlassenen Straßen.

Unter der Autobahnbrücke ließ Mamie den Motor von Genevièves Maschine abermals laut aufheulen. Tauben, die es sich im Gebälk der Brücke gemütlich gemacht hatten, flogen erschrocken davon. Die schlafenden Clochards waren nun ebenfalls munter.

Erst als Mamie nach der Unterführung in die Rue Jean-Henri Fabre, eine schmale einspurige Straße, eingezwängt zwischen die Périphérique und eine schier endlose, mit Graffiti beschmierte Häuserzeile, einbog, dämmerte ihr langsam, was das Ziel war. Ganz klar wurde es, als ihre Großmutter die Maschine wenige Meter später abstellte und sie vor dem Eingang zum Le Marché aux Puces de Paris Saint-Ouen waren. Dabei handelte es sich nicht nur um den größten Flohmarkt der Stadt, sondern schlicht um den größten weltweit. Klotzen, nicht kleckern, war hier das Motto.

Im Grunde genommen bestand der Markt aus 15 kleineren Flohmärkten, auf denen fast 2.000 Händler ihre Waren zur Schau stellten. Zumeist in festen Buden, was so manchen Flohmarkt-Connaisseur die Nase rümpfen ließ. Das Areal erstreckte sich über sieben Hektar, die von unzähligen kleinen Gassen durchzogen wurden. Als Ortsunkundiger konnte man sich hier schon mal verlaufen. Außerdem war es ein Eldorado für Taschendiebe. Die Polizei hatte es längst aufgegeben, hier noch für Recht und Ordnung zu sorgen. Was nicht Genevièves Schuld war. Das Marktgelände lag knapp außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs.