Der Trotzkopf - Emmy von Rhoden - E-Book

Der Trotzkopf E-Book

Emmy von Rhoden

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Beschreibung

Vollständig überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung Mit 23 Illustrationen "Der Trotzkopf" ist das vielleicht bekannteste deutschsprachige Mädchen-Buch und begeistert bereits seit mehreren Generationen seine Leserschaft. Hauptfigur ist die 15-jährige Ilse Macket, die gemeinsam mit ihrem Vater und der Stiefmutter Anne auf einem Gut in Pommern lebt. Ilses Mutter ist kurz nach ihrer Geburt gestorben. Ilse wächst wild und ohne jede Erziehung auf, benimmt sich jungenhaft und tyrannisiert ihre Umgebung. Schließlich wird sie auf das Pensionat von Fräulein Raimar geschickt. Hier gewinnt sie bald die Freundschaft der Lehrerin Charlotte Güssow und der englischen Schülerin Ellinor Grey, genannt Nellie. Wendepunkt ist ein Vorfall in der Handarbeitsstunde, in der Ilse von Fräulein Raimar bloßgestellt wird. Das Mädchen reagiert mit einem Wutanfall und riskiert, aus dem Pensionat ausgeschlossen zu werden. "Emmy von Rhoden" war das Pseudonym von Emmy Friedrich (Geb. 1829), einer Bankierstochter aus Magdeburg. 1854 heiratete sie den Schriftsteller und Journalisten Dr. Friedrich Friedrich. Mit ihm hatte sie einen Sohn und eine Tochter, die spätere Schriftstellerin Else Wildhagen. Der Roman "Der Trotzkopf. Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen." entstand nach langer Recherche. Das Werk wurde wenige Wochen nach dem Ableben der Autorin (1885) veröffentlicht. Motiviert durch den Erfolg des Buches verfasste die Tochter der Autorin, Else Wildhagen, zwei Fortsetzungen: "Aus Trotzkopfs Brautzeit" und "Aus Trotzkopfs Ehe". Die niederländische Schriftstellerin Suze la Chapelle-Roobol beendete die Reihe mit dem Band "Trotzkopf als Großmutter." "Der Trotzkopf" wurde ein großer Erfolg und gehörte - ähnlich den Nesthäkchen-Bänden - über Generationen als sogenannter Backfischroman zur Standard-Lektüre heranwachsender junger Mädchen und ist auch heute noch bekannt. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Emmy von Rhoden

Der Trotzkopf

Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen

Emmy von Rhoden

Der Trotzkopf

Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: August Mandlick EV: Verlag von Gustav Weise, Stuttgart 2. Auflage, ISBN 978-3-954182-62-6

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort zur zwei­ten Auf­la­ge

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

Ka­pi­tel 12

Ka­pi­tel 13

Ka­pi­tel 14

Ka­pi­tel 15

Ka­pi­tel 16

Ka­pi­tel 17

Ka­pi­tel 18

Epi­log

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Der Struw­wel­pe­ter oder lus­ti­ge Ge­schich­ten und drol­li­ge Bil­der (HD)

Hei­di

Der klei­ne Lord

Die wun­der­ba­re Rei­se des klei­nen Nils Hol­gers­son mit den Wild­gän­sen

Pi­noc­chio

Das Dschun­gel­buch

Die Aben­teu­er des Huck­le­ber­ry Finn

Der Trotz­kopf - Voll­stän­di­ge und il­lus­trier­te Fas­sung

John Work­man

Maja

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Vorwort zur zweiten Auflage

Die zwei­te Auf­la­ge die­ses Bu­ches ist der ers­ten in kür­ze­rer Frist als der ei­nes Jah­res ge­folgt. Sie ist mit dem Bil­de der Ver­fas­se­rin ge­schmückt, da­mit die ju­gend­li­chen Le­se­r­in­nen auch die Züge der­je­ni­gen ken­nen und lie­ben ler­nen, die ih­nen dies schö­ne Ver­mächt­nis hin­ter­las­sen hat. Sie hat die­se Lie­be reich ver­dient; sie hat die­sel­be im Le­ben bei all de­nen, die ihr ed­les Herz kann­ten, im volls­ten Maße ge­nos­sen und sich weit über das Grab hin­aus ge­si­chert.

Emmy von Rho­den war das Pseud­onym der zu früh da­hin­ge­gan­ge­nen Gat­tin ei­nes uns­rer be­lieb­tes­ten Schrift­stel­ler, mei­nes Freun­des Fried­rich Fried­rich. Mir selbst und den Mei­nen war die Ver­fas­se­rin eine teu­re Freun­din, de­ren schrift­stel­le­ri­sches De­büt ich mit wärms­tem In­ter­es­se be­glei­te­te. Als sie ihre ers­ten, für ein jün­ge­res Al­ter be­rech­ne­ten Ju­gend­schrif­ten (»Das Mu­si­kan­ten­kind«, eine Er­zäh­lung für Kin­der von 11--14 Jah­ren, und »Len­chen Braun«, eine Weih­nachts­ge­schich­te für Kin­der von 10--12 Jah­ren) ver­öf­fent­lich­te und da­mit schnell lit­te­ra­ri­sches Auf­se­hen und nach­hal­ti­ge Freu­de in den emp­fäng­li­chen Ge­mü­tern der Kin­der­welt er­reg­te, hat­te Emmy Fried­rich Fried­rich aus Be­schei­den­heit das Pseud­onym Emmy von Rho­den ge­wählt. Jetzt hat der Tod den Schlei­er der Pseud­ony­mi­tät ge­lüf­tet.

Es ist mir ein Her­zens­be­dürf­nis, den Wunsch mei­nes tief­ge­beug­ten Freun­des zu er­fül­len, der aus leicht­be­greif­li­chen Grün­den es nicht über sich ver­moch­te, der zwei­ten Auf­la­ge des »Trotz­kopf« ein Vor­wort zu ge­ben. Er war der Mei­nung, daß ich, der ich die Un­ver­geß­li­che in ih­rer lie­bens­wür­di­gen mensch­li­chen und schrift­stel­le­ri­schen Ei­gen­art ge­nau kann­te, ein cha­rak­te­ri­sie­ren­des Ein­füh­rungs­wort der neu­en Auf­la­ge fin­den wür­de. Nun aber, da ich das in­ner­li­che We­sen die­ser sel­te­nen Frau in Wor­te klei­den soll, füh­le ich die gan­ze Schwe­re die­ser Auf­ga­be. Soll ich von der Ge­müt­s­tie­fe re­den, mit wel­cher die Ve­rewig­te das We­sen der Ju­gend er­faß­te; von dem in­ni­gen Ver­ständ­nis, wel­ches sie den Ei­gen­tüm­lich­kei­ten ei­ner jun­gen Mäd­chen­see­le ent­ge­gen­brach­te; von der fei­nen Beo­b­ach­tung des ju­gend­li­chen Ge­ba­rens; von der far­ben­fri­schen Er­zäh­ler­kunst, mit wel­cher sie vor dem see­li­schen Ohr des Le­sers auch die zar­tes­ten Sai­ten der ju­gend­li­chen Emp­fin­dung er­klin­gen ließ?

Wer einen Über­blick über die neues­te Un­ter­hal­tungs­lit­te­ra­tur für die Ju­gend ge­wann, in wel­cher sich al­ler­lei Un­na­tur und Ten­denz auf­dring­lich breit macht, wird die großen Vor­zü­ge er­ken­nen, wel­che den »Trotz­kopf« zu ei­ner ech­ten und wah­ren Ju­gend­schrift ma­chen. Die­se Er­zäh­lung ist na­tür­lich frisch, un­ter­hal­tend und span­nend, und was schwe­rer als dies al­les wiegt: sie ist psy­cho­lo­gisch wahr! Mit glück­li­chem Takt hat die Ver­fas­se­rin al­les rein Be­leh­ren­de, al­les Pe­dan­ti­sche und un­na­tür­lich Prü­de ver­mie­den. Sie er­zählt mit un­ge­küns­tel­ter Na­tür­lich­keit, wie ein jun­ges, un­ge­bän­dig­tes Men­schen­kind durch das Le­ben selbst er­zo­gen wird. Des­halb wirkt dies Buch auch im bes­ten Sin­ne er­zie­hend. Eine Er­zäh­lung, wel­che die ju­gend­li­chen Ge­mü­ter nicht fes­selt und packt, bleibt wir­kungs­los und wenn tau­send wei­se Leh­ren in die­sel­be hin­ein­ge­streut sind, denn die­se sind nur graue Theo­ri­en, wäh­rend das Grün des gol­de­nen Le­bens­bau­mes nur aus dem Le­ben selbst em­por­wächst.

Und so möge dies an­zie­hen­de, von der Son­ne der Phan­ta­sie be­glänz­te Werk, das auf in­ner­lichs­ter Le­bens­er­fah­rung auf­ge­baut ist, sei­nen Weg wei­ter ge­hen zur Freu­de der gern an­ge­reg­ten Ju­gend! Es ist der Se­gen al­ler gu­ten und ed­len Na­tu­ren, daß ihre Schöp­fun­gen auf vie­le Ge­ne­ra­tio­nen hin­aus wir­ken. Des al­ten Se­bas­ti­an Frank Wort mag sich auch an die­ser Ju­gend­schrift als wahr er­wei­sen: »Das aber ist der Bü­cher rech­ter ei­ni­ger Ge­brauch, daß wir dar­in­nen ein Zeug­nis uns­res Her­zens se­hen.«

Ber­lin, Ok­to­ber 1885, Franz Hirsch.

Kapitel 1

»Papa, Dia­na hat Jun­ge!«

Mit die­sen Wor­ten trat un­ge­stüm ein jun­ges, schlan­kes Mäd­chen von fünf­zehn Jah­ren in das Zim­mer, in wel­chem sich au­ßer dem An­ge­re­de­ten, des­sen Frau und dem Pre­di­ger des Or­tes, noch Be­such aus der Nach­bar­schaft, ein Herr von Schäf­fer mit Frau und sei­nem er­wach­se­nen Soh­ne, be­fand.

Al­les lach­te und wand­te sich dem klei­nen Back­fi­sche zu, der ohne jede Ver­le­gen­heit auf den Papa zu­eil­te und aus­führ­lich über das wich­ti­ge Er­eig­nis be­rich­te­te.

»Es sind vier Stück, Papa,« er­zähl­te sie leb­haft, »und braun se­hen sie aus, wie Dia­na. Komm sieh dir sie an, es sind zu rei­zen­de Tier­chen! Vorn an den Pföt­chen ha­ben sie wei­ße Spit­zen. Ich habe gleich einen Korb ge­holt und mein Kopf­kis­sen hin­ein­ge­legt, sie müs­sen doch warm lie­gen, die klei­nen Din­ger.«

Herr Obe­r­amt­mann Macket hat­te den Arm um die Schul­ter sei­nes Lieb­lings ge­legt und strich ihm das wir­re Lo­cken­haar aus dem er­hitz­ten Ge­sicht, da­bei sah er sein Kind mit wohl­ge­fäl­li­gen Bli­cken an, was ei­gent­lich zu ver­wun­dern war, da Ilse in ei­nem Auf­zu­ge her­ein­ge­kom­men, der durch­aus nicht ge­eig­net war, Wohl­ge­fal­len zu er­re­gen, be­son­ders in die­sem Au­gen­bli­cke, wo frem­de Au­gen den­sel­ben mus­ter­ten. Das ver­wa­sche­ne, dun­kelblaue Kat­tun­kleid, blu­sen­ar­tig ge­macht und mit ei­nem Le­der­gür­tel ge­hal­ten, moch­te wohl recht be­quem sein, aber kleid­sam war es nicht, und ei­ni­ge Fle­cken und Ris­se dar­in dienten eben­falls nicht dazu, die Ele­ganz des­sel­ben zu he­ben. Die ho­hen, plum­pen Le­ders­tie­fel, die un­ter dem kur­z­en Klei­de her­vor­blick­ten, wa­ren tüch­tig be­staubt und sa­hen eher grau als schwarz aus. Aber wie ge­sagt, Herrn Macket ge­nier­te die­ser Auf­zug gar nicht, er sah in die fröh­li­chen, brau­nen Au­gen sei­nes Lieb­lings, um des­sen Klei­der küm­mer­te er sich nicht.

Er war im Be­grif­fe, sich zu er­he­ben, um sei­nes Kin­des Wunsch zu er­fül­len, als sei­ne Gat­tin, eine vor­neh­me Er­schei­nung mit sanf­ten und doch be­stimm­ten Zü­gen, ihm zu­vor­kam. Sie hat­te sich er­ho­ben und trat auf Ilse zu.

»Lie­be Ilse,« sag­te sie in freund­li­chem Tone und nahm die­sel­be bei der Hand, »ich möch­te dir et­was sa­gen, Kind. Willst du mir auf einen Au­gen­blick in mein Zim­mer fol­gen?«

Sehr ru­hig, aber sehr be­stimmt wa­ren die Wor­te ge­spro­chen und Ilse fühl­te, daß ein Wi­der­stand da­ge­gen ver­geb­lich sein wür­de. Un­gern und ge­zwun­gen folg­te sie der Mut­ter in das an­sto­ßen­de Ge­mach.

»Was willst du mir sa­gen, Mama?« frag­te sie und sah Frau Macket trot­zig an.

»Nichts wei­ter, mein Kind, als daß du so­gleich auf dein Zim­mer gehst und dich um­klei­dest. Du wuß­test wohl nicht, daß Gäs­te bei uns wa­ren?«

»Doch, ich wuß­te es, aber ich ma­che mir nichts dar­aus,« gab Ilse kurz zur Ant­wort.

»Aber ich, Ilse. Ich kann nicht gleich­gül­tig da­bei sein, wenn du in ei­nem so un­or­dent­li­chen Ko­stü­me dich bli­cken läßt. Du bist kein Kind mehr mit dei­nen fünf­zehn Jah­ren; be­den­ke, daß du seit Os­tern kon­fir­miert bist, eine an­ge­hen­de jun­ge Dame aber muß den An­stand wah­ren. Was soll der jun­ge Schäf­fer von dir den­ken, er wird dich aus­la­chen und dich ver­spot­ten.«

»Der dum­me Mensch!« fuhr Ilse auf. »Ob der über mich lacht oder spot­tet, ist mir ganz gleich­gül­tig. Ich la­che auch über ihn! Tut, als ob er ein Herr wäre mit sei­nem Klem­mer und geht doch noch in die Schu­le.«

»Er ist in Pri­ma auf dem Gym­na­si­um und zählt neun­zehn Jah­re. Nun sei ver­nünf­tig und klei­de dich um, Kind, hörst du?«

»Nein, -- ich zie­he kein andres Kleid an, ich will mich nicht put­zen!«

»Wie du willst, aber dann bit­te ich dich, ja ich wün­sche es ent­schie­den, daß du in dei­nem Zim­mer bleibst und dein Abend­brot dort ver­zehrst,« gab Frau Macket mit großer Ruhe zur Ant­wort.

Ilse biß auf die Un­ter­lip­pe und trat mit dem Fuße hef­tig auf die Erde, aber sie sag­te nichts. Mit ei­ner schnel­len Wen­dung ging sie zur Tür hin­aus und warf die­sel­be un­sanft hin­ter sich zu. Oben in ih­rem Zim­mer ließ sie sich auf einen Stuhl fal­len, stütz­te die Ell­bo­gen auf das Fens­ter­brett und wein­te Trä­nen des bit­ters­ten Un­mu­tes.

»O wie schreck­lich ist es jetzt!« stieß sie schluch­zend her­aus. »Wa­rum hat auch der Papa wie­der eine Frau ge­nom­men, -- es war so viel, viel hüb­scher, als wir bei­de al­lein wa­ren! Alle Tage muß ich lan­ge Re­den hö­ren über Sit­te und An­stand und ich will doch kei­ne Dame sein, ich will es nicht -- und wenn sie es zehn­mal sagt!« -- --

Als sie mit ih­rem Va­ter noch al­lein war, führ­te sie frei­lich ein un­ge­bun­de­neres und lus­ti­ge­res Le­ben. Nie­mand hat­te ihr Vor­schrif­ten zu ma­chen oder durf­te ihre dum­men Strei­che hin­dern; was sie auch aus­führ­te, es galt al­les als un­über­treff­lich. Das Ler­nen wur­de nur als lang­wei­li­ge Ne­ben­sa­che be­trach­tet und die Gou­ver­nan­ten füg­ten sich ent­we­der dem Wil­len ih­rer Schü­le­rin oder sie gin­gen da­von. Be­klag­te sich ja ein­mal die­se oder jene bei dem Va­ter und hat­te der­sel­be auch wirk­lich den fes­ten Ent­schluß ge­faßt, ein Macht­wort zu spre­chen ge­gen sein un­bän­di­ges Kind, er kam nicht dazu, es aus­zu­füh­ren. So­bald er mit erns­ter Mie­ne ihr ge­gen­über trat, fiel Ilse ihm um den Hals, nann­te ihn ih­ren »ein­zi­gen, klei­nen Papa«, trotz­dem er ein sehr großer, kräf­ti­ger Mann war, und küß­te ihm Mund und Wan­gen. Ver­such­te er, ihr erns­te Vor­stel­lun­gen zu ma­chen, hielt sie ihm den Mund zu.

»Ich weiß ja al­les, was du mir sa­gen willst, und ich will mich ganz ge­wiß bes­sern!« mit sol­chen und ähn­li­chen Wor­ten und Ver­spre­chun­gen trös­te­te sie den Papa -- ach und wie gern ließ er sich also trös­ten! Er konn­te dem Kin­de nie ernst­lich zür­nen, es war sein al­les.

Als Il­ses Mut­ter starb, leg­te sie ihm das klei­ne hilflo­se Ding in den Arm. Es hat­te die schö­nen, fro­hen Au­gen der früh Ge­schie­de­nen ge­erbt, und blick­te sie ihn an, war es ihm, als ob die Gat­tin, die er so sehr ge­liebt hat­te, ihn an­lächle.

Lan­ge Jah­re war er ein­sam ge­blie­ben und hat­te nur für sein Kind ge­lebt. Da lern­te er sei­ne zwei­te Frau ken­nen. Ihr klu­ges, sanf­tes We­sen fes­sel­te ihn so, daß er sie heim­führ­te.

Frau Anne be­trat das Haus ih­res Man­nes mit dem fes­ten Vor­sat­ze, sei­nem Kin­de die treues­te, lie­be­volls­te Mut­ter zu sein und al­les auf­zu­bie­ten, um ihr die früh Ver­lo­re­ne zu er­set­zen; in­des jede herz­li­che An­nä­he­rung von ih­rer Sei­te schei­ter­te an Il­ses trot­zi­gem Wi­der­stan­de. Bald ein Jahr wal­te­te sie nun schon als Frau und Stief­mut­ter und noch im­mer hat­te sie es nicht ver­mocht, Il­ses Lie­be zu ge­win­nen. -- -- --

Die Gäs­te blie­ben zum Abendes­sen auf Moos­dorf, so hieß das große Gut des Obe­r­amt­mann Macket. Als der Tisch ge­deckt war und alle sich an dem­sel­ben nie­der­ge­setzt hat­ten, frag­te Herr Macket, warum Ilse noch nicht an­we­send sei.

Frau Anne er­hob sich und zog an der Klin­gel­schnur. Der ein­tre­ten­den Dienst­magd be­fahl sie, das Fräu­lein zu Tisch zu ru­fen. -- -- -- --

Ilse saß noch in der­sel­ben Stel­lung am Fens­ter. Sie hat­te sich ein­ge­schlos­sen und die Magd muß­te erst tüch­tig po­chen und ru­fen, be­vor sie sich be­quem­te, die Tür zu öff­nen.

»Sie sol­len her­un­ter­kom­men, Fräu­lein, die gnä­di­ge Mama hat es be­foh­len,« sag­te Ka­thri­ne und be­ton­te das »sol­len« und »be­foh­len« so recht auf­fal­lend.

»Ich soll!« rief Ilse und wand­te den Kopf has­tig her­um, »aber ich will nicht! Sag’ das der gnä­di­gen Frau Mama!«

»Ja,« sag­te Ka­thri­ne, so recht be­frie­digt von die­ser Ant­wort, denn auch sie war durch­aus nicht da­mit ein­ver­stan­den ge­we­sen, daß wie­der eine Frau in das Haus ge­kom­men war, wel­che der schö­nen Frei­heit ein Ende ge­macht hat­te, »ja, ich werd’s be­stel­len. Gnä­di­ges Fräu­lein ha­ben ganz recht, das ewi­ge Be­feh­len, wenn man selbst alt ge­nug ist, ist höchst un­pas­send, noch dazu, wenn frem­de Leu­te da­bei sind.«

Und sie ging hin­un­ter in das Spei­se­zim­mer und führ­te wört­lich Il­ses Be­stel­lung aus.

Herr Macket blick­te sei­ne Frau ver­le­gen an, er wuß­te gar nicht, was die­se Ant­wort be­deu­ten soll­te. Sie ver­stand sei­ne stum­me Fra­ge und ohne im ge­rings­ten den Un­mut mer­ken zu las­sen, den sie in ih­rem In­nern emp­fand, sag­te sie ge­las­sen: »Ilse ist nicht ganz wohl, lie­ber Mann, sie klag­te et­was über Kopf­schmer­zen. Ka­thri­ne hat ihre Be­stel­lung un­ge­schickt aus­ge­rich­tet.«

Alle An­we­sen­den er­rie­ten so­fort, daß Frau Anne eine Aus­re­de mach­te, nur Herr Macket glaub­te, daß es sich in Wahr­heit so ver­hielt.

»Wol­len wir nicht lie­ber einen Bo­ten zum Arzt schi­cken?« frag­te er be­sorgt.

Die Ant­wort hier­auf gab ihm sein Kind selbst, das heißt, sie be­wies ihm, daß ihr kein Fin­ger weh tat. Laut ju­belnd und la­chend trieb sie einen Reif mit ei­nem Stock über den großen Ra­sen­platz, und der Jagd­hund, Ty­ras, sprang dem­sel­ben nach, und wenn er mit sei­nen Pfo­ten den Reif bei­na­he er­hascht hat­te und ihn doch nicht hal­ten konn­te, stieß er ein är­ger­li­ches Ge­heul aus, wor­über Ilse sich tot­la­chen woll­te.

Herrn Mackets Ge­sicht ver­klär­te sich or­dent­lich bei die­sem An­bli­cke. Er stand auf, trat in die of­fen­ste­hen­de Flü­gel­tür des Zim­mers und eben im Be­grif­fe, Ilse zu ru­fen, hielt ihn Frau Anne da­von zu­rück.

»Laß sie -- ich bit­te dich, -- lie­ber Mann,« bat sie, vor Un­wil­len leicht er­rö­tend, und zu den Gäs­ten ge­wen­det setz­te sie hin­zu: »Es tut mir leid, nun doch die Wahr­heit sa­gen zu müs­sen, in­des Il­ses Be­neh­men zwingt mich dazu.«

Und sie er­zähl­te so mil­dernd als mög­lich den klei­nen Vor­fall. Es wur­de dar­über ge­lacht, ja Herr von Schäf­fer be­haup­te­te, die klei­ne habe Tem­pe­ra­ment und es sei scha­de, daß sie kein Kna­be sei. Sei­ne hoch­ge­bil­de­te Frau konn­te ihm nicht bei­stim­men, sie fand das wil­de Mäd­chen ge­ra­de­zu ent­setz­lich und nann­te es auf dem Heim­we­ge ein en­fant ter­ri­ble.

Als die Gäs­te fort­ge­fah­ren wa­ren, blieb der Pre­di­ger noch zu­rück. Der­sel­be war ein wohl­wol­len­der, nach­sich­ti­ger Mann, der Il­sen vä­ter­lich zu­ge­tan war. Er hat­te sie ge­tauft und ein­ge­seg­net, un­ter sei­nen Au­gen war sie her­an­ge­wach­sen. Seit kur­z­er Zeit, seit­dem die letz­te Gou­ver­nan­te ih­ren Ab­schied ge­nom­men hat­te, lei­te­te er auch ih­ren Un­ter­richt.

Es trat ein au­gen­blick­li­ches, bei­na­he pein­li­ches Still­schwei­gen ein. Ein je­der der drei An­we­sen­den hat­te et­was auf dem Her­zen und scheu­te sich doch, das ers­te Wort zu spre­chen. Herr und Frau Macket sa­ßen am Ti­sche, er rau­chend, sie eif­rig mit ei­ner Hand­ar­beit be­schäf­tigt. Pre­di­ger Wol­lert ging im Zim­mer auf und ab und sah recht ernst und nach­denk­lich aus. End­lich blieb er vor dem Obe­r­amt­mann ste­hen.

»Es kann nichts hel­fen, lie­ber Freund,« re­de­te er den­sel­ben an, »das Wort muß her­aus. Es geht nicht mehr so wei­ter, wir kön­nen das un­bän­di­ge Kind nicht zü­geln, es ist uns über den Kopf ge­wach­sen.«

Der Obe­r­amt­mann sah den Pre­di­ger ver­wun­dert an. »Wie mei­nen Sie das?« frag­te er, »ich ver­ste­he Sie nicht.«

»Mei­ne Mei­nung ist, ge­ra­de­her­aus ge­sagt, die,« fuhr der ers­te­re fort, »das Kind muß fort von hier, in eine Pen­si­on.«

»Ilse? In eine Pen­si­on? Aber warum, sie hat doch nichts ver­bro­chen!« rief Herr Macket ganz er­schreckt.

»Ver­bro­chen!« wie­der­hol­te lä­chelnd der Pre­di­ger. »Nein, nein, das hat sie nicht! Aber muß denn ein Kind erst et­was Bö­ses ge­tan ha­ben, um in ein In­sti­tut zu kom­men? Es ist doch kei­ne Straf­an­stalt. Hö­ren Sie mich ru­hig an, lie­ber Freund,« fuhr er be­sänf­ti­gend fort und leg­te die Hand auf Mackets Schul­ter, als er sah, daß die­ser hef­tig auf­fah­ren woll­te. »Sie wis­sen, wie ich Ilse lie­be, und wis­sen auch, daß ich nur das Bes­te für sie im Auge habe; nun wohl, ich habe reif­lich über­legt und bin zu dem Re­sul­ta­te ge­kom­men, daß Sie, Ihre Frau und ich nicht Macht ge­nug be­sit­zen, sie zu er­zie­hen. Sie trotzt uns al­len drei­en, was soll dar­aus wer­den? Sie hat so­eben ein glän­zen­des Bei­spiel ih­rer wi­der­spens­ti­gen Na­tur ge­ge­ben.«

Der Obe­r­amt­mann trom­mel­te auf dem Ti­sche. »Das war eine Un­ge­zo­gen­heit, die ich be­stra­fen wer­de,« sag­te er. »Et­was Schlim­mes kann ich nicht dar­in fin­den. Mein Gott, Ilse ist jung, halb noch ein Kind, und Ju­gend muß aus­to­ben. Wes­halb soll man ei­nem über­mü­ti­gen Mäd­chen so stren­ge Fes­seln an­le­gen und es Knall und Fall in eine Pen­si­on brin­gen? Was ist da­bei, wenn es ein­mal über den Strang schlägt? Ver­stand kommt nicht vor den Jah­ren! Was sagst du dazu, Anne,« wand­te er sich an sei­ne Frau, »du denkst wie ich, nicht wahr?«

»Ich dach­te wie du,« ent­geg­ne­te Frau Anne, »vor ei­nem Jah­re, als ich die­ses Haus be­trat. Heu­te ur­tei­le ich an­ders, heu­te muß ich dem Herrn Pre­di­ger recht ge­ben. Ilse ist schwer zu er­zie­hen, trotz al­ler Her­zens­gü­te, die sie be­sitzt. Ich weiß nichts mit ihr an­zu­fan­gen, so­viel Mühe ich mir auch gebe. Ge­wöhn­lich tut sie das Ge­gen­teil von dem, was ich ihr sage. Bit­te ich sie, ihre Auf­ga­ben zu ma­chen, so tut sie ent­we­der, als ob sie mich nicht ver­stan­den hat, oder sie nimmt höchst un­wil­lig ihre Bü­cher, wirft sie auf den Tisch, setzt sich da­vor und treibt al­ler­hand Ne­ben­din­ge. Nach kur­z­er Zeit er­hebt sie sich wie­der und fort ist sie! Da hilft kein gü­ti­ges Zu­re­den, kei­ne Stren­ge, sie will nicht! Fra­ge den Herrn Pre­di­ger, wie un­gleich­mä­ßig Il­ses wis­sen­schaft­li­che Bil­dung ist, wie sie zu­wei­len so­gar noch or­tho­gra­phi­sche Feh­ler macht.«

»Was kommt bei ei­nem Mäd­chen dar­auf an,« ent­geg­ne­te Herr Macket und er­hob sich. »Eine Ge­lehr­te soll sie nicht wer­den; wenn sie einen Brief schrei­ben kann und das Ein­mal­eins ge­lernt hat, weiß sie ge­nug.«

Der Pre­di­ger lä­chel­te. »Das ist Ihr Ernst nicht, lie­ber Freund. Oder wür­de es Ih­nen Freu­de ma­chen, wenn man von Ih­rer Toch­ter sag­te, daß sie dumm sei und nichts ge­lernt habe! Ilse hat gute An­la­gen, es fehlt ihr nur der Trieb, die Lust zum Ler­nen. Bei­des wird sich ein­stel­len, so­bald sie un­ter jun­ge Mäd­chen ih­res Al­ters kommt. Das Stre­ben der­sel­ben wird ih­ren Ehr­geiz we­cken und ihr bes­ter Lehr­meis­ter sein.«

Die Wahr­heit die­ser Wor­te leuch­te­te Herrn Macket ein, aber die Lie­be zu sei­nem Kin­de ließ es ihn nicht laut ein­ge­ste­hen. Der Ge­dan­ke, das­sel­be von sich zu ge­ben, war ihm furcht­bar. Nicht täg­lich es se­hen und hö­ren zu kön­nen, -- ihm war als ob die Son­ne plötz­lich auf­hö­ren müs­se zu schei­nen, als sol­le ihm Licht und Le­ben ge­nom­men wer­den.

Frau Anne emp­fand, was in ih­res Man­nes Her­zen vor­ging, lie­be­voll trat sie zu ihm und er­griff sei­ne Hand.

»Den­ke nicht, daß ich hart bin, Richard, wenn ich für den Vor­schlag uns­res Freun­des stim­me,« sag­te sie. »Ilse steht jetzt auf der Gren­ze zwi­schen Kind und Jung­frau, noch hat sie Zeit, das Ver­säum­te nach­zu­ho­len und ihre un­bän­di­ge Na­tur zu zü­geln. Ge­schieht das nicht, so könn­te man ei­nes Ta­ges un­ser Kind als un­weib­lich be­zeich­nen, wäre das nicht furcht­bar?«

Er hör­te kaum, was sie sprach. »Ihr wollt sie ein­sper­ren,« sag­te er er­regt, »aber das hält sie nicht aus. Laßt sie erst äl­ter wer­den, es ist dann im­mer noch Zeit ge­nug, sie fort­zu­ge­ben.«

Da­ge­gen pro­tes­tier­ten Frau Anne und der Pre­di­ger auf das ent­schie­dens­te; sie be­wie­sen, daß jetzt die höchs­te Zeit sei, wenn die Pen­si­on noch et­was nüt­zen sol­le.

»Ich wüß­te ein In­sti­tut in W., das ich für Ilse aus­ge­zeich­net emp­feh­len könn­te,« er­klär­te der Pre­di­ger. »Die Vor­ste­he­rin des­sel­ben ist mir ge­nau be­kannt, sie ist eine vor­züg­li­che Dame. Ne­ben der Pen­si­on, die un­ter ih­rer Lei­tung herr­lich ge­die­hen ist, hat sie eine Ta­ges­schu­le in das Le­ben ge­ru­fen, die sich von Jahr zu Jahr ver­grö­ßert hat. Ilse wür­de den bes­ten Un­ter­richt und die lie­be­volls­te Pfle­ge ver­eint fin­den. Und welch ein Vor­zug ist nicht die wun­der­ba­re Lage die­ses Or­tes. Die Ber­ge rings­um, die kost­ba­re Luft -- -- --«

»Ja ja,« un­ter­brach ihn Herr Macket un­ru­hig und ab­weh­rend, »ich glau­be das al­les gern! Aber laßt mir Zeit, be­stürmt mich nicht wei­ter. Ein so wich­ti­ger Ent­schluß, selbst wenn er not­wen­dig ist, be­darf der Rei­fe.« --

Er kam schnel­ler als er ge­glaubt hat­te. --

Am an­dern Mor­gen, es war noch sehr früh, traf der Obe­r­amt­mann sein Töch­ter­chen, wie es eben im Be­grif­fe war, hin­aus auf die Wie­se zu rei­ten, um das Heu mit ein­zu­ho­len. Un­ge­niert hat­te Fräu­lein Ilse sich auf ei­nes der Pfer­de, das vor dem Lei­ter­wa­gen ge­spannt war, von dem Kut­scher hin­auf­he­ben las­sen, der­sel­be stand auf dem Wa­gen und hielt die Zü­gel in der Hand.

»Gu­ten Mor­gen, Pa­pa­chen!« rief sie ihm laut schon von wei­tem ent­ge­gen, »wir wol­len auf die Wie­se fah­ren, das Heu muß her­ein; der Hof­meis­ter sagt, wir be­kom­men ge­gen Mit­tag ein Ge­wit­ter. Ich will gleich mit auf­la­den hel­fen!«

Der Va­ter hat­te heu­te nicht die un­be­fan­ge­ne Freu­de an dem We­sen sei­nes Kin­des, ihm fie­len die Wor­te sei­ner Frau vom gest­ri­gen Abend ein. Ilse sah we­nig weib­lich in die­sem Au­gen­bli­cke aus, eher glich sie ei­nem wil­den Bu­ben. Wie ein sol­cher saß sie auf dem Pfer­de und hat­te die Füße an bei­den Sei­ten her­un­ter­hän­gen. Das kur­ze blaue Kleid deck­te die­sel­ben nicht, man sah den plum­pen, ho­hen Le­ders­tie­fel und noch ein Stück des bun­ten Strump­fes. Es war wahr­lich kein schö­ner An­blick.

»Steig’ her­ab, Ilse,« sag­te Herr Macket, dicht zu ihr tre­tend, um ihr beim Her­un­ter­stei­gen be­hilf­lich zu sein, »du wirst jetzt nicht auf die Wie­se rei­ten, hörst du, son­dern dei­ne Auf­ga­ben ma­chen.«

Es war das ers­te Mal in ih­rem Le­ben, daß der Va­ter in so be­stimm­ter Wei­se zu ihr sprach. Im höchs­ten Gra­de ver­wun­dert blick­te sie ihn an, aber sie mach­te kei­ne Mie­ne, sei­ner Auf­for­de­rung Fol­ge zu leis­ten. Sie schlug die Arme in­ein­an­der und fing an, herz­lich zu la­chen.

»Ha­ha­ha­ha! Ar­bei­ten soll ich! Du klei­ner rei­zen­der Papa, wie kommst du denn auf die­sen ko­mi­schen Ein­fall? Mach’ nur nicht ein so bö­ses Ge­sicht! Weißt du, wie du jetzt aus­siehst? Gera­de wie Ma­de­moi­sel­le, die letz­te, Papa, von den vie­len, -- wenn sie böse war! ›Fräu­lein Ilse, ge­hen Sie auf Ihr Zim­mer mais tout-de-sui­te. Aben Sie mir com­pris!‹ Da­bei zog sie die Stirn in Fal­ten und riß die Au­gen auf -- so«, und sie ver­such­te es nach­zuah­men. »Oh, es war zu himm­lisch! Adieu Pa­pa­chen, zum Früh­stück kom­m’ ich zu­rück!«

Sie warf ihm noch eine Kuß­hand zu, lach­te ihn schel­misch an und fort ging’s im lus­ti­gen Tra­be hin­aus auf die Wie­se in den tau­fri­schen Som­mer­mor­gen hin­ein.

Herr Macket schüt­tel­te den Kopf, mit ei­nem Male stie­gen ernst­li­che Be­den­ken we­gen Il­ses Zu­kunft in ihm auf. Er fand den Ge­dan­ken, sie in eine Pen­si­on zu ge­ben, heu­te we­ni­ger schreck­lich, als ges­tern. Sie hat­te ihm so­eben den Be­weis ge­ge­ben, daß sie auch ihm Wi­der­stand ent­ge­gen­setz­te. Frei­lich muß­te er sich ge­ste­hen, daß er durch sei­ne Nach­gie­big­keit den­sel­ben in ihr groß ge­zo­gen hat­te.

Er ging in das Spei­se­zim­mer und trat von dort auf die Ve­ran­da, die wei­num­rankt sich an der Vor­der­sei­te des Hau­ses ent­lang zog. Sei­ne Frau er­war­te­te ihn dort am ge­deck­ten Früh­stücks­ti­sche.

Ganz ge­gen sei­ne Ge­wohn­heit war er still und ein­sil­big. »Hat­test du Unan­nehm­lich­kei­ten?« frag­te Frau Anne und reich­te ihm den Kaf­fee.

»Nein,« ent­geg­ne­te er, »das nicht.« Er hielt einen Au­gen­blick inne, als ob es ihm schwer wür­de, wei­ter zu spre­chen, dann fuhr er fort: »Ich möch­te dir eine Mit­tei­lung ma­chen, oder rich­ti­ger ge­sagt, dir mei­nen Ent­schluß we­gen uns­res gest­ri­gen Ge­sprä­ches ver­kün­den. Zum 1. Juli soll Ilse in die Pen­si­on.«

»Du scher­zest,« sag­te Anne und sah ihn fra­gend an.

»Es ist mein Ernst,« er­wi­der­te er. »Wirst du im stan­de sein, bis zu dem Ter­mi­ne al­les zu Il­ses Abrei­se ein­rich­ten zu kön­nen? Wir ha­ben heu­te den 12. Juni.«

»Ja, das wür­de ich kön­nen, lie­ber Richard; aber ver­zei­he, mir kommt dein Ent­schluß et­was über­eilt vor. Wird er dich nicht ge­reu­en? Laß Ilse die schö­nen Som­mer­mo­na­te noch ihre Frei­heit ge­nie­ßen und gib sie erst zum Herbs­te fort. Der Ab­schied von der Hei­mat wird ihr dann we­ni­ger schwer wer­den.«

»Nein, kei­ne Än­de­rung,« sag­te er, bei ei­nem län­ge­ren Hin­aus­schie­ben sei­nen Wan­kel­mut fürch­tend, »es bleibt da­bei -- zum 1. Juli wird sie an­ge­mel­det.«

Nach ei­ni­gen Stun­den kehr­te Ilse wohl­ge­mut mit er­hitz­ten Wan­gen und über und über mit Heu be­streut zum zwei­ten Früh­stücke zu­rück. Wie sie war, ohne den An­zug zu wech­seln, trat sie höchst ver­gnügt auf die Ve­ran­da.

»Da bin ich,« rief sie. »Bin ich lan­ge ge­blie­ben? Ich sage dir, Papa, das Heu ist kost­bar! Nicht einen Trop­fen Re­gen hat es be­kom­men. Du wirst dei­ne Freu­de dar­an ha­ben. Der Hof­meis­ter meint, so gut hät­ten wir es seit Jah­ren nicht ge­habt.«

»Laß das Heu jetzt, Ilse,« ent­geg­ne­te Herr Macket, »und höre zu, was ich dir sa­gen wer­de.«

Er sag­te es ziem­lich ernst, es wur­de ihm nicht leicht, von sei­nem Pla­ne zu spre­chen -- sie war so ah­nungs­los, ja sie nahm gar kei­ne No­tiz von sei­ner Stim­mung. Ihr Au­gen­merk war auf den wohl­be­setz­ten Früh­stücks­tisch ge­rich­tet, sie war sehr hung­rig von der Fahrt.

