Der Traum der Schildkröte - Peter Laufer - E-Book

Der Traum der Schildkröte E-Book

Peter Laufer

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mann trifft Kröte Wer kann besser über das Leben auf Erden berichten als eine Schildkröte? Sie bewohnt unseren Planeten länger als fast jede andere Art und hat miterlebt wie sich dieser durch das Zutun der Menschen massiv verändert hat. Eine Evolutionsgeschichte und ein Aufruf. Die Spezies der Schildkröte könnte Geschichten über die Evolution und ihre Ursachen erzählen, von denen der Mensch, der im Vergleich ein Jüngling auf Erden ist, nur träumen kann. Angeregt durch das Zusammenleben mit seiner Schildkröte Fred, hat Peter Laufer diese Geschichten niedergeschrieben: von den ersten Begegnungen zwischen Mensch und dem gepanzerten Reptil, bis zur Realität des Schildkrötenlebens, das untrennbar mit dem ökologischen Schicksal der Meere und dem Klimawandel verknüpft ist. Es ist eine kulturgeschichtliche Reise in eine längst vergangene Zeit, ebenso wie ein Aufruf für die Zukunft unseres Planeten einzutreten. Mit einem Vorwort von Richard Branson. »Peter Laufer entführt uns in die Welt der Schildkröten und lässt diese gemächlichen, stetigen, ungeschickten und primitiven Verwandten der Dinosaurier unsere Fantasie, Sympathie und Liebe gewinnen.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 446

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PETER LAUFER

Der TraumderSchildkröte

Meine Freundschaft

mit einem besonderen Geschöpf unddie Geschichte seiner Art

Aus dem Amerikanischen von Nadine Lipp

Copyright © 2018 by Peter Laufer

Published by Arrangement with Peter Laufer.

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Dreaming in Turtle bei St. Martin’s Press, New York.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2019 TERRA MATER BOOKS bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Minion Pro, Elsie

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

ISBN 978-3-99055-017-5

eISBN 978-3-99055-511-8

Wie immerin Liebefür Sheila

Inhalt

Vorwort von Richard Branson

Prolog: Das Leben mit einer Schildkröte

Einleitung

1Die Schildkröte, das majestätische Tier

2Zeitlose Faszination

3Unersättliche Konsumenten

4Abscheuliche Märkte

5Ungeheure Farmen

6Verbotene Jagd

7Gerissene Schmuggler

8Frustrierte Polizisten

9Mitleiderregende Opfer

10Interessenkonflikte der Öffentlichkeit und engagierte Tierschützer

11Die unmittelbare Zukunft

Epilog: Ein Handlungsaufruf

Dank

Ausgewählte Literatur

Anmerkungen

Vorwortvon Richard Branson

Menschen dürfen es nicht einfach so hinnehmen, dass eine Tierart von der Erde verschwindet. Ganz im Gegenteil, wir müssen uns alle darum bemühen, dem Aussterben entgegenzuwirken.

Auf Necker Island, meiner Insel in der Karibik, leben vermutlich mehr Tierarten als auf jeder anderen Insel dieser Welt. Wenn eine Tierart in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht ist, so meine Überzeugung, sollten Menschen sich darum kümmern, einige Exemplare dieser Art zu halten, damit sichergestellt ist, dass sie weiter existiert. Die Tiere auf Necker Island leben nicht wie in der Gefangenschaft eines Zoos. Wir sorgen dafür, dass unsere Tiere viel Platz haben und sich frei bewegen können. Manchmal komme ich mir vor wie Dr. Dolittle aus dem gleichnamigen Filmmusical – wie ein Pfleger vieler glücklicher Tiere. Das habe ich besonders an jenem Tag so empfunden, als ich sah, wie einer unserer Lemuren ein hungriges Riesenschildkrötenpaar mit Früchten fütterte.

Unter all den Tieren, die mit mir auf Necker Island leben, gehören die Landschildkröten zu meinen Lieblingen. Ich war hingerissen, als wir das erste Ei einer Aldabra-Riesenschildkröte (aus dem Indischen Ozean) auf der Insel entdeckt haben. Es war ein weiteres Zeichen dafür, dass unsere Schildkrötenpopulation sich selbst erhält. Neben den Aldabra-Riesenschildkröten bieten wir auch den vom Aussterben bedrohten Birmanischen Sternschildkröten und den Braunen Landschildkröten einen Zufluchtsort. Auch die Köhlerschildkröte fühlt sich so wohl in ihrem komfortablen Zuhause, dass sie Eier legt und diese Eier schlüpfen.

In meinem Buch The Virgin Way beschrieb ich meine Suche nach dem »ernsten Spaß«. Darunter verstehe ich, dass es mir Spaß macht, Gutes zu tun – und das so gut wie möglich. Deshalb schätze ich Peter Laufers Bericht über seine jahrelange Schildkrötenrecherche sehr. Es gibt viele gute Bücher über die Biologie und Evolution der Schildkröten. Was Der Traum der Schildkröte aber zu einer einzigartigen Lektüre macht, ist, dass es die Chronik eines ernsten Spaßes ist – eine Gruppe ganz unterschiedlicher, aber sehr engagierter Menschen widmet sich dem Schicksal der Schildkröten.

Selbstverständlich gibt es in der Schildkröten-Subkultur auch Gesetzesübertreter und andere Bösewichte. Ein großer Teil dieses Buches handelt von den Wilderern, Schmugglern und Händlern, die diese Reptilien jagen. Denn es ist unerlässlich, die globalen Zusammenhänge und Verflechtungen verschiedener Akteure zu kennen – im Guten wie im Schlechten –, um die aktuelle Situation der Schildkröten weltweit zu verstehen. Es ist daher auch faszinierend und beruhigend, von der motivierten Tierschutzpolizei zu erfahren, die darum kämpft, bedrohte und gefährdete Tierarten zu retten, sowie einige fleißige Naturschützer kennenzulernen. Bei den Bemühungen, auf Necker Island einen sicheren Hafen für Tiere zu erschaffen, habe auch ich viele Naturschützer kennengelernt. Ihre Geschichten, ihre unvergesslichen Persönlichkeiten beleben dieses Buch und lassen die umfassende und überzeugende Studie auch zu einer Heldengeschichte im Kampf um den Erhalt dieser faszinierenden Tiere werden.

Jedem, der eine Meinung hat, aufmerksam zuzuhören, ist ein Prinzip, das ich in meinem Geschäftsleben gelernt habe und das ich gerne weitergebe. Als latenter Herpetologe und couragierter Journalist folgt Peter Laufer diesem Prinzip in Der Traum der Schildkröte. Während er die ganze Welt bereist, entwickelt er nicht nur eine persönliche Leidenschaft für Schildkröten, sondern er kommt auch auf die Spur ihrer Omnipräsenz in unser aller Leben. Wir erfahren von kubanischen Santería-Priestern, die für ihre Kunden Schildkröten opfern, und von engagierten Freiwilligen, die ihr Leben riskieren, um Schildkröteneier an den Stränden Costa Ricas zu schützen. Wir reisen mit Peter Laufer zu Medizinmännern in Gabun, die Schildkrötenpanzer zermahlen, um einen Trank gegen Hämorrhoidalleiden herzustellen, und zu Cajun-Köchen in Louisiana, die für Undercoveragenten Schildkrötensuppe kochen. Wir begleiten ihn bei riskanten verdeckten Operationen im Untergrund südostasiatischer Märkte, auf denen es vor gefährdeten Schildkrötenarten nur so wimmelt; kurz, es ist eine große Bandbreite von Charakteren, denen wir in den folgenden Kapiteln begegnen und die in irgendeiner Weise mit Schildkröten interagieren.

Der Traum der Schildkröte ist eine eindringliche Warnung vor dem Aussterben bedrohter Tierarten, davor, was passiert, wenn sich zeitlose Anziehung mit illegalen und global agierenden Märkten verbindet. Gleichzeitig ist es aber auch eine Geschichte, die zu einem Happy End führen kann. Das Buch ruft zum Handeln auf, denn jede und jeder von uns kann etwas tun, kann einen Beitrag leisten, damit weltweit sichere Orte für Tiere entstehen, ähnlich dem auf Necker Island. Denn eins ist klar: Wir müssen handeln.

Richard Branson 2018

Prolog: Das Leben mit einer Schildkröte

Der Priester der Santería und ich sitzen auf dem Boden seines Altarraums in Havanna. Auf einem Tisch, auf dem die letzte Kundin Geld hinterlegt hat (nach dem Hühneropfer in ihrem Namen), stehen ein Buddha und eine Maria-und-Jesus-Statue. Sieben Wassergläser sind auf der weißen Tischdecke aufgereiht, zusammen mit einer Auswahl anderer Symbole: das Porträt einer Frau, die ein Schwert und einen juwelenbesetzten Becher hält, eine zerknitterte Abhandlung über Christus, eine Perlenschnur, die mit einem Ende in ein Wasserglas getaucht ist, und eine einzelne Zigarette. Changó – der Herr des Feuers und des Lichts – wird durch ein geschnitztes Holzobjekt symbolisiert, das aussieht wie eine Urne. Neben ihm: eine Schale mit Kürbissen und Äpfeln und die hölzerne Statue eines Mönchs, der ein Kreuz hält und mit einer Perlenschnur umwickelt ist.

»Die jicotea«, belehrt mich babalawo Martínez über das Wesen der Schildkröten, »denkt viel nach. Deshalb ist sie sehr langsam. Die jicotea denkt immer.« Er sagt, er fühle sich mit Schildkröten verbunden. »Die jicotea hat viele Geheimnisse, Geheimnisse, die ihr das Höchste Wesen anvertraut hat.«

»Zum Beispiel?«, frage ich, und Martínez schreckt zum ersten Mal vor einer Frage zurück.

»Der babalawo hat auch viele Geheimnisse«, sagt er über sich selbst, den Priester. »Und der babalawo würde durch die Geister der Toten und der orichas bestraft werden, wenn er sie offenbaren würde.« Aber bevor wir uns trennen, bietet er die Santería-Version des Gebetsspruches an, der gesungen wird, wenn kubanische Priester Schildkröten opfern, indem sie ihre Köpfe abschneiden. Übersetzt bedeutet er: »Oricha das Blut geben, der es braucht.«

Dieser Priester, babalawo Martínez, ist sehr beliebt bei den Gläubigen. Einer seiner Anhänger sagte mir: »Er löst viele Probleme, und die Menschen sehen die Ergebnisse.«

Wir stehen auf und geben uns die Hand. »Wenn Sie ein Problem haben, können wir jederzeit wieder reden«, sagt er. Zu diesem Zeitpunkt nehme ich an, dass er weitere Fragen im Laufe meiner Recherchen meint. Als er sich verabschiedet, fragt er jedoch: »Haben Sie eine Schildkröte in Ihrem Haus?«

»Noch nicht«, antworte ich.

»Das müssen sie«, schreibt er mir vor. »Für einen guten Energiefluss und für Ihre Gesundheit.«

Ich schlendere zu meinem wartenden lila Oldsmobile-Rocket-88-Taxi von 1955, mit seinem lauten chinesischen Dieselbusmotor und einem fusseligen Würfel, der am Rückspiegel hängt und auf Sergio Martínez’ bröckelnden Wohnblock zurückblickt. Der Priester steht mit seiner Zigarette in der Tür, von der Fäden getrocknetes Gras herunterhängen. Das ist ein Zeichen, das einer bedürftigen Öffentlichkeit anzeigt, dass ein babalawo in diesem Haus praktiziert. Wir winken uns zum Abschied zu.

Finde deine Schildkröte

Es soll keine gute Idee sein, die Weisung eines Santería-Priesters zu ignorieren. Bald nach meinem Besuch auf Kuba finde ich die Schildkröte, die mich auf meiner weiteren Schildkrötenreise begleiten soll. Er oder sie (das muss ich noch herausfinden) wurde in den Straßen von Phoenix, Arizona, von einem barmherzigen Samariter aufgelesen. Ein vorübergehendes Zuhause hat sie anschließend bei Matt Frankel gefunden, Mitglied der Turtle Conservancy. Auf dem Gelände seiner Stiftung außerhalb von Prescott beherbergt Frankel mehrere Dutzend meist gefährdete Schildkrötenarten. Als ich meine Sorgen angesichts der Verantwortung, eine Schildkröte zu pflegen, äußere, beruhigt mich Frankel mit den Worten: »Es geht ihnen wunderbar, wenn sie vernachlässigt werden.« Das ist die Art Mitbewohnerin, die zu mir passt!

Aber ich erwarte, beziehungsweise hoffe ich zumindest, eine Bindung zu meiner neuen Gefährtin zu entwickeln. »Mit der Zeit werdet ihr eure jeweilige Persönlichkeit kennenlernen«, sagen mir Schildkrötenfans immer wieder. Persönlichkeit? Bei einer Schildkröte? Ja, mehr als eine Quelle verspricht, dass Schildkröten eine erkennbare Individualität zeigen, die sich beispielsweise darin äußert, wie sie aus der Hand fressen und ob sie sich in ihrem Panzer verstecken oder ihren Hals für eine Streicheleinheit ausstrecken. Und anscheinend erkennen sie sogar ihre menschlichen Freunde. Es würde aber nicht so sein, dass meine aus Sonora stammende Wüstenschildkröte sich beeilt, eine enge Bindung zu mir aufzubauen, wenn ich nicht derjenige bin, der die ersten Schritte macht. »Reptilien werden langsamer, wenn es nichts zu tun gibt, und sie warten darauf, dass die Zeit vergeht«, berichtet Frankel.

Wie kommt sie überhaupt zu mir nach Hause, nach Oregon, frage ich mich. Von Arizona bis zu mir sind es über 1600 Kilometer. Ich erfahre, dass der Transport ein weiteres Beispiel für die faszinierende Schildkröten-Subkultur ist. Meine Schildkröte wird mit der Expresspost kommen, in einem mit Zeitungen ausgelegten Styroporbehälter. Aber nicht einfach mit FedEx oder UPS, sondern mit einer Firma, die mit diesen Expressdiensten zusammenarbeitet und die ihre eigene Nische auf dem Markt gefunden hat, eine Firma namens »Ship Your Reptiles« (Reptilienversand).

Einleitung

Ich lade Sie herzlich ein, mich auf meiner Dokumentationsreise zu begleiten, auf der ich auch versuche, die uralte Leidenschaft der Menschen für Schildkröten zu ergründen. Folgen Sie mir zum riesigen, berühmt-berüchtigten indonesischen Tiermarkt in Jakarta, zu einer Santería-Opferzeremonie auf Kuba, zum Meeresschildkröten-Niststrand in Gabun und bis zu den Schildkröten-reichen Bayous in Louisiana. Begleiten Sie mich, und lernen Sie eine wilde Mischung menschlicher Charaktere kennen, einschließlich einer bunten Sammlung von Gesetzesbrechern und ihren Kunden. Ich stelle Ihnen Wilderer vor, die mit Tierschützern Katz und Maus spielen, obsessive Sammler auf der Suche nach gefährdeten Arten für ihre illegalen Kollektionen, Patienten, die verzweifelt nach Heilmethoden suchen und davon überzeugt sind, dass eine erfolgreiche Behandlung auf Schildkrötenbestandteilen beruht, und Gourmands, die bereit sind, sich für eine einzigartige Mahlzeit strafbar zu machen.

Schildkröten sehen nicht nur prähistorisch aus, sie sind es auch, denn sie sind eine Reminiszenz aus dem Dinosaurierzeitalter. Die sich langsam bewegenden und eilegenden Tiere leben in Wasser und an Land. Einige Arten sind Fleischfresser, sie benutzen ihre scharfen Schnäbel und starken Kiefer, um die Beute zu töten und zu reißen. Andere Arten ernähren sich strikt von Pflanzen. Das gemeinsame Merkmal aller Schildkröten ist: Ihre Körper sind von einer schützenden Schale umschlossen, die in Form, Größe und Farbe variieren kann. Viele, wenn auch nicht alle, können ihre Hälse und Köpfe in ihre Panzer einziehen, die normalerweise hart genug sind, um sie vor dem Biss der Fressfeinde zu schützen. Ihre Längslinie auf der Bauchseite des Panzers kann Hinweise auf ihr Alter geben, und die Form des Panzers weist darauf hin, ob sie Wasser- oder Landschildkröten sind. Das tun auch ihre Gliedmaßen: Die einen haben Füße, die anderen Flossen. Sie scheinen nachts gut zu sehen, und Studien deuten darauf hin, dass sie über ein bemerkenswert langes Erinnerungsvermögen verfügen. Manche leben über 100 Jahre lang. Seit es Menschen gibt, waren Schildkröten und ihre Eier zentrale Elemente der menschlichen Kultur: sei es als Medizin, als religiöse Talismane, Nahrungsmittel, Objekte der Zierde, Haustiere, Stoff für Geschichten. Sie stellten für Sammler und Händler schon immer einen großen Wert dar.

Deshalb gehören die kuriosen und fabelhaften Wasser- und Landschildkröten zu den Tieren, die weltweit am meisten gehandelt werden und die am stärksten vom Aussterben bedroht sind. Menschliche Gier, Pragmatismus und Rationalisierung sind die größten Feinde dieser Tiere. Dieses Buch begibt sich auf die Spuren der Schildkröten sowie zwielichtiger und heldenhafter Menschen an ganz unterschiedlichen Orten, luxuriösen wie heruntergekommenen. In Zeiten der Globalisierung, des vereinfachten Welthandels, hat der Stress, der auf Schildkrötenarten ausgeübt wird, zugenommen, da das Angebot begrenzt ist und die Nachfrage steigend. Das Anwachsen der Mittelklasse in China und Vietnam, wo die Schildkröte einen besonderen Stellenwert hat, beschleunigt das Drama um Leben und Tod. Aber Asien ist nicht der einzige Markt, der den Reptilien schadet. In diesem Buch geht es nicht nur um gefährdete Schildkröten, sondern auch um menschliche Fehler, Schwächen und Verwundbarkeiten. Dennoch ist es versetzt mit einer optimistischen Hoffnung auf Veränderung durch engagierte Schildkrötenschützer.

Es besteht eine existenzielle, weltweite Bedrohung für die Populationen der Wasser- und Landschildkröten. Dabei muss uns auch bewusst sein, dass die Schildkrötenpopulationen Indikatoren für unser eigenes Überleben sind. Wenn es auf der Welt für ein solch stoisches Tier, das seit der Dinosaurier-Ära auf dem Planeten existiert, nicht länger Platz gibt, muss davon ausgegangen werden, dass auch der Rest des Tierreiches in Gefahr ist – und wir Menschen, die wir selbst auch nichts anderes als Tiere sind, sollten alarmiert sein.

Eins meiner Themengebiete ist die Beziehung zwischen Menschen und anderen Tieren. Darüber habe ich schon viel recherchiert, berichtet und geschrieben. Das Buch The Dangerous World of Butterflies war die Erkundung der wenig bekannten Enklaven des international sehr hochpreisigen Schmetterlingschmuggels. Forbidden Creatures war eine Studie über Menschen, die mit gefährlichen und gefährdeten Tieren leben, wie etwa Schimpansen und Tiger, und umriss die Bandbreite von scheinbar glücklichen Interspezies-Familien bis zu entsetzlichen Tragödien. No Animals Were Harmed spürte nach, wo die Grenze liegt, ab der das Nutzen der Tiere in Tiermissbrauch kippt.

Während ich für das Schmetterlingsbuch recherchierte, erfuhr ich von der Philippinen-Erdschildkröte. Man war davon ausgegangen, dass sie ausgestorben sei, bis im Hinterland einer isolierten Insel eine Kolonie dieser Schildkröten gefunden wurde. Die Entdeckung führte dazu, dass fieberhafte Sammler Schmugglern bis zu 2.500 Dollar pro Tier zahlten. Die Schmuggler wiederum zahlten den Einheimischen, die die Tiere einfingen, nur etwa 50 Dollar. In einer Weltgegend, in der man seine Familie kaum ernähren kann, sind 50 Dollar jedoch sehr kostbar. Die Wiederaufnahme des Handels mit dieser Schildkrötenart brachte sie wieder an die Grenze des Aussterbens, und das Auf und Ab ihrer Überlebensgeschichte weckte mein Interesse. Die Philippinen-Erdschildkröte brachte mich dazu, das Leben der Schildkröten als eine Metapher für unseren eigenen Überlebenskampf zu sehen.

Die Schildkröte ist nicht das typische charismatische Tier, das auf Tierschutzplakaten mit seiner Niedlichkeit die Herzen der Menschen erobert. Sie ist kein kuscheliger Koala, keine hundegesichtige Robbe und auch kein anthropomorpher Eisbär. Sie ist aber in vielen kulturellen Identitäten verwurzelt, einschließlich der westlichen. Schildkröten kommen in den Schöpfungsmythen der indigenen Völker Amerikas genauso vor wie in der Geschichte und den Kulturen weltweit: Die Schildkröte ist ein Symbol für Fruchtbarkeit und für Langlebigkeit.

Los geht die Reise: Auf den folgenden Seiten erwarten Sie Einblicke in die wenig bekannte Schildkrötenschmuggelpraxis, eine Dokumentation bedrohter Arten, die sich kurz vor dem Aussterben befinden und eine Würdigung aller Schildkröten dieser Erde. Der Traum der Schildkröte ist ein Liebeslied für diese magischen, mystischen und mythologischen Lebewesen. Und es ist ein Aufruf zum Handeln.

Fred, mein Schildkrötenkumpel

Ich sitze auf einem abgenutzten und staubigen Stuhl im Warteraum der Autowerkstatt Trackside in Eugene, während mein alter Volvo repariert wird. Trackside ist eine ungezwungene Werkstatt mit einem 60er-Jahre-Flair: An der Wand hängt ein eingerahmter Artikel mit einem Foto, auf dem der Sänger Jerry Garcia zusammen mit Rick, dem grauhaarigen Mechaniker mit Pferdeschwanz und Baseballkappe, und zwei Schrottplatzhunden posiert. Ich sitze da und lese. Ein kleiner Köter (später erfahre ich, dass er Axle heißt) springt, ohne dass ich ihn dazu ermuntert hätte, auf meinen Schoß und macht es sich bequem. Warum tut er das? Möchte er gekrault werden oder erwartet er ein Leckerli? Was auch immer ihn genau bewegt, es ist eindeutig, dass Axle eine Entscheidung getroffen hat. Er hat sich dafür entschieden, um meine Aufmerksamkeit zu buhlen. Wird meine Schildkröte auch so lebhaft sein? Ich bezweifle es, aber ich bin sehr gespannt, ihn (oder sie) zu treffen, und habe auch ein wenig Angst davor.

Ich habe über Schildkrötennamen nachgedacht, und mir kam Fred in den Sinn. Fred verspricht eine solide Identifikation. Und klingt einzigartig für eine Schildkröte. Dieser Name funktioniert auch unabhängig vom Geschlecht. Ein weiterer Kandidat war Speedy, aber das klingt klischeehaft. Als ich meinen Schildkrötenbeschaffer Matt Frankel nach dem Namen des Tieres fragte, war seine Antwort abweisend. »Es hat keinen Namen«, erwidert er. »Diese Tiere reagieren nicht auf Namen.« Das kann schon sein, ich werde meiner Schildkröte aber dennoch einen geben.

Unser letzter Kater hieß Schrödinger, ein Himalaja-Streuner, der sich nie vollständig von den erlittenen psychischen Schäden erholt hat. Der arme Kater kam an unsere Türschwelle und hatte Fleischwunden am ganzen Körper, seine Schnurrhaare waren kurz geschnitten. Schrödinger schlief oft auf meinem Schoß ein, genoss es, gestreichelt und getätschelt zu werden; er folgte mir die Straße hoch bis zum Briefkasten. Aber regelmäßig und aus keinem ersichtlichen Grund wurde er schreckhaft und verhielt sich so, als wären wir Fremde.

Wird meine Schildkröte jemals etwas anderes als eine Fremde sein? Wird Fred reagieren, wenn ich ihren (oder seinen) Namen rufe?

Frankel ermutigt mich in Sachen Pflege und Fütterung. »Sie können die Schildkröte in einer ungeheizten Garage halten«, sagt er. »Alles, was Sie brauchen, ist eine etwa 30 mal 30 Zentimeter große Kiste, Licht und eine Heizmatte.« Ansonsten könne ich Fred auch draußen halten, bei gemäßigtem Willamette-Valley-Klima, »in einem Drahtkäfig, der mit einem Drahtgitter bedeckt ist, um die Schildkröte drin und potenzielle Feinde draußen zu halten«. Die da wären? In meiner Nachbarschaft seien Waschbären und Kojoten Hauptverdächtige. »Sie kann die meiste Zeit ihres Lebens in der Kiste bleiben«, sagt Frankel, sie muss nur alle vier Tage Essen und Wasser bekommen. Aber wird Fred, eingesperrt in einer Kiste, glücklich sein?

Ich bin gleichzeitig leicht angespannt und freudig erregt. Der Paketdienst »Ship Your Reptiles« wird bald an meiner Haustür klingeln und mir Fred in seinem Übernacht-Styropor-Haus (ich fange an, über Fred als ein Männchen nachzudenken), eingekuschelt in zerfetzten alten Zeitungen übergeben. Als der Tag von Freds Ankunft näher rückt, merke ich, dass ich doch Angst vor der mir bevorstehenden Verantwortung habe. Ich muss zusehen, dass Fred am Leben und glücklich bleibt, ich muss seinen Stall sauber, sein Wasser frisch und seine Ernährung ausreichend halten. Aber ich habe mich bereits verpflichtet, und Fred so gut wie unterwegs.

Ich kontaktiere wieder meinen Schildkrötenbeschaffer, um den Versandtermin abzusprechen, und hoffe, dass er mich beruhigen kann. Zunächst sage ich Frankel, dass ich die Schildkröte bereits Fred genannt habe, und er stimmt begeistert zu. »Das passt perfekt!«, trillert er aus Arizona ins Telefon. »Sie sieht wie ein Fred aus. Sie ist unauffällig und unaufdringlich. Sie ist kein Francisco oder Frederico. Definitiv ein Fred.« Komisch, wie die Namensgebung und das Reden über Fred dazu führt, dass sich die bevorstehende Beziehung intimer anfühlt. Wir besprechen wieder einige Grundlagen: Fred soll in einem Raum untergebracht werden, in dem mindestens 15,5 Grad herrschen, damit er keinen Winterschlaf hält. (Das würde keinen Spaß machen und würde es mir erschweren, eine Beziehung zu ihm aufzubauen!) Er braucht eine Wärmelampe, unter der er sich wärmen kann, sie sollte 32,2 Grad ausstrahlen und mindestens einen halben Meter von Fred entfernt angebracht sein, damit er nicht anfängt zu kochen. Er wird zufrieden sein, wenn eine Zeitung auf dem Boden liegt, sie muss etwa alle zwei Wochen, wenn sie verschmutzt ist, ausgetauscht werden, schätzt Frankel. Zwei- oder dreimal pro Woche wird er gefüttert: eine halbe Tasse Obst oder Gemüse, ein Löffel nasses Hundefutter, und einmal die Woche bekommt er einen lebenden Regenwurm als Leckerbissen.

