Der Tourist - Olen Steinhauer - E-Book

Der Tourist E-Book

Olen Steinhauer

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Beschreibung

Der Tod ist keine Option

Jahrelang hat Milo Weaver als Geheimagent der CIA gedient. Es gab keinen Auftrag, der ihm, als einem der Besten, nicht anvertraut wurde. Jetzt ist seine große Zeit vorbei, er plant den Ausstieg. Doch die Company lässt ihn nicht los, und so stimmt Weaver einem letzten Einsatz zu, bei dem es bald ums nackte Überleben geht.

Milo Weaver ist "Tourist", ein hoch ausgebildeter Geheimagent, der rund um den Globus Aufträge für die CIA erfüllt. Touristen haben keine eigene Identität, sie haben keine Freunde, keine Familie, ihre oberste Maxime ist Misstrauen. Als Weaver bei einem Einsatz schwer verletzt wird, zieht er sich zurück. Doch sechs Jahre später holt ihn die Vergangenheit ein. Es gibt verlässliche Hinweise auf den Aufenthaltsort des Killers Benjamin Harris, genannt der "Tiger", mit dem Weaver ein jahrelanges Katz-und-Maus-Spiel verband. Weaver spürt Harris auf, nur um kurz vor dessen Selbstmord zu erfahren, dass Harris selbst ein Tourist war und von seinen Auftraggebern mit einer tödlichen Krankheit infiziert wurde. Als kurz darauf eine seiner Kolleginnen unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt, verdächtigt man Milo, und er taucht unter. Um sein Leben zu retten, muss er die Machenschaften der CIA aufdecken. Sein letzter Auftrag beginnt.

Ein brillanter Agententhriller, der das Genre des Spionageromans neu definiert.

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Seitenzahl: 595

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Olen Steinhauer

Der Tourist

Roman

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Tourist bei St. Martin’s Minotaur, New York.

Copyright © 2009 by Olen Steinhauer

Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Redaktion: Tamara Rapp

Herstellung: Helga Schörnig

ISBN 978-3-641-04198-4V002

www.heyne.de

Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Nie wieder Tourist
 
Teil 1 – Touristen in der Krise
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
 
Teil 2 – Touristen sind Geschichtenerzähler
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
 
Wieder Tourist
Danksagung
Copyright
Für Margo

Nie wieder Tourist

Montag, 10. September bis Dienstag, 11. September 2001

1

Vier Stunden nach seinem gescheiterten Selbstmordversuch senkte sich die Maschine auf das Aerodrom Ljubljana herab. Ein Signalton erklang, und über seinem Kopf leuchtete das Gurtzeichen auf. Die Schweizer Geschäftsfrau neben ihm schnallte sich an und blickte durch das Fenster hinaus in den klaren slowenischen Himmel. Eine knappe Abfuhr gleich am Anfang hatte gereicht, um sie davon zu überzeugen, dass der zappelige Amerikaner neben ihr kein Interesse an einer Unterhaltung hatte.
Der Amerikaner schloss die Augen und kehrte zu den Ereignissen am Vormittag in Amsterdam zurück: Schüsse, zerschmettertes Glas und zersplittertes Holz, Sirenen.
Wenn Selbstmord Sünde ist, überlegte er, was ist er dann für jemanden, der nicht an Sünde glaubt? Eine Vergewaltigung der Natur? Wahrscheinlich, denn wenn es überhaupt ein unabänderliches Naturgesetz gibt, dann ist es der Drang, weiterzuexistieren – siehe Unkraut, Küchenschaben, Ameisen und Tauben. Alle Geschöpfe folgen einem gemeinsamen Ziel: Sie wollen am Leben bleiben. Das ist die einzige unbestreitbare Theorie für alles.
In den vergangenen Monaten hatte er sich so ausführlich mit Selbstmord auseinandergesetzt und ihn aus so vielen Blickwinkeln betrachtet, dass die Vorstellung jeden Schrecken verloren hatte. Der Ausdruck »Selbstmord begehen« war für ihn nicht tragischer als »frühstücken« oder »laufen«, und das Verlangen, Schluss zu machen, war oft genauso stark wie seine Sehnsucht nach Schlaf.
Manchmal war es ein passiver Impuls – ohne Gurt wild durch die Gegend kurven oder blind über eine vielbefahrene Straße marschieren -, doch in letzter Zeit fühlte er sich eher verpflichtet, selbst die Verantwortung für seinen Tod zu übernehmen. Seine Mutter hätte von der »großen Stimme« gesprochen. Da ist das Messer, du weißt, was du zu tun hast. Mach das Fenster auf und versuch zu fliegen. Heute um halb fünf Uhr früh, während er in Amsterdam auf einer Frau lag und sie zu Boden drückte, als ihr Schlafzimmerfenster im Feuer automatischer Waffen zerbarst, hatte es ihn dazu gedrängt, aufzuspringen und sich dem Kugelhagel entgegenzustellen wie ein Mann.
Die ganze Woche über hatte er in Holland eine von den USA unterstützte sechzigjährige Politikerin bewacht, auf die nach ihren Äußerungen zur Einwanderungspolitik ein Kopfgeld ausgesetzt worden war. An diesem Morgen hatte der Auftragskiller, der in bestimmten Kreisen als »Tiger« bekannt war, seinen dritten Mordversuch unternommen. Wäre sein Anschlag gelungen, hätte er damit die Abstimmung des niederländischen Parlaments über die konservative Gesetzesvorlage der Politikerin zu Fall gebracht.
Wie die Existenz dieser Politikerin – einer Frau, die die Vorurteile verängstigter Bauern und verbitterter Rassisten bediente und damit Karriere gemacht hatte – seinem Land in die Hände arbeitete, war ihm völlig schleierhaft. Wie formulierte es Grainger immer so schön? »Ein Imperium zu behaupten, ist zehnmal schwieriger, als es zu erobern.«
Rationale Begründungen zählten in seinem Metier nicht. Handeln war reiner Selbstzweck. Doch während die Frau unter ihm kreischte und der Fensterrahmen mit einem prasselnden Geräusch wie von einer Fritteuse zerfetzt wurde, war ihm durch den Kopf geschossen: Was treibe ich hier überhaupt? Er hatte sogar schon die Hand auf den von Holzsplittern übersäten Teppichboden gestützt, um sich aufzurichten und dem Attentäter von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Doch dann hörte er mitten in dem Getöse das fröhliche Zirpen seines Handys.
»Was ist?«, rief er ins Telefon.
»Stattlich und feist«, meldete sich Tom Grainger.
»Erschien Buck Mulligan.«
Der gebildete Grainger hatte die Anfangszeilen von Romanen zu Codes umfunktioniert. Der Joyce-Schlüssel besagte, dass an einem anderen Ort ein neuer Einsatz auf ihn wartete. Aber für ihn gab es längst nichts Neues mehr. Die gnadenlose Routine aus Städten, Hotelzimmern und verdächtigen Gesichtern, die schon seit viel zu vielen Jahren sein Leben bestimmte, war langweilig bis zum Überdruss. Würde das denn nie ein Ende nehmen?
Also schaltete er das Handy ab und forderte die kreischende Frau auf, liegen zu bleiben. Dann rappelte er sich hoch … aber er starb nicht. Die Schüsse waren verhallt und von den jaulenden Sirenen der Amsterdamer Polizei verdrängt worden.
»Slowenien«, teilte ihm Grainger später mit, als er die unversehrte Politikerin in die Tweede Kamer fuhr. »Portorož an der Küste. Es geht um einen verschwundenen Koffer mit Steuergeldern und einen vermissten Basisleiter namens Frank Dawdle.«
»Ich brauche eine Pause, Tom.«
»Das ist sowieso wie Urlaub. Angela Yates ist deine Kontaktfrau – sie arbeitet in Dawdles Büro. Ein vertrautes Gesicht. Danach kannst du gleich dortbleiben und das Wasser genießen.«
Während Grainger in aller Kürze die Einzelheiten des Auftrags herunterleierte, hatte sich sein Magen zusammengekrampft. Der stechende Schmerz war noch immer nicht abgeklungen.
Wenn das einzige unumstößliche Naturgesetz der Drang zum Weiterexistieren ist, wird dann das Gegenteil zu einer Art Verbrechen?
Nein. Selbstmord als Verbrechen würde voraussetzen, dass die Natur zwischen Gut und Böse unterscheidet. Aber die Natur unterscheidet nur zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht.
Vielleicht war das der springende Punkt. Er war abgeglitten in die entlegensten Winkel einer Existenz, in der äußerstes Ungleichgewicht herrschte. Er war so unausgeglichen, dass es schon ans Lächerliche grenzte. Wie konnte es da die Natur gut mit ihm meinen? Nein, auch die Natur wollte bestimmt nichts anderes als seinen Tod.
»Sir?« Eine Stewardess mit blondiertem Haar lächelte ihn an. »Ihr Gurt.«
Verwirrt blinzelte er sie an. »Was ist damit?«
»Sie müssen ihn anlegen. Wir landen gleich. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Obwohl er am liebsten laut losgelacht hätte, tat er ihr den Gefallen. Dann zog er den kleinen weißen Umschlag voller Pillen aus der Tasche, die er in Düsseldorf gekauft hatte, und schluckte zwei Dexedrin. Leben oder Sterben war das eine, doch im Augenblick wollte er vor allem munter bleiben.
Argwöhnisch verfolgte die Schweizer Geschäftsfrau, wie er seine Tabletten wieder verstaute.
Die hübsche Brünette mit dem runden Gesicht beobachtete ihn durch das zerkratzte kugelsichere Fenster, als er sich näherte. Er malte sich aus, was ihr auffiel – seine großen Hände zum Beispiel. Die Hände eines Pianisten. Von dem Dexedrin zitterten sie leicht, und womöglich fragte sie sich jetzt, ob er gerade unbewusst eine Klaviersonate spielte.
Er reichte ihr einen ramponierten amerikanischen Pass, der mehr Grenzen passiert hatte als die meisten Diplomaten. Ein Pianist auf Tournee, dachte sie vielleicht. Ein wenig blass und verschwitzt nach dem langen Flug. Blutunterlaufene Augen. Wahrscheinlich vermutete sie, dass er unter Flugangst litt.
Er rang sich ein Lächeln ab, und plötzlich war ihr bürokratisch gelangweilter Ausdruck wie weggeblasen. Sie war wirklich sehr hübsch, und er wollte ihr mit seiner Miene zeigen, dass er ihr Gesicht als netten slowenischen Willkommensgruß verstand.
Dem Pass entnahm sie seine Personalangaben. Eins achtzig. Geboren im Juni 1970, also einunddreißig Jahre alt. Pianist? Nun, der Beruf wird in amerikanischen Pässen nicht aufgelistet. Sie blickte zu ihm auf und sprach ihn in unsicherem Akzent an: »Mr Charles Alexander?«
Er ertappte sich dabei, wie er in einer paranoiden Anwandlung über die Schulter schaute, und lächelte erneut. »Genau.«
»Sind Sie hier wegen Geschäften oder wegen Urlaub?«
»Ich bin Tourist.«
Sie legte den offenen Pass unter eine schwarze Lampe und hob einen Stempel über eine der wenigen noch leeren Seiten. »Wie lange werden Sie sein in Slowenien?«
Mr Charles Alexander betrachtete sie freundlich aus grünen Augen. »Vier Tage.«
»Sie sollten mindestens eine Woche hier verbringen. Es gibt viel zu sehen.«
Wieder strahlte er sie an und wiegte den Kopf. »Ja, vielleicht haben Sie Recht. Mal sehen, wie es läuft.«
Zufrieden drückte die Beamtin den Stempel auf die Seite und gab ihm den Pass zurück. »Viel Spaß in Slowenien.«
Er durchquerte den Gepäckbereich, wo andere Passagiere des Flugs von Amsterdam nach Ljubljana mit ihren Kofferwagen um das noch leere Laufband herumstanden. Niemand schien ihn zu bemerken, und er bemühte sich darum, das Gehabe eines paranoiden Drogenkuriers abzulegen. Sein Magen war schuld, das wusste er, und das schnell wirkende Dexedrin. An zwei Zollschaltern befanden sich keine Beamten, und er setzte seinen Weg durch zwei Spiegeltüren fort, die sich automatisch vor ihm öffneten. In zahllosen erwartungsvollen Gesichtern malte sich Enttäuschung, als die Wartenden feststellten, dass er nicht zu ihnen gehörte. Er lockerte seine Krawatte.
Bei seinem letzten Besuch in Slowenien vor mehreren Jahren hatte Charles Alexander einen anderen Namen getragen, der genauso falsch war wie der, den er jetzt benutzte. Damals herrschte im Land freudige Aufbruchsstimmung, nachdem es sich in einem zehntägigen Krieg von der jugoslawischen Föderation gelöst hatte. An Österreich grenzend, war Slowenien in diesem bunt zusammengewürfelten Staatenbund immer der Außenseiter gewesen, der nicht so recht zum Balkan passen wollte. Der Rest Jugoslawiens warf den Slowenen – nicht ohne Grund – eine gewisse Hochnäsigkeit vor.
Noch auf dem Flughafengelände erspähte er Angela Yates, die vor der Tür zur Eingangshalle wartete. Sie trug eine Businesshose und einen blauen Blazer. Mit über der Brust verschränkten Armen stand sie im grauen Morgenlicht und starrte rauchend auf das Feld aus parkenden Autos vor dem Flughafen. Er ging nicht zu ihr. Stattdessen suchte er eine Toilette auf und schielte in den Spiegel. Die Blässe und der Schweiß hatten nichts mit Flugangst zu tun. Er riss sich die Krawatte herunter und klatschte sich Wasser auf die Wangen. Blinzelnd wischte er über seine rotgeränderten Augen, aber das änderte nichts an seinem Aussehen.
»Tut mir leid, dass ich dich hergescheucht habe«, begrüßte er sie, nachdem er die Halle verlassen hatte.
Angela fuhr zusammen, und ein erschrockenes Glimmen flackerte durch ihre lavendelblauen Augen. Dann grinste sie. Sie wirkte müde, aber das war auch kein Wunder. Sie war vier Stunden gefahren, um ihn abzuholen, und das hieß, dass sie spätestens um fünf Uhr früh in Wien gestartet war. Nachdem sie die halbgerauchte Zigarette, eine Davidoff, weggeworfen hatte, boxte sie ihm gegen die Schulter und drückte ihn an sich. Der Tabakgeruch war beruhigend. Schließlich hielt sie ihn auf Armeslänge von sich. »Du isst zu wenig.«
»Essen wird überbewertet.«
»Und du siehst echt furchtbar aus.«
Er zuckte mit den Achseln, während sie hinter ihrem Handrücken gähnte.
»Du schläfst auch gleich ein«, stellte er fest.
»Hab letzte Nacht kein Auge zugemacht.«
»Brauchst du was?«
Angelas Lächeln erlosch. »Schluckst du immer noch Amphetamine?«
»Nur in Notfällen«, log er. Die letzte Dosis hatte er nur genommen, weil er wollte, und jetzt, da das Zeug durch seine Blutbahnen rauschte, hatte er Lust, sich auch noch den Rest in den Rachen zu schütten. »Willst du eine?«
»Lass das.«
Sie überquerten eine verstopfte Zufahrtsstraße, auf der unzählige Taxis und Busse unterwegs in die Stadt waren, und stiegen auf einer Betontreppe hinunter zum Parkplatz.
»Heißt du immer noch Charles?«, flüsterte sie.
»Ja, inzwischen schon seit fast zwei Jahren.«
»Wirklich ein bescheuerter Name. Viel zu aristokratisch. Der kommt mir nicht über die Lippen.«
»Ich frag sowieso ständig nach einem neuen. Vor einem Monat bin ich in Nizza angetanzt, und irgend so ein Russe hatte von Charles Alexander bereits Wind bekommen.«
»Ach?«
»Hätte mich fast umgebracht, der Kerl.«
Sie lächelte, als hätte er einen Witz gemacht, aber das war nicht der Fall. Plötzlich erschauerten seine Synapsen. Er durfte nicht so viel ausplaudern. Angela wusste nichts über seine Arbeit und durfte auch nichts erfahren.
»Erzähl mir was über Dawdle. Wie lange arbeitest du schon mit ihm zusammen?«
»Seit drei Jahren.« Sie zog ihren Schlüssel heraus und drückte auf einen kleinen schwarzen Knopf, bis ihnen drei Reihen weiter ein grauer Peugeot zublinkte. »Frank ist mein Chef, aber das läuft alles ziemlich zwanglos ab. Nur eine Minifiliale der Company in der Botschaft.« Sie zögerte. »Eine Weile war er sogar scharf auf mich. Kannst du dir das vorstellen? Völlig ahnungslos, wen er vor sich hat.«
In ihrer Stimme lag ein Anflug von Hysterie, der ihn befürchten ließ, dass sie den Tränen nahe war. Trotzdem bohrte er weiter. »Was meinst du, könnte er es gewesen sein?«
Angela öffnete den Kofferraum. »Auf keinen Fall. Frank Dawdle war nicht unehrlich. Ein bisschen feige vielleicht. Hat sich unmöglich angezogen. Aber unehrlich war er nie. Er hat das Geld bestimmt nicht gestohlen.«
Charles warf seine Tasche hinein. »Du sprichst in der Vergangenheit, Angela.«
»Ich hab einfach Angst.«
»Wovor?«
Gereizt zog Angela die Brauen zusammen. »Dass er tot ist. Was dachtest du denn?«

