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Dem elfjährigen Lio begegnet in seinem Traum ein Hase, der ihn um Hilfe bittet. Er kann ihm aber nicht sofort helfen, da Lio zunächst erlernen muss, seine Träume bewusst zu erleben. Lio lernt daher mithilfe der Ratschläge seines Vaters luzide zu träumen. Durch die Fähigkeit der Klarträume ist er nunmehr in der Lage, seine Träume zu steuern. Auf diese Art und Weise kann er mit dem Hasen in sein eigenes Traumkönigreich reisen. Schnell stellt der Junge aber fest, dass eine dunkle Macht ihn dort gefangen halten will. Um dieser Macht zu entkommen, muss Lio mit seinen neuen Freunden verschiedene Abenteuer überstehen und spannende Rätsel lösen.
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Seitenzahl: 250
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Kapitel 1: Der erste Traum
Kapitel 2: Der Positionswechsel
Kapitel 3: Lios neue Freunde
Kapitel 4: Lithusa - Das Traumkönigreich
Kapitel 5: Der Schattenwald von Lithusa
Kapitel 6: Du darfst nicht schlafen
Kapitel 7: Das Königreich der Schneemenschen
Kapitel 8: Esel, Hase und Bär
Kapitel 9: Das Rätsel des Affenpriesters
Kapitel 10: Die Offenbarung des Traumfressers
„Du bist tot!“ Erschreckende drei Worte, die auf dem Fernseher zu lesen waren.
„Oh nein, ich bin gestorben!“, sprach Lio enttäuscht vor sich hin, als er den Text auf dem Bildschirm las. „Jetzt muss ich wieder von vorne anfangen.“
Lio ist ein elfjähriger Junge, der oftmals auf der alten Spielekonsole seines Vaters Videospiele spielt. Er verliert sich gerne in den fantastischen Welten dieser Spiele. Weite Wüsten, tiefe Seen und Welten, die im Himmel ihr Abenteuer fanden, fesselten ihn viele Stunden. Auch wenn die Berge, Menschen, Tiere und Wolken im Spiel eher eckig waren und daher nicht wie in der Realität aussahen, konnte das seine Spielfreude nicht trüben.
In seinem Lieblingsspiel bereiste Lio das Universum in all seiner abenteuerlichen Pracht. Hier erkundete er Planeten, deren Landschaften nur in Träumen vorkommen konnten und auch Planeten, auf denen die merkwürdigsten Kreaturen lebten. Diese Videospiele waren für Lio mehr als nur alltäglicher Zeitvertreib, sie waren eine Ablenkung von seinem echten Leben - von einem Leben, aus dem er gerne floh.
Lio war kein sonderlich beliebter Junge in der Schule. Dies war ihm auch bewusst, weshalb er versuchte, es zu ändern. So fasste er sich eines Tages den Mut und ging mit seinem Vater zum ortsansässigen Handballverein. Obwohl er sich viel Mühe gab, konnte er nie wirklich Geschick für diesen Sport entwickeln. Und so wie er kein Geschick entwickeln konnte, war es ihm auch nicht möglich, unter seinen Mitspielern Anschluss zu finden. Weder in der Schule noch im Sportverein betrachtete Lio jemanden als seinen Freund. Oftmals stimmte ihn das sehr traurig, insbesondere wenn er auf dem Weg in die Schule oder auf dem Weg zum Handballtraining war. Verließ er aber das Schulgebäude oder die Sporthalle wieder, freute er sich stets auf sein Zuhause. Hier konnte er dann endlich wieder die Spielekonsole anmachen und aus der harten Wirklichkeit fliehen, abschalten und vergessen.
Lio hatte auch viel Zeit am Tag zu spielen, weil sein Vater, Hans Knauff, zwei Jobs ausübte. Ohne zwei Jobs hätte er nicht genug Geld, um die Kosten für die Wohnung, das Essen und die Schule zu bezahlen. Als Lio noch im Kindergarten war, ging sein Vater nur einer Tätigkeit nach. Er war Kassierer in einem Supermarkt. Zu dieser Zeit verdiente die Familie zusätzlich Geld durch den Beruf der Mutter, Johanna Knauff, welche leidenschaftliche Krankenschwester war. Leider ist die Mutter kurz vor Lios Einschulung plötzlich an einer Krankheit verstorben. Seitdem arbeitet der Vater nachmittags bis zum frühen Abend noch als Reinigungskraft in zwei Schulen.
Auch der Tod von Lios Mutter führte dazu, dass er gerne in die Welten der Videospiele abdriftete. Die Spiele sind geprägt durch Beständigkeit. Es ist immer das Gleiche. Niemand wird älter. Ständig scheint die Sonne oder der Mond. Wenn die Spielfigur doch einmal stirbt, wird einfach von Neuem begonnen. Und schließlich ist es genau das, was Lio will - ein zweites Leben für seine Mutter, dass alles so bleibt, wie es einmal war.
Auch heute war wieder so ein Tag, den Lio am liebsten sofort vergessen würde. Die Schule war wie immer – unerträglich. Mit anderen Schülern kaum ein Wort geredet und bei Partnerarbeiten war Lio der Einzige, der keinen Mitschüler gefunden hatte. Die Lehrerin steckte ihn daraufhin in eine Zweiergruppe, die wenig begeistert von Lio war. Schlussendlich lief es darauf hinaus, dass die beiden anderen Mitschüler alles allein machten und Lio stillschweigend zusah. Gerne hätte sich Lio beteiligt und etwas zu der Aufgabe beigetragen, aber er konnte keinen Mut fassen, um etwas zu sagen – zu eingeschüchtert war er von seinen Mitschülern. Der Sportunterricht rundete den Tag passend ab. Da Lio erst die fünfte Klasse besuchte, wurden in den Sportstunden sowohl die Jungen als auch die Mädchen unterrichtet. Für Lio war dies eine zusätzliche Belastung, weil er eines der Mädchen besonders mochte. Dadurch setzte er sich selbst unter Druck, da er Hannah, so hieß das Mädchen, mit seinen sportlichen Leistungen beeindrucken wollte. Allerdings führte die Anwesenheit von Hannah nicht dazu, dass Lio besonders sportliche Leistungen abrief, sondern wurde er unsicher, nervös und seine Hände fingen stark an zu schwitzen. Vor allem das Schwitzen der Hände wurde ihm in der Sportstunde zum Verhängnis.
„An die Kletterstange, meine Damen und Herren!“, schallte es nachdrücklich in der Sporthalle.
Alle Schüler mussten nacheinander auf Zeit die Kletterstange hinaufklettern. Vorhanden waren drei Kletterstangen, wobei die Stange in der Mitte nicht benutzt wurde. Als Lio an der Reihe war, ging er zu der rechten Kletterstange und war bereits aufgeregt, da er wusste, dass ihm nun alle zuschauen würden. In dem Moment, in welchem er bemerkte, dass Hannah an der linken Kletterstange war, bekam er schlagartig schwitzige Hände.
„Du schaffst das, Lio“, sprach sie ihm seitlich mit fürsorglicher Stimme zu.
Geschockt davon, dass Hannah mit ihm sprach, fühlte es sich so an, als ob sein Herz kurz aufhörte zu schlagen. Nachdem der Schock verflogen war, bemerkte Lio sogleich, dass seine Hände noch mehr schwitzten.
Pfiff, trällerte es aus der Pfeife des Sportlehrers und Hannah kletterte zielstrebig hinauf. Lio hingegen konnte sich durch seine pitschnassen Hände nicht hochziehen – nicht einmal ein Halten für die Note Fünf war möglich gewesen. Ihm war es sichtlich unangenehm und das Getuschel seiner Mitschüler verstärkte dieses Gefühl noch enorm. Mit gesenktem Kopf und ohne ein Wort zu verlieren, verließ Lio die Matten und ging zu der Gruppe, die bereits mit dem Klettern fertig war.
Der restliche Tag war weniger stressreich. Zu Hause endlich angekommen, verlor sich Lio so lange in den Abenteuern der Videospiele, bis schließlich sein Vater aus der Schule kam, welche er zu reinigen hatte. Mit seinem Vater aß er gewöhnlich gegen 19:00 Uhr zusammen zu Abend. Es gab so gut wie nie etwas Außergewöhnliches - oftmals Schnitten mit Wurst oder Käse. Für mehr hatte der Vater schlichtweg keine Zeit beziehungsweise war er zu erschöpft, um nach seinen beiden Jobs noch aufwendig zu kochen. Nach dem Abendessen machte sich Lio stets fertig für das Zubettgehen. Duschen, Zähneputzen und Schlafanzug anziehen – wie andere seines Alters auch. Anschließend war es dann auch Zeit, in das Bett zu gehen.
Wenn Lio einmal die Augen geschlossen hatte, verging nie viel Zeit, bis er einschlafen konnte. Auch war sein Schlaf tief und fest. Er war seit jeher ein guter Schläfer. Und auch an diesem Abend waren keine zwei Minuten vergangen, da schlummerte er bereits in seinem Bett.
„An die Kletterstange, meine Damen und Herren!“, schallte es nachdrücklich in der Sporthalle. Lio befand sich urplötzlich wieder im Sportunterricht und durchlebte die beiden Sportstunden erneut. Dabei betrachtete er sich aber von außerhalb, als wäre er der Mitschüler, welcher in der Reihe hinter ihm stand. Wie in der Wirklichkeit auch musste Lio zusammen mit Hannah die Kletterstange hinaufklettern und auch dieses Mal ertönte der Pfiff aus der Trillerpfeife des Sportlehrers. Obwohl Lio den Traum von außerhalb beobachtete, dachte er sich ganz bewusst: „Deine Hände dürfen jetzt nicht schwitzen, du darfst nicht wieder enttäuschen!“
Und tatsächlich, so wie er innerlich auf sich einredete, waren seine Hände trocken. Auch kein Anzeichen, dass sie gleich mit Schwitzen beginnen sollten, war zu fühlen. Wie einer der besten seiner Klasse erklomm Lio die Kletterstange.
„Eine grandiose Leistung, mein Lieber!“, rief der Lehrer ihm zu. „Eine glatte Eins!“
Obwohl es nur ein Traum war, spürte Lio eindeutig das Gefühl von Stolz. Stolz darauf zu sein, was ihm in der Realität stets verwehrt bleibt. Selbst Hannah schaute ihn beeindruckt an, so als ob sie durch Lios sportliche Leistung Interesse an ihm entwickelt hätte. Seine Mitschüler waren ebenso allesamt erstaunt und gratulierten ihm freundlich. Mal ein Klopfen auf der Schulter beim Vorbeigehen, mal ein Klatschen aus der hinteren Reihe oder mal ein „Gut-Gemacht Lio“ aus dem Mund derjenigen, welche nie mit ihm sprachen. So wie er die Gratulationen und die damit verbundene Anerkennung genoss, bemerkte Lio gar nicht, dass er inzwischen durch seine eigenen Augen den Traum wahrnahm. Es fühlte sich für Lio nun fast so an, als würde er seinen Traum bewusst als die Wirklichkeit betrachten. Doch auf einmal sah sich Lio wieder aus den Augen eines anderen. Dieses Mal blickte er aber von oben auf sich herab, wie ein Vogel, welcher im Fliegen auf die Erde schaut. Geschwind rannte er aus der Halle raus und besuchte in seinem Traum die Toilette. Tür auf, Deckel hoch und Hose auf! Alles in gebotener Eile, da er kurz davor war, sich in die Hose zu machen. Vor dem Klo stehend hörte er gar nicht mit dem Wasserlassen auf. Mehrere Minuten vergingen und der Druck auf seiner Blase ließ einfach nicht nach. Lio konnte es sich nicht erklären, wieso er nicht mit urinieren aufhören konnte.
Plötzlich wachte Lio aus seinem Traum auf. „Mist! Habe ich jetzt etwa in das Bett gepinkelt?“, stellte sich Lio panisch die Frage, während er sich schnell mit seiner Hand an die Schlafanzughose griff. „Gott sei Dank!“, sprach er mit deutlich erleichterter Stimme, als er feststelle, dass die Schlafanzughose und das Bettlaken trocken waren.
Kurz darauf klingelte der Wecker, es war 6:30 Uhr und Lio musste sich fertig für die Schule machen.
Zunächst ging Lio wie immer auf die Toilette, anschließend putzte er sich die Zähne und zu guter Letzt aß er eine Schüssel Cornflakes. Er aß meistens allein, da sein Vater oft bereits aus dem Haus und auf dem Weg zu seiner Tätigkeit als Verkäufer war. Noch bevor die ersten Kunden kamen, war es die Aufgabe seines Vaters, die Verkaufsregale aufzufüllen, weshalb er bereits vor Ladenöffnung arbeiten musste.
Lios Weg zur Schule war noch das Beste an seinem Schultag. Die meiste Zeit lief er ungestört – ohne mit jemanden den Weg zu kreuzen. Jedes Mal, wenn Lio nach der letzten Gabelung die Schule aus der Ferne erblickte, musste er jedoch an einer Grünanlage vorbeigehen, was ihm stets unangenehm war. Inmitten dieser parkähnlichen Anlage befand sich eine Kirche. Vor dem Eingang dieser Kirche sammelten sich immer drei Schüler aus der sechsten Klasse. Der Eingang war durch Bäume und Sträucher etwas verdeckt, weshalb die Schüler sich dort gut versteckt fühlten. Dort rauchten die drei und zeigten sich stets irgendwelche Fotos und Videos auf ihren Handys, über welche sie oftmals ziemlich laut lachten. Lio wusste nicht, welche Videos oder Fotos sie sich zeigten und wollte es auch nicht wissen. Er wollte nur schnell an ihnen vorbeigehen und keine Aufmerksamkeit erregen. Oftmals lief Lio so spät von zu Hause los, dass er zwei Minuten vor dem Schulklingeln in der Schule ankam. So erhoffte er sich, dass niemand mehr an der Kirche stand. Leider ging sein Plan nie auf. Die drei Schüler standen immer dort und schienen sich auch nicht daran zu stören, dass sie unpünktlich in die Schule kamen. In seiner eigenen Klasse wurde er nur ignoriert, von diesen drei Sechstklässlern hingegen aufgezogen und tyrannisiert. Daher fühlte es sich beim Passieren der Kirche jedes Mal so an, als würden sie sich über ihn lustig machen, über ihn reden und Pläne schmieden, wie sie ihn die Hofpausen zur Hölle machen könnten. Der Schlimmste von ihnen war Toni, welcher unglücklicherweise auch noch in Lios unmittelbarer Nachbarschaft lebte. Auch dieses Mal bildete sich Lio ein, dass sie über ihn herziehen würden. Aber, mit Blick auf den Boden, ging er einfach weiter und wagte keinen Augenkontakt.
Bedauerlicherweise war das Wetter heute sehr schön - die Sonne strahlte und es war frühlingshaft warm. Das Problem daran war nicht die Sonne oder das angenehm warme Wetter, sondern die Folge davon – die drohende Hofpause.
Im Klassenzimmer angekommen, fühlte sich Lio sicher. Hier wurde er schließlich von niemanden gemobbt, sondern nur von allen ignoriert. Er konnte die ersten vier Stunden in Ruhe verbringen, doch wie jeder andere in der Schule, musste auch er nach der vierten Stunde auf den Hof. Als Lio sich nach dem Pausenklingeln nach draußen begab, hatte er schon ein ungutes Gefühl - wie immer eigentlich. Um nicht so sehr aufzufallen, lief er in den zwanzig Minuten Pause die Wege auf dem Schulhof so lange ab, bis es zur Stunde vorklingelte. Dabei kreuzte er nie die Ecke, an welcher Toni und seine beiden Freunde standen. Zu viel Angst hatte er schlichtweg vor ihnen.
Lio war etwas überrascht, als er die drei Sechstklässler nicht an deren gewohnten Ecke sah. Daraufhin drehte er sich hektisch nach hinten, weil er Angst hatte, sie seien hinter ihm. Zu seinem Glück war dies aber nicht der Fall. Daher drehte er sich erleichtert wieder um und ging weiter. Plötzlich sah Lio aber Toni und seine beiden Freunde, wie sie um die Ecke und ihm entgegenkamen. Mit ununterbrochenem Augenkontakt und einem böswilligen Lächeln kamen sie dabei direkt auf ihn zu. Lio war wie gebannt und musste den Augenkontakt auf eine unerklärliche Art und Weise erwidern.
„Was glotzt du so, du Vogel!“, rief ihm daraufhin Toni zu.
Völlig verunsichert und mit deutlicher Angst in der Stimme entgegnete ihm Lio: „Nichts. Entschuldigung.“
Noch ein „Vollspast“ von Tonis Freund zur Linken sowie ein Schulterrempler von Tonis Freund zur Rechten hinterher und Lio sollte es überstanden haben. Er war erleichtert, dass die Begegnung vorbei war und jetzt, als er wusste, wo sie waren, würde er ihnen gezielt aus dem Weg gehen können.
„Was war das?“, fragte sich Lio innerlich schockiert. „Hat mich da etwa einer von denen angespuckt?“
Vorsichtig tastend fühlte er mit den Händen seinen Rücken sowie seinen Schulterbereich ab. Und tatsächlich: an seiner hinteren, rechten Schulter fühlte er Spucke. Eilig ging er nun zur Eingangstür der Schule. Dort stand eine Lehrkraft, die überwachte, dass die Schüler sich nicht permanent während der Hofpause auf der Toilette aufhielten. Der Lehrer ließ Lio sofort passieren, als er den bespuckten Pullover sah.
In der Toilette angekommen, merkte Lio, dass er der Einzige war. Und als er die Spucke im Spiegel sah, wurden die Augen schnell gläsern. Das Gefühl der Sicherheit, welches ihm die nicht besuchte Toilette gab, brachte Lio dazu, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Vereinzelt glitt auch eine Träne seine Wange hinunter. Dabei weinte er aber nicht, weil er sich gemobbt fühlte, sondern aus dem Gefühl heraus, seine Mutter zu vermissen. Es war im Grunde genommen nur ein Satz seines Vaters, wieso Lio in diesem Moment an seine Mutter dachte. Das ist ein schöner Pullover mein Sohn, deine Mama hatte dir früher auch immer solche gestrickten gekauft. Sie fand dich sehr süß darin und so wie sie dir den Pullover anzog, merkte ich richtig die Liebe in ihren Augen. Durch diesen Satz verband Lio gestrickte Pullover stets mit seiner Mutter und mit ihrer Liebe. Ein Rotzfleck durch einen seiner Mitschüler fühlte sich für ihn daher so an, als ob er die Liebe seiner Mutter nicht wert sei.
Um seinen Pullover sauberzumachen, nahm er als Erstes ein Blatt Papierrolle und entfernte die grüne, eher klumpige Spucke. Anschließend tropfte er sich etwas Seife auf seine Hand und rieb vorsichtig die besudelte Stelle ein. Als nächstes befeuchtete er seine Finger mit ausreichend Wasser und scheuerte den Pullover mit seiner Hand sauber. Zum Schluss ging er zu einem der beiden Händetrockner und ließ die nasse Stelle durch die heiße Luft mehrmals trocknen. Obwohl jetzt kaum noch etwas darauf deutete, dass der Pullover kurz zuvor bespuckt wurde, fühlte es sich für Lio weiterhin so an, als hätte er seine Mutter enttäuscht. Da die Zeit allerdings drängte und das Vorklingeln drohte, hatte er nicht mehr viel Zeit, um sich Gedanken zu machen. Schnell wusch er sich noch das Gesicht, damit es nicht so aussah, als hätte er gerade Tränen vergossen und ging direkt in den Klassenraum.
Der restliche Schultag verlief ohne weitere Zwischenfälle. Auch der Weg nach Hause war ohne Vorkommnisse. Endlich daheim angekommen, krachte Lio seinen Rucksack neben die Eingangstür, ließ seine Schuhe mitten im Eingang stehen und ging unverzüglich in sein Zimmer. Er wusste ja, dass sein Vater bis abends arbeiten musste. Daher war es aus seiner Sicht nicht notwendig, sofort seine Sachen ordentlich wegzuräumen. Fernseher sowie Konsole eingeschalten und Controller in die Hand genommen. Nun begann Lios Lieblingszeit. Bis sein Vater schließlich zu Hause ankam, war es ihm möglich, ungefähr vier Stunden zu spielen. Im Gegensatz zur Schule oder zum Handballtraining verflog die Zeit beim Spielen wie in Windeseile. Kaum hatte er zwei Spielwelten erfolgreich abgeschlossen, da war es auch schon kurz vor 18:00 Uhr. Jetzt hieß es schnell die Schuhe ordentlich hinstellen und seinen Rucksack in sein Zimmer bringen. Anschließend holte er sein Hausaufgabenheft heraus und legte es auf seinen Schreibtisch. Daraufhin begann er mit seinen Hausaufgaben.
Da er die Hausaufgaben abends erledigte, hatte es den Vorteil, dass sein Vater ihm oftmals bei den Schularbeiten sah. Dies vermittelte den Eindruck, dass Lio ein gewissenhafter Schüler ist. Natürlich hatte sein Vater irgendwann seinen Sohn einmal gefragt, was er denn zuvor den ganzen Nachmittag gemacht hatte. Allerdings konnte Lio schlagfertig antworten, dass er lernte, falls einmal unangekündigte Arbeiten in der Schule zu schreiben wären. Diese Antwort war einleuchtend, da Lio ein sehr guter Schüler war. Was aber sein Geheimnis blieb, war, dass er sich die Unterrichtsinhalte schlichtweg im Unterricht merken konnte. Es war eine Lüge, die Lio zwar Bauchschmerzen bereitete, aber es war einfach notwendig, um sich Spielzeit zu verschaffen. Wüsste sein Vater, dass er ungefähr vier Stunden mit der Spielekonsole spielte, hätte dieser sie wohl weggesperrt. Zudem betonte Lio auch, dass er vor den Hausaufgaben eine Stunde mit der Konsole des Vaters gespielt hatte, immerhin war diese warmgelaufen und er konnte wohl kaum behaupten, dass sie einfach so erhitzt sei.
Der anschließende Abend war wie immer – zu Abend essen, sich bettfertig machen und schlafen gehen. Und auch in dieser Nacht schlief Lio sehr schnell ein.
Kurz nachdem er die Augen geschlossen hatte, sah er sich auch schon in seinem Traum wieder. Dabei war es ihm nicht möglich, mit seinen eigenen Augen zu sehen. Wieder beobachtete er den Traum, wie sein Videospiel, vor dem Fernseher.
Er war an einem Ort, welcher scheinbar nicht zu unserer Erde gehörte. Es war dunkel. Aber nicht wie die Dunkelheit auf einem Feld, wo weit und breit keine Laternen die Finsternis erhellen. Die Dunkelheit glich eher dem Moment, in welchem die abendliche Dämmerung von der tiefen Nacht abgelöst wird. Obwohl die, sich dem Ende neigende, Abenddämmerung eine gewisse Kälte vermuten ließ, spürte Lio diese nicht. Auch war ihm nicht heiß, er spürte gar keine Temperatur.
In seinem Traum befand sich Lio inmitten einer weitläufigen Lichtung. Hinter seinem Rücken stand ein Raumschiff. Eine typische Untertasse, wie man sie aus alten Filmen kennt. Er hinterfragte nicht, wieso hinter ihm ein Raumschiff stand – es glich eher einer belanglosen Kulisse. Erst als Lio später aus seinem Schlaf aufwachen sollte, wurde ihm bewusst, dass das Raumschiff ein Zeichen seiner Reise durch den Weltraum sein musste.
Auf dem Boden der Lichtung ragte kniehohes Gras, welches zwei fingerbreit dick war. Solch ein Gras kannte Lio nur aus seinen Videospielen. Es hatte ein dunkles, saftiges Grün und bedeckte die komplette Lichtung. Erst an der Stelle, wo die Bäume die Lichtung begrenzten, hörte es auf zu wachsen. Über die gesamte Wiese wehte ein zarter Wind, was den gesamten Anblick lebendig wirken ließ. Malerisch schwebten weiße, fast durchsichtige Pollen über das hohe Gras. Dies schien aber etwas merkwürdig zu sein, da nirgendwo Blumen blühten. Auch die Bäume zeigten keine Blüten. Aber wie schon bei dem Raumschiff oder der Temperatur hinterfragte das Lio in seinem Traum nicht.
Gefesselt blickte Lio vor dem Raumschiff stehend in die Ferne und schaute dabei auf die Bäume am Rande der Lichtung. In diesem Moment spürte er auf eine bestimmte Art und Weise zum ersten Mal in einem Traum ein Gefühl. Es war das Gefühl der unendlichen Zufriedenheit. Freiheit und Sehnsucht. Jedoch fühlte er es nicht wie einen Schmerz, der durch einen Schlag in den Magen entstand oder wie die Aufregung vor dem Auspacken des ersten Weihnachtsgeschenks. Er war sich in seinem Traum lediglich bewusst, dass sein Traum-Ich diese Empfindungen hatte.
Plötzlich erregte eine Stelle in der Wiese seine Aufmerksamkeit, in welcher Blütenstaub aufgewirbelt wurde. Schnell blickte Lio nach rechts, um die aufgeschreckten Pollen in sein Auge zu fassen. Doch als er zu dem Punkt schaute, wirbelten sie schon wieder an einem anderen Ort der Wiese. Nun blickte er nach links – wieder schreckte der Blütenstaub an einer anderen Stelle auf. Es schien, als würde sich etwas, versteckt im hohen Gras, bewegen und die Pollen dadurch aufscheuchen. Anschließend rannte Lio zu den jeweiligen Stellen, aber egal was den Blütenstaub aufwirbelte, es war schneller als er. Nach einiger Zeit verlor Lio das Interesse und blickte ziellos umher. Bereits mit der Sache abgeschlossen, sah er aus heiterem Himmel ungefähr fünf Meter vor sich, wie zwei Eselsohren aus dem Gras herausschnellten. Auch die Ungereimtheit, dass ein Esel sich im kniehohen Gras verstecken kann, hinterfragte Lio in seinem Traum nicht. Er schaute die Eselsohren an, aber ging nicht auf sie zu, zu sehr befürchtete er, das Tier damit zu verjagen. Da Lio sich dem sonderbar kleinen Esel nicht annäherte, entschied sich der Esel auf Lio zuzugehen. Wobei es eher einem vorsichtigen Hüpfen gleichkam als einem Gehen. Langsam, aber stetig kam das kleine Geschöpf Lio immer näher. Kurz vor Lio angekommen blieb es stehen und ragte vorsichtig mit den Ohren immer weiter empor. Schlagartig sprang der kleine Esel aus dem Gras und es zeigte sich ein überraschendes Bild. Kein Esel, sondern ein kleiner, flauschiger Hase, welcher sich Eselsohren aufgesetzt hatte – wie eine Mütze. Damit hatte Lio selbst im Traum nicht gerechnet. Von diesem Umstand so überrumpelt, riss ihn das prompt aus seinem Traum. Er wachte auf und konnte sich an jedes kleine Detail erinnern. Erstaunt über seinen Traum versuchte sich Lio zu erklären, weshalb der Hase denn ausgerechnet eine Eselsmütze trug. Dieser Gedanke fesselte ihn so sehr, dass er gar nicht merkte, wie er wieder einschlief.
In dieser Nacht sollte Lio noch weitere Träume haben. Keiner von denen war aber so faszinierend wie der Erste. Noch als Lio früh aufstand, musste er an diesen Traum denken – an die anderen verschwendete er nicht einen Gedanken. Es fühlte sich irgendwie an, als würde der Traum nach ihm rufen, ihn in seinen Bann ziehen, verlangen, dass Lio wiederkommt.
Nachdem Lio allmählich aus dem Bett aufgestanden war, machte er sich sogleich für die Schule fertig. Und wieder begann das gleiche morgendliche Programm. Das Badezimmer aufsuchen, frühstücken und zur Schule gehen. Der Weg zur Schule war genauso wie der Schulbesuch – ohne besondere Vorkommnisse. Keiner hat mit Lio geredet, dafür wurde er aber auch nicht von den drei Sechstklässlern gehänselt. Im Grunde genommen war es für Lio ein zufriedenstellender Schultag. Im Anschluss an die Schule spielte Lio wie gewohnt auf der Spielekonsole seines Vaters. Dieses Mal konnte er aber nicht so lange spielen, da Donnerstag war und donnerstags hatte Lio immer Handballtraining. Um zur Sporthalle zu gelangen, musste er nur zehn Minuten laufen. Bei schönem Wetter nahm er gerne auch das Fahrrad, dann war er regelmäßig bereits nach zwei Minuten bei der Halle. Da Lio bis 15:45 Uhr das Videospiel nicht abschalten konnte, weil es schlicht zu spannend war, musste Lio nun schnell seine Sportsachen packen und mit dem Fahrrad zügig zum Training radeln. Glücklicherweise kam er pünktlich an. Sein Trainer Herr Schulze mochte Lio sehr, aber er war auch streng und besonders unangenehm wurde er, wenn die Kinder zu spät kamen. Dann hieß es Strafrunden, und zwar für alle, selbst wenn nur einer zu spät kam.
In der Mannschaft war Lio einer der jüngsten – einige seiner Mitspieler waren bereits in der sechsten Klasse. Zum Glück für Lio waren es aber nur Schüler aus Tonis Parallelklasse. Keiner von denen hatte etwas mit den drei Sechstklässlern zu tun, die Lio schikanierten.
Torabschluss sollte dieses Mal im Mittelpunkt des Trainings stehen. Lio war klar, dass er solche Torwurfübungen dringend benötigte, da er wusste, dass er den schlechtesten Wurf in der gesamten Mannschaft hatte. Auch war ihm während der gesamten Saison noch kein Tor gelungen, obgleich seine Spielzeit auch gering war. Ein letztes Spiel stand aber noch an und daher wollte er sich in dem Training vor dem Abschlussspiel richtig anstrengen. Neben den gewöhnlichen Aufwärmspielen und -übungen mussten die Jungs zwanzigmal aus dem Laufen heraus bei neun Metern auf das Tor werfen. Hierbei sollten sie verschiedene Wurftechniken anwenden und dabei ihre Tore zählen.
Während sich die Jungs am Mittelpunkt des Spielfelds trafen, um von dort loszurennen, hörten sie von ihrem Trainer, wie er ihnen entschlossen zurief: „Wer mehr als drei Treffer hat, darf auf jeden Fall im letzten Spiel auflaufen!“
Das motivierte jeden Einzelnen, sich besonders Mühe zu geben und auch Lio sah dies als seine Chance an, einige Spielminuten zu bekommen. Die Vorgabe vom Trainer war nicht einfach dahergeredet, um irgendeinen Anreiz zu setzen. Sie war sehr wohlwollend, denn er ging davon aus, dass alle seine Spieler das Tor mindestens dreimal treffen würden. Seine Absicht dahinter war, dass ausnahmslos jeder beim letzten Spiel auflaufen durfte und dabei das Gefühl hatte, es wäre verdient gewesen.
Erst musste der Sprungwurf ausgeführt werden, danach der Schlagwurf, darauffolgend der Hüftwurf und abschließend der Wurf aus dem Lauf. Außer beim Sprungwurf traf Lio aber nicht einmal das Tor und selbst beim Werfen aus dem Sprung heraus, gelangen ihm nur zwei Treffer. Alle anderen hatten deutlich mehr Tore als er und Lios Enttäuschung war ihm sichtlich anzusehen.
„Kopf hoch, Lio“, sprach es leise, während der Trainer von hinten auf seine Schulter schlug.
Lio drehte sich zu seiner rechten um und sah Herrn Schulze in die Augen. Vor Enttäuschung bekam Lio Luft. Worte konnte er nicht sagen. Das Einzige, was der Trainer vernahm, war ein Schluchzen. Anschließend blickte Lio wieder gerade aus und beobachtete seine Mitspieler, wie diese glücklich noch weiter auf das Tor warfen.
„Du darfst das letzte Spiel auch deutlich länger als zwei Minuten spielen“, entgegnete der Trainer Lio mit sanfter, fürsorglicher Stimme.
In diesem Moment drehte sich Lio erneut zum Trainer und schaute zu ihm auf. Nun sah Herr Schulze, wie die rötlich gläsernen Augen langsam einem schwachen Funkeln wichen. Einem Funkeln, welches nur zustande kam, weil Lio in diesem Augenblick Trost fühlte.
„Und jetzt gehst du auf das Klo und wäschst dir dein Gesicht, wir wollen doch nicht, dass die anderen sehen, dass du fast geweint hättest“, ergänzte der Trainer weiterhin mit aufbauender Stimme.
Als Lio nach dem Training wieder zu Hause ankam und später mit seinem Vater zu Abend aß, wollte sein Vater wissen, wie es beim Training war. Da Lio es aber als peinlich empfand, seinem Vater zu sagen, dass er fast geweint hätte, gab er ihm lediglich zu verstehen, dass es wie immer gewesen sei. Um schnell von dem Training abzulenken, wollte er ihm von seinem Traum erzählen. Leider war es Lio nicht mehr möglich, auch nur ein Detail wiederzugeben. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, aber ihm fiel der Traum nicht mehr ein. Auch an die anderen Träume vermochte er sich nicht mehr zu erinnern.
„Wenn du dich an deine Träume erinnern möchtest, dann musst du wie beim Handballtraining dafür trainieren“, klärte ihn sein Vater auf.
Lio hörte die Worte seines Vaters sehr deutlich, konnte sie aber trotzdem nicht verstehen. Völlig verwundert fragte er daraufhin seinen Vater: „Wie soll ich denn bitte meine Träume trainieren? Das geht doch gar nicht!“
Schmunzelnd sah sein Vater ihn an und sprach: „Oh doch, das geht. Nur vermutlich nicht so, wie du es dir vorstellst. Du musst ein Traumtagebuch führen. Das bedeutet, dass du sofort nach einem Traum alles aufschreiben musst, was du geträumt hast. Jedes kleine Detail ist wichtig. Es ist aber sehr schwer. Stell dir vor, du wachst mitten in der Nacht auf und bist extrem müde. Dich zu überwinden nicht einfach weiterzuschlafen, verlangt viel Kraft.“
„Und wenn ich das mache, dann kann ich mich an alle meine Träume erinnern?“, redete Lio seinem Vater neugierig dazwischen.
„Ja, und noch viel mehr!“, beantwortete Lios Vater die Frage. „Du kannst deine Träume mit der Zeit steuern. Sie fühlen sich an, als würdest du in deinem Traum leben. Du kannst sprechen, bist traurig und glücklich, kannst Dinge tun, die du im wahren Leben nicht kannst. Ach Lio, du kannst einfach deine ganze Fantasie zum Leben erwecken.“
Mit großen Augen schaute Lio seinen Vater an und hörte ihm von Minute zu Minute gespannter zu.
„Du musst eines wissen, ich selber habe da im Grunde genommen gar keine Ahnung. Deine Mama aber führte solch ein Traumtagebuch. Wie du, wollte sie wissen, was sie träumt. Ihr Traumtagebuch kam einem dicken Buch gleich. Es vollständig zu lesen, hätte mehrere Tage gedauert, zudem es Nacht für Nacht weitergeschrieben wurde. Nur durch sie weiß ich von den Dingen, die ich dir gerade erzählt habe. Eines Tages, zum Kaffeetrinken, erzählte sie mir von einem Ort in ihrem Traum. Der Himmel war helllila und es funkelten unzählig viele Sterne am Himmel. Es schienen zwei Monde und obwohl nirgends Lichter waren, konnte man an diesem Ort klar sehen. Weite Wiesen, mit dem zartesten Gras wechselten sich mit den farbenfrohsten Blühwiesen ab. Unzählige Schmetterlinge, Vögel, Bienen und andere Krabbeltiere fanden in den Blühwiesen ihr Zuhause. Füchse und Hasen rannten über die grünen Wiesen, aber nicht um sich zu jagen, sondern um miteinander zu spielen. Auch riesige Kreaturen, die wie eine Verbindung aus Schmetterling und Adler aussahen lebten da – Sommervögel, nannte sie deine Mama. An diesem Ort gab es nur Liebe. Etwas abgelegen löste der feinste Sand die Wiesen ab. Wie auf wunderschönen Inseln ging dieser Sand in türkisfarbenes Wasser über. Das Wasser war angenehm warm und dort lebten die buntesten Fische. Fische, deren Formen und Farbenpracht du dir nicht einmal vorstellen kannst. Palmen wie aus der Fernsehwerbung wuchsen um das Wasser herum sowie teilweise auch in dem Wasser. Dort tauchte deine Mama mehrere Stunden, ohne auch nur einmal Luft zu holen und bewunderte die makellose Unterwasserwelt, die sie sich in ihrem eigenen Traum erschaffen hatte. Sie liebte diesen Ort und irgendwann konnte sie ihre Träume so steuern, dass deine