»Sie können gar nichts falsch machen«, beruhigt mich Frankel, der Unfallarzt. »Es ist nicht wie bei einem Kind. Fred ist idiotensicher. Man kann ihn nicht zerbrechen.« Und er fährt fort, mir deutlich zu machen, dass Fred weder ein Hund noch eine Katze ist. »Wenn er zwei Wochen lang nichts zu essen bekommt, geht er nicht zugrunde.« Wüstenschildkröten können monatelang ohne Essen und ein paar Wochen ohne Wasser auskommen. Frankel unterweist mich, Fred auch eine Schale Wasser hinzustellen, in der er baden kann. Er schätzt Freds Alter auf 30 bis 50 Jahre. Sein Panzer sei an manchen Stellen glatt vom Reiben an Felsen und Dickicht, an denen er entlanggekrochen ist, und da seien einige Kerben im Panzer, wahrscheinlich verursacht durch Steine, die von den Felsen herabfielen. Frankel nennt sein verwittertes Äußeres interessant, weil es ein Beweis seiner Lebenserfahrung ist. »Er ist eine alte Seele.« Wir legen das Lieferdatum fest, und nun freue ich mich sehr auf die Ankunft dieser alten Seele, Fred.

Die Schildkröte, das majestätische Tier

Schildkrötengeschichten

Jeder scheint eine Schildkrötengeschichte zu haben. Beginnend bei den Celebrity-Schildkrötenfans (49ers Quarterback Colin Kaepernick, der Musiker Slash, CNN-Gründer Ted Turner, Schauspielerin Sandra Bernhard, der Künstler Julian Schnabel – die Liste ist lang und abwechslungsreich) bis zu den Erlebnissen von jedermann. Die Beziehung zwischen Mensch und Schildkröte, die seit Jahrtausenden besteht, ist massiv bedroht, weil die Schildkröte in Gefahr ist.

»Jeder hat eine Schildkrötengeschichte«, sage ich bei einem Feierabendgetränk zu meinen Freunden Jim und Margaret. Wir sitzen auf ihrer Terrasse mit Blick auf die Bodega Bay, an der Küste des Sonoma County in Kalifornien. Es ist ein Gesprächsöffner, den ich anwende, seit ich mit meiner Schildkrötenrecherche begonnen habe, und es funktioniert immer. Jim sieht mich zunächst skeptisch an. »Jeder hat eine Schildkrötengeschichte«, wiederhole ich. »Du hast eine Schildkrötengeschichte.«

Er denkt kurz nach und stimmt dann zu. Es gab mal eine kleine Dosenschildkröte, die Jim im Garten gehalten hat. Sie verloren sich gegenseitig aus den Augen, und Jim gab auf, nach ihr zu suchen. Fünf Jahre später reinigte er den Swimmingpool und, da war die Schildkröte – und sie war gar nicht mehr so klein. Jim fischte sie aus dem Pool, und sie verschwand sofort wieder und ließ sich nie wieder blicken.

Margarets Schildkrötengeschichte handelt von ihrer Großmutter, als diese sechs oder sieben Jahre alt war. Sie ging in den Keller, wo die Schnappschildkröte, die ihre Familie als Haustier hielt, lebte, und muss die Hand nach ihr ausgestreckt haben, denn laut Familiengeschichte biss ihr die Schildkröte in den Finger. Das Mädchen schrie und schrie, während sie versuchte, die Schildkröte abzuschütteln, die sich um ihren Finger drehte. Als es ihr endlich gelang und sie wieder nach oben ging, fragte sie, warum ihr niemand zu Hilfe gekommen sei, schließlich hatte sie geschrien.

»Wir dachten, du würdest singen«, lautete die Antwort.

Margarets und Jims Schildkrötengeschichten sind Firlefanz im Vergleich zu dem, an was sich der Journalist Andrew DeVigal erinnert.

»Was ist deine Schildkrötengeschichte?«, frage ich.

»Ich habe keine Schildkrötengeschichte«, protestiert er.

Aber ich lasse nicht locker. »Jeder hat eine Schildkrötengeschichte.«

Mittlerweile ist er mein Kollege an der University of Oregon, früher war er bei der New York Times. Er denkt ein bisschen länger nach und erinnert sich dann: Als er, seine Frau und seine Kinder in Südkalifornien im Urlaub waren und die Familie am Venice Beach entlangschlenderte, sah er »eine Schildkröte mit einem Hut auf dem Rücken, und es erinnerte mich an diese starke Szene aus Breaking Bad«.

Oh ja, in dieser Serie wird eine Schildkröte auf ziemlich scheußliche Weise eingesetzt.

Jeder hat eine Schildkrötengeschichte.

Einer meiner Studenten, Timothy Thompson, erzählt eine Familiengeschichte mit seinem Großonkel Craig. Craig war fünf oder sechs Jahre alt, als er seine Eltern überredete, ihm eine Schildkröte zu kaufen. Auf der Heimfahrt vom Tiergeschäft, erzählt Thompson, »hielt der kleine Craig sein neues Haustier in den Händen, als die Schildkröte beschloss, sich in ihren Panzer zurückzuziehen. Craig dachte, dass das bedeutete, dass seine Schildkröte gestorben war. Also kurbelte er das Fenster herunter und warf die arme Schildkröte auf die Autobahn.«

»I guess I’m just like a turtle that’s hidin’ underneath its horny shell« (»Ich bin wohl wie eine Schildkröte, die sich in ihrer hornigen Schale versteckt«), sang Janis Joplin in »Turtle Blues« von dem 1968er-Album »Cheap Thrills«.

Als ich die ehemalige amerikanische Dichterin Kay Ryan nach einer Schildkrötengeschichte frage, behauptet sie, sie habe keine. Aber sie hat ein Gedicht mit dem Titel »Turtle« geschrieben und rezitiert dann ein paar Zeilen daraus.

»Warum die Schildkröte?«, frage ich.

»Weil es ein perfektes Symbol für langsames Vorangehen ist und auch für Ungeschicklichkeit und eine primitive Art der Bewegung«, sagt sie. »Es ist eins meiner Lieblingsgedichte. Ich habe es geschrieben, weil ich so viele Jahre lang so frustriert war, und es zeigt, wie wertvoll Frust sein kann.«

»Katzenwiege!«, sagt mein Sohn Michael eines Abends, als ich das Thema Schildkröten in unsere Abendessenkonversation einbringe, und er zitiert aus einem Newton-Hoenikker-Brief zu Beginn des Romans. Am nächsten Tag finde ich die Passage in meiner Kurt-Vonnegut-Sammlung: »Wir saßen alle im Auto, während Angela immer wieder auf den Anlasser drückte, bis die Batterie tot war. Und dann sagte Vater etwas. Weißt du, was er sagte? Er sagte: ›Ich denke über Schildkröten nach.‹ ›Worüber genau?‹, fragte Angela, und er antwortete: ›Wenn sie ihre Köpfe einziehen, krümmen sich da ihre Wirbelsäulen oder ziehen sie sich zusammen?‹«1

Keins von beidem. Bei den meisten Schildkrötenarten richten sich die Nackenwirbel in U-Form aus, wenn sie ihre Köpfe einziehen. Manche Arten knicken ihren Nacken zur Seite, unter den Panzerrand.

Der Abenteurer Yossi Ghinsberg hatte beschlossen, keine Schildkröte zu essen, als er alleine, verloren und hungrig im bolivianischen Amazonasbecken unterwegs war. Er schrieb anschließend den Survival-Klassiker Lost in the Jungle und erzählte seine Schildkrötengeschichte dem BBC in der Radioserie »Survival Stories«. »Es war die erste Schildkröte, die ich gesehen habe«, erzählte er. Die potenzielle Mahlzeit tauchte plötzlich auf, während er umherirrte und auf Rettung hoffte. Er stellte sich vor, einen schweren Stein auf das Tier zu werfen und zu treffen. »Und dann sah sie mich einfach nur an. In dem Augenblick, als unsere Augen sich trafen, geschah etwas mit mir, und ich entschuldigte mich bei ihr und versprach, ihr nicht wehzutun. Ich ließ sie gehen. Ich kann es nicht erklären«, erzählte er dem Radiopublikum. »Ich hätte kein Problem damit gehabt, das rohe Fleisch zu essen. Aber etwas war geschehen, als die Schildkröte mich angesehen hatte. In mir blitzte der Gedanke auf, dass wir beide gleich waren, wir waren beide in der gleichen Situation, und ich konnte sie nicht verletzen.« Das kam aus dem Mund eines Mannes, der kein Problem damit hatte, während seines Leidensweges Affen zu töten, zu braten und zu essen.2

»Happy Together«, ein fröhliches Lied, kam 1967 heraus. »I can’t see me lovin’ nobody but you for all my life« (»Ich werde nie jemand anderen als dich lieben, mein Leben lang«) sangen die Turtles. Einen Bezug zu Schildkröten hatten die Band oder ihre Mitglieder nicht. Ihr Name war nur Spielerei, erzählte mir der Mitbegründer der Band, Mark Volman, im Jahr 2016. »Unser damaliger Manager riet uns zu diesem Namen, er dachte, die Menschen würden ihn als British-Invasion-Bandnamen deuten. Er meinte, die Leute würden denken, wir wären wie die Beatles«, erinnert sich Volman. Die Band tourte noch, als er und ich uns unterhielten; sie sollte an jenem Abend auf dem Jahrmarkt Kentucky State Fairgrounds in Louisville spielen. Volman teilt seine Zeit auf: Wenn er nicht unterwegs ist mit den Turtles, unterrichtet er an der Belmont University’s Mike Curb School of Entertainment and Music Business in Nashville. »Uns fiel nichts Besseres ein, also haben wir einfach diesen Bandnamen genommen«, sagt er. Obwohl sie keinen Bezug zu Schildkröten haben, überschütten die Fans sie mit Schildkrötenzeug. Volman und seine Band »hatten keinerlei Beziehung zu dem Tier. Wir suchten nach einem Namen, um im Radio gespielt zu werden, und Turtles schien der richtige Weg.«

Mitte des 19. Jahrhunderts war die große Zeit der Flaneure in Paris. Sie streiften aus Spaß und zur Ablenkung durch die Straßen und beobachteten dabei die Stadtlandschaft und ihre Bewohner. Der Kulturkritiker Walter Benjamin schrieb in seiner Analyse des langsamen Schreitens, dass Schildkröten als ein Mittel der Flaneurskunst verwendet wurden. Benjamin schreibt: »Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen.«3 Benjamins Buch, das ich in der Bibliothek der University of Oregon fand, war voller Bleistiftunterstreichungen vorheriger Leser. Neben diesen Absatz hatte jemand ein begeistertes »Schildkröten!« notiert. Die Vorstellung von Pariser Dandys, die mit Schildkröten an der Leine spazieren, ist wahrlich verblüffend – und amüsant. Das Problem ist nur, dass sich neben der nicht dokumentierten Erwähnung Benjamins kein weiterer Bericht über diese Kuriosität finden lässt. Nichtsdestotrotz, seit Walter Benjamin darüber geschrieben hat, bevölkern Schildkröten ausführende Flaneure die Fußnoten von akademischen wie populärwissenschaftlichen Publikationen.

Und dann gab es Fluff, the Magic Turtle. Als Peter, Paul and Marys Drachen-Song, »Puff the Magic Dragon«, erfolgreich war, lebte mein Freund Bob Simmons in einer WG in Austin mit einer Dosenschildkröte. »Sie lief immer unters Sofa«, erinnert sich Simmons. »Wir sahen sie tagelang nicht und sorgten uns: ›Ist Fluff etwas zugestoßen?‹« Als Fluff dann wieder auftauchte, war sie völlig eingestaubt und zog Wollmäuse hinter sich her. Da kamen Simmons und seine Mitbewohner auf eine Idee. Sie nahmen ein Stück steifen Draht und klebten ihn auf Fluffs gelb-schwarzen Panzer. So konnte Fluff nicht mehr unters Sofa und war nun leicht zu finden, während sie sich in der Wohnung bewegte. Am Ende des Drahtes wehte eine handgemalte amerikanische Flagge.

Stanley, die Rotwangen-Schmuckschildkröte, war die abenteuerlustige Schildkröte eines anderen Freundes, George Papagiannis. Wir sprachen in seiner Pariser Wohnung bei einer Flasche Wein über Schildkröten. Er ist in Manhattan aufgewachsen, im 15. Stock eines Wohnblocks, in dem Hunde und Katzen streng verboten waren. Schildkröten waren aber erlaubt, und einige Rotwangen-Schmuckschildkröten lebten in Georges ovaler Schildkrötenwanne aus Plastik mit einer grünen Plastikpalme und einer Rampe, die zu einer Insel führte. George beobachtete sie und fütterte sie mit der Hand. Die Schildkröten starben. Die Mutter setzte eine Schweigeminute an, bevor die toten Schildkröten, selbstverständlich, die Toilette hinuntergespült wurden. Sie wurden ersetzt. Eine nach der anderen. Aber Stanley war besonders. George behauptet, er hatte eine individuelle Persönlichkeit.

»Stanley war außergewöhnlich, denn er stellte sich hin.« Auf seine Hinterbeine gestellt, versuchte er immer wieder, sich über die Plastikwand seiner Einzäunung zu hieven. »Er stellte sich gegen dieses helle Plastik und versuchte es.« Jahrzehnte später ist George immer noch davon überzeugt, dass »Stanley herausfinden wollte, was auf der anderen Seite war. Er wusste, dass es dort draußen eine größere Welt gab.«

Die Wohnung verfügte über einen Balkon, von dem man einen Ausblick auf die Kreuzung Ninth Avenue und 23rd Street hatte. Bei gutem Wetter brachte George Stanley auf den Balkon, damit er sich sonnen konnte. Er setzte ihn in einen ehemaligen T-Shirt-Pappkarton von Bloomingdale’s. Stanley stellte sich auf seine Hinterbeine und kratzte an den Wänden des Kartons, in dem Versuch, darüber hinwegzusehen. Eines Tages ging George auf den Balkon, um Stanley wieder reinzuholen, aber er war weder im Pappkarton noch woanders auf dem Balkon. Der neugierige Stanley hatte es geschafft, aus dem Karton auszubüchsen. »Der Ort, an dem er sein wollte, war auf der anderen Seite«, sagte George in der Überzeugung, dass seine Lieblingsschildkröte aus dem 15. Stock gefallen war. »Ich war am Boden zerstört. Ich konnte es nicht glauben.«

George lief schnell runter auf die Straße und suchte Stanley, fand ihn aber nicht. Keine Spur von Stanley. Er war einfach verschwunden. »Das Einzige, was ich mir vorstellen konnte, war, dass eine Windbö Stanley mitgenommen hatte«, erinnert sich George. »Mein einziger Trost war, dass Stanley vielleicht auf einem Taxi gelandet war und nun seinen Traum leben konnte, indem er ganz New York vom Dach eines Autos sehen konnte.«

Schildkröten bevölkern unsere Überlieferungen von der Antike bis zur Popkultur. Äsops Fabel von der Schildkröte und dem Hasen lehrt uns Zeitloses. Bert the Turtle säte Paranoia in dem Zivilverteidigungspropagandafilm Duck and Cover von 1951. Die Teenage Mutant Ninja Turtles versuchten uns zu unterhalten, während sie mit auffälligem Konsum hausieren gingen. Der Bilderbuchautor Dr. Seuss erschuf den megalomanischen Yertle the Turtle – und am Ende der Geschichte erinnert uns der gute Doktor: »Und die Schildkröten sind selbstverständlich … alle Schildkröten sind frei, so wie es Schildkröten und vielleicht alle Lebewesen sein sollten.« Das Sportteam an der University of Maryland heißt Terrapins, also Sumpfschildkröte (der Spitzname lautet Terps). Das Team-Maskottchen heißt Testudo, was auf Latein Schildkröte bedeutet. In der Muppet Show versucht der schwedische Koch in einer frühen Folge der Serie, Schildkrötensuppe zu kochen, aber die Schildkröte wehrt sich. Sie zieht ihren Kopf ein und schießt dann mit einer Waffe, die anstelle ihres Kopfes aus dem Panzer herauslugt, auf den verwirrten Koch.

»It’s turtles all the way down« (eine unendliche Reihe von Schildkröten trägt die Welt; eine Veranschaulichung des unendlichen Regresses) – diese Aussage erklärt, was unsere Welt stützt. Die ursprüngliche Quelle dieser Aussage ist verloren gegangen, aber der Anthropologe Clifford Geertz sagt, sie gehe auf einen Austausch zwischen einem Briten und einem Inder zurück. »Der Brite«, schreibt Geertz, »dem erzählt wurde, dass die Welt auf einer Plattform steht, die wiederum auf dem Rücken eines Elefanten liegt, der seinerseits auf einer Schildkröte steht, fragte, worauf die Schildkröte stünde. Auf einer weiteren Schildkröte, hieß es. Und diese Schildkröte? ›Ah, Sahib, es folgen nur noch Schildkröten, den ganzen Weg bis nach unten.‹«4

Diese Art von Merkmalen, Idiosynkrasien und Geschichten veranschaulichen, wie Menschen Schildkröten eine einzigartige Rolle im Tierreich zugewiesen haben und wie ihre besondere Anziehungskraft in der menschlichen Erfahrungspraxis entstanden ist.