2

Sie war zu einer vorsichtigen Fahrerin geworden, was nach ihren zwei Jahren in Österreich wohl unvermeidlich war. Wäre sie in Italien oder hier in Slowenien stationiert gewesen, hätte sie vermutlich aufs Blinken verzichtet und die nervtötenden Geschwindigkeitsbegrenzungen ignoriert.
Um die Spannung etwas zu lösen, erzählte er von alten Londoner Bekannten aus der Zeit, als sie beide unter der vagen Bezeichnung »Attachés« in der dortigen Botschaft gearbeitet hatten. Sein Abschied war sehr plötzlich gekommen, und Angela wusste nur, dass seine neue Tätigkeit bei einer geheimen Abteilung der Company einen regelmäßigen Namenswechsel erforderte und dass er wieder ihrem alten Chef Tom Grainger unterstellt war. Die anderen in der Londoner Basis glaubten, was man ihnen gesagt hatte: dass er gefeuert worden war.
»Ab und zu fliege ich zu einer Party hin«, antwortete sie. »Sie laden mich immer ein. Aber irgendwie machen sie mich traurig, weißt du. Dieses ganze Diplomatenvolk. Sie haben so was unglaublich Erbärmliches an sich.«
»Findest du?« Dabei wusste er genau, was sie meinte.
»Die leben in ihrem eigenen kleinen Reservat, umgeben von Stacheldraht. Sie tun so, als würden sie die anderen aussperren, aber in Wirklichkeit sind sie selber eingesperrt.«
Das war treffend ausgedrückt, und er musste an Tom Graingers imperiale Machtfantasien denken – römische Außenposten im Feindesland.
Als sie die A1 Richtung Südwesten erreichten, wurde Angela wieder geschäftsmäßig. »Tom hat dich über alles informiert?«
»Nur teilweise. Kann ich eine Kippe von dir haben?«
»Im Auto bitte nicht.«
»Oh.«
»Erzähl mir, was du weißt, dann kriegst du von mir den Rest.«
Während er sein knappes Gespräch mit Grainger rekapitulierte, wischten dichte Kiefernwälder vorbei. »Er sagt, Frank Dawdle wurde hergeschickt, um eine Aktentasche voller Geld abzuliefern. Wie viel, hat er nicht erwähnt.«
»Drei Millionen.«
»Dollar?«
Sie nickte in Richtung Straße.
Charles fuhr fort. »Zuletzt wurde er im Hotel Metropol in Portorož vom slowenischen Geheimdienst gesehen. In seinem Zimmer. Dann ist er verschwunden.« Er wartete darauf, dass sie die zahlreichen Lücken in dieser Geschichte schloss. Aber sie fuhr einfach nur weiter, defensiv und sicher wie gehabt. »Willst du mir mehr verraten? Zum Beispiel, für wen das Geld bestimmt war?«
Angela schwenkte den Kopf von einer Seite zur anderen und schaltete statt einer Antwort das Radio an. Es war noch auf einen Sender eingestellt, den sie auf ihrer langen Fahrt von Wien her eingestellt hatte. Slowenischer Pop. Grausiges Zeug.
»Und bei der Gelegenheit kannst du mir vielleicht auch erklären, warum wir von seinem letzten Aufenthalt durch die SOVA erfahren haben und nicht durch unsere eigenen Leute.«
Als hätte er nichts gesagt, drehte sie die Lautstärke hoch, bis der ganze Wagen von den Harmonien einer Boygroup erfüllt war. Schließlich begann sie zu reden, und Charles musste sich weit über die Gangschaltung beugen, um sie zu verstehen.
»Ich hab keine Ahnung, von wem genau die Anweisungen stammen, aber auf jeden Fall kamen sie aus New York. Aus Toms Büro. Er hat Frank aus naheliegenden Gründen ausgesucht. Alter Hase mit blütenreiner Weste. Keinerlei Anzeichen von Ehrgeiz. Keine Alkoholprobleme, nichts Kompromittierendes. Er ist jemand, dem sie drei Millionen anvertrauen können. Wichtiger noch, er kennt sich hier aus. Seine Anwesenheit in dem Ferienort war völlig unverdächtig. Er macht jeden Sommer in Portorož Urlaub und spricht fließend Slowenisch.« Verbissen lachte sie auf. »Er hat sogar auf einen Plausch bei ihnen vorbeigeschaut. Hat dir Tom davon erzählt? Am Tag seiner Ankunft hat er einen SOVA-Agenten in einem Souvenirladen getroffen und ihm ein kleines Spielzeugsegelboot gekauft. Das ist typisch für Frank.«
»Gefällt mir, sein Stil.«
Angelas Blick verriet ihm, dass sie seine Ironie für unangemessen hielt. »Das Ganze hätte kinderleicht sein müssen. Am Samstag – vor zwei Tagen also – bringt Frank das Geld zum Hafen runter und macht eine einfache Übergabe per Code. Er geht zu einer Telefonzelle, ruft mich in Wien an und liest mir die Adresse vor. Dann fährt er zurück nach Hause.«
Der Song war zu Ende, und ein junger slowenischer DJ verkündete, dass die gerade gespielte Band hot-hot-hot war, während er die Einleitung zum nächsten Lied einblendete, einer zuckersüßen Ballade.
»Warum hatte er keine Unterstützung?«
»Er hatte Unterstützung.« Sie schielte in den Rückspiegel. »Von Leo Bernard. Den hast du in München kennengelernt, weißt du noch? Vor zwei Jahren.«
Charles erinnerte sich an einen hünenhaften Typen aus Pennsylvania. In München hatte er ihnen bei einer gemeinsamen Operation mit dem BND gegen einen ägyptischen Heroinring zur Seite gestanden. Seine Kämpferqualitäten hatte Leo dabei nicht unter Beweis stellen müssen, aber Charles hatte sich in seiner Gegenwart um einiges sicherer gefühlt. »Ja, Leo war lustig.«
»Er ist tot.« Wieder huschte Angelas Blick zum Rückspiegel. »Erschossen in seinem Hotelzimmer, einen Stock über Frank. Mit einer Neunmillimeter.« Sie schluckte. »Wir vermuten, mit seiner eigenen Waffe, haben sie aber bisher nicht gefunden.«
»Hat irgendjemand was gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »Leo hatte einen Schalldämpfer.«
Charles lehnte sich zurück und warf unwillkürlich einen prüfenden Blick in den Seitenspiegel. Als eine Sängerin mit eher begrenztem Talent ein hohes E anstimmte, drehte er die Lautstärke herunter. Dann schaltete er das Radio ganz aus. Angela war reichlich zugeknöpft, was wesentliche Fakten des Falls betraf – zum Beispiel, wozu das viele Geld? -, aber das konnte noch warten. Im Moment wollte er sich sein eigenes Bild von den Ereignissen machen. »Wann genau waren sie dann an der Küste?«
»Am Freitagnachmittag. Am siebten.«
»Mit Legenden?«
»Frank nicht. Dafür war er zu bekannt in der Gegend. Leo hat eine alte Identität benutzt: Benjamin Schneider, Österreicher.«
»Am Tag darauf war die Übergabe. In welchem Teil der Docks?«
»Ich hab es aufgeschrieben.«
»Zeit?«
»Abends. Sieben Uhr.«
»Und wann ist Frank verschwunden?«
»Zum letzten Mal wurde er am Samstag um vier Uhr morgens gesehen. Bis dahin hat er zusammen mit Bogdan Krizan ein paar getrunken, dem Leiter der örtlichen SOVA-Abteilung. Sie sind alte Freunde. Gegen zwei am Nachmittag hat das Hotelpersonal dann Leos Leiche entdeckt.«
»Was ist mit dem Hafen? Hat jemand beobachtet, was um sieben passiert ist?«
Erneut der Blick in den Rückspiegel. »Wir waren zu spät dran. Die Slowenen hatten keinen Grund, Franks Anwesenheit verdächtig zu finden. Und von Leos Leiche haben wir erst nach sieben erfahren. Seine Papiere waren so gut, dass die österreichische Botschaft den Schwindel erst nach acht Stunden bemerkt hat.«
»Hättet ihr bei drei Millionen nicht noch zwei Aufpasser mitschicken können?«
Angela spannte die Kiefermuskeln an. »Vielleicht, aber hinterher ist man immer schlauer.«
Diese Stümperhaftigkeit überraschte Charles. Obwohl, eigentlich nicht. »Wer war zuständig?«
Ihr Kiefer mahlte noch heftiger, ihre Wangen waren gerötet. Es war also ihre Schuld. »Frank wollte, dass ich in Wien bleibe«, erwiderte sie.
»Frank Dawdle hat darauf beharrt, mit drei Millionen und nur einem Aufpasser loszuspazieren?«
»Ich kenne den Mann, du nicht.« Sie sprach, praktisch ohne die Lippen zu bewegen.
Am liebsten hätte ihr Charles eröffnet, dass er ihren Chef sehr wohl kannte. 1996 hatte er einmal mit ihm zusammengearbeitet, um einen kommunistischen Exspion aus einem unbedeutenden osteuropäischen Land zu beseitigen. Aber davon durfte sie natürlich nichts erfahren. Er berührte sie an der Schulter, um ihr sein Mitgefühl zu bekunden. »Ich rede erst dann mit Tom, wenn wir brauchbare Antworten haben, okay?«
Nach einer Weile musterte sie ihn mit einem matten Lächeln. »Danke, Milo.«
»Ich heiße Charles.«
Das Lächeln wurde bitter. »Ich frage mich, ob du überhaupt einen echten Namen hast.«

