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Von den Metamorphosen der Liebe und ihren Mutanten erzählt die Novelle vom Alltag in der Stadt der Hunde. Der Stadtpark ist weitläufig. Seine Ausmaße werden den stetig wachsenden Ansprüchen angepasst, denn die Zahl der Hundehalter steigt sprunghaft. Ihre Vielzahl zwingt die Stadtväter ihre Jahresplanungen anzupassen, um Geld für neue Hundeauslaufzonen freizuschaufeln. Die Tiere sind häufig das letzte Bindeglied zum Leben außerhalb der selbst gewählten Isolation und die Stadtältesten wissen das. Gefühlskälte zementiert den Alltag, macht sich immer breiter, erfasst den Osten, fließt über in den Süden, weiter in den Westen und verschont auch den Norden der Stadt nicht. Die Kälte manipuliert das Gefühlsleben der Menschen in allen Himmelsrichtungen. Ihr zu entfliehen, suchen sie Wärme, die sie bei ihren Hunden finden. Die Tierliebe nimmt bizarre Züge an. Groß und Klein, Herr und Hund, Dame und Hündchen bilden eine seltsame Symbiose. Die ganz kleinen Hunde werden von ihren Frauchen im Ledertäschen spazieren getragen. Ihre Pfoten berühren den Rasen des Parks nur für das allernötigste Geschäft. Danach werden sie gereinigt, wie eine kostbare Vase, und in ihre Tasche zurückgesetzt. Die Bewegungsmotivation dieser Hunde reduziert sich auf die Bewegungen des Kopfes. Sie scheinen die Bühne zu genießen, die ihnen geboten wird und schauen mitleidig auf die herab, die ihre Beine zum Laufen benutzen müssen. Mögen die Leser entscheiden, an welcher Stelle des Buches sich Realität und Fantasie vereinen und die Fiktion geboren wird.
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Seitenzahl: 205
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Wer sehen will,
Die Abendsonne zieht der Stadt ein rotes Nachthemd an. Jeder Stadt? Vielleicht! Aber hier ist die Stadt der Hunde gemeint. Ihre Bewohner haben ein besonders inniges Verhältnis zu ihren vierbeinigen Haustieren. Mit ihnen an der Leine schwärmen sie im Schein der roten Sonne in den zentral gelegenen Stadtpark aus. Die Blätter seiner Bäume zappeln gespenstisch im roten Licht, als würden sie sich davon befreien wollen.
Der Stadtpark ist weitläufig. Seine Ausmaße werden den stetig wachsenden Ansprüchen angepasst, denn die Zahl der Hundehalter steigt sprunghaft. Ihre Vielzahl zwingt die Stadtväter ihre Jahresplanungen anzupassen, um Geld für neue Hundeauslaufzonen freizuschaufeln. Die Tiere sind häufig das letzte Bindeglied zum Leben außerhalb der selbst gewählten Isolation und die Stadtältesten wissen das. Zerrüttete Familien, kaputte Existenzen oder verletzte Gefühle prägen den Umgang in der Stadt und stehlen den Bewohnern den Sinn des Lebens. Er löst sich auf im Nichts. Gefühlskälte zementiert den Alltag, macht sich immer breiter, erfasst den Osten, fließt über in den Süden, weiter in den Westen und verschont auch den Norden der Stadt nicht.
Die Kälte manipuliert das Gefühlsleben der Menschen in allen Himmelsrichtungen. Ihr zu entfliehen, suchen sie Wärme, die sie bei ihren Hunden finden. Die Tierliebe nimmt bizarre Züge an. Groß und Klein, Herr und Hund, Dame und Hündchen bilden eine seltsame Symbiose. Die ganz kleinen Hunde werden von ihren Frauchen im Ledertäschen spazieren getragen. Ihre Pfoten berühren den Rasen des Parks nur für das allernötigste Geschäft. Danach werden sie gereinigt, wie eine kostbare Vase, und in ihre Tasche zurückgesetzt. Die Bewegungsmotivation dieser Hunde reduziert sich auf die Bewegungen des Kopfes. Sie scheinen die Bühne zu genießen, die ihnen geboten wird und schauen mitleidig auf die herab, die ihre Beine zum Laufen benutzen müssen. Wenige Hunde trotten mit hängendem Kopf an der Leine ihrer Besitzer durch den Abend. Andere haben ein extra angefertigtes Mäntelchen an und tragen zum Schutz gegen das gleisende Abendlicht, eine Sonnenbrille auf ihrer hervorspringenden Hundenase. Eine rosa gefärbte Pudelhündin stolziert neben den hochhackigen Schuhen ihrer Halterin einher. Man könnte meinen, sie würden sich in der Art zu Gehen gegenseitig Konkurrenz machen wollen. Nicht alle Spaziergänger können das Schauspiel als solches begreifen.
Ihre mürrischen Gesichter lassen das erahnen. Blind, taub und stumm, fixiert auf ihren Hund, ziehen sie durch den Abend. Die Tiere zerren ihre Besitzer an den Leinen hinter sich her, schnüffeln da und dort, bellen, knurren oder kläffen den vorbeigehenden vermeintlichen Rivalen an. Herrenlose Hunde sind schwer auszumachen, weil die meisten Vierbeiner ohne Leine unterwegs sind. Dem Leinenzwang zum Trotz spazieren sie auf Grünflächen und Spielplätzen, verschwinden im Gebüsch oder flitzen über sorgsam angelegte Blumenbeete. Die Liebe zum Hund ignoriert jedes Verbot. Werbetafeln auf Fahrzeugen preisen die neuesten Hundemenüs an, selbstverständlich alles frisch gekocht und nur mit den besten Zutaten zubereitet. Es gibt Friseur- und Massagesalons und Hotels nur für die vierbeinigen Freunde des Menschen. Überall ist ihre Anwesenheit zu sehen und zu hören. Eine Stadt voller Hunde, die Stadt der Hunde! Wie Götter werden sie verehrt!
Diese Verehrung steckt fest in den Genen der Menschen, die hier wohnen. Ihre Vorfahren kamen aus dem Land der Pyramiden.
Lang ist es her und längst verdrängt die Geschichte vom schakalköpfigen Charakterkopf, der in der westlichen Wüste lebte.
Seine Heimat war das Bett der Verstorbenen. Er, der Totengräber der Ahnen, holte sie ab aus ihrem Leben, wenn es endete. Wölfe und Hunde waren im Kreislauf von Leben und Tod seine Helfer.
Unbemerkt, geheimnisvoll, versteckt in einem Mantel folgt er noch immer seiner Bestimmung. Wo das Leben sich dem Ende neigt, schickt er seine Helfershelfer voraus.
Wenn die Sonne am Horizont den Himmel küsst und ihre Strahlen den Fotozellen der Straßenbeleuchtung zu verstehen geben, dass sie verlöschen dürfen, erwachen die ersten Hunde. Mit verschlafenen Augen schieben sie die Nasen unter die Bettdecken ihrer Besitzer oder machen auf andere Weise darauf aufmerksam, dass es Zeit ist, vor die Tür zu gehen.
Julia ist eine der ersten in den Straßen, die ihrer Verpflichtung nachkommt und am Morgen mit ihrem Mischlingsrüden den vor der Haustür gelegenen Park aufsucht. Seit sechs Jahren geht sie den gleichen Weg, meist begleitet von ihrer Schulfreundin Naomi. Der Weg in den Park ist ihr so vertraut wie die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter zusammen bewohnt.
Julia ist dreizehn Jahre alt. Ihr Haar gleicht dem struppigen Fell ihres Hundes, ein Mix aus Foxterrier und Dackel. Vor sieben Jahren kam das Tier in die Familie. Der Zufall hatte es hereingeweht. Kurz nach ihrer Einschulung hatte Julia im Radio gehört, dass das Tierheim der Stadt von ausgesetzten Hunden überflutet werden würde. Der zu erwartende Nachwuchs, so vermuteten die Statistiker des Tierheims, könnte schnell die finanziellen Kapazitäten des Heimes sprengen. Deshalb ging ein Spendenaufruf durch die Medien. Wer wollte konnte kostengünstig einen Welpen erwerben. Julia hörte es und bettelte sofort bei ihren Eltern, Christa und Joachim. Jetzt, wo sie doch ein Schulkind wäre, dürfte sie einen Hund haben. Merkwürdigerweise hatten ihre Eltern von einer Überschwemmung im Tierheim nichts gehört, aber die Mutter versprach der Tochter im Internet nachzulesen.
Damals saß Christa nicht jeden Tag vor dem Computer; das war eher eine Ausnahme und diente mehr oder weniger der Informationsergänzung. Aber leider wurden die Informationen in dieser Zeit noch nicht automatisch synchronisiert. Deshalb fand Christa die Information aus dem Tierheim nicht im Internet. Mehrere Gründe kamen für das Informationsdefizit in Frage. Vielleicht war es die Nachlässigkeit des verantwortlichen Webmasters, der die Information des Tierheims für unwichtig hielt oder das Tierheim selbst fand die Streuung über das Radio für ausreichend. Jedenfalls gingen einige Wochen ins Land. Julia hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als Christa der Familie eines Tages verkündete, dass sie am Wochenende das Tierheim besuchen würden.
Julia konnte die Nacht vorher kaum schlafen. Gleich nach dem Frühstück fuhren sie zu dritt, Christa, Joachim und Julia, ins Tierheim am Rande der Stadt.
Vater, Mutter, Kind. Der Andrang war groß. Andere Väter, andere Mütter, andere Kinder. Die ganze Stadt und ihre Familien schienen dem Ruf des Tierheimes gefolgt zu sein. Menschenmassen strömten ins Tierheim.
Im Tierheim angekommen war Christa weniger von den vielen Menschen überwältigt, als vielmehr von der Einrichtung und dem Personal.
Schon beim Betreten des Geländes machte sie Joachim darauf aufmerksam. Jeder Zwinger hatte mindestens zwei Pfleger, die sich liebevoll um die Tiere kümmerten. Sie gaben mit ihren Schützlingen eine richtige Vorstellung! Einem Zirkus gleich vollbrachten die Tiere unter Anleitung von Tiertrainern artistische Höchstleistungen. Die Familien waren begeistert und Julia konnte sich beim Überangebot der Tiere überhaupt nicht entscheiden. Am liebsten hätte sie alle Hunde mitgenommen.
Während Julia vor den Hunde-Zwingern nach dem richtigen Hund Ausschau hielt, suchte Christa die Toiletten auf. Als sie zurückkam, flüsterte sie ihrem Mann ins Ohr:
„Du musst mal auf die Toiletten gehen!“
Joachim war mit seinen Augen bei seiner Tochter und konnte Christas Aufforderung nicht gleich verstehen. Überrascht drehte er den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. Christa erwiderte seinen Blick und zog die Augenbrauen nach oben. Ihr Mann fasste sie vorsichtig am Kinn, drehte ihren Kopf zur Seite, um besser an Christas Ohr zu kommen und flüsterte ihr leise in die Ohrmuschel:
„Warum? Ich muss nicht!“
Christa schüttelte resolut Joachims Hand vom Kinn und sprach etwas lauter weiter.
„Weil es dort so sauber ist, dass man vom Fußboden essen könnte! Wenn ich das mit Julias Schultoiletten vergleiche, frage ich mich, warum die dagegen so dreckig sind? Du musst ins Tierheim fahren, um sehen zu können, wie sauber Toiletten sein sollten!“.
In ihrer Begeisterung verlor Christa das Gefühl für die Lautstärke.
„Schau dich doch mal um, Joachim! Hier sind sogar die Fensterscheiben geputzt! Die Hunde können ihre Nasen am Glas platt drücken ohne sich die Pest zu holen und die Pfleger müssen nicht befürchten, dass die Tiere aus den maroden Fenstern stürzen. Sogar die Stühle sind gepolstert….“
Ihr Redefluss brodelte wie ein Wasserfall. Joachim unterbrach seine Frau.
„Jetzt reiß dich mal zusammen! Bist du hier um die Einrichtung zu begutachten oder wollen wir einen Hund für unser Kind finden?“
Umstehende waren bereits aufmerksam geworden. Christa holte tief Luft. Eine Meinungsverschiedenheit artete in der Stadt der Hunde allzu oft, allzu schnell aus, egal ob es Zuschauer gab oder nicht.
Wenn es Zuschauer gab, gab es schnell Zuhörer und die wurden gleich ins Geschehen eingebunden, eingesaugt wie Wasser in einen Abfluss. Christa befeuerte diese Dynamik nonverbal. Kopfnickend schaute sie in die Runde. Andere Frauen erwiderten ihren Blick und so fühlte Christa sich bestätigt.
Joachims Ehefrau war zwar nicht streitsüchtig, aber temperamentvoll und sie ärgerte sich schnell über Ungleichgewichte. Im Trubel des Besucherstroms hatten die Eltern sich schnell wieder dem Wesentlichen zugewandt und suchten ihre Tochter. Die klebte mit der Nase an einer großen Glasscheibe des Schauraumes und ihre Ausrufe:
„Oh, schau mal der! Ist der nicht niedlich oder der da, nein, der auch…“, wollten gar kein Ende nehmen.
Joachim versuchte den Blick seiner Tochter zu lenken und die Entscheidung zumindest einzugrenzen.
„Siehst du den großen schwarzen Welpen, der in der Mitte sitzt und alles überschauen kann? Er sieht fast aus wie ein Prinz, der alle seine Untergebenen beobachtet. Das ist zwar ein wunderschönes Tier, aber der ist schon jetzt sehr groß und er wird noch wachsen. Für uns ist der zu groß und unsere Wohnung für ihn bald zu klein.“
Im diesem Augenblick fing Julia, gelenkt von den Worten des Vaters, die Gestalt des Hundeprinzen ein. Sie sah das blauschwarze Fell glänzen und tauchte für einen kurzen Moment in seine schwarzen Augen ein. Der Hundeprinz erwiderte ihren Blick. In den Tiefen dessen, was Menschen niemals sehen können, sah er eine Wüste und die Zukunft derer, die vor seinem Zwinger standen. Julias Augen wanderten weiter schnell weiter zum nächsten Welpen. Ihre Wahl war durch die Ausgrenzung des großen Hundes nicht einfacher geworden.
„Nimm doch den Hund, der ohne Angst auf dich zugelaufen kommt! Der ist für dich bestimmt!“.
Diesen Rat hatte Christa ihrer Tochter vor dem Besuch des Schauraumes mit auf den Weg gegeben. In diesem Augenblick fiel er Julia wieder ein. Sie war hin und her gerissen und fieberte dem Moment entgegen, in dem sie die Kinderstube der Welpen betreten durfte und tänzelte von einem Bein aufs andere.
Ein Tierpfleger öffnete das Gatter für die nächste Kindergruppe und verschloss die Tür wieder, wenn der Platz zu knapp wurde.
Geschoben von fünf anderen Kindern stürmte sie schließlich in den gläsernen Raum. Welpen und Kinder trafen sich in der Mitte.
Nur der schwarze Hundeprinz schien sich von der Aufregung um ihn herum nicht anstecken zu lassen. Wie eine Skulptur saß er da und betrachtete gelassen, fast teilnahmslos, das Treiben.
„Schau, Julia, siehst du den Kleinen dort? Sein Fell sieht aus wie deine Haare!“
Christa hatte sich bis zur Scheibe durchgeschoben und schrie von außen nach innen. Julia hörte das Geschrei ihrer Mutter gedämpfter und musste lachen. Sie hatte Recht. Da gab es tatsächlich ein kleines Wollknäul, aus dem zwei Augen schauten. Das Fell des Welpen schien genauso widerspenstig zu sein, wie ihre eigenen Haare.
„Den nehmen wir mit!“, rief Julia durch die Scheibe und griff nach dem Welpen. Der zwickte sie für die ungehobelte Berührung mit seinen kleinen spitzen Zähnen in die zufassende Hand, aber Julia ignorierte den Schmerz. Mit der anderen Hand griff sie zwischen seine Vorderpfoten, zog die Hand aus dem Fang des kleinen Hundes und drückte Ober- und Unterkiefer zusammen.
„A…A…A…A!“, flüsterte Julia.
„Das macht man nicht! Lass mal schön sein!“
Die Begrüßungsformel war gesprochen und die Fronten geklärt. Aus den gestotterten vier „A“-s wurde ein Hundename.
Acco sollte er heißen, wie die Hafenstadt in Israel, von der Joachim bei einem Besuch so begeistert war. Acco sollte Julia ein Anker sein, im Hafen der Kindheit.
Die Formalitäten wurden im Büro des Tierheimes ausgehandelt. Nicht alle Tiere verließen das Heim mit einer Identität. Wer so schnell keinen passenden Namen finden konnte, bekam ein Formular ausgehändigt, das den Halter des Tieres zu einer freiwilligen Registrierung mit einem Chip aufforderte.
Obwohl sich das Tierheim seit Jahren bemühte, über die Implantierung von Chips, die Anzahl der Hunde in der Stadt zu erfassen, verlor sich die Zählung in der fehlenden Bereitschaft der Hundehalter, ihre Daten mit denen ihres Hundes verbinden zu lassen. Zu Hause angekommen, wurden die Formulare gelesen – oder eben nicht – und zur Seite gelegt.
Daten waren sensibel und durften keineswegs an Dritte weitergegeben werden.
Die Verknüpfung der Daten von Mensch und Hund wäre ein neuer Datensatzes gewesen. Unmöglich konnte so ein Vorgang ohne vorherige ausführliche demokratische Debatten im Ältestenrat beschlossen werden. Nur auf diesem Weg wurden Datenschutzberechtigungen vergeben und genehmigt.
Die Anmeldeformulare appellierten in erster Linie an die Freiwilligkeit der neuen Hundehalter. Eine Anmeldung wurde lediglich empfohlen und deshalb blieben diese Vordrucke mit der Bitte für die Implantierung eines Chips im Haus der neuen Hundehalter liegen und fanden in der Regel keine weitere Beachtung. Einen freiwilligen Datenrückfluss gab es in der Regel nicht. Julias Eltern waren eine Ausnahme. Sie füllten die Formulare damals sofort vor Ort aus, was das Procedere der Anmeldung abkürzte. Der Chip wurde Acco gleich im Tierheim kostenfrei implantiert. Gegen eine Unterschrift waren alle Formalitäten erledigt. Acco hatte eine Familie gefunden und Julia nur noch Augen für ihren kleinen Hund.
Als die Familie mit dem neuen Bewohner zu Hause ankam, war es bereits später Nachmittag. Julia setzte den Welpen behutsam auf den Gehweg.
Der Kleine zitterte und bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck. Seine braunen Hundeaugen schauten verschreckt neben und hinter sich, aber er schien nicht zu wissen, was man von ihm erwartete.
„Du musst jetzt Pipi machen! Alle Hunde machen das so!“, belehrte Julia ihn. Acco sah sie an und setzte sich schließlich auf sein kleines Hinterteil. Hilfesuchend griff Julia nach der Hand ihres Vaters.
„Warum macht der denn jetzt nichts?“, wollte sie von ihm wissen.
„Weil er noch sehr klein ist und erst lernen muss, seine Natur zu beherrschen!“
Joachim erklärte seiner Tochter mit einfachen Worten, was Erziehung sei und sah dabei seine Frau an. Julia konnte dem Gedankenaustausch ihrer Eltern nicht folgen und sie konnte auch nicht verstehen, warum ihre Mutter so reagierte, wie sie reagierte.
„Musste das jetzt sein?“, fragte sie Joachim.
Christa war mit Joachim selten einer Meinung und die Fragen, wer, wie, was, wann und wo gesagt und wie er es gemeint hatte, führten immer zum Streit.
Die ersten Nächte nach Accos Einzug musste er in der Küche verbringen. Es war das einzige Zimmer ohne Teppichboden.
Julia bettelte jeden Abend, dass der kleine Welpe in ihrem Zimmer schlafen dürfe, aber Joachim blieb konsequent und Christa war ausnahmsweise seiner Meinung. Sie war es, die am Morgen die Hinterlassenschaften des Hundes wegräumen musste. Allerdings führte das wieder zum Streit, weil Joachim die morgendlichen Putzarbeiten genauso hätte übernehmen müssen, das aber nicht tat und seiner Frau überließ.
Sechs Wochen dauerte die Erziehung des Welpen zur Reinlichkeit. Joachim und Christa rieben sich bei jeder Kleinigkeit im Zusammenhang mit der Erziehung des Hundes mit der Frage auf, ob die Anschaffung des Tieres tatsächlich eine richtige Entscheidung gewesen wäre. Streitigkeiten, die schon vor Accos Ankunft den Alltag der Familie belasteten, nahmen zu und verbanden sich zunehmend mit den unterschiedlichen Erziehungszielen. Waren Christa und Joachim die ersten Jahre ihrer Elternschaft über die Erziehung ihrer Tochter in Streit geraten, so gerieten sie nun über die Erziehung von Acco ins Streiten.
Als Julia das Tier erstmals mit in die Schule nehmen wollte, zogen sich die Auseinandersetzungen der Eltern bis tief in die Nacht und Julias Ohren hörten, was für sie nicht bestimmt war. Joachim meinte, Julia sei noch zu klein, um diese Verantwortung tragen zu können. Christa widersprach.
„Wie kannst du nur so grausam sein? Julia würde schon aufpassen!“
Schroff klangen die Worte der Mutter, die bis in Julias Kinderzimmer drangen.
„Lass mich bitte schlafen, ich bin müde!“, hörte sie ihren Vater antworten.
Joachim kannte seine Frau nur zu gut und wusste, dass die nächtliche Kommunikation den Streit des Tages verlängern würde und er behielt Recht.
„Schläfst du etwa?“, bohrte Christa weiter.
Nein, er schlief nicht, aber Joachim wollte auch nicht diskutieren.
„Wir waren uns doch einig, Christa!“, versuchte er zu schlichten.
„Ich? Einig?“
Empört setzte Christa sich aufrecht ins Bett.
„Du warst mit dir selber einig, aber Julia und ich waren nicht deiner Meinung. Also leg uns jetzt nicht deine Worte in den Mund. Wie im Tierheim! Ich habe überhaupt nichts mehr zu sagen, oder?“
Wie er diesen Abschluss hasste! „Oder?“ ließ alles offen und nötigte den Gefragten ab, Stellung zu beziehen. Dabei wollte Joachim einfach nur schlafen.
„Was willst du jetzt von mir? Willst du Streit? Ich will dir was sagen! Dein Geschrei macht mich krank! Könnten wir Grundsätzliches bitte auf Morgen verschieben? Du kannst dich ja tagsüber hinlegen und den Schlaf nachholen. Wenn ich dich daran erinnern darf, ich gehe arbeiten!“
Wütend drehte er sich zur Seite und zog die Bettdecke über seinen Kopf. Ein deutliches Signal, dass das Thema für ihn beendet war. Für Christa war das Thema noch nicht beendet. Im Gegenteil! Ein neues Diskussionsthema war aufgeploppt.
„Ach, willst du damit sagen, ich arbeite nicht? Ich arbeite, auch wenn du das nicht sehen willst. Jeden Tag arbeite ich für die Familie, habe keine gesetzlich feststehende Pause oder kann einfach mal so zu Tisch gehen, um in Ruhe etwas zu essen.“
Ihre Formulierung „zu Tisch gehen“ hatte sie in der Vergangenheit von Joachim übernommen. Es ärgerte sie gewaltig, wie arrogant er diese Selbstverständlichkeiten aussprach und ihn ärgerte in diesem Augenblick die Art und Weise, wie sie seine Worte benutzte.
„Du machst solange bis ich meine Koffer packe und gehe!“
Wütend schlug Joachim die Bettdecke zurück, boxte mit der Faust in die Federn und griff nach seinem Kopfkissen. Julia hörte noch, wie die Tür des Schlafzimmers geräuschvoll ins Schloss fiel.
Der Vater setzte sich durch! Seine Tochter konnte ihn nicht umstimmen. Es blieb dabei.
Christas Temperament war Gift für die elterliche Kommunikation und Joachim fand keine Strategien die Meinungsverschiedenheiten auszufechten. Julia fiel auf, dass ihr Vater immer öfter im Wohnzimmer schlief. Irgendwann blieb auch die Couch leer.