Meine erste Begegnung mit einer Schildkröte war typisch für einen Jungen im Grundschulalter. Ich kann mich nicht erinnern, woher ich sie hatte. Ich kann auch nicht genau sagen, zu welcher Art sie gehörte. Aber es war höchstwahrscheinlich eine Rotwangen-Schmuckschildkröte – in Amerika ist sie die häufigste Schildkrötenart, die als Haustier gehalten wird. Sie lebte in einer Plastikwanne, die, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, mit einer Insel samt grüner Plastikpalme geschmückt war. Es war das übliche Habitat, in dem eine Schildkröte in amerikanischen Haushalten gehalten wurde. Sie konnte umherschwimmen und bis auf den Grund der Wanne tauchen oder über die Plastikrampe auf ihre Insel gehen und sich unter der Plastikpalme sonnen. Wir schafften es nicht, uns wirklich näherzukommen, denn sie ging an irgendetwas zugrunde. Und sie verließ das Haus wie viele ihrer Art: Das arme kleine Tier wurde die Toilette hinuntergespült.

Schildkröten haben die menschliche Vorstellungskraft erobert, als weltweite Repräsentanten von Langlebigkeit, Fruchtbarkeit, Stärke, Beständigkeit und Widerstandskraft. Unsere Faszination ist gleichzeitig ein großes Risiko. Wir denken, sie seien anspruchslose, ja sogar chaotische Haustiere. In religiösen Zeremonien rund um den Globus werden Schildkröten verehrt als Gottheiten oder Vermittler zwischen Menschen und Göttern. Bevor Gesetze sie schützten, haben wir aus ihren Panzern Plektren für Zupfinstrumente, Kämme, Brillengestelle und Schmuck hergestellt. Bestimmte Körperteile der Schildkröte werden – oft verbotenerweise – in der traditionellen Medizin genutzt, häufig als Arzneimittel bei sexueller Dysfunktion. Schildkrötensuppe ist auf den Speisekarten dieser Welt gut vertreten; Schildkrötenfleisch wird geschmort, und die Eier werden Elixieren beigemischt.

Da ihre Population weiterhin abnimmt, wurden Schildkröten noch nie zu solch hohen Preisen gehandelt wie heute. Stark gefährdete Arten erzielen immense Preise auf dem Schwarzmarkt. Geschäftsmänner aus Costa Rica reisen von San José an die Pazifikküste, um Salsa zu trinken, der Wasserschildkröteneier beigemischt wurden, in der Hoffnung, dass der Trunk ihren Sexualtrieb belebt. Die gehobene Mittelklasse in Asien frönt einem neu erwachten (und meist illegalen) Interesse an Schildkröten als Haustiere, zur Zierde, als Nahrungsmittel, als Zutat in der Traditionellen Chinesischen Medizin. Seltene Yunnan-Scharnierschildkröten erzielen illegal Preise von bis zu 200.000 Dollar. Dieselben internationalen Handelswege, die genutzt werden, um Waffen und Drogen zu schmuggeln, werden genutzt, um Schildkröten illegal aus ihrem natürlichen Habitat in die Städte zu bringen. Trotz nationaler Gesetze und internationaler Abkommen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schildkrötenschmuggler verhaftet werden, minimal, und die Geldstrafen sind sehr niedrig im Vergleich zum Verkaufsprofit.

An die kritischen Beobachter: Selbstverständlich sehen Schildkröten nicht so kuschelig aus wie Koalas. Sie können auch nicht so leicht vermenschlicht werden wie Schimpansen und riskieren keinen blutigen Tod wie Tiger. Aber Schildkröten erzählen tolle Geschichten. Durch sie nähern wir uns den Dinosauriern an, sie beeindrucken uns mit einer beneidenswerten Langlebigkeit – und sie sind für Schmuggler ebenso wertvoll wie Drogen und Waffen! Was ist an Schildkröten nicht faszinierend?

Die Blockade, die wir verspüren, wenn wir uns mit Reptilien identifizieren wollen, wirkt sich oft auf unseren Umgang mit ihnen aus, darauf, wie wir sie pflegen und füttern. Als ich ein kleiner Junge war, hätte ich nie gedacht, dass meine »Haustier«-Schildkröte mehr bräuchte als eine Plastikwanne. Es berührte mich auch nicht sehr, als sie die Toilette hinuntergespült wurde. Vielleicht liegt die mangelnde Identifikation daran, dass Reptilien uns nicht ähneln und nicht auf ihren Namen reagieren; sie können entbehrlich oder ersetzbar wirken und ohne eine eigene Persönlichkeit. Es ist leicht, die Doppelmoral zu akzeptieren: ziemlichen Luxus für Katzen und Hunde und nicht artgerechte Unterkünfte für Schlangen, Echsen und Schildkröten.

Lonesome George, der in die Jahre gekommene Riese von den Galapagosinseln, lebte viel länger als meine erste Schildkröte. Der alte George, die letzte bekannte Pinta-Riesenschildkröte der Welt, zog Touristenhorden an, die kamen, um den bulligen, runzligen Riesen anzustarren. Er wurde ein Reklameheld für den Schutz vom Aussterben bedrohter Arten. George starrte zurück zu den Neugierigen vor seinem Gehege in der Darwin Station, bis er seinem hohen Alter von etwa 100 Jahren erlag. Dank moderner Tierpräparation im American Museum of Natural History konnte dieses Symbol der Auslöschung einbalsamiert werden.5 Die Neugierigen können George nun als Ausstellungsobjekt auf der Galapagosinsel Santa Cruz sehen, wo er in Schale geworfen und in Pose gebracht ist wie ein Vogue-Laufstegmodell.

Andere Galapagosschildkröten trampeln in einer großzügigen Anlage im Turtle Conservancy’s Behler Chelonian Center im Süden Kaliforniens herum. Die Anlage grenzt direkt an den Tisch, an dem ich mit Peter Paul van Dijk sitze. Neben seiner Funktion als Direktor des Field Conservation Programms ist van Dijk in der wichtigen Schildkrötenforschung und im Schildkrötenschutz zusammen mit anderen Organisationen tätig. Er ist der Herausgeber der jährlichen Checklist of Turtles of the World, die den weltweiten Bestand und die Gefahren dokumentiert, und Direktor des Programms zur Meeresund Süßwasserschildkröten-Biodiversität der Non-Profit-Organisation Conservation International. »Ich bin nur einer von vielen«, sagt er bescheiden, als ich ihn einen der führenden Schildkrötenexperten der Welt nenne. Seine Bescheidenheit äußert sich auch durch seine wohlüberlegten Antworten und in seiner Stimme, die noch leicht vom niederländischen Akzent gefärbt ist. Van Dijks einleitende Geschichte kommt mir bekannt vor. Seine Eltern gaben seinem Kindheitswunsch nach, und er bekam eine Rotwangen-Schmuckschildkröte. Seitdem drehte sich alles in seinem Leben um Schildkröten, von der Feldforschung im Rahmen seiner Doktorarbeit rund um Schildkröten in ihrem Thai-Habitat bis zu seiner aktuellen Arbeit.

»Sie sind lebende, herumlaufende Dinosaurier«, sagt van Dijk, als er erklärt, was er an seiner Arbeit, der er ein Leben lang nachgeht, so fesselnd findet. »Sie sind so schwerfällig, so unrealistisch, so unwahrscheinlich, und dennoch sind sie eine Erfolgsgeschichte.« Er staunt darüber, dass sie überlebt haben und die Dinosaurier nicht, dass sie weiterhin gediehen, obwohl sich Klima, Ozeane und Kontinente veränderten. Er sagt, wenn wir sie in Ruhe ließen, wären sie »die letzten Überlebenden«. »Sobald sie ausgewachsen sind, wie diese hier«, van Dijk zeigt auf die unbeholfen wirkende Galapagos-Riesenschildkröte, die in unserer Nähe grast, »sind sie ziemlich unzerstörbar und bleiben es jahrzehntelang.« Ohne Unfälle oder der Begegnung mit einem starken Raubtier wie etwa einem Jaguar, leben sie sehr lang, »und sie werden bei der Fortpflanzung nicht altersschwach«. So lange sie leben, können sie sich fortpflanzen. Schwierig ist es allein, das Erwachsenenalter zu erreichen: Die Eier, die Schlüpflinge und die Jungtiere befinden sich in großer Gefahr. Der Verlust des Lebensraums gepaart mit der menschlichen Gier nach Schildkröten führt jedoch auch zu existenziellen Krisen bei den adulten Tieren.