»Soll ich dir Früh­stück schnei­den?« frag­te Frau Anne freund­lich, aber Ilse lehn­te es ab.

»Ich will es schon selbst tun,« sag­te sie, nahm das Mes­ser und schnitt sich ein tüch­ti­ges Stück Schwarz­brot ab. Die But­ter strich sie fast fin­ger­dick dar­auf. Nach­dem sie ein dickes Stück Wurst zu­ge­langt hat­te, fing sie an, wohl­ge­mut zu es­sen. Bald von dem Bro­te, bald von der Wurst, die sie in der Hand hielt, einen Bis­sen neh­mend. Höchst un­ge­niert lehn­te sie da­bei hin­ten­über in ei­nem Ses­sel und schlug die Füße über­ein­an­der. Es schmeck­te ihr köst­lich.

»Ich den­ke, du woll­test mir et­was sa­gen, Pa­pa­chen!« rief sie mit vol­lem Mun­de, »nun schieß los, ich bin or­dent­lich neu­gie­rig dar­auf.«

Er zö­ger­te et­was mit der Ant­wort, noch war es Zeit, noch konn­te er sei­nen Ent­schluß zu­rück­neh­men -- einen Au­gen­blick über­leg­te er und es fehl­te nicht viel, so hät­te er es wirk­lich ge­tan, aber die Schwä­che ging vor­über und so ru­hig wie es ihm mög­lich war, teil­te er Ilse sei­nen Be­schluß mit.

Wenn er er­war­tet hat­te, daß sie sich stür­misch wi­der­set­zen wür­de, so hat­te er ge­irrt. Zwar blieb ihr buch­stäb­lich der Bis­sen im Mun­de ste­cken vor Über­ra­schung und Schreck, aber ihr Auge flog zur Mut­ter hin­über und sie un­ter­drück­te den Sturm, der in ihr tob­te. Um kei­nen Preis soll­te die­se er­fah­ren, wie furcht­bar es ihr war, die Hei­mat, den Va­ter vor al­lem, zu ver­las­sen, sie, die doch si­cher­lich nur al­lein die An­stif­te­rin die­ses Pla­nes war, denn der Papa -- nein! Nim­mer­mehr wür­de er sie von sich ge­ge­ben ha­ben!

»Nun, du schweigst?« frag­te Herr Macket, »du hast viel­leicht selbst schon die Not­wen­dig­keit ein­ge­se­hen, daß du noch tüch­tig ler­nen mußt, mein Kind, denn mit dei­nen Kennt­nis­sen ha­pert es noch über­all, nicht wahr?«

»Gar nichts habe ich ein­ge­se­hen!« platz­te Ilse her­aus, »du selbst hast mir ja oft ge­nug ge­sagt, ein Mäd­chen brau­che nicht so viel zu ler­nen, das all­zu vie­le Stu­die­ren ma­che es erst recht dumm! Ja, das hast du ge­sagt, Papa, und nun sprichst du mit ei­nem­mal an­ders. Nun soll ich fort, soll auf den Schul­bän­ken sit­zen zwi­schen an­dern Mäd­chen und ler­nen, bis mir der Kopf weh tut. Aber es ist gut, ich will auch fort, ja ich freue mich auf die Abrei­se. Wenn nur erst der 1. Juli da wäre!«

Und sie er­hob sich has­tig, warf den Rest ih­res Früh­stücks auf den Tisch und eil­te fort, hin­auf in ihr Zim­mer, und jetzt bra­chen die Trä­nen her­vor, die sie bis da­hin nur müh­sam zu­rück­ge­hal­ten hat­te.

Frau Anne wäre dem Kin­de gar zu gern ge­folgt, sie fühl­te, was in dem jun­gen Her­zen vor­ging, aber sie wuß­te ge­nau, daß Ilse ihre gü­ti­gen Wor­te trot­zig zu­rück­wei­sen wür­de; so blieb sie zu­rück und hoff­te auf die Zeit, wo Il­ses gu­tes Herz den Weg zu ih­rer müt­ter­li­chen Lie­be fin­den wer­de. -- --

Kapitel 2

Die we­ni­gen Wo­chen bis zum fest­ge­setz­ten Ter­mi­ne ver­gin­gen schnell. Frau Anne hat­te alle Hän­de voll zu tun, um Il­ses Gar­de­ro­be in Ord­nung zu brin­gen. Die Vor­ste­he­rin der Pen­si­on hat­te auf Herrn Mackets An­fra­ge so­fort geant­wor­tet und sich gern zu sei­ner Toch­ter Auf­nah­me be­reit er­klärt. Zu­gleich hat­te sie ein Ver­zeich­nis der Sa­chen mit­ge­schickt, die jede Pen­sio­nä­rin bei ih­rem Ein­tritt in das In­sti­tut mit­zu­brin­gen habe.

Ilse lach­te spöt­tisch über die, nach ih­rer Mei­nung vie­len un­nüt­zen Din­ge, be­son­ders die Haus­schür­zen fand sie ge­ra­de­zu lä­cher­lich. Sie hat­te bis da­hin nie­mals eine sol­che ge­tra­gen.

»Die dum­men Din­ger tra­ge ich doch nicht, Mama!« sag­te sie, als Frau Anne da­bei war, den Kof­fer zu pa­cken, »die brauchst du gar nicht ein­zu­le­gen.«

»Du wirst dich doch der all­ge­mei­nen Sit­te fü­gen müs­sen, mein Kind,« ent­geg­ne­te die Mut­ter. »Wa­rum woll­test du auch nicht? Sieh’ ein­mal her, die­se blau und weiß ge­streif­te Schür­ze mit den ge­stick­ten Za­cken rings­um, ist sie nicht ein rei­zen­der Schmuck für ein klei­nes Fräu­lein, das sich im Haus­hal­te nütz­lich ma­chen wird?«

»Ich wer­de mich aber im Haus­hal­te nicht nütz­lich ma­chen!« rief Ilse in un­ge­zo­ge­nem Tone, »das fehl­te noch! Ihr denkt wohl, ich soll dort in der Kü­che ar­bei­ten oder die Stu­ben auf­räu­men? Die Schür­zen tra­ge ich nicht, ich will es nicht!«

»Über­trei­be nicht, Ilse,« ent­geg­ne­te Frau Anne, »du weißt recht gut, daß man der­glei­chen nie von dir ver­lan­gen wird. Wenn du durch­aus die Schür­zen nicht tra­gen magst, so kannst du ja dei­nen Wunsch der Vor­ste­he­rin mit­tei­len, viel­leicht er­füllt sie dir den­sel­ben.«

»Ich wer­de sie nicht erst dar­um fra­gen! Sol­che Din­ge ge­hen sie gar nichts an!« war Il­ses un­ar­ti­ge Ant­wort.