Die Jahre gingen ins Land. Vater, Mutter, Kind war gestern! Julia blieb mit ihrer Mutter allein zurück. Der Vater verschwand.
Wenige Abläufe mussten geändert oder angepasst werden. Der Stadtpark wurde zum Lebensmittelpunkt. Julia ging vor und nach der Schule mit Acco in den Park. Alte und junge, bekannte und unbekannte Hundebesitzer tauchten auf und verschwanden wieder, neue Rassen kamen hinzu und sogar Katzen konnte man an Leinen geführt spazieren sehen.
Diversität hatte den Park erreicht und ihn verändert. Tiere kamen und gingen, einige behielt Julia in Erinnerung, andere waren wie Zugvögel, sie registrierte ihren Flug und außer Sichtweite waren sie vergessen. Nur die markantesten Erscheinungen behielt sie in ihrer Erinnerung. Da war zum Beispiel der ausgeflippte Terrier, der wie verrückt an der Leine zog und sich dabei fast strangulierte.
Die alte Dame, die den braun-schwarzen Hund an der Leine führte, hatte Mühe, ihm zu folgen. Unermüdlich redete sie auf ihn ein, er möge nicht ziehen, sie könne nicht so schnell laufen und genauso unermüdlich zerrte der Terrier weiter voran. Julia glaubte lange, der Hund würde sein Frauchen terrorisieren und die alte Frau wäre viel zu gutmütig für das wilde Gemüt des Tieres. Aber dann erlebte sie die gleiche alte Frau, wie sie sich laut und hysterisch mit dem Parkwächter stritt, der von ihr verlangte, die Häufchen ihres Hundes zu entfernen und die am Gehweg aufgestellten Hundetoiletten zur Entsorgung zu nutzen. Julia glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als sie es hörte. Übelste Beschimpfungen gingen der alten Frau spielend über die Lippen.
Die Hundebesitzerin ärgerte sich über die vermeintliche Anmaßung des Parkwächters ihr vorschreiben zu wollen, was sie zu tun hatte. Sie war nicht bereit den Hundedreck, den der kleine Terrier auf dem Gehweg hinterlassen hatte, zu entfernen und ließ den verdutzten Parkwächter einfach stehen. Noch von der Ferne drohte sie ihm mit erhobener Faust und grimmigem Gesicht.
Der Hundehaufen blieb wo er war, neben vielen anderen, die zum Anblick der Stadt genauso gehörten, wie die Hunde, die in ihr lebten.
Die Auseinandersetzungen im Stadtpark waren zur Regel geworden. Pöbeleien hatten die privaten vier Wände der Stadtbewohner längst verlassen und schwappten bis ins Parlament des Ältestenrates. Überall entgleiste die Sprache und die Kommunikation war bald kaum noch vom Kläffen der Hunde zu unterscheiden. Keine Generation blieb unbeteiligt. Der alte Mann mit einem Tirolerhut, der Julia an ihren Großvater erinnerte, rückte nach der Beobachtung der alten Frau im Park nun in ein anderes Licht. Misstrauischer als sonst beäugte das Kind ihn bei der nächsten Begegnung, aber freundlich wie immer lächelte er zurück. Das verunsicherte das Mädchen mit dem strubbeligen Hund noch mehr. Ihr Generalverdacht geriet ins Wanken. Vielleicht waren die alten Menschen doch ganz anders? Wie gern würde Julia ihre Oma und den Opa fragen, Zeit mit ihnen verbringen, bei ihnen sein. Doch sie wohnten weit weg; unerreichbar für die Enkelin. Besuche reduzierten sich auf Familienfeierlichkeiten und hin und wieder telefonierten sie. Damals, als Julia noch klein war, verbrachte sie mehr Zeit bei den Großeltern. Meinungsverschiedenheiten, wie bei ihren Eltern, die lautstark geführt wurden, gab es zwischen ihnen nicht. Jedenfalls hatte Julia das nie erlebt. Folglich glaubte das Kind, dass man zum Streiten viel Kraft brauchen würde und die hätten alte Leute doch nicht. Julia war zu jung und konnte noch nicht wissen, dass Streitereien nicht von der körperlichen Kraft der Streitenden abhängig sind. Streit kommt aus den Gedanken! Manchmal braucht es nicht einmal eine Ursache. Streit ist wie ein unsichtbarer Parasit. Wo er sich eingenistet hat, gelangt er schnell über gesprochene Worte zwischen die Menschen und sie reagieren mit ihrem Handeln. Wut und Aggressionen sind die Folgen. Sie vergiften das Klima. Auf der nächsten Stufe steht das Brüllen! Wer am lautesten schreit, hat Recht und wer dieses Erfolgsrezept in sein Handeln einbaut, macht es sich zur Gewohnheit.