Van Dijk betont die Persönlichkeiten, die er in den einzelnen Schildkröten entdeckt hat. »Ich habe eine Verbindung aufgebaut zu individuellen Tieren. Sie erkannten mich aus einer Menge anderer Menschen heraus. Ich erkannte jedes einzelne. Ich kannte ihre Vorlieben und ihr Temperament. Das ist eine Verbindung wie zu jedem lebenden Wesen, ganz gleich ob es eine Schildkröte, ein Hund oder eine Katze ist.« Er hält mittlerweile keine Schildkrötensammlung mehr bei sich zu Hause, nicht nur, da seine Feldforschung ihn oft zu langen Reisen verpflichtet. »Ich glaube, der beste Ort für ein wildes Tier ist die Wildnis.«

Es klingt logisch, dass van Dijk als Schildkrötenexperte die Tiere, die er pflegt, unterscheiden kann, aber übertreibt er nicht, wenn er behauptet, die Tiere hätten ihn erkannt? »In diesen kleinen Gehirnen ist mehr los, als wir ihnen zutrauen«, beharrt er. »Ihre Reaktion auf mich, wenn ich das Glashaus betrat, in dem sie lebten, war eine andere, als wenn meine Mutter oder ein Besucher reinging.«

Vielleicht weil die Tiere ihn als Nahrungsquelle betrachtet haben und nicht als ein Individuum? Und was, glaubt er, geht in diesen kleinen Gehirnen vor? Die Antwort fällt kurz und knackig aus, begleitet von einem listigen Lächeln.

»Das wissen wir nicht. Noch sprechen wir die Schildkrötensprache nicht.«

Dazu gedrängt zu spekulieren, listet van Dijk Grundinstinkte als Prioritäten im Schildkrötengehirn: Überleben, Fressen und Fortpflanzung. Kritisches Denken, Nachsinnen, Grübeln, Tagträumen – solche Verhaltensweisen würde er unseren Schildkrötenfreunden doch sicher nicht zuschreiben, oder?

»Ich würde sie nicht ausschließen«, lautet die überraschende Antwort des Wissenschaftlers.

»Gelegentlich entscheiden sie, diesen Weg einzuschlagen und nicht den anderen. Warum nehmen sie diesen Weg? Ist es purer Zufall? Ich denke nicht. In ihren Gehirnen findet ein Abwägen statt, von dem wir keine Ahnung haben.« Wir müssen nun herausfinden, wie es genau funktioniert, denn wir schenken dem zu wenig Aufmerksamkeit.

Dinosaurier unter uns

Zeitgenössische Land- und Meeresschildkröten gehören zur Kronengruppe der Testudines und sind eine Ordnung der Sauropsida. Sie entwickelten ihre aktuelle Form im Zeitalter des Jura und lebten folglich gleichzeitig mit den Dinosauriern. Das früheste schildkrötenähnliche Reptil, das bisher entdeckt wurde, die Urschildkröte, die am meisten mit den zeitgenössischen Verwandten übereinstimmt, ist Proganochelys quenstedti. Es ist ein Tier aus dem Trias, das vor ungefähr 210 Millionen Jahren im Gebiet des heutigen Deutschland, südlich von Stuttgart lebte. Zeitliche Artverwandte taten es auf der anderen Seite des Globus, dort, wo sich das heutige Thailand befindet. Einige entfernte Cousins entstanden vor Proganochelys, aber ihnen fehlten Teile aus dem Gesamtpaket, das eine Schildkröte ausmacht: ein Rückenpanzer sowie der Plastron (Bauchpanzer) – die beiden Panzerhälften, die den Körper der Schildkröte einschließen und schützen. Proganochelys (der Name bedeutet »vor den Cheloniae«, Chelonia ist altgriechisch für Schildkröte) hatte hingegen einige Merkmale, die heutigen Schildkröten fehlen. Am bemerkenswertesten ist, dass sie einen Knüppel statt eines Schwanzes hatte und eine Panzerung an den Extremitäten. Der Knüppel kann eine Waffe gewesen sein oder eine Abwehrhürde gegen Fressfeinde.6 Die Panzerung an den Beinen und die Stacheln an Hals und Kopf dienten dem Schutz, denn P. quenstedti konnte Kopf und Gliedmaßen nicht einziehen.7 So jedenfalls lautete lange Zeit die vorherrschende Annahme.

Es ist Ostermontag, und in den kleinen Ortschaften im Schwarzwald ist so gut wie alles geschlossen – nicht aber das Museum im verschlafenen Trossingen, ein Dorf etwa eine Autostunde südlich von Stuttgart. Proganochelys wurde hier in einem Abwasserkanal gefunden. Eine der versteinerten Urschildkröten wird hier, auf dem Rücken liegend, in einer Vitrine präsentiert, inmitten von Repliken von Dinosaurierskeletten (mit solchen Dinos streifte sie zu Lebzeiten herum).

Der ehrenamtliche Museumskurator Volker Neipp öffnet die Vitrine für mich. Ich möchte Zwiesprache halten, indem ich meine Hände auf die älteste Schildkrötenvorgängerin lege, die bisher gefunden wurde, der ausgestorbene, direkte Vorfahre der zeitgenössischen Schildkröten.

»Sie anzufassen ist etwas ganz Besonderes«, sagt Neipp über Proganochelys. »Wie lange werden Sie oder ich leben? Dieses Mädchen hat zu einer Zeit gelebt, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Stellen Sie sich vor, was sie gesehen hat.«

Museumsdirektor Neipp lächelt und lädt mich ein, 210 Millionen Jahre in die Vergangenheit zu reisen und Proganochelys anzufassen, die unbeweglich auf ihrem Rücken liegt, zwei Krallen in die Höhe gereckt. Sie hat drachenähnliche Stacheln an den Rändern ihres Panzers, die sie schützen (und ihr eine große Ähnlichkeit zu den entfernten Verwandten, den Geierschildkröten, geben). Ich greife in den Glaskasten nach einer Kralle und halte sie fest. »Vorsicht!«, ruft Neipp. »Dass sie nicht bricht!«

Die Urschildkröte und ich halten uns eine Zeit lang fest, bevor wir uns beziehungsweise ich mich verabschiede. Durch diese Berührung habe ich das Gefühl, dass wir eine Brücke geschlagen haben zwischen ihrer Ära und unserer. Ich breche zu einem nächsten Termin auf, während sie ihre Unendlichkeit hier verbringt. Ihr Anblick bildet eine Brücke zu Fred und ist zugleich eine weitere Erinnerung daran, dass das Aussterben ein »Für immer« bedeutet.

Etwas weiter nördlich, in Tübingen, hat der Paläontologe Ingmar Werneburg von der Eberhard-Karls-Universität Neuigkeiten. Er ist sich sicher, dass seine Forscherkollegen sich geirrt haben in ihren Analysen und dass seine Modelle seine Hypothese beweisen: Die Vorgängerin der heutigen Schildkröten konnte ihren Kopf und ihre Gliedmaßen einziehen, was sie zu einem noch näheren Verwandten von Fred machen würde. Er und seine Kollegen behaupten: »Die ursprüngliche Evolution des Einziehens geschah nahezu zeitgleich mit dem Ursprung des Panzers als einen Ort, den ungeschützten Nacken zu verstecken.«8 Aber so lange keine Fossilien von Proganochelys gefunden werden, bei denen Kopf und Gliedmaßen eingezogen sind, wird es nur bei der Theorie bleiben.

Schildkröten helfen den Menschen, die Evolution zu verstehen, sagt Werneburg, als wir uns treffen. »Wenn sie eine Schildkröte sehen, sehen sie Evolution. Die Welt hat sich verändert, die Schildkröte aber nicht.« Stets der Wissenschaftler, legt der Forscher Werneburg auch eine poetische Herangehensweise an seinen Forschungsbereich. »Manchmal sieht man bei Schildkröten ein kleines Lächeln«, berichtet er, »ein Lächeln, das die Weisheit der Erde widerspiegelt.«

Es ist nicht so, dass es heutzutage keine Schildkröten gäbe, die ihren Kopf nicht einziehen könnten. Mir ist eine begegnet, passenderweise die Dickköpfige genannt, als ich mich hinauswagte in Hongkongs Gebiete mit gefährdeten Schildkröten. Da ist einfach kein Platz in ihrem Panzer für den großen Kopf; deshalb bietet ihr knochenharter Schädel zusätzlichen Schutz. Schnappschildkröten und Geierschildkröten können ihre Köpfe und Gliedmaßen auch nicht einziehen. Die aggressiven Schnappschildkröten locken und belauern ihre Beute und verlassen sich auf ihr böses Naturell und einen sehr scharfen Biss, um sich gegen Feinde zur Wehr zu setzen. Mit ihren gepanzerten Gliedmaßen und den mit Stacheln ausgestatteten Panzern sehen Schnappschildkröten der Proganochelys sehr ähnlich. Die heutigen Meeresschildkröten können ihre Köpfe und Gliedmaßen ebenso wenig einziehen; sie brauchen ihre großen Flossen, um zügig schwimmen zu können. Ihr Panzer hat sich auch zu diesem Zweck stromlinienförmig angepasst und verfügt so über keinen Platz mehr für eingezogene Gliedmaßen. Die Lederschildkröte und verschiedene Weichschildkrötenarten haben – wie ihr Name es bereits verrät – keinen typischen Rückenschild mit Hornschuppen, keinen harten Proganochelys-Panzer.

