Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Von einem besonderen Gast, der die Kurzgeschichten einleitet, über einen Anfangsverdacht und einer Reise hinter die Welt, von einer Mühle, die klappert und einem Nasenring, den man besser nicht tragen sollte, erzählen die Texte unter anderem Episoden eines gelebten Lebens. Die ersten Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlichte ich auf der Homepage meiner Berufskollegen. Nun habe ich im letzten Berufsjahr entschieden, meine Texte zu überarbeiten und als Bücher zu veröffentlichen. Die Gedichte sind bereits 2023 erschienen; ihnen folgen die Kurzgeschichten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 135
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Von einem besonderen Gast, der die Kurzgeschichten einleitet, über einen Anfangsverdacht und einer Reise hinter die Welt, von einer Mühle, die klappert und einem Nasenring, den man besser nicht tragen sollte, erzählen die Texte Alltägliches aus einem erlebnisreichen Leben.
Als ich mit dem Schreiben begann, hatte ich gerade belastende Zeiten hinter mir und schreibend bemerkte ich, dass das, was mich belastete, gar nicht so belastend war, weil es zum Leben gehört. So schrieb ich immer weiter, holte mir Kraft in der Erkenntnis der selbst geschriebenen Gedichte und Kurzgeschichten. Ich nutzte die wachsenden Kapazitäten, machte aus meinen Texten kleine Geschenke, weil in meiner Familie der Grundsatz gilt, geschenkt wird nur, was selbstgemacht ist.
Irgendwann hatten alle Beschenkten alle Texte gelesen und ich folgte der Empfehlung, den Leserkreis zu erweitern.
Die ersten Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlichte ich auf der Homepage meiner Berufskollegen. Zehn Jahre später habe ich dem technischen Stand des Verlagswesens folgend aus meinen Gedichten und Kurzgeschichten Bücher gemacht.
Das letzte Experiment ist das erste E-Book! Ich bin selbst gespannt, ob meine Geschichten und Gedichte Leser finden werden.
Maniola Jurtina, Januar 2024
Der Frühling im Jahre 1990 ist ein gesellschaftliches Aufblühen. Die deutsche Geschichte hat Monate vorher einen Sprung gemacht und gibt der Gesellschaft die Chance, neue Strukturen zu finden.
Wie viele andere muss ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, dass mein erlernter Beruf mich nicht mehr ernähren wird. Beim Fensterputzen in meiner kleinen Wohnung im Prenzlauer Berg höre ich im Radio zum ersten Mal in meinem Leben etwas von einer Umweltpolizei. Prima, denke ich nach dem Bericht, dann ist mein Ingenieurabschluss vielleicht doch nicht überflüssig und gehe am kommenden Tag zu einer Beratung. Ich will mehr wissen von der Arbeit der Umweltpolizei und vor allem, auf welchen Wegen ein Einstieg möglich wäre.
Im Chaos sich auflösender Strukturen begegne ich einem Beamten, der noch kein Beamter ist, aber vielleicht später einer werden wird, denn das war damals keineswegs sicher. Auf alle Fälle hatte er eine Uniform an und wies sich als Hauptmann der Volkspolizei aus.
„So, Sie wollen also zur Polizei?“, fragt er mich und ich unterbreche ihn vorsorglich, weil ich mich missverstanden fühle. „Zur Umweltpolizei!“, korrigiere ich ihn.
„Was haben Sie gelernt und wieso glauben Sie, diese Arbeit machen zu können?“
Ich erzähle ihm, dass ich die Natur studiert habe und an ihrer äußeren Erscheinung erkennen kann, woran sie erkrankt ist und wie man ihr helfen kann. Er ist beeindruckt, weiß aber nicht, wie er mir helfen könnte, denn beim Stand der Entwicklung in der Stadt, so deutet er an, wäre kein Tag wie der andere.
Er würde jeden Tag mit einem Einstellungsstopp rechnen und wenn er mich heute mit einer mündlichen Zusage vertrösten würde, könnte diese Entscheidung morgen bereits überholt sein. Deshalb verschwindet er mit einer Entschuldigung für wenige Minuten aus dem Zimmer und kehrt mit neuen Erkenntnissen zurück. Nach seinem derzeitigen Wissensstand, erklärt er, würden alle Westberliner Polizisten als Polizisten im Basisdienst beginnen und sich nach Abschluss der Ausbildung bei den entsprechenden Fachdienststellen bewerben.