3

Nach stundenlanger Fahrt auf der Autobahn entlang der italienischen Grenze näherten sie sich der Küste. Das dichte Grün an den Seiten lichtete sich, und zum ersten Mal hatten sie einen weiten Blick. Während sie Koper und Izola passierten, flimmerte die Straße in der warmen Vormittagssonne, und Charles registrierte die niedrigen Sträucher, die mediterrane Architektur und die Zimmer-frei-Schilder an jeder Abzweigung. Das alles erinnerte ihn daran, wie wunderschön dieser winzige Küstenstreifen war. Weniger als fünfzig Kilometer, um die die Italiener, Jugoslawen und Slowenen jahrhundertelang erbittert Krieg geführt hatten.
Rechts blitzte gelegentlich die Adria auf, und durch das offene Fenster roch er die salzige Brise. Unwillkürlich überlegte er, ob auch er sein Heil in so einem Paradies suchen sollte. Verschwinden und den Rest seiner Tage unter glühender Sonne am Meer verbringen. In einem Klima, das alles Ungleichgewicht aus einem herausbrennt. Doch er schob den Gedanken schnell wieder beiseite, weil er die Antwort bereits kannte: Geografie löst keine Probleme.
Er wandte sich an sie. »Wir können nicht weitermachen, solange du mir nicht den Rest verrätst.«
»Welchen Rest?« Sie klang, als hätte sie keine Ahnung.
»Das Warum. Warum Frank Dawdle mit drei Millionen hergeschickt wurde.«
Sie sprach wieder mit dem Rückspiegel. »Kriegsverbrecher. Bosnischer Serbe. Großer Fisch.«
Sie passierten ein kleines pinkfarbenes Hotel, und dann öffnete sich vor ihnen die Bucht von Portorož voller Sonne und glitzerndem Wasser. »Welcher?«
»Spielt das wirklich eine Rolle?«
Wahrscheinlich nicht. Karadži, Mladi oder irgendein anderer gesuchter -i … die Geschichte war immer die gleiche. Sie alle, ebenso wie die kroatischen Eiferer auf der anderen Seite, waren an den bosnischen Genoziden beteiligt gewesen, die aus einem einst vielbewunderten multiethnischen Land einen internationalen Paria gemacht hatten. Seit 1996 waren diese Männer auf der Flucht und wurden von Sympathisanten und korrupten Beamten versteckt, nachdem der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Anklage gegen sie erhoben hatte. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen Leben und Gesundheit, Völkermord, Nichteinhaltung der Genfer Konvention, Mord, Plünderung, Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung. Charles blickte hinaus auf die Adria und hielt die Nase schnuppernd in den Wind. »Die UN hat fünf Millionen auf diese Leute ausgesetzt.«
»Die fünf Millionen wollte der Typ auch haben.« Angela verlangsamte das Tempo hinter einer Schlange mit slowenischen, deutschen und italienischen Kennzeichen. »Aber er hatte nur eine Adresse und wollte das Geld im Voraus, um verschwinden zu können. Die UN hat ihm nicht über den Weg getraut und ihn abblitzen lassen. Da hat sich ein schlauer junger Mann in Langley überlegt, dass wir ihm die Adresse für drei Millionen abkaufen sollten. Ein PR-Coup. Wir können uns im Ruhm einer Verhaftung sonnen und einmal mehr die Inkompetenz der UN beweisen.« Sie zuckte die Achseln. »Ob fünf oder drei – Millionär ist man dann in jedem Fall.«
»Was wissen wir über ihn?«
»Er wollte uns nichts verraten, aber die Company ist ihm schnell auf die Schliche gekommen. Dušan Maskovi, ein Serbe aus Sarajevo, der sich schon früh den Milizen angeschlossen hat. Er gehört zu dem Gefolge, das die wichtigen Gestalten in den Bergen der Republika Srpska versteckt hat. Vor zwei Wochen hat er sich von ihnen abgesetzt und sich an das UN-Menschenrechtsbüro in Sarajevo gewandt. Aber anscheinend kriegen die täglich solche Angebote. Also hat der kleine Dušan unsere Botschaft in Wien angerufen und ist dort auf ein offenes Ohr gestoßen.«
»Warum wurde die Sache nicht gleich in Sarajevo durchgezogen?«
Im gleichmäßigen Verkehrsstrom passierten sie Läden mit Blumen und internationalen Zeitungen. »Er wollte das Geld nicht in Bosnien abholen. Auch nicht, dass das Ganze über die Botschaft in Sarajevo läuft. Niemand, der in den exjugoslawischen Republiken stationiert ist, sollte an der Sache beteiligt sein.«
»Gar nicht dumm.«
»Wir haben es uns so zusammengereimt: Er hat sich in Kroatien ein Boot besorgt und hatte vor, am Samstag bis sieben Uhr abends draußen auf der Adria zu warten. Dann hätte er heimlich anlegen, den Deal abwickeln und sofort wieder rausfahren können, ohne sich beim Hafenmeister zu melden.«
»Verstehe.« Obwohl ihn wieder Magenkrämpfe ablenkten, reichten Charles die Informationen, um allmählich einen Eindruck von den verschiedenen Akteuren und ihrem Zusammenwirken zu gewinnen.
»Soll ich mich um das Hotelzimmer kümmern?«
»Überprüfen wir zuerst den Hafen.«
Der Haupthafen von Portorož lag genau in der Mitte der Bucht; dahinter erhob sich das in den sechziger Jahren erbaute Hotel Slovenija, dessen hellblauer Namenszug wie ein Surfbrettmotiv über weißem Beton prangte. Sie parkten etwas abseits der Hauptstraße und schlenderten vorbei an Läden, die Modellsegelboote und T-Shirts mit Schriftzügen wie PORTOROŽ, I LOVE SLOVENIA und MY PARENTS WENT TO SLOVENIA AND ALL I GOT … verkauften. Sandalenbewehrte Familien, die an Eistüten und Zigaretten lutschten, bummelten gemächlich vorüber. Hinter den Geschäften zog sich eine Reihe kleiner Piere mit Ferienbooten hin.
»Welcher?«, fragte Charles.
»Siebenundvierzig.«
Mit den Händen in den Taschen trottete er voraus, als würden er und seine Begleiterin die Aussicht und die warme Sonne genießen. Die Seeleute und Kapitäne auf den Motor- und Segelbooten schenkten ihnen keine Beachtung. Es war kurz vor Mittag, Zeit für die Siesta und einen Drink. Deutsche und Slowenen dösten auf ihren heißen Decks, nur die Stimmen von Kindern, die nicht einschlafen konnten, waren zu hören.
Nummer siebenundvierzig war leer, aber an neunundvierzig hatte eine bescheidene Jacht mit italienischer Flagge festgemacht. Auf dem Deck war eine schwergewichtige Frau damit beschäftigt, eine Wurst zu pellen.
»Buongiorno!«, rief ihr Charles munter zu.
Höflich neigte die Frau den Kopf.
Charles sprach nur leidlich Italienisch, daher bat er Angela, herauszufinden, wann die Frau in Portorož angekommen war. Sofort legte Angela in einem maschinengewehrartigen römischen Italienisch los, das wie ein Schwall von Beschimpfungen klang. Doch die Wurstfrau schleuderte die Beschimpfungen lächelnd und mit den Händen fuchtelnd zurück. Zum Abschied winkte ihr Angela mit einem »Grazie mille« zu.
Auch Charles winkte und beugte sich zu Angela, als sie sich entfernten. »Und?«
»Sie ist seit Samstagabend hier. Neben ihrer Jacht hatte ein Motorboot festgemacht – ziemlich schmutzig, sagt sie -, das aber schon bald nach ihrer Ankunft abgelegt hat. So zwischen halb acht und acht, schätzt sie.«
Nach zwei weiteren Schritten merkte Angela, dass Charles stehen geblieben war. Die Hände in die Hüften gestemmt, starrte er auf die leere Anlegestelle mit dem kleinen Schild 47. »Meinst du, das Wasser ist einigermaßen sauber?« »Hab schon Schlimmeres gesehen.«
Charles reichte ihr seine Jacke, dann knöpfte er das Hemd auf und entledigte sich seiner Schuhe.
»Das ist doch nicht dein Ernst«, entfuhr es Angela.
»Wenn die Übergabe überhaupt erfolgt ist, dann wahrscheinlich nicht reibungslos. Und falls ein Kampf stattgefunden hat, dann ist vielleicht was ins Wasser gefallen.«
»Wenn Dušan schlau ist«, erwiderte Angela, »dann hat er Franks Leiche raus aufs Meer gefahren und sie über Bord geworfen.«
Charles hätte ihr gern erklärt, warum Dušan Maskovi für ihn nicht als Mörder infrage kam – Dušan hatte nichts zu gewinnen durch die Tötung eines Mannes, der bereit war, ihm ohne jedes Zögern Geld für eine bestimmte Adresse zu überlassen -, aber er überlegte es sich anders. Er hatte keine Zeit für eine Diskussion.
Er versuchte, sich nichts von seinen Magenschmerzen anmerken zu lassen, als er sich nach vorn beugte und sich aus seiner Hose schälte. Schließlich stand er nur noch in Boxershorts da. Seine Brust war blass, weil er ständig in Flugzeugen und Hotelzimmern herumhockte. »Wenn ich nicht mehr auftauche …«
»Schau mich nicht so an«, protestierte Angela. »Ich kann nicht schwimmen.«
»Dann musst du Signora Salami um Hilfe bitten.«
Bevor ihr eine Entgegnung einfiel, war er mit den Füßen voraus in die seichte Bucht gesprungen. Es war ein Schock für seine von Drogen aufgeputschten Nerven, und vor Schreck hätte er beinahe eingeatmet. Er musste sich zwingen, es nicht zu tun. Er ruderte zur Oberfläche und wischte sich das Gesicht ab. Vom Rand des Piers lächelte Angela auf ihn herab. »Schon fertig?«
»Verknitter mir nicht mein Hemd.« Er tauchte wieder unter und öffnete die Augen.
Die hochstehende Sonne ließ die Schatten im Wasser deutlich hervortreten. Um ihn herum schaukelten die schmutzig weißen Bootskörper, deren geschwungene Seiten nach unten hin immer schwärzer wurden, bis nichts mehr zu erkennen war. Er strich mit den Händen über das italienische Boot in Nummer neunundvierzig und folgte dem Rumpf bis zum Bug, von dem ein dickes Tau zu den Pfählen verlief. Er ließ die Leine los und tauchte in das dichte Dunkel unter dem Pier, um sich mit den Händen voranzutasten. Er berührte Lebewesen – eine raue Muschel, Schleim, die Schuppen eines zappelnden Fischs -, und gerade als er schon wieder zur Oberfläche wollte, stieß er auf etwas anderes. Ein wuchtiger Arbeitsstiefel mit harter Sohle. Er hing an einem Fuß, einem Jeansbein, einem Körper. Erneut musste er dagegen ankämpfen, einzuatmen. Er zog, doch die steife, kalte Leiche ließ sich kaum bewegen.
Er schwamm nach oben, um nach Luft zu schnappen, ignorierte Angelas Spott und tauchte wieder hinab. Um einen Hebel zu haben, stemmte er sich an der Pfahlkonstruktion ab. Als er die Leiche endlich in das trübe Licht um das italienische Boot gezerrt hatte, erkannte er in der Wolke aus aufgewühltem Sand, warum ihm das solche Mühe bereitet hatte. Die aufgedunsene Leiche – ein Mann mit dunklem Bart – war auf Hüfthöhe mit einem Seil an ein schweres Metallrohr gefesselt, das wohl zu einem Motor gehörte.
Nach Luft ringend, durchbrach er die Oberfläche. Das Wasser, das vor einer Minute noch so sauber gewirkt hatte, war jetzt schlammig. Er spuckte die schmutzige Brühe aus und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Über ihm hatte Angela die Hände auf die Knie gestützt. »Ich kann die Luft viel länger anhalten. Schau.«
»Hilf mir raus.«
Sie legte seine Kleider auf den Pier und streckte ihm kniend die Hand entgegen. Kurz darauf hockte er tropfnass und mit hochgezogenen Knien neben ihr. Ein leichter Windstoß ließ ihn erschauern.
»Und?«, fragte Angela.
»Wie sieht Frank aus?«
Sie griff in die Blazertasche und zog ein kleines Foto heraus, das sie eingesteckt hatte, um es Fremden zu zeigen. Ein gut ausgeleuchtetes Frontalbild, das einen mürrischen Frank Dawdle zeigte. Ein glattrasierter, oben kahler Mann, weißes Haar über den Ohren, ungefähr sechzig.
»Er hat sich keinen Bart wachsen lassen seit der Aufnahme?«
Angela schüttelte den Kopf, dann trat ein beunruhigter Ausdruck in ihr Gesicht. »Aber das letzte uns bekannte Foto von Maskovi …«
Er erhob sich. »Wenn die Mordrate von Portorož in den letzten Tagen nicht hochgeschnellt ist, dann ist das dein Serbe, der da unten liegt.«
»Ich glaube …«
Charles schnitt ihr das Wort ab. »Wir reden mit der SOVA, und du musst in Wien anrufen. Sofort. Sie sollen Franks Büro überprüfen. Nachsehen, was fehlt. Rausfinden, was auf seinem Computer war, bevor er verschwunden ist.«
Er schlüpfte in sein Hemd, und seine nasse Haut zeichnete sich grau unter dem weißen Baumwollstoff ab. Angela fummelte an ihrem Telefon herum. Ihre Finger hatten auf einmal Schwierigkeiten mit den Tasten.
Charles nahm sie an den Händen und blickte ihr in die Augen. »Du hast Recht, die Sache ist ernst. Aber flipp jetzt nicht aus, solange wir nichts Genaues wissen. Und den Slowenen erzählen wir erst mal nichts von der Leiche. Wir wollen doch nicht, dass sie uns zu einem langen Verhör einsacken.«
Sie nickte.
Charles ließ sie los und schnappte sich Jacke, Hose und Schuhe. Als er sich zum Gehen wandte, stieß die Italienerin, die die pummeligen Knie bis zum Kinn hochgezogen hatte, einen leisen Pfiff aus. »Bello.«

4

Eineinhalb Stunden später waren sie aufbruchbereit. Charles wollte sich ans Steuer setzen, aber Angela wehrte sich. Sie stand noch immer unter Schock: Ohne dass er ihr etwas erklären musste, hatte sie zwei und zwei zusammengezählt. Frank Dawdle, ihr geliebter Chef, hatte Leo Bernard und Dušan Maskovi getötet und sich mit den drei Millionen Dollar von der US-Regierung aus dem Staub gemacht.
Den erdrückendsten Beweis erbrachte ihr Anruf in Wien. Die Festplatte von Dawdles Computer fehlte. Aufgrund des Stromverbrauchs vermutete der interne Computerexperte, dass sie irgendwann am Freitagmorgen entfernt worden war, kurz bevor Frank und Leo nach Slowenien fuhren.
Trotzdem klammerte sie sich an einen letzten Hoffnungsschimmer: Bestimmt steckten die Slowenen dahinter. Wenn Frank die Festplatte mitgenommen hatte, dann sicher nur unter Zwang. Seine alten Kumpel von der SOVA hatten ihn bedroht. Als sie sich mit Bogdan Krizan, dem örtlichen Leiter der SOVA, im Hotel Slovenija trafen, funkelte sie ihn über den Tisch hinweg böse an, während der alte Mann einen Teller frittierte Calamari verschlang und ihnen berichtete, wie er Freitagnacht mit Frank Dawdle in dessen Zimmer ein paar Gläser getrunken hatte.
»Soll das heißen, Sie haben ihn besucht?«, knurrte sie. »Haben Sie nichts anderes zu tun?«
Die Gabel locker in der Hand, zögerte Krizan. Er hatte ein kantiges Gesicht, das irgendwie in die Breite zu gehen schien, als er in übertriebener Balkanmanier die Schultern zuckte. »Wir sind alte Freunde, Miss Yates. Alte Spione. Bis zum frühen Morgen zusammen saufen – das ist ganz normal bei uns. Außerdem habe ich das mit Charlotte gehört. Zum Trost habe ich ihm eine Flasche mitgebracht.«
»Charlotte?«, fragte Charles.
»Seine Frau«, antwortete Krizan und verbesserte: »Exfrau.«
Angela nickte. »Sie hat ihn vor ungefähr einem halben Jahr verlassen. Das hat ihm ziemlich zugesetzt.«
»Tragisch«, bemerkte Krizan.
Für Charles war das Bild nun fast komplett. »Was hat er Ihnen über seinen Besuch hier erzählt?«
»Nichts. Natürlich hab ich ihn gefragt, mehrmals sogar. Aber er hat mir nur zugezwinkert. Jetzt wünsche ich mir, er hätte mir mehr vertraut.«
»Ich auch«, warf Angela ein.
»Steckt er in Schwierigkeiten?« Krizan blieb äußerlich völlig gelassen.
Charles schüttelte den Kopf. Angelas Handy klingelte, und sie verließ den Tisch.
»Ganz schön bissig, die Dame.« Krizan nickte in ihre Richtung. »Wissen Sie, wie Frank sie immer nennt?«
Charles wusste es nicht.
»Mein blauäugiges Wunder.« Er grinste. »Netter Kerl, aber eine Lesbe würde er nicht mal erkennen, wenn sie ihn auf die Nase boxte.«
Charles beugte sich vor, während Krizan seine Calamari vertilgte. »Fällt Ihnen noch irgendwas anderes ein?«
»Das ist schwierig, wenn Sie mir nicht verraten, worum es geht.« Er kaute weiter. »Nein. Eigentlich kam er mir ganz normal vor.«
Vorn bei der Tür presste Angela einen Finger ans Ohr, um den Anrufer besser zu verstehen. Charles stand auf und reichte Krizan die Hand. »Danke für Ihre Hilfe.«
»Sollte Frank wirklich in Schwierigkeiten stecken …« Krizan hielt seine Hand ein wenig länger als nötig fest. »Dann hoffe ich, dass Sie ihn fair behandeln. Er hat Ihrem Land viele Jahre treu gedient. Wenn er im Herbst seines Lebens mal ein bisschen ins Straucheln gerät, darf man ihm da einen Vorwurf machen?« Wieder das übertriebene Achselzucken, dann ließ er Charles los. »Wir können nicht die ganze Zeit hundertprozentig perfekt sein. Schließlich sind wir nicht Gott.«
Charles entzog sich Krizans philosophischen Ergüssen und trat zu Angela, die gerade mit rotem Gesicht das Gespräch beendete.
»Was ist?«
»Das war Max.«
»Max?«
»Der Nachtportier der Botschaft in Wien. Am Donnerstagabend hat eine von Franks Quellen Informationen über einen Russen geschickt, den wir observieren. So ein großer Oligarch. Roman Ugrimow.«
Charles wusste von Ugrimow – ein Geschäftsmann, der Russland verlassen hatte, um seine Haut zu retten, aber dort immer noch einflussreiche Kontakte unterhielt, während er gleichzeitig ein weltweites Unternehmensimperium aufbaute. »Was für Informationen?«
»Erpressermaterial.« Sie stockte. »Er ist pädophil.«
»Könnte auch ein Zufall sein«, stellte Charles fest, als sie vom Restaurant in die sozialistisch mauvefarbene Eingangshalle traten, wo drei SOVA-Agenten herumlungerten, um auf ihren Chef aufzupassen.
»Vielleicht. Aber gestern ist Ugrimow in sein neues Haus eingezogen. In Venedig.«
Wieder blieb Charles stehen, und Angela musste zu ihm umkehren. Den Blick wie hypnotisiert auf die hell erleuchteten Fenster der Lobby gerichtet, fügte er die letzten Teile des Mosaiks zusammen. Schließlich sagte er: »Das ist doch gleich auf der anderen Seite. Mit einem Boot brauchen wir nicht lange.«
»Schon, aber …«
Charles unterbrach sie. »Was braucht jemand am dringendsten, der drei Millionen geklaut hat? Einen neuen Namen. Ein Mann wie Roman Ugrimow könnte ihm mit seinen Verbindungen leicht Papiere besorgen. Wenn man ihn dazu überredet.«
Sie starrte ihn nur wortlos an.
»Du musst nochmal anrufen«, fuhr er fort. »Jemand soll bei den Hafenmeistern in Venedig nachfragen, ob sie in den letzten zwei Tagen auf verlassene Boote gestoßen sind.«
Auf den Rückruf warteten sie in einem zentral gelegenen Café, das sich noch nicht so recht an die postkommunistischen Fremden angepasst hatte, die inzwischen die fünfzig Kilometer lange Küste mit dem Land teilten. Hinter der heruntergekommenen Zinktheke servierte eine wuchtige Matrone mit einer kaffee- und bierbesudelten Schürze den unterbezahlten Hafenarbeitern Lasko Pivo vom Fass. Angelas Bestellung nahm sie ziemlich ungnädig auf, und als der Cappuccino kam, erwies er sich als eine viel zu süße Instantplörre. Charles brachte Angela dazu, das Zeug trotzdem zu trinken. Dann fragte er, warum sie ihm nicht erzählt hatte, dass Franks Frau sich von ihm getrennt hatte.
Nach einem kleinen Schluck verzog sie das Gesicht. »Viele Leute lassen sich scheiden.«
»Eine Scheidung ist mit das Stressigste, was man sich vorstellen kann«, erwiderte er. »Sie verändert die Leute. Oft kriegen sie danach einen totalen Rappel und wollen nochmal ganz von vorn anfangen, um alles besser zu machen.« Er rieb sich die Nase. »Vielleicht ist Frank aufgegangen, dass er lieber für die andere Seite hätte arbeiten sollen.«
»Es gibt keine andere Seite mehr.«
»Klar gibt es die. Ihn selbst.«
Noch schien sie nicht überzeugt. Ihr Telefon läutete, und während sie zuhörte, schüttelte sie den Kopf – wütend auf Frank, auf Charles, auf sich selbst. Die Basis in Wien teilte ihr mit, dass am Sonntagmorgen ein Boot mit Dubrovniker Kennzeichen herrenlos treibend vor dem Hafen des Lido gefunden worden war. »Sie sagen, in der Kabine wurden Blutspuren entdeckt«, berichtete sie.
Nach dem Telefonat bot Charles erneut an, sich ans Steuer zu setzen – er wollte sich nicht von ihren österreichischen Fahrgewohnheiten bremsen lassen. Statt einer Antwort zeigte ihm Angela den Mittelfinger.
Letztlich konnte er sich doch noch durchsetzen, weil sie mitten in den zugewucherten Bergen auf der oberen Halbinsel plötzlich zu weinen anfing. Sie wechselten die Plätze. In der Nähe der italienischen Grenze versuchte sie, ihren hysterischen Ausbruch zu erklären. »Das ist verdammt hart. Jahrelang arbeitet man und passt auf, dass man nur wenigen Leuten vertraut. Nicht vielen, aber doch einigen, damit man überhaupt durchhält. Und wenn man ihnen erst mal vertraut, gibt es kein Zurück mehr. Das geht gar nicht. Wie soll man sonst seine Arbeit machen?«
Charles ließ das ohne Kommentar stehen, fragte sich jedoch, ob das vielleicht auch sein Problem war. Im Grunde hatte sich die Vorstellung, jemand anders zu vertrauen als dem Mann, der ihm telefonisch die Aufträge erteilte, schon längst als völlig unhaltbar erwiesen. Aber vielleicht verkraftete der menschliche Körper ein solches Ausmaß an Misstrauen einfach nicht.
Nachdem sie an der italienischen Grenze ihre Pässe vorgezeigt hatten, zückte er sein Handy und wählte. Er sprach kurz mit Grainger und wiederholte die Informationen, die er bekommen hatte: »Scuola Vecchia di Santa Maria della Misericordia. Dritte Tür.«
»Was war das?«, wollte Angela wissen.
Er tippte eine zweite Nummer ein. Nach mehrmaligem Klingeln meldete sich Bogdan Krizans vorsichtige Stimme: »Da?«
»Laufen Sie runter zum Hafen gegenüber vom Hotel Slovenija. Nummer siebenundvierzig. Unten im Wasser werden Sie einen bosnischen Serben finden, er heißt Dušan Maskovi. Haben Sie mitgeschrieben?«
Krizan schnaufte schwer. »Geht es um Frank?«
Charles unterbrach die Verbindung.

5

Nach dreistündiger Fahrt erreichten sie Venedig und mieteten ein Motoscafo – ein Wassertaxi. Um halb sechs waren sie am Lido-Hafen. Ein mürrischer junger Carabiniere mit einem Flaumschnurrbart lungerte neben dem verlassenen Motorboot herum. Den Venezianern war mitgeteilt worden, dass sie sich auf Besuch einstellen, diesen aber nicht mit einem Begrüßungskomitee empfangen sollten. Er hob das rote Polizeiband für sie, folgte ihnen jedoch nicht an Bord. Alles war da: die Zulassungspapiere aus Dubrovnik, eine schmutzige, mit überzähligen Motorteilen übersäte Kabine und in einer Ecke ein brauner, sonnengetrockneter Blutfleck.
Sie hielten sich nicht lange auf. Das Einzige, was Frank Dawdle in dem Boot hinterlassen hatte, waren seine Fingerabdrücke und die Chronologie eines Mordes. Charles imitierte mit der Hand eine Pistole. »Dort hat er ihn erschossen, dann hat er ihn rausgezerrt.« Er deutete auf eine Stelle am Boden, wo das Öl mit leichten Blutspuren vermischt war. »Vielleicht hat er ihm das Metallrohr noch an Bord umgebunden, vielleicht erst im Wasser. Aber das spielt keine Rolle.«
»Nein.« Angela musterte ihn eindringlich. »Das spielt keine Rolle.«
Sie fanden keine Patronenhülsen. Möglicherweise waren sie in die Bucht von Portorož gefallen, aber es konnte genauso gut sein, dass Frank sie nach der üblichen Vorgehensweise der Company aufgesammelt hatte, obwohl er seine Fingerabdrücke hinterlassen hatte. Panik vielleicht, doch auch das spielte keine Rolle.
Sie dankten dem Carabiniere, der ein »Prego« knurrte, während er auf Angelas Brüste starrte. Am Dock wartete der Motoscafo-Fahrer mit einer nicht angezündeten Zigarette zwischen den Lippen auf sie. Die Sonne hinter ihm stand schon tief. Er teilte ihnen mit, dass die Taxiuhr noch immer lief und bereits 150.000 Lire überschritten hatte. Er wirkte hocherfreut, als sich keiner der beiden Passagiere beschwerte.
Nach einer zwanzigminütigen schaukelnden Fahrt auf dem Canal Grande gelangten sie in den Stadtteil Cannaregio, wo der russische Geschäftsmann Roman Ugrimow gerade seine neue Residenz bezogen hatte. »Der hat überall seine Finger drin«, erklärte Angela. »Russische Energieunternehmen, österreichische Erschließungsfirmen, sogar eine südafrikanische Goldmine.«
Er blinzelte in den heißen Fahrtwind eines vorbeirauschenden Vaporettos voller Touristen. »Vor zwei Jahren ist er nach Wien gezogen, oder?«
»Damals haben wir unsere Ermittlungen begonnen. Viel Dreck, aber nichts, was kleben bleibt.«
»Seine Sicherheitsvorkehrungen sind wasserdicht?«
»Unglaublich wasserdicht. Frank wollte Beweise für Ugrimows Pädophilie. Er reist mit seiner dreizehnjährigen Nichte. Bloß dass sie keine Nichte ist. Da besteht nicht der geringste Zweifel.«
»Wie hängt ihr ihm was an?«
Angela hielt sich am Rand des schwankenden Boots fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Frank hat eine Quelle aufgetan. Er versteht eben was von seinem Handwerk.«
»Genau das macht mir Sorgen.«
An der Vaporetto-Haltestelle Ca’ d’Oro bezahlte er den Fahrer und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Sie schoben sich durch Horden von Touristen, um in das Gewirr der kleinen rückwärtigen Gässchen zu gelangen. Nach einigem Herumirren fanden sie schließlich den Rio Terrà Barba Fruttariol, einen kleinen, offenen Platz.
Roman Ugrimows Palazzo war ein verfallener, aber stattlicher Eckbau, der sich hoch in die Luft erhob. Er ging auf die Barba Fruttariol, doch die lange, sonnengeschützte Terrasse wand sich nach hinten in eine Seitenstraße. Angela beschirmte die Augen mit der Hand und spähte hinauf. »Beeindruckend.«
»Viele Ex-KGBler wohnen in beeindruckenden Häusern.«
»KGB?« Sie starrte ihn an. »Du weißt also schon über den Typen Bescheid. Woher?«
Charles berührte den Umschlag mit Dexedrin in seiner Tasche, weil er eine Aufmunterung brauchte. »Mir kommt eben einiges zu Ohren.«
»Ach so, alles streng geheim.«
Charles schenkte sich eine Antwort.
»Willst du die Sache übernehmen?«
»Lieber nicht. Ich hab keinen Company-Ausweis bei mir.«
»Immer seltsamer und seltsamer.« Angela drückte auf die Türklingel.
Sie zeigte einem kahlköpfigen, klischeehaften Bodyguard mit Ohrhörer ihren Botschaftsausweis und bat um ein Gespräch mit Roman Ugrimow. Der Riese nuschelte etwas in sein Revers, hörte sich die Antwort an und führte sie dann eine halbdunkle, steile Treppe aus abgenutztem Stein hinauf. Oben sperrte er eine massive Holztür auf.
Ugrimows Einrichtung wirkte, als wäre sie direkt aus Manhattan eingeflogen worden: hochglanzpolierte Parkettböden, moderne Designermöbel, Plasmafernseher und eine zweiteilige Glasschiebetür vor einer langen Terrasse, die eine abendliche Aussicht über die venezianischen Dächer bis zum Canal Grande bot. Sogar Charles musste zugeben, dass das Panorama atemberaubend war.
Ugrimow saß auf einem Stuhl mit gerader Lehne an einem Stahltisch und konzentrierte sich auf ein Notebook. Mit einem gekünstelt überraschten Ausdruck stand er auf und streckte ihnen die Hand entgegen. »Die ersten Besucher in meinem neuen Heim. Willkommen.« Er sprach fließend Englisch.
Er war groß und um die fünfzig, mit welligem grauen Haar und einem freundlichen Lächeln. Trotz schwerlidriger Augen, in denen Charles seine eigene Müdigkeit widergespiegelt fand, strahlte er jugendliche Vitalität aus.
Nach der Vorstellung führte er sie zu den gestylten Sofas. »Also, sagen Sie mir, was ich für meine amerikanischen Freunde tun kann.«
Angela reichte ihm das Foto von Frank Dawdle. Ugrimow setzte sich eine Bifokalbrille von Ralph Lauren auf und hielt das Bild schräg ins dämmerige Abendlicht. »Wer soll das sein?«
»Er arbeitet für die amerikanische Regierung«, antwortete Angela.
»Auch bei der CIA?«
»Wir sind nur Botschaftsangestellte. Er wird seit drei Tagen vermisst.«
»Oh.« Ugrimow gab ihr das Foto zurück. »Da sind Sie bestimmt sehr besorgt.«
»Allerdings. Sind Sie sicher, dass er nicht bei Ihnen war?«
Ugrimow wechselte kurz ins Russische. »Nikolai, hatten wir in den letzten Tagen Besucher?«
Der Bodyguard schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf.
Ugrimow zuckte mit den Achseln. »Leider nein. Vielleicht wollen Sie mir verraten, warum Sie glauben, dass er mich aufgesucht haben könnte. Ich kenne diesen Mann doch gar nicht.«
Charles schaltete sich ein. »Unmittelbar vor seinem Verschwinden hat er Erkundigungen über Sie eingeholt.«
»Ach.« Der Russe hob den Finger. »Wollen Sie damit sagen, dass jemand von der amerikanischen Botschaft in Wien Nachforschungen über mein Leben und meine Arbeit angestellt hat?«
»Alles andere wäre doch eine Beleidigung für Sie«, entgegnete Charles.
Ugrimow grinste. »Na schön. Darf ich Ihnen einen Drink anbieten? Oder trinken Sie nicht während der Arbeit?«
»Nein, nicht während der Arbeit«, erwiderte Angela zu Charles’ Verärgerung und erhob sich. Sie reichte dem Geschäftsmann eine Visitenkarte. »Bitte rufen Sie mich an, falls sich Mr Dawdle mit Ihnen in Verbindung setzt.«
»Das werde ich ganz bestimmt.« Er wandte sich an Charles. »Do swidanja.«
Charles gab den russischen Abschiedsgruß zurück.
Als sie wieder unten auf der dunklen Straße waren und die feuchte, immer noch warme Luft einatmeten, gähnte Angela. »Was war das?«
»Was meinst du?«
»Woher wusste er, dass du Russisch sprichst?«
»Ich sag dir ja, ich brauche dringend einen neuen Namen.« Charles spähte die Straße hinauf. »Die russische Exilgemeinde ist nicht besonders groß.«
»Aber auch nicht besonders klein«, stellte Angela fest. »Wonach schaust du?«
»Dort.« Er nickte in Richtung eines kleinen Schilds an der Ecke, das zu einer Osteria gehörte. »Machen wir doch dort drüben eine Weile Station. Da können wir essen und die Lage peilen.«
»Traust du ihm nicht?«
»Ein Typ wie der – wenn Dawdle bei ihm war, würde der das nie zugeben.«
»Beobachte sein Haus, wenn du willst. Ich brauche meinen Schlaf.«
»Wie wär’s mit einer Pille?«
»Die erste umsonst?« Zwinkernd unterdrückte sie ein weiteres Gähnen. »Ich muss mit Drogentests der Botschaft rechnen.«
»Dann lass mir wenigstens eine Zigarette da.«
»Seit wann rauchst du?«
»Ich bin mitten im Aufhören.«
Sie schüttelte eine heraus. »Sind es die Drogen, die das mit dir machen? Oder die Arbeit?«
»Was machen?«
»Vielleicht sind es ja die vielen Namen.« Sie gab ihm die Zigarette. »Du bist so kalt geworden. Als Milo warst du ganz anders.«
Er blinzelte angestrengt, doch ihm fiel keine passende Erwiderung ein.

6

Den ersten Teil seiner Nachtwache verbrachte er in der kleinen Osteria. Ohne die Barba Fruttariol aus den Augen zu lassen, aß er Cicchetti – Meeresfrüchte und gegrilltes Gemüse in kleinen Portionen – und spülte das Ganze mit einem köstlichen Chianti hinunter. Der Barkeeper plauderte mit ihm, aber Charles wollte lieber seine Ruhe, und als der Mann George Michael als den »wohl größten Sänger der Welt« pries, machte er sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen oder zuzustimmen. Er schaltete auf Durchzug, und das Geschwafel des Kerls wurde zu dumpfem Hintergrundrauschen.
Jemand hatte die Herald Tribune des heutigen Tages liegenlassen, und eine Zeit lang sann er über die Meldungen nach, vor allem über eine Aussage des US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld: »Nach einigen Schätzungen lassen sich 2,3 Billionen Dollar unserer Ausgaben nicht zurückverfolgen« – rund ein Viertel des Pentagon-Budgets. Ohne Rücksicht auf seine Parteizugehörigkeit bezeichnete ein gewisser Senator Nathan Irwin aus Minnesota diesen Umstand als »verdammte Schande«. Doch nicht einmal das konnte ihn bei der Stange halten.
Ausnahmsweise dachte er nicht über Selbstmord nach, sondern über die »große Stimme«, von der ihm seine Mutter immer erzählt hatte, wenn sie ihn in North Carolina besuchte, wo er als Kind in den siebziger Jahren gelebt hatte. »Schau dir die Leute an. Alle lassen sich von kleinen Stimmen leiten: Fernsehen, Politiker, Priester, Geld. Das sind die kleinen Stimmen, die die große Stimme in uns allen übertönen. Aber hör auf mich, die kleinen Stimmen haben überhaupt nichts zu sagen. Sie täuschen uns nur, verstehst du?«
Er war zu jung, um ihre Worte zu begreifen, und zu alt, um sich das einzugestehen. Ihre Besuche dauerten nie lange genug, um es richtig zu erklären. Außerdem war er immer müde, wenn sie mitten in der Nacht ankam und an sein Fenster klopfte, um ihn hinaus in den nahe gelegenen Park zu tragen.
»Ich bin deine Mom, aber du darfst mich nicht Mom nennen. Ich lasse nicht zu, dass sie dich bedrängen, und ich lasse nicht zu, dass du mich mit diesem Wort bedrängst. Nicht einmal Ellen darfst du mich nennen – das ist mein Sklavenname. Mein befreiter Name ist Elsa. Kannst du das sagen?«
»Elsa.«
»Ausgezeichnet.«
Seine frühe Kindheit wurde immer wieder von diesen Träumen unterbrochen, denn so fühlte es sich für ihn an: Träume vom Besuch einer Geistermutter mit einem komprimierten Unterrichtspensum. In einem Jahr schaute sie vielleicht drei- oder viermal vorbei. Als er acht war, erschien sie eine Woche lang jede Nacht und konzentrierte sich in ihren Lektionen auf seine Befreiung. Wenn er ein wenig älter war – zwölf oder dreizehn, erklärte sie -, wollte sie ihn mitnehmen, denn dann würde er die Doktrin vom totalen Krieg verstehen. Gegen wen? Gegen die kleinen Stimmen. Obwohl er so wenig begriff, fand er die Vorstellung aufregend, mit ihr hinaus in die Nacht zu verschwinden. Aber dazu kam es nicht. Nach dieser intensiven Woche kehrten die Träume nie wieder, und erst viel später erfuhr er, dass sie gestorben war, bevor sie ihn abholen konnte. In einem deutschen Gefängnis. Durch Selbstmord.
War das die große Stimme? Eine Stimme, die aus den steinernen Mauern des Hochsicherheitstrakts von Stuttgart-Stammheim sprach und sie dazu bewegte, ihre Gefängnishose auszuziehen, ein Bein an die Gitterstäbe der Tür und das andere um ihren Hals zu binden und sich dann mit der Begeisterung eines religiösen Eiferers im Sitzen zu erhängen?
Wäre sie dazu in der Lage gewesen, wenn sie ihren richtigen Namen behalten hätte? Hätte sie es tun können, wenn sie sich noch als Mutter bezeichnet hätte? Er fragte sich, ob er selbst die letzten Jahre überleben und sich dann so beiläufig für Selbstmord hätte entscheiden können, wenn er seinen eigenen Namen nicht abgelegt hätte.
Womit er wieder beim Thema angelangt war.
Als das Restaurant um zehn schloss, warf er noch einen letzten Blick auf Ugrimows Eingangstür. Dann trabte er, manchmal behindert durch Sackgassen, in westliche Richtung, bis er den am Wasser gelegenen Säulengang der Scuola Vecchia di Santa Maria della Misericordia erreichte. Die dritte Tür, hatte ihm Grainger eingeschärft. Also zählte er bis drei und legte sich, obwohl sich sein Magen wieder meldete, flach auf die Pflastersteine, um über den Rand des Fußgängerwegs hinunter in den übelriechenden Kanal zu greifen.
Da er nichts sehen konnte, musste er tasten. Er berührte Steine, bis er auf den einen stieß, der sich von den anderen unterschied. Inzwischen waren diese Verstecke, die der CIA-Vorläufer Pond im Nachkriegseuropa angelegt hatte, schon über fünfzig Jahre alt. Viele waren entdeckt worden, andere waren schlecht ausgeführt und daher von selbst aufgebrochen, doch die verbliebenen leisteten immer noch wertvolle Dienste. Er schloss die Augen, um sich auf seinen Tastsinn zu konzentrieren. Am unteren Ende des Steins befand sich ein Riegel. Er zog daran, und der obere Teil löste sich ab. Nachdem er den Deckel beiseitegelegt hatte, griff er in das offene Loch und entdeckte darin einen schweren Gegenstand in einer luftdichten Verpackung. Im Mondschein riss er die Plastikhülle auf. Sie enthielt eine Walther P99 und zwei Magazine, alles wie neu.
Er setzte den Deckel zurück auf den Stein und machte sich auf den Weg zur Barba Fruttariol. Durch dunkle Straßen wandernd, umschlich er den Palazzo und näherte sich immer wieder aus einer anderen Richtung, um die Haustür zu überprüfen oder zu den Lichtern auf Roman Ugrimows Terrasse hinaufzuspähen. Manchmal erkannte er dort oben Gestalten – Ugrimow, seine Bodyguards und ein junges Mädchen mit langem, glattem braunem Haar. Die »Nichte«. Doch nur die Leibwächter passierten die Tür und kamen mit Lebensmitteln, Wein, Schnaps und einmal sogar mit einem Zigarrenbefeuchter aus Holz zurück. Nach Mitternacht vernahm er einigermaßen erstaunt Opernklänge, die von der Terrasse herabwehten.
Während ihn die miauenden Katzen ignorierten, versuchten insgesamt drei Besoffene, in dieser Nacht Freundschaft mit ihm zu schließen. Die ersten zwei ließen sich durch sein Schweigen abschrecken, doch der dritte legte Charles den Arm um die Schulter und redete ihn in vier Sprachen an, um ihn zu einer Antwort zu bewegen. In einer plötzlichen Aufwallung stieß er dem Mann den Ellbogen in die Rippen, legte ihm die Hand vor den Mund und hämmerte ihm die Faust zweimal hart an den Hinterkopf. Beim ersten Hieb gab der Mann ein Gurgeln von sich, beim zweiten sackte er zusammen. Wütend auf sich selbst, hielt er den Bewusstlosen ein paar Sekunden fest, dann schleifte er ihn auf einer Bogenbrücke über den Rio dei Santi Apostoli und versteckte ihn in einer Seitengasse.
Gleichgewicht – das Wort fiel ihm wieder ein, als er zitternd über die Brücke zurückkehrte. Ohne Gleichgewicht wird das Leben sinnlos, die Mühe lohnt sich nicht mehr.
Diese Arbeit machte er jetzt seit sechs, nein, seit sieben Jahren. Ohne feste Basis schwebte er von Stadt zu Stadt, angetrieben von transatlantischen Telefonanrufen eines Mannes, den er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das Telefon war sein Herr und Meister. Manchmal verstrichen Wochen ohne Arbeit, und in diesen Phasen schlief und trank er viel, doch wenn er einen Auftrag erledigte, entwickelten die Ereignisse eine brutale, unabwendbare Eigendynamik. Dann musste er alles an Aufputschmitteln schlucken, was ihm unter die Finger kam, um weiterzufunktionieren. Rücksichtnahme auf Charles Alexanders Gesundheit gehörte nicht zu seiner Jobbeschreibung. Das Einzige, worum es bei seiner Arbeit ging, war die stillschweigende, anonyme Aufrechterhaltung einer staatlichen »Interessensphäre«, die sich um Charles Alexander und seinesgleichen einen Dreck scherte.
»Es gibt keine andere Seite mehr«, hatte Angela gesagt, doch das stimmte nicht. Die andere Seite hatte viele Facetten: die Russenmafia, die chinesische Industrialisierung, herrenlose Atombomben und selbst die lautstarken Muslime in Afghanistan, die den Klammergriff Washingtons um den ölreichen Mittleren Osten lockern wollten. Nach Graingers Auffassung war jeder, der sich nicht in das Imperium eingemeinden ließ, ein Feind, den man unschädlich machen musste wie die Barbaren vor den Toren Roms. Und jedes Mal wenn so ein Feind auf der Bildfläche erschien, läutete Charles Alexanders Telefon.
Er fragte sich, wie viele Leichen wohl den schlammigen Boden dieser Kanäle auskleideten, und der Gedanke, sich zu ihnen zu gesellen, war immerhin ein leiser Trost. Der Tod ist der Grund, warum der Tod sinnlos ist; der Tod ist der Grund, warum das Leben sinnlos ist.
Bring es zu Ende. Sei wenigstens einmal kein Versager. Und dann …
Nie mehr Flugzeuge, Grenzposten, Zollbeamten; kein gehetzter Blick über die Schulter mehr.
Um fünf war es beschlossene Sache. Am Himmel erschien der ahnungsvolle Lichtschimmer vor der Dämmerung, und er schluckte zwei weitere Dexedrin trocken hinunter. Das Zittern kehrte zurück. Er erinnerte sich an seine Mutter und ihre utopischen Träume von einem Leben, in dem es nur noch große Stimmen gab. Was würde sie von ihm denken? Er wusste es: Sie würde ihn bewusstlos schlagen wollen. In seinem ganzen Erwachsenenleben hatte er nichts anderes getan, als für die Zuhälter und Produzenten dieser tückischen kleinen Stimmen die Drecksarbeit zu erledigen.
Als um halb zehn der George-Michael-Fan die Osteria wieder aufsperrte, stellte Charles überrascht fest, dass er noch atmete. Er orderte zwei Espresso und wartete geduldig am Fenster, während der Mann für seinen mürrischen, kränklich aussehenden Gast Pancetta mit Ei, Knoblauch, Öl und Linguine zubereitete. Das Gericht war köstlich, doch als er den Teller noch kaum halb leergegessen hatte, hielt er inne und spähte angestrengt zum Fenster hinaus.
Drei Leute näherten sich dem Palazzo. Der Bodyguard Nikolai, den er von gestern kannte, und dicht dahinter eine hochschwangere Frau mit einem älteren Mann. Der ältere Mann war Frank Dawdle.
Hastig zerrte er sein Handy heraus.
Angela meldete sich. »Ja?«
»Er ist hier.«
Charles schob das Telefon in die Tasche und legte Geld auf den Tisch. Der Barkeeper, der gerade ein altes Paar bediente, wirkte ungehalten. »Schmeckt Ihnen das Frühstück nicht?«
»Lassen Sie es stehen«, antwortete Charles. »Bin gleich wieder da.«
Als Angela eintraf, das Haar noch feucht von einer unterbrochenen Dusche, waren die Besucher seit zwölf Minuten im Palazzo. Entlang der Straße waren vier Touristen zu sehen, und er hoffte, dass sie bald abschwirrten. »Hast du eine Waffe?« Charles zog seine Walther heraus.
Angela schlug ihre Jacke zurück, um ihm eine SIG Sauer im Schulterhalfter zu zeigen.
»Lass sie stecken. Wenn geschossen werden muss, dann mach das lieber ich. Ich kann abhauen, du nicht.«
»Sieh an, du passt also auf mich auf.«
»Ja, Angela, ich pass auf dich auf.«
Sie schob die Unterlippe vor. »Außerdem hast du Angst, dass ich es nicht über mich bringe, auf ihn zu schießen.« Ihr Blick fiel auf seine zitternde Hand. »Ich bin mir umgekehrt nicht sicher, ob du überhaupt richtig zielen kannst.«
Er umklammerte die Walther, bis das Beben aufhörte. »Ich komm schon klar. Geh da rüber.« Er deutete auf eine Tür an der dem Palazzo gegenüberliegenden Seite des Platzes. »Dann ist er eingeklemmt. Wenn er rauskommt, verhaften wir ihn. Ganz einfach.«
»Ganz einfach.« Sie überquerte die Straße und nahm ihren Platz in der Tür ein. Zum Glück waren inzwischen auch die Touristen verschwunden.
Als sie außer Sicht war, konzentrierte er sich wieder auf seine Hand. Sie hatte natürlich Recht. Angela Yates hatte fast immer Recht. So konnte er nicht weitermachen, auf keinen Fall. Es war ein elender Job; ein elendes Leben. Damit musste endlich Schluss sein.
Der Eingang zum Palazzo öffnete sich.