Es wurde immer lauter in der Stadt der Hunde. Die Schwerhörigkeit griff um sich, Kommunikationsströme versiegten und Erschöpfungszustände nahmen zu. Bei Julias Eltern war das nicht anders.
Die Tochter hatte ihre Eltern einmal gefragt, ob sie jetzt Meinungsverschiedenheiten austragen oder streiten würden?
„Wir streiten!“, hatte Christa wütend geantwortet, ohne weiter auf das Kind einzugehen.
Ihre Eltern stritten ständig. Sie waren zwar noch nicht schwerhörig, aber sie arbeiteten daran, denn wenn sie stritten, dann eben laut!
Die Auseinandersetzungen beschränkten sich nicht auf Julias Elternhaus. Alle stritten! Der Streit kam aus den Wohnungen, lebte auf der Straße, in Bussen, in Bahnen, den Restaurants, in den Hotels, den Einkaufstempeln und kehrte in die Wohnblöcke zurück. Streit gehörte zum Leben im Alltag der Stadt. Das Mietshaus, in dem Julia lebte, kam nie zur Ruhe! Hatten ihre Eltern sich einmal vertragen, hörte Julia den Streit anderer Bewohner und wieder flogen die Fetzen und manchmal sogar ganze Möbelstücke. Die landeten dann krachend auf dem Gehweg, wo Spaziergänger kopfschüttelnd darüber diskutierten, ob das denn nie aufhören würde.
„Stellen Sie sich doch mal vor, wenn mich der Stuhl getroffen hätte?“, klagte ein Passant, der es hinter sich poltern hörte.
„Regen Sie sich bloß nicht darüber auf und gehen Sie schnell weiter, sonst sind Sie der Nächste!“, antwortete ein Anderer. Sein Gesicht war kreidebleich. Und als hätte er es geahnt, flog das zweite Möbelstück aus dem Fenster. Das Kreischen einer Frau schallte bedrohlich aus dem offenen Fenster.
Während auf der Straße immer mehr Schaulustige zusammenliefen, erschien der Kopf eines Mannes im Fensterrahmen.
„Was wollt ihr denn? Haut ab, hier gibt’s nichts zu gaffen! Habt ihr nicht gehört? Ich komme gleich runter und schenke euch eine ein!“
Der Kreidebleiche wurde noch bleicher und der Passant drängelte.
„Gehen Sie bloß schnell weiter, bevor hier eine Massenschlägerei beginnt.“
Der Kreidebleiche wiederholte diese Aufforderung und schubste andere Passanten vor sich her, um selbst dem sich aufbauendem Getümmel entkommen zu können. Das Geschrei wurde von sich nähernden Sirenen kurz unterbrochen, schwoll noch einmal an und endete schließlich abrupt, als die Sirenen ausgeschaltet wurden.
Trotzdem kehrte keine Ruhe ein, denn während der Möbelwerfer im Zangengriff zweier Schutzmänner die Wohnung verlassen musste, begann in einer anderen Wohnung der nächste Streit.
„Willst du so abgeführt werden?“, fragte die zittrige Stimme einer Frau. Gemeint war der Lebensgefährte. Ehen wurden immer weniger geschlossen. Scheidungen gab es umso mehr.
„Abgeführt? Mich führt keiner ab! Das ist meine Wohnung, da kann ich machen, was ich will! Notfalls schlage ich Jedem, der seine Rübe zu meiner Tür reinschiebt, den neugierigen Schädel ein!“
Der laustarke Monolog verhallte irgendwann in den Fluren des Mietshauses.