Väterlich gelassen schaut er mich dabei fragend an, als müsste er für mich eine Entscheidung treffen.
„Sie wissen ja, wer wagt, gewinnt! Ich kann Ihnen eine Stelle anbieten, aber nicht bei der Umweltpolizei sondern bei der Volkpolizei und ich rate Ihnen, nicht lange zu zögern. Schon Morgen könnte der Deckel geschlossen sein!“
Ich folge seinem Rat und bin wahrscheinlich, ohne es genau zu wissen, eine der letzten Volkspolizistinnen, die einzelne Teile der Uniform erhielten, denn eine komplette Ausstattung sparte man sich mit dem Hinweis auf die bereits abzusehende Fusion der Ostberliner Volkspolizei mit der Westberliner Schutzpolizei. Dieser Fusion wurde auch meine Waffenausbildung geopfert. Sie erfolgte gekürzt, in einer Art „Schnellbesohlung“.
Als stille Beobachterin fahre ich ab Mai 1990 im Einsatzwagen der Volkspolizei, dem Funknamen entsprechend „Toni“ genannt, und lerne mit den Augen.
Ich sehe, vergleiche und schlussfolgere, dass nicht nur die Natur erkranken kann, die Gesellschaft kann es auch.
Der einzige Unterschied zwischen Natur und Gesellschaft ist der, dass die Natur ihre Symptome nicht verschleiern kann, sie sind pur, unübersehbar, wie das Sterben der Wälder!
Eine unglaublich spannende Zeit beginnt.
Der Gedanke an die Umweltpolizei versinkt schnell in einer Schublade meines Lebenslaufes. Zehn Jahre werden ins Land gehen, bevor sie sich wieder öffnet.
Andere Erfahrungen nehmen mich bis dahin gefangen, prägen meinen Umgang mit den Menschen und einige lassen mich nie wieder los. Es ist ein ständiges Kennenlernen und sich Verabschieden, eine Party am Ende meiner Jugend, deren Gäste kommen und gehen, wann immer sie wollen und wann immer sie können. Ein einziger Gast bleibt beständig an meiner Seite, wobei ich mir nach vielen Jahrzehnten Berufserfahrung ganz sicher bin, dass der vermeintliche Gast damals einen Rollentausch initiiert hat. Tatsächlich ist er der Gastgeber und ich bin der Gast in seinem Hause!
Am Dienstag, dem 19.Juni 1990 lerne ich ihn kennen. Dieser Tag beginnt wie immer mit einer Zusammenkunft, bei der ich zwei Kollegen zugeteilt werde. Heute würde man von der Praktikantin sprechen, damals war ich der Bremser, obwohl ich eigentlich die Bremserin hätte sein müssen. Das Erste, was ich auf meinem Beobachtungsposten kennenlerne, ist das Abschmelzen von „der“ und „die“, denn in Uniform wurde ich „das“.
Die Versachlichung der äußeren Erscheinung durch eine Uniform ist nur oberflächlich und erleichtert den Umgang miteinander, aber die Hormone lassen sich nicht manipulieren, sie sind eben Natur und setzen sich über kurz oder lang durch. Mir bescherten sie an jenem Tag eine Rose, die meinen Tag retten wird. Meine Kollegen übergeben mir das Prachtstück zwischen zwei Einsätzen, um mir eine Freude zu machen. Die Zeit, sie in eine Vase zu stellen, ist nicht vorhanden und so fährt sie neben mir auf dem Rücksitz des „Toni“ zum nächsten Einsatz.
Zur Mühsamstraße sollen wir fahren, in der Nähe vom Bersarinplatz. Mühsam ist auch die Kommunikation meiner ansonsten überhaupt nicht verschlossenen Kollegen. Sie sind merkwürdig schweigsam geworden und ich fange an zu bohren.
„Was haben wir?“
„Einen Verdacht!“
„Und welchen?“
„Einen Verdacht in einer Wohnung…“
„…wie, in einer Wohnung? Wer oder was ist denn verdächtig?“
„Och, du bist wie ein Kind, das nervt! Warte einfach“ Gut, denke ich, und will auch warten, aber da springt mir schon die nächste Frage über die Lippen.
