Der Anruf - Olen Steinhauer - E-Book

Der Anruf E-Book

Olen Steinhauer

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Beschreibung

Der New-York-Times-Bestseller: Verrat verjährt nicht!

Flughafen Wien, 2006: Auf dem Rollfeld steht ein Airbus mit einhundertzwanzig Passagieren an Bord, den Terroristen in ihre Gewalt gebracht haben. Die CIA vor Ort hat die Chance, die Geiselnahme zu beenden und Blutvergießen zu verhindern. Doch ihr Plan wird verraten – alle Passagiere kommen ums Leben. Der entscheidende Anruf kam aus dem Quartier der CIA.

Kalifornien, 2012: CIA-Agent Henry Pelham ist nervös. Nach Jahren wird er seine Kollegin Celia Favreau wiedersehen, mit der er in Wien eine kurze Beziehung hatte. Zusammen versuchten sie in jener Nacht fieberhaft, das Leben der Passagiere zu retten. Nun hat die interne Ermittlung der CIA den Fall neu aufgerollt. In einem Restaurant treffen sich Henry und Celia. Was als Gespräch unter ehemals Vertrauten beginnt, entwickelt sich zu einem packenden wechselseitigen Verhör, das schließlich die Wahrheit über den Verrat von Wien ans Licht bringt.

Ein genial spannend erzählter Politthriller über eine Welt, in der Loyalität nicht mehr belohnt wird.

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Seitenzahl: 263

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Zum Buch

Flughafen Wien, 2006: Auf dem Rollfeld steht ein Airbus mit einhundertzwanzig Passagieren an Bord, den Terroristen in ihre Gewalt gebracht haben. Die CIA vor Ort hat die Chance, die Geiselnahme zu beenden und Blutvergießen zu verhindern. Doch ihr Plan wird verraten – alle Passagiere kommen ums Leben. Der entscheidende Anruf kam aus dem Quartier der CIA.

Kalifornien, 2012: CIA-Agent Henry Pelham ist nervös. Nach Jahren wird er seine Kollegin Celia Favreau wiedersehen, mit der er in Wien eine kurze Beziehung hatte. Zusammen versuchten sie in jener Nacht fieberhaft, das Leben der Passagiere zu retten. Nun hat die interne Ermittlung der CIA den Fall neu aufgerollt. In einem Restaurant treffen sich Henry und Celia zu einem Abendessen. Was als Gespräch unter ehemals Vertrauten beginnt, entwickelt sich zu einem packenden wechselseitigen Verhör, das schließlich die Wahrheit über den Verrat von Wien ans Licht bringt.

Zum Autor

Olen Steinhauer ist in Virginia aufgewachsen, hat mehrere Jahre in Kroatien, Tschechien, Italien und Ungarn verbracht und lebt zurzeit mit seiner Familie in New York und Budapest. Für seine Bücher wurde er für den Edgar Award nominiert und mit dem Dashiell Hammett Award ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien von Steinhauer bereits die Milo-Weaver-Trilogie Der Tourist, Last Exit und Die Spinne. Die Kairo-Affäre, sein zuletzt bei Blessing erschienenes Buch, stand monatelang auf der KrimiZEIT-Bestenliste.

Lieferbare Titel

Die Kairo-Affäre

DER ANRUF

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Friedrich Mader

Blessing

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel All the Old Knives

bei Minotaur Books, New York.

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Copyright © 2015 der Originalausgabe by Third State, Inc.

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich,

Stephanie Hirt, unter Verwendung eines Fotos

von © Mark Owen/Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16386-0V001

www.blessing-verlag.de

Für Slavica

HENRY

1

Der Start in San Francisco verzögert sich, wahrscheinlich weil der Airport überlastet ist, so vermute ich, auch wenn wir keine genaue Auskunft bekommen. Bei solchen Gelegenheiten, wenn man auf der Rollbahn festsitzt, verfällt man leicht in apokalyptische Assoziationen: aus allen Nähten platzende Flughäfen, endlose SUV-Staus auf Autobahnen und ausrastende Fahrer, Smogalarm und heillos überfüllte Notaufnahmen mit Warteschlangen blutender Menschen in den Gängen. In Kalifornien schwillt diese Vision ins Erhabene, und man stellt sich vor, wie die Erde aufreißt und dieser maßlose Konsum samt allen Smartphones, Strandvillen und hoffnungsvollen jungen Starlets mit lautem Getöse hinaus ins Meer gespült wird. Es fühlt sich beinahe an wie eine Wohltat.

Vielleicht liegt es auch bloß an mir. Gut möglich, dass die Verzögerung auf ein technisches Problem zurückzuführen ist. Über die Lautsprecher hören wir bedauernde Durchsagen: »Vielen Dank für Ihre Geduld.« Bereits abgehetzte Flugbegleiter von SkyWest schenken uns hin und wieder ihre Aufmerksamkeit und werfen mit Entschuldigungen um sich, als wäre es die leichteste Übung der Welt. Die Frau neben mir fächelt sich mit einem Prospekt für den Presidio Park Luft zu. Bilder von Redwood-Bäumen und dichtem Laub blitzen auf und schieben ein wenig abgestandene Luft in meine Richtung. »Kein Tag ohne Verspätung«, ächzt sie.

»Was Sie nicht sagen.«

»Irgendjemand hier hat ein schlechtes Karma.«

Ich schenke ihr ein Lächeln, weil mir keine passende Erwiderung einfällt.

Es ist eine kleine Maschine, eine Embraer Turboprop mit dreißig Plätzen, von denen allerdings nur zwanzig besetzt sind. Alle sind dabei, SMS an die Leute zu schreiben, die sie in Monterey erwarten. Auch meine Nachbarin zückt ihr Handy und tippt mit den Daumen eine Nachricht ein, die mit »Fass es nicht …« anfängt.

Ich lasse mein Telefon in der Tasche. Nachdem ich in fünfzehn Stunden fast zehntausend Kilometer in der Luft zurückgelegt habe und anschließend der Massenpsychose der amerikanischen Passkontrolle ausgesetzt war, ist mir die genaue Ankunftszeit nicht mehr besonders wichtig.

In jüngeren Jahren hätte ich das vielleicht anders gesehen. Früher boten Langstreckenflüge eine Gelegenheit zum Ausruhen für die kommenden Abenteuer, doch irgendwann ist mit die Fähigkeit zum Dösen in der Luft abhandengekommen – 2006, glaube ich, nach meinem neununddreißigsten Geburtstag. Nach … nun, nach dem Flughafen. Wenn man einmal hochauflösende Filmaufnahmen von einhundertzwanzig Leichen in einem Flugzeug gesehen hat, weiß man, dass man sich in der Touristenklasse nie wieder entspannen wird. Deswegen bin ich ausgetrocknet vor Müdigkeit, als wir nach Kalifornien kommen. Meine Finger fühlen sich kürzer und dicker an, und meine Wangen sind abwechselnd warm und kalt. Immer wieder bricht mir eisiger Schweiß aus und durchtränkt mein Unterhemd.

Ich versuche, nicht zu viel an Flugzeuge zu denken, und beschäftige mich lieber mit meiner Verabredung. Celia Favreau, geborene Harrison. Entweder sie wartet, oder sie wartet nicht. Ein paar Minuten lang gebe ich mich der Illusion hin, dass mir das egal ist. Es wird mir nicht das Herz brechen, weil ich gar kein Herz mehr habe, das brechen könnte. Wenn sie nicht im Restaurant ist, werde ich mir einfach einen trockenen Martini und ein Gericht mit gebackenen Meeresfrüchten bestellen, über den bevorstehenden Untergang der Zivilisation nachgrübeln und anschließend wieder zum Flughafen fahren, um noch am Abend nach San Francisco zu fliegen. Zur Absicherung ein letzter Telefonanruf, dann zurück nach Wien, wo ich endlich zusammenbrechen kann. Ich bin viele Jahre lang unter weit schlechteren Bedingungen gereist, da bringen mich kleine Unannehmlichkeiten wie diese nicht mehr aus der Ruhe. Außerdem würde es mir die Arbeit – und das Leben – bestimmt leichter machen, wenn ich ihr nicht in die Augen schauen muss.

Um halb fünf heben wir mit einer Verspätung von dreißig Minuten ab. Vor dem Fenster jaulen die Propeller, als meine Nachbarin einen Kindle herauskramt. Ich erkundige mich, was sie liest, und das führt zu einer Unterhaltung über die Stärken und Schwächen des zeitgenössischen Agentenromans. Sie steckt gerade mitten in einem alten Len Deighton, in dem die Jagd nach einem Maulwurf den Erzähler zu seiner eigenen Frau führt. »So was wird einfach nicht mehr geschrieben«, bemerkt sie wehmütig. »Damals wusste man wenigstens noch, wer die Schurken sind. Heutzutage …«

Ich mache einen Vorschlag: »Der radikale Islam?«

»Na ja. Was soll denn das für ein Feind sein?«

Ein schwer greifbarer, möchte ich antworten, behalte es aber wieder für mich.

Als wir eine Stunde später landen, habe ich viel über diese Frau erfahren. Sie heißt Barbara Jakes und ist in Seattle aufgewachsen. Mit ihrem ersten Mann zog sie nach Monterey, und dieser brannte schließlich mit einer Kellnerin aus Salinas nach L. A. durch. Nach einigen Monaten verließ ihn die Kellnerin wegen eines Filmproduzenten. Er ruft noch immer an und bittet um Versöhnung, obwohl sie wieder geheiratet hat und Mutter von zwei Söhnen ist – richtige kleine Racker, wie sie erzählt. Sie arbeitet im Gesundheitssektor. In ihrer freien Zeit liest sie alte Thriller und schaut mit ihren Jungs NFL-Football. Inzwischen hat sie den Verdacht, dass auch ihr neuer Mann sie betrügt. »Da fragst du dich natürlich«, erklärt sie, »ob es vielleicht an dir liegt, dass sie fremdgehen.«

Mit Bestimmtheit schüttle ich den Kopf. »Dem Opfer die Schuld geben. Tappen Sie bloß nicht in diese Falle.«

Zwei Jahre war ich nicht mehr in den Staaten, und ich habe ganz vergessen, wie bereitwillig sich Amerikaner öffnen. Nach einer Stunde Bekanntschaft akzeptiert sie bereits meine Ratschläge zu ihrer emotionalen Gesundheit. Im Grunde absurd, andererseits auch wieder nicht. Vielleicht sehen uns die, die uns nicht kennen, am klarsten. Vielleicht sind Fremde unsere besten Freunde.

In Monterey erhasche ich einen Blick auf ihren Gatten – einen Mann, dessen Körper von weichen Bürostühlen geformt wurde und dessen Freizeitkleidung durch die abgetragene Bauchtasche noch lächerlicher erscheint – und versuche einzuschätzen, ob er Barbara betrügt. Aufmerksam beobachte ich, wie er ihr Gepäck aufsammelt und sie flüchtig auf die Lippen küsst, ehe er vor ihr hinaus zum Parkplatz strebt. Mir fällt nichts auf. Sieht Barbara bloß Gespenster? Ich frage mich, ob sie nach den Erfahrungen mit ihrem ersten Mann paranoid geworden ist. Und obwohl das natürlich eine starke Projektion ist, spekuliere ich, ob vielleicht die Narben ihres Lebens zu schwären beginnen und sich schon bald negativ auf ihre Liebsten auswirken werden.

Am Hertz-Schalter ist nur ein Mensch vor mir, ein übergewichtiger Geschäftsmann mit Sandpapierskalp Anfang sechzig. Ich kann mich nicht erinnern, dass er in der Maschine gesessen hat, weil ich zu abgelenkt war von Barbaras Problemen und dem Bemühen, nicht zu viel über Flugreisen nachzudenken. Jetzt streitet er um die versteckten Kosten für einen Kombi – Versicherung, Steuern, Gebühren –, und der Angestellte, ein fröhliches Beispiel kalifornischer Gastfreundschaft, erklärt ihm alles haarklein wie einem Kind. Endlich stapft er mit einem neuen Satz Schlüssel und seiner kleinen Schultertasche davon. Der Angestellte zeigt mir ein undurchsichtiges Lächeln. »Sir?«

Ich werfe einen Blick auf die verfügbaren Autos und verlange einen Chevy Impala, doch dann erkundige ich mich, wie viel das beste Cabrio auf der Liste kostet, ein Volvo C70. Das Doppelte. Mit zenartiger Gelassenheit wartet der Angestellte, während ich überlege. Schließlich zucke ich die Achseln. »Das Cabrio.«

»Gern, Sir.«

Ich unterschreibe ein paar Papiere, weise mich mit einem alten Führerschein aus Texas aus und setze alles auf meine Company-Karte. Bald schlendere ich hinaus unter den bewölkten Oktoberhimmel. Trotzdem ist es so warm, dass ich das Jackett ausziehe. Mit der Fernbedienung entriegele ich den Wagen. Einige Stoßstangen weiter diskutiert der übergewichtige Geschäftsreisende lautstark mit jemandem am Telefon. Er sitzt bei geschlossenen Fenstern in seinem im Leerlauf tuckernden Kombi, sodass ich seine Worte nicht verstehen kann.

Auch ich nehme mein Handy heraus und schalte es ein. Nach einer Weile steht die Verbindung zu AT&T, und eine Nachricht piept. Trotz der fünf Jahre, die vergangen sind, und meines Vorhabens setzt mein Herz einen Schlag aus, als ich auf dem Display ihren Namen lese. Anscheinend habe ich doch noch ein Herz.

Du kommst, oder? Schreib mir so oder so.

Als Antwort schicke ich Celia nur den Buchstaben J, dann steige ich ins Auto. Der Motor springt an wie ein Traum.

2

Von: Henry Pelham <[email protected]>

Datum: 28. September 2012

An: Celia Favreau <[email protected]>

Betreff: Hi

C,

ich höre von Sarah, dass du an der Westküste alle Hände voll damit zu tun hast, Wunderkinder in die Welt zu setzen und eine ansonsten friedliche Enklave aufzumischen. Wien ist wie immer – du verpasst nicht viel. Jake lässt dich grüßen. Ich habe ihm gesagt, dass du dich bestimmt nicht an ihn erinnerst, du musst dich also erst gar nicht verstellen. Klaus Heller meint, dass er dir noch eine Kaution schuldet. Österreicher sind eben durch und durch ehrlich. Einfach bewundernswert.

Wie geht’s Drew? Es wird von einer Herzoperation getuschelt, hoffentlich zu Unrecht. Hanna hat mir Bilder von Evan und Ginny gezeigt, und ich bin richtig erschrocken. Wie macht eine Frau derart reizende Kinder … mit Drew?? Ginny erinnert mich an dich.

Übrigens bin ich in ein paar Wochen in deiner Gegend. Eine Company-Konferenz in Santa Cruz. Am 16. Oktober, einem Dienstag, habe ich einen freien Tag und würde dich gern zum Abendessen einladen. Nenn den Ort, und die Rechnung kriegt der Staat. Wenn du magst, kann ich dir einen Scheck von Klaus mitbringen. Anscheinend stehen die finanziellen Sterne zurzeit gar nicht schlecht für dich.

Liebe Grüße

H

3

Ich bin allein. Die Wahrheit dieses Satzes spüre ich, als ich mit schnittig hochgeklapptem Verdeck auf den Highway 1 gleite, wo über den Standstreifen Bäume blühen und vorne sich die Berge der mittleren Küste Kaliforniens erheben. In traumhaften Landschaften wird die Einsamkeit intensiver, das ist mir schon öfter aufgefallen. Vielleicht liegt es nur daran, dass kein anderer die Aussicht mit einem genießt. Keine Ahnung.

Ich schalte das Radio ein. Robert Plant jammert vom Land aus Eis und Schnee.

Obwohl mein Mietwagen locker auf der Überholspur Kilometer fressen könnte, lenke ich ihn nach rechts und lasse es, auf allen Seiten vom Wind umspült, ruhig angehen. Eine bequeme Art zu reisen, viel angenehmer als das, was ich im letzten Jahrzehnt in Europa auf diesen zugigen, überfüllten Straßen erlebt habe, wo die Leute ihre Autos schräg über dem Gehsteig und der Fahrbahn abstellen und nur ein Profi ohne Blechschaden vorbeikommt. Außerdem sind auf dieser Strecke kalifornische Fahrer unterwegs – locker, ohne Eile, ganz anders als die Europäer, die einem mit lächerlichem Machogehabe in ihren winzigen Autos auf die Pelle rücken. Ein entspanntes Fahren, das auf ein entspanntes Leben schließen lässt. Allmählich verstehe ich, warum Celia sich hierher zurückgezogen hat.

So ähnlich hat es auch Vick formuliert in seinem Büro im vierten Stock der Botschaft hoch über der Boltzmanngasse. »Sie ist weg. Und sie ist glücklich. Du verschwendest deine Zeit.«

Was sollte ich darauf antworten? »Ich weiß, Vick. Immerhin hat sie zwei Kinder.«

»Nichts weißt du. Ich glaube, du stehst immer noch auf diese Frau.« Vick hat Celia nie so richtig verziehen, dass sie die Station so schnell verlassen hat, und aus diesem Grund spricht er ihren Namen ungern aus.

»Wir sind immer noch Freunde«, sagte ich.

Vick lachte. Hinter ihm füllte der strahlende österreichische Himmel das Fenster. Ein tief fliegendes Flugzeug strebte zum Flughafen Wien-Schwechat, durch dessen Korridore ich am nächsten Morgen mit meiner Umhängetasche schlendern sollte, um wieder einmal festzustellen, mit welcher Gründlichkeit die Österreicher jede Spur des Traumas von 2006 beseitigt hatten. »Nein.« Vick schüttelte den Kopf. »Ihr seid keine Freunde. So funktionieren Trennungen nicht. Und sie wird genauso leicht wie ich erkennen, dass du immer noch total in sie verknallt bist. Nach fünf Jahren Ehe mit Kindern bist du sicher der letzte Mensch, den sie sehen möchte.«

»Bei deinen romantischen Beziehungen ist wohl so einiges schiefgelaufen, Vick.«

Das brachte ihn wenigstens zum Lächeln. »Schicken wir doch einfach Mack. Du gibst ihm die Fragen, und er bringt dir die Antworten auf dem Servierteller. Du musst das nicht machen.«

»Mack erkennt nicht, wenn sie lügt.«

»Er versteht was von seiner Arbeit.«

»Aber er kennt sie nicht.«

»Du auch nicht. Nicht mehr.«

Darauf fiel mir keine Entgegnung ein. Ich konnte ihm nicht verraten, warum ich selber fliegen musste, aber ich hätte wenigstens einen passenden Spruch parat haben müssen, ein vernünftiges, unwiderlegbares Argument. Dass ich mir nichts überlegt hatte, beweist, wie sehr meine Fähigkeiten nachgelassen haben.

»Sie wird sich mit einem Kontaktverbot vor dir schützen.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Ich an ihrer Stelle würde es so machen.«

Wir schwiegen eine Weile. Das Flugzeug war verschwunden. Dann sprach ich weiter. »Hör zu, eigentlich ist es bloß ein Vorwand, um ein paar Tage aus dem Keller rauszukommen. Ein Besuch bei einer alten Freundin. Ich stelle ihr ein paar Fragen nach Frankler, und Uncle Sam zahlt das Abendessen.«

»Und dann schließt du das Ganze ab? Frankler, meine ich.« Das war der Name der Untersuchung, die mich seit fast zwei Monaten unten im Keller festhielt.

Wie so oft in unseren gemeinsamen Jahren log ich Vick an. »Die Sache ist heikel. Es geht darum, dass wir uns absichern. Und da dürfen keine Lücken bleiben.«

»Aber du hast keinen Verdächtigen? Keine stichhaltigen Beweise für ein Fehlverhalten?«

»Nur das Wort eines Mannes.«

»Das Wort eines Terroristen.«

Ich zuckte die Achseln.

»Und bald danach ist er in einem Eimer Wasser ertrunken«, sagte Vick. »Mit einem Zeugenauftritt von ihm ist also wohl kaum zu rechnen.«

»Stimmt.«

»Dann zieh einen Schlussstrich. Damit wir 2006 als Pech abhaken können.« Er war noch mehr als ich darauf aus, die Sache zu beenden.

»Ich finde raus, ob Celia noch was hinzuzufügen hat, und wenn ich zurückkomme, grabe ich noch eine Woche weiter, okay? Dann ist Schluss.«

»Du frisst unser Budget auf.«

»Wirklich, Vick? Ich laufe den ganzen Tag bloß im Keller rum und ziehe alte Akten raus.«

»Du fliegst auch.«

»Zweimal. In acht Wochen habe ich zwei Reisen gemacht, um mit alten Hasen zu reden. Bill Compton und Gene Wilcox. Das ist wohl kaum übertrieben.«

Zögernd schaute er mich mit seinen trägen Augen an. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, was du tun würdest, wenn du wirklich jemanden überführen könntest?«

Ich hatte kaum über etwas anderes nachgedacht. Doch das band ich ihm nicht auf die Nase. »Warum erklärst du es mir nicht?«

Vick seufzte. Seit Beginn meines österreichischen Jahrzehnts habe ich die Erfahrung gemacht, dass er seufzt, so wie andere mit den Fingern knacken oder Kette rauchen. »Du weißt, wie so was läuft, Henry. Eine peinliche Anklageerhebung können wir uns nicht leisten, und auf einen Gefangenenaustausch mit den Dschihadisten werden wir uns sicher auch nicht einlassen. Im Idealfall hätte ich es gern so, dass nicht einmal Langley davon erfährt.«

»Du möchtest also, dass ich den Verräter liquidiere.«

Er legte die Stirn in Falten. »Ich glaube nicht, dass ich etwas Derartiges geäußert habe.«

Einen Moment lang starrten wir uns an. Schließlich sagte ich: »Dann hoffen wir mal, dass ich niemanden zur Verantwortung ziehen muss.«

Erneut seufzte er und schaute auf meine Hände. Ich verstaute sie hastig in den Taschen. »Was meint Daniels?«, fragte er.

Larry Daniels war derjenige, der die Theorie aufgebracht hatte. Vor zwei Monaten war er von Langley hergeflogen, um sich mit Vick über neue Informationen zu unterhalten. Diese stammten von einem Gefangenen in Guantánamo, einem gewissen Ilyas Shishani, der bei einem Kommandounternehmen in Afghanistan aufgegriffen worden war. Neben vielen anderen Details verriet er den Vernehmern auch, dass der Anschlag am Wiener Flughafen von einem Informanten in der US-Botschaft unterstützt worden war. Wir waren damals alle vor Ort: Vick, ich, Celia, Gene und Celias Chef Bill. Nachdem er Larrys Bericht gehört hatte, bat mich Vick, die Leitung der Untersuchung mit dem Decknamen Frankler zu übernehmen.

»Larry ist achtundzwanzig.« Es war nicht das erste Mal, dass ich Vick an diesen Umstand erinnerte. »Er bauscht die Desinformation eines Terroristen zu einem Spionagefall auf. Außerdem macht sich so was auch nicht schlecht im Lebenslauf.«

»Warum begraben wir die Sache dann nicht gleich? Sicher, Daniels wäre stocksauer, aber seine Vorgesetzten hätten bestimmt nichts dagegen, ihm einen kleinen Dämpfer zu verpassen, wenn sie dadurch einen Skandal vermeiden können.«

Mit diesem Gedanken spielte ich schon seit zwei Monaten. Ich mochte Larry Daniels nicht, und den meisten, die ihm bei einem seiner gelegentlichen Auftritte in Wien begegneten, ging es genauso. Mit seinem öligen Haar und der hohen Krächzstimme wirkte er wie ein Juckpulver auf andere. Dabei strahlte er die Überzeugung aus, dass er besser als jeder andere im Raum wusste, was los war. Doch er war auch intelligent, und wenn ich Frankler einfach begrub, war damit zu rechnen, dass er die Sache wieder ausbuddelte und Stunk machte. Wichtiger noch, er würde mir die Untersuchung abnehmen, und das durfte ich unter keinen Umständen zulassen.

»Was glaubst du«, sagte ich, »wie wir dastehen, wenn Daniels in Langley Krach schlägt? Ich muss das jetzt durchziehen. Wenn wir nicht mit Celia reden, bleibt ein klaffendes Loch. Ein Loch, in dem wir vielleicht beide landen. Und dann könnte es schwer werden, wieder rauszukommen.«

Wieder ein Seufzen. »Sieh einfach zu, dass du es schnell beendest, okay? Morgen warten genügend Sorgen auf uns, da brauchen wir uns nicht auch noch mit den Problemen von gestern rumschlagen. Behalt das bitte im Auge, wenn du deine Freundin belästigst.«

Ich war Vick schon voraus, und auch jetzt, als ich im dichter werdenden Verkehr vom Gas gehe und auf die Schilder starre, kreisen meine Gedanken darum, wie ich die Untersuchung abschließen kann. Dabei spukt mir immer wieder Celias Bild durch den Kopf. Und die Frage, was sie sich von dem Treffen erwartet. Schwelgen in alten Erinnerungen, eine offizielle Besprechung oder … etwas Interessanteres?

Der Sprecher im Radio erzählt mir, dass er gleich die Treppe zum Himmel hochsteigt, und ich bin erstaunt, dass die DJs in den drei Jahrzehnten, seit ich als Schüler vor meinem alten Transistorgerät saß, keinen besseren Spruch gefunden haben, um ihrer Begeisterung für Led Zeppelin Ausdruck zu verleihen. Für die nächste Stunde kündigt er einen »Beatles-Block« an und fordert die Zuhörer auf, ja nicht das Donnerstagsdoppel mit zwei Stunden Classic Rock zu vergessen.

Hat das kommerzielle Radio wirklich 1982 seinen kreativen Höhepunkt erreicht? Ich schalte aus.

Links von mir ist eine Highschool, rechts weist ein Schild zwischen die Alleebäume der Ocean Avenue, die sich bergab zur Küste erstreckt und die Stadt Carmel-by-the-Sea in zwei Hälften teilt. Das Tempolimit sinkt auf vierzig, und ich gleite zwischen zwei aufgemotzten SUVs dahin. Carmel hat sich schon längst von allen Ampeln verabschiedet, und so verbirgt sich nach allen paar Blocks zwischen den Bäumen eine Rechts-vor-links-Kreuzung. Ich fühle mich, als hätte mir jemand ein leichtes Beruhigungsmittel untergejubelt. Es ist die frischeste Luft, die ich je geamtet habe.

Schließlich taucht nach kurz durch das Laub blitzenden Häuschen das Geschäftsviertel auf. Es besteht im Wesentlichen aus einem Mittelstreifen voller Zuchtbäume und zwei Reihen von Läden im Cottagestil. Handelsketten sind verboten, und das Stadtzentrum sieht aus wie die Kinoausgabe eines malerischen englischen Dorfs. Natürlich kein echtes englisches Dorf, sondern eins, in dem Miss Marple herumhumpeln und zwischen den Antiquitäten Leichen entdecken könnte. Auf dem Weg durch die Ortsmitte bis hinunter zum Meer komme ich an Kauflustigen vorbei, die wie Golfer angezogen sind und ihre Hündchen spazieren führen, dann biege ich in die sandige Parkschleife, um im bereits stark nachlassenden Licht noch einen Blick auf den sauberen, weißen Strand und die rauen Wellen zu erhaschen. Hinter mir fahren Touristen, daher kann ich die Ruhe nur kurz genießen, ehe ich den Rückweg ins Zentrum einschlage.

Ich parke in der Nähe der Lincoln Street und warte hinter dem Steuer, während der Abend hereinbricht. Grüppchen von Einheimischen und Touristen, jeweils in eigenen Weißtönen, schlendern über den Gehsteig. Anscheinend befinde ich mich hier nicht in der Realität, sondern in der idealisierten Vision eines Küstenstädtchens. Das Bild eines Bilds, der perfekte Wohnort für jemanden, der ein neues Leben anfangen will.

Trotzdem ist es nett, und ich frage mich, ob ich mir nicht doch ein Zimmer für die Nacht hätte reservieren sollen statt einen Platz im Nachtflieger zurück nach San Francisco. Ich kann mir gut vorstellen, in diesem Dorf aufzuwachen und mich im ersten Dämmerlicht den Spaziergängern in Golfkleidung anzuschließen. Die morgendliche Brise, das Meer – alles Dinge, die einem nach zehn Jahren in der Wiener Botschaft neue Kraft verleihen können. Ein Salzbad für die Seele.

Doch nach heute Abend wird ein hübscher Strand wohl kaum genügen, um meine Seele blank zu schrubben, und vermutlich werde ich, sobald ich in der Maschine sitze, nur noch darauf aus sein, Carmel-by-the-Sea den Rücken zu kehren.

Nachdem ich das Verdeck mit einem Knopfdruck hochgefahren und es geschlossen habe, nehme ich ein Telefon aus meiner Umhängetasche. Es ist ein Siemens-Tastengerät, das ich schon vor Jahren zugunsten der Touchscreen-Technik aufgegeben habe. Es glänzt nicht und ist auch nicht minimalistisch. Dafür hat es ein ausgezeichnetes Mikrofon, das ich manchmal benutze, um unauffällig Gespräche aufzuzeichnen. Ich schalte es an, prüfe den Akku und stelle das Aufnahmeprogramm ein. Ich gehöre zu den Menschen, die ihr Leben gern dokumentieren. Wenn nicht für die Nachwelt, dann wenigstens zur Absicherung.

ENDE DER LESEPROBE