Sie ver­ließ die Mut­ter, auf wel­che sie einen wah­ren Groll hat­te. All die schö­nen Wä­sche- und Klei­dungs­stücke, die Frau Anne mit Lie­be und Sorg­falt für sie aus­ge­wählt hat­te, fan­den kei­ne Gna­de vor ih­ren Au­gen, nicht einen Fun­ken In­ter­es­se zeig­te sie da­für.

Dem Papa er­klär­te sie, daß sie ein klei­nes Köf­fer­chen für sich selbst pa­cken wer­de. Nie­mand sol­le ihr da­bei hel­fen, nie­mand wis­sen, wel­che Schät­ze sie mit in das neue Heim hin­über­füh­ren wer­de.

»Das ist eine präch­ti­ge Idee, Il­schen,« stimm­te Herr Macket bei, »nimm nur mit, was dir Freu­de macht.«

Und er ließ so­fort einen al­ler­liebs­ten, klei­nen Kof­fer kom­men und über­rasch­te sei­nen Lieb­ling da­mit. Als Ilse ihm er­freut und dan­kend um den Hals fiel, als sie ihn seit län­ge­rer Zeit zum ers­ten­mal wie­der »mein klei­nes Pa’chen« nann­te, da wur­de es ihm so weich ums Herz, daß er sich ab­wen­den muß­te, um sei­ne Rüh­rung zu ver­ber­gen.

Am Tage vor ih­rer Abrei­se schloß sich Ilse in ihr Zim­mer ein und be­gann zu pa­cken. Aber wie! Bunt durch­ein­an­der, wie ihr die Sa­chen in die Hand ka­men. Zu­erst das ge­lieb­te Blu­sen­kleid nebst Le­der­gür­tel, es wur­de nur so in den Kof­fer hin­ein­ge­wor­fen und mit den Hän­den et­was fest­ge­drückt, dann die ho­hen Le­ders­tie­fel mit Staub und Schmutz, wie sie wa­ren, dann eine alte Zieh­har­mo­ni­ka, auf der sie nur ein paar Töne her­vor­brin­gen konn­te, ein neu­es Hun­de­hals­band mit ei­ner lan­gen Lei­ne dar­an, ein aus­ge­stopf­ter Ka­na­ri­en­vo­gel, und zu­letzt, nach­dem die wun­der­bars­ten Din­ge in den Kof­fer ge­wan­dert wa­ren, griff sie nach ei­nem Gla­se, in wel­chem ein Laub­frosch saß. Es ist kaum zu glau­ben, in­des­sen auch die­ses soll­te mit­ver­packt wer­den, -- sie hat­te sich so an das Tier­chen ge­wöhnt. Sie nahm ein gu­tes, ge­stick­tes Ta­schen­tuch aus dem Kom­mo­den­kas­ten, band das­sel­be über das Glas, leg­te auch noch eine Pa­pier­hül­le dar­über, schnitt ganz klei­ne Lö­cher in bei­des und steck­te ei­ni­ge Flie­gen hin­durch.

»So,« sag­te sie höchst be­frie­digt von ih­rer Pa­cke­rei, »nun bist du gut ver­sorgt, mein lie­bes Tier­chen, und wirst nicht ver­hun­gern auf der wei­ten Rei­se.«

Wie sie das Glas hin­ein­brach­te in den Kof­fer, war wirk­lich ein Kunst­stück, das ihr erst nach vie­ler Mühe ge­lang. Aber end­lich war sie doch so weit, daß sie den De­ckel schlie­ßen konn­te. Er klemm­te et­was und Ilse muß­te sich erst dar­auf knie­en, be­vor der­sel­be ins Schloß fiel. Den klei­nen Schlüs­sel zog sie ab, be­fes­tig­te ihn an ei­ner schwar­zen Schnur und band die­se sich um den Hals.

Als das Abend­brot ver­zehrt war und die El­tern noch am Ti­sche sa­ßen, ging Ilse in den Hof und mach­te eine Run­de durch alle Stäl­le. Von den Hüh­nern, Tau­ben, Kü­hen, Pfer­den -- sie hat­te so vie­le Lieb­lin­ge dar­un­ter -- nahm sie Ab­schied; mor­gen soll­te sie ja alle auf lan­ge Zeit ver­las­sen. Das Le­be­wohl von den Hun­den wur­de ihr am schwers­ten, sie wa­ren alle ihre gu­ten Freun­de. Dia­nas Spröß­lin­ge, die schon al­ler­liebst her­an­ge­wach­sen wa­ren und sie zärt­lich be­grüß­ten, lock­ten ihr Trä­nen des tiefs­ten Lei­des her­vor.

Ne­ben ihr stand Jo­hann. Er hat­te das klei­ne Fräu­lein vom ers­ten Tage ih­res Le­bens an ge­kannt und lieb­te sie ab­göt­tisch. Als er ihre Trä­nen sah, lie­fen auch ihm ei­ni­ge Trop­fen über die Wan­gen.

»Wenn das klei­ne Fräu­lein wie­der­kommt,« sag­te er mit kläg­li­cher Stim­me und fuhr mit der ver­kehr­ten Hand über die Wan­ge, »dann wird es wohl eine große Dame sein. Ja ja, Fräu­lein Il­schen, uns­re schö­ne Zeit ist da­hin! Ach und die Hun­de, wie wer­den sie das Fräu­lein ver­mis­sen! Die sind ge­scheit! Men­sch­li­chen Ver­stand hat das dum­me Vieh! Wie sie schmei­cheln, die klei­nen Kro­ba­ten, als ob sie wüß­ten, daß un­ser klei­nes Fräu­lein mor­gen ab­reist -- --« hier wur­de sei­ne Stim­me so un­si­cher, daß er nicht wei­ter spre­chen konn­te.

»Jo­hann,« ent­geg­ne­te Ilse un­ter Schluch­zen, »sor­ge für die Hun­de. Und wenn du mir einen großen -- den letz­ten Ge­fal­len tun willst, so,« hier sah sie sich erst vor­sich­tig nach al­len Sei­ten um, ob auch nie­mand in der Nähe war, »so nimm Bob,« die­sen Na­men hat­te sie Dia­nas klei­nem Söhn­chen ge­ge­ben, »mit auf den Kut­scher­bock mor­gen, wenn du mich zur Bahn fährst, aber heim­lich. Nie­mand darf es wis­sen, ich will ihn mit­neh­men. Ein Hals­band und eine Lei­ne habe ich schon ein­ge­packt. Aber Jo­hann, heim­lich