„Aber wie lange und worauf soll ich warten?“ Nach dem letzten Vergleich muss ich dieser Rolle entsprechen und einfach weiter nerven. Es geht gar nicht anders!
Schnaufend dreht sich der Beifahrer zu mir um. „Also, wir haben jetzt einen ‚Unglücksfall in Wohnung‘ und das kann alles sein. Wenn wir mehr wissen, holen wird dich; du bleibst im Auto sitzen.“ Das ist eine absolute und abschließende Ansage! Ich bleibe im Auto sitzen, während meine Kollegen in dem grauen Wohnhaus verschwinden und beschäftige mich mit meinen Gedanken. Langweilig wird mir jedenfalls nicht.
Es gibt immer irgendetwas, dem ich meine Aufmerksamkeit schenken kann. Jetzt war es diese Rose!
Ich beschnuppere sie und drehe ihren Blütenkopf zwischen meinen Fingern. Er ist dunkelrot und fest, das pralle Leben, abgeschnitten nur, um mich zu erfreuen und das mache ich, bis ich meine Kollegen aus dem Haus kommen sehe. Schulter an Schulter laufen sie, tuscheln, schauen zu mir und verharren vor der Motorhaube. Ihre Unsicherheit ist nicht zu übersehen! Offensichtlich zögern sie in ihrer Entscheidung, weil sie glauben, mir nicht zumuten zu können, was sie mir zumuten sollten. Schließlich schiebt der eine Kollege den anderen Kollegen resolut zur Seite und öffnet die Autotür.
„Komm!“, fordert er mich auf, „Du willst Polizistin werden, dann solltest du sehen, was in der Wohnung passiert ist!“
Ich steige aus und wende mich an den nicht so resoluten Kollegen.
„Was hat der jetzt wieder?“, will ich wissen.
„Ach nichts! Wir sind nur unterschiedlicher Meinung!“ Ich folge dem resoluten Kollegen, der vorangeht. Im Treppenhaus zieht mich sein hinter mir laufender Partner am Arm zurück.
„Pass auf! Die Mieterin hatte scheinbar Besuch und weil keiner weiß, welcher Gast zuletzt bei ihr war, müssen wir besonders sorgfältig arbeiten. Wenn du den Anblick nicht ertragen kannst, dann gib uns einfach ein Zeichen! Auf keinen Fall darfst du in die Wohnung kotzen!“
Jetzt wird mir mulmig! Ich betrete die Wohnung und alle meine Sinne beginnen wahrzunehmen. Ich höre, dass ein Fenster offen steht, der Lärm der Straße dringt nach oben, ich schmecke die Feuchtigkeit, die sich nach dem Baden in einer Wohnung ausbreitet und im Badezimmer an den Wänden hängen bleibt und ich rieche den Badezusatz. Meine Augen sehen Ordnung und Beschaulichkeit und nichts Beängstigendes! Nichts! Hier muss ein Mensch zu Hause sein, der mit sich im Reinen ist. Der letzte Gast muss sich auf sehr leisen Sohlen, unbemerkt hereingeschlichen haben!
Ich drehe mich um, weil mir die nächste Frage auf der Zunge liegt, da sehe ich sie! Zuerst nur den Kopf, der am Ende der Badewanne herausragt. Langsam, einen Schritt vor den anderen setzend, taste ich mich voran und sauge auf, was ich sehe. Ihre Augen sind geschlossen, die feuchten Haare aus dem Gesicht geschwemmt, als wäre sie gerade erst aufgetaucht und hätte sich entspannt zurückgelehnt. Ihre Haut ist gelb, wie das Wachs einer Puppe und genauso sieht sie aus. Wie eine Puppe! Ich wage kaum zu atmen, bin fasziniert von dieser einzigartigen Atmosphäre und versinke in ihr.
„Können wir dich allein lassen?“
Die leise gestellte Frage eines Kollegen hallt im Badezimmer wider, wie in einem Kirchengewölbe. Es ist ein heiliger Moment, der mich mit Michelangelo verbindet. Seine Werke, oft Kopien, habe ich in der heimischen Gemäldegalerie betrachten dürfen. Ich sehe sein Bild von der Erschaffung Adams und mir wird bewusst, dass die im Zentrum des Bildes zu spürende Energie in diese Wohnung Einzug gehalten hat. Das Geheimnis des Bildes offenbart sich mir! Michelangelo malte nicht nur den Augenblick der Geburt! Das Bild hat zweierlei Bedeutungen; es zeigt auch die Rückkehr am Ende des Lebens! Die Berührung der Finger symbolisieren die Übergabe und die Rücknahme des Lebens und wahrscheinlich hat sich der Volksmund mit der Feststellung, man würde sich immer zweimal im Leben begegnen, diesen Ursprung bewahrt. Gemeint sind der Eingang und der Ausgang des Lebens!