Neben den Meeres- und Landschildkröten gibt es noch die Sumpfschildkröten, die sowohl an Land als auch im Wasser leben. Sie alle beißen mit ihrem Schnabel und kauen ohne Zähne. Der Rückenpanzer der verschiedenen Arten – ihr Markenzeichen – ist unterschiedlich gewölbt. Er kann eine kuppelartige Form haben oder ganz flach sein, je nachdem, was die jeweilige Art in ihrem jeweiligen Lebensraum braucht und was sie vor ihren jeweiligen Feinden am ehesten schützt. Der Rückenpanzer besteht aus Wirbelsäulenknochen und Rippen, die untereinander mit Hornplättchen verbunden sind. Diese Hornplättchen schaffen das faszinierende Oberflächenmuster, das Schildkrötensammler schätzen. Nach der Kopulation lagern die Weibchen die Spermien in ihrem Körper. Das ermöglicht ihnen, nach einer Besamung mehrfach Eier zu legen. Das Geschlecht des Nachwuchses hängt von der Temperatur ab, bei der die Eier ausbrüten: Bei heißen Temperaturen werden es Weibchen, bei kühlen Männchen.9

Land- und Wasserschildkröten sind so unterschiedlich, wie sie außergewöhnlich sind. Die stark gefährdete Weißkehlige Schnappschildkröte atmet durch dieselbe Öffnung, ihre Kloake, über die sie auch ihre Ausscheidungen loswird, kopuliert und Eier legt. Die Chinesische Weichschildkröte entleert ihren Urin über den Mund. Die Geierschildkröte streckt einen wurmähnlichen Zungenfortsatz aus und trickst dabei die Fische aus, ihr ins Maul zu folgen. Die Kohlerschildkröte gackert wie ein Huhn. Die Gewöhnliche Moschusschildkröte hält sich die Feinde vom Leib, indem sie ein stark riechendes Sekret aussondert (daher ihr Spitzname im Englischen – stinkpot). Schildkröten können 7,6 Zentimeter lang werden und 142 Gramm wiegen oder es als gigantische Meeresschildkröten auf unglaubliche zwei Tonnen bringen. Es gibt fleischfressende Schildkröten, die den Köder der Fischer stehlen, und Geierschildkröten, die Schnappschildkröten fressen. Es gibt strikt vegetarische Schildkröten. Die stark gefährdete Madagassische Schnabelbrustschildkröte ist im Englischen auch als Pflugschar-Schildkröte (ploughshare turtle) bekannt wegen ihres prähistorisch aussehenden, pflugscharartigen Knochenfortsatzes am Vorderende des Bauchpanzers. Sie kommt nur in Madagaskar vor und wurde durch illegales Wildern stark dezimiert: Jedes Tier bringt es auf dem Schwarzmarkt auf 50.000 Dollar – zehnmal mehr als eine Philippinen-Erdschildkröte. Fortpflanzung in Gefangenschaft und anschließende Freilassung in die Wildnis sollen ihr Fortbestehen sichern, sie kurbeln den Schwarzmarkt aber nur weiter an. Sowjetische Weltraumforscher haben ein Schildkrötenpaar um den Mond geschickt, es waren die ersten Tiere der Erde dort oben, etwa sechs Monate bevor Neil Armstrong seinen Fuß auf die Mondoberfläche setzte. Und es gibt Jonathan, eine Schildkröte, die, während diese Zeilen entstehen, noch beim britischen Gouverneur auf der Insel St. Helena lebt und die mit 183 Jahren eines der ältesten Tiere der Welt sein müsste.

FRED IST DA!

Ich muss schnell zu einem Termin, schnappe mir die Brotdose und öffne die Eingangstür. Auf der Fußmatte steht ein Paket, darauf hat jemand Lebende Tiere gekritzelt. Es ist ein kalter, regnerischer Tag. »Fred ist hier!« Ich rufe nach Sheila, und da ich schon zu spät bin, lasse ich sie mit der Kiste allein. Als es Abend wird und ich immer noch nicht zu Hause bin, beschließt die besorgte Sheila, die Kiste zu öffnen. Darin befinden sich Styroporkugeln, die einen Kunststoffbehälter sichern, und in dem Behälter ist ein Stoffbeutel. »Ich war erleichtert, als ich gesehen habe, dass sich in dem Stoffbeutel etwas bewegt«, schreibt sie mir per E-Mail. »Er bewegte sich erneut, als ich zu ihm sprach.« Sie legte den Beutel auf den Wohnzimmerboden und schnitt das Gummiband durch, das den Beutel zusammenhielt. »Er streckte sofort seinen Kopf heraus und sah mich an. ›Hi Fred‹, begrüßte ich ihn. Er lief los, schnell, bewegte sich auf eine Ecke zu und blieb dort. Er ist keine langsame Schildkröte.«

Selbstverständlich hat Sheila, bis ich nach Hause kam, bereits eine Beziehung zu Fred aufgebaut. Sie spricht mit ihm, spricht über ihn, macht sich Sorgen darüber, wie er sich an sein neues Zuhause gewöhnen wird, gibt ihm Wasser, Salatblätter und Apfelscheiben. Und, wer weiß, Fred fühlt vielleicht ähnlich über sie.

Er ist so groß wie eine kleine, halbe Zuckermelone. Ich hebe Fred hoch und setze ihn – vorsichtig – in sein Haus. Nach dem Abendessen schaut Sheila nach ihm, und ich höre, wie sie ihm ein Gutenachtlied vorsingt, in der gleichen süßen, sanften Altstimme, in der sie auch ihren menschlichen Babys vorgesungen hat.

Zeitlose Faszination

Antike Orakel

Versteckt in einer Nische im dritten Stock des Asian Art Museum in San Francisco ist ein Schildkrötenknochen ausgestellt, der als Orakel benutzt wurde. Es ist nur ein Fragment einer Schildkröte, zweieinhalb mal zweieinhalb Zentimeter groß, und wird zusammen mit ein paar größeren Orakelknochen präsentiert, die »wahrscheinlich von Rindern« stammen. Zwei Zeichen sind in den Schildkrötenknochen geschnitzt oder gekratzt. Das eine sieht aus wie ein halber Pfeil, der eine senkrechte Linie durchdringt, oberhalb der Kreuzstelle ist eine Art Flagge. Das andere Zeichen sieht aus wie Neptuns Dreizack. Die Reliquie stammt aus der Shang-Dynastie (1600–1050 v. Chr.).

Der Schildkrötenknochen wurde in der Nähe von Anyang gefunden in der Provinz Henan, und er ist einer von über 45 000 Knochen, die Archäologen dort gefunden und katalogisiert haben. Auf der Erklärungstafel des Museums steht: »Die meisten Orakelknochen sagen Geburten, Todesfälle, Regenschauer, gute Ernten, den Ausgang von Jagden und Schlachten und die Bedeutung von Träumen voraus.«

Es scheint ein vielversprechender Zwischenstopp auf meiner Schildkrötenreise. Über die Bedeutung von Träumen nachzudenken angesichts der Langlebigkeit dieses Überbleibsels und seiner vorherigen Inkarnation als Knochen einer Schildkröte, die in der Dämmerung der aufgezeichneten Geschichte gelebt hat. Über 3000 Jahre später, quer über den Globus, in der dunklen Ecke einer Museumsvitrine ist das aktuelle Zuhause des Knochens Tausende Kilometer von dem Ort entfernt, an dem es als eine Form von Journalismus benutzt wurde. Ich sehe ein letztes Mal zu dem Orakel und verabschiede mich. Ich kenne die Bedeutung der eingekratzten Zeichen nicht, aber diese uralte Undefinierbarkeit erinnert mich daran, meine eigenen täglich auftretenden Irritationen nicht allzu ernst zu nehmen. Etwa wenn der Parkschein abgelaufen ist und eine Politesse mir einen 76-Dollar-Strafzettel an die Windschutzscheibe meines alten Volvos klatscht.

Im alten Griechenland wurden Leiern gebaut, indem Schildkrötenpanzer als Hohlraumresonatoren genutzt wurden.1 Pawahtún, der Gott der Mayas, der den Himmel hält, wird versinnbildlicht als ein Mensch in einem Schildkrötenpanzer (und erscheint oft berauscht und auf der Suche nach der Begleitung von attraktiven Frauen). Im Egyptian Book of the Dead sagt Thoth zu dem Sonnengott Re über seinen Feind, die Schildkröte: »Siehe da, mit Kraft bekomme ich Zugang zur Sonnenscheibe. In der Tat, Re lebt! Die Schildkröte ist tot.«