Bei dem Gedanken an die Symbolkraft lege ich fast automatisch den eigenen Finger auf meinen Mund, will andeuten, dass mein Kollege leise sein soll und nicke bestätigend mit dem Kopf.
„Wir informieren die Kripo! Nicht kotzen, hörst du?“
Es ist nicht nötig mich daran zu erinnern. Mein Mageninhalt bleibt wo er ist. Ich konzentriere mich auf die Stille und lausche, bis immer mehr Hektik die Ewigkeit zerreißt und die Atmosphäre verschwindet. Er war noch da, denke ich, der Gast hatte unser Tun beobachtet!
Aus der Ewigkeit zurück, setze ich mich still auf meine Rückbank. Ich brauche Zeit, um die vielen Eindrücke zu verarbeiten. Meine Rose lässt den Kopf hängen! Nach einem langen Tag trage ich sie nach Hause, stelle sie in eine Vase und gieße Wasser darauf. Sie erholt sich noch am Abend und entfaltet vorsichtig ihre Blätter als wolle sie mir sagen; ich bin das Leben, also lebe, solange noch Wasser in deiner Vase ist!
Es war tatsächlich ein ganz besonderer Tag, denn der Gast, der an diesem Tage an die Tür meines Lebens klopfte, zeigte mir unmissverständlich, dass das Leben nicht ewig währen würde. Es war mein 26. Geburtstag! Die Party begann!
„Horst, hier ist ein Rohr am Platzen!“
Vorsichtig gleitet die flache Hand der Rufenden über die Tapete ihres Badezimmers. Tastend registriert sie die Feuchtigkeit und schiebt ihre Hand an der Wand hoch, soweit sie kann.
Ihre Augen suchen jeden Quadratzentimeter ab, den sie aufgrund ihrer Körpergröße nicht mit der Hand erreicht. Im äußersten Winkel glitzert es verräterisch. Schweißperlen gleich drückt sich die Flüssigkeit in winzig kleinen Partikeln durch das Papier. Die Tropfen sind klein und zu leicht, als dass sie der Schwerkraft folgend nach unten laufen könnten. Sie hängen frei im Raum und machen die Seniorin nervös.
„Horst, jetzt komm doch mal!“
Der Gerufene hatte in über 40 Jahren Ehe gelernt, dass er nicht auf jeden Hilferuf seiner Frau reagieren muss. Er setzte Prioritäten; am Beginn der Bundeligasaison ließ er keine Störungen zu. Auch ein tropfendes Wasserrohr hatte sich daran zu halten und erst recht seine Ehefrau.
Horst ist Rentner, wie seine Frau Margot. Zur Bundesligasaison ist der Samstagnachmittag untrennbar mit seinem Lieblingssessel, dem Fernseher und einer Flasche Bier, manchmal zwei oder drei, verbunden. Um seine rufende Ehefrau an die Bundesliga zu erinnern, greift er nach der Fernbedienung und stellt den Fernseher lauter.
„Grobes Foul und das im Elfmeterraum…“, hört Margot den Kommentar des Reporters. Jetzt weiß sie, dass ihre Diplomatie gefragt ist. Sanft wie ein Kätzchen, schleicht sie zu ihrem Horst und fängt an zu schnurren. Fast zufällig gerät sie dabei zwischen den Fernseher und den Zuschauer. Genauso zufällig und sanft entfernt sie ein Staubkorn, das sie - genauso zufällig - gerade in diesem Augenblick entdeckt hat. Schnurrend gleitet sie erneut durchs Bild und Horst reagiert. „Ach Margot, muss das jetzt sein? Was hast du denn?“
„Ich glaube im Badezimmer kündigt sich ein Rohrbruch an…“, flötet sie fast beiläufig, „ …du kannst dir das in der Halbzeitpause ja mal anschauen.“
„Ja, mach ich!“
Mehr Erklärungen sind nicht notwendig. Über vierzig Jahre Ehe haben Ecken und Kanten der Partner abgeschliffen und Sicherheiten wachsen lassen. Man kennt den Anderen in- und auswendig. Wer es solange miteinander ausgehalten hat, hat die „Rubinhochzeit“ hinter sich. Der rote Edelstein steht symbolisch für das Feuer der Liebe. Obwohl dieses Feuer nicht mehr ganz so hell brennt, ist unter der Asche des Lebens, ein Glutbett erhalten geblieben, das den alten Leuten und ihrer Ehe Wärme spendet.
Margot ist mit der Ankündigung zufrieden. Wenn Horst sagt, dass er sich den Schaden anschauen will, dann macht er das auch, da ist sie ganz sicher.
Weil Fußball die Beiden nicht verbindet, zieht Margot sich ins Schlafzimmer zurück. Sie ist gelangweilt von der Rangelei um einen Ball. Soll doch Jeder einen Ball bekommen, denkt sie sich, dann müssten erwachsene Männer nicht alle einem einzigen hinterherlaufen. Ihr Hobby liegt abseits der Fußballgemeinde. Es ist das Schneidern und während Horst die erste Flasche Bier leert, deckt Margot die in einer Nische des Schlafzimmers stehende elektrische Nähmaschine auf. Im Wohnzimmer floppt der nächste Verschluss von einer vollen Bierflasche und im Schlafzimmer wird die kreisrunde silberne Spule mit neuem Nähgarn versehen. Surrend zieht sich der Faden in die Länge.
Mit einem metallenen Klicken gibt die Spule zu verstehen, dass ihr Fassungsvermögen erreicht ist. Horst hört das vertraute Geräusch und rutscht noch ein wenig tiefer in seinen Sessel.
Margot kramt weitere Nähutensilien heraus. Das Rascheln der auseinander fallenden Stoffballen erfüllt das Zimmer. Ihr nächster Griff gehört der Bordüre. Vorsichtig legt sie den Stoff unter die Nähnadel und fixiert ihn, dann positioniert sie die Bordüre. Die Nadel frisst sich aggressiv durch den festen Stoff, den Margot nur noch halten muss. Die Mechanik der Nähmaschine arbeitet perfekt und zieht den Stoff ganz automatisch nach. Schwieriger ist das Ziehen einer exakten Naht. Es ist ein optischer Kampf, eine parallel laufende Naht zu nähen. Technik und Mensch müssen miteinander verschmelzen und der Faden sollte sich in diese Symbiose einfügen. Macht er aber nicht! Im Bauch der Nähmaschine, versteckt unter einem Metalldach, entwickelt der Faden ein Eigenleben. Er verknotet sich und blockiert schließlich die Bemühungen der Näherin. Geduldig öffnet sie das Metalldach, entfernt den dicken Knoten, fädelt den gerissenen Faden neu ein, justiert die Zugfestigkeit der Nähseide und beginnt noch einmal.
Horst kämpft ebenfalls! Und zwar mit den ungerechten Entscheidungen des Schiedsrichters. „Wieso gibt der jetzt die gelbe Karte? Der spinnt doch! Das war eine Schwalbe! Jeder hat das gesehen, nur der Dilettant nicht…!“
Margot schüttelt den Kopf.
„Männer!“, flüstert sie und lächelt. Ihre Stoffbahnen türmen sich wie in einer Schneiderwerkstatt. Die Reste abgeschnittener Nähseide verteilen sich auf dem Teppichboden. Beschauliche Ruhe eines Rentnerdaseins!
„Tor!“, schreit Horst plötzlich in die Stille und winkt wild mit den Armen. „Horst!“, schreit Margot zurück, „musst du mich immer so erschrecken!“
Daran hatte sie sich auch in vierzig Jahren nicht gewöhnen können. Die plötzliche Steigerung des Lärmpegels war ihr absolut zuwider.
„Denk bitte an mein Herz!“, ermahnt sie ihren außer Rand und Band geratenen Ehemann.
„Und übrigens, Dein Herz solltest Du auch nicht vergessen. Mit 67 Jahren ist Aufregung nicht gut.“ Der Schreck hatte ihre Stoffbahnen durcheinander gebracht. Vorsichtig sortiert sie sie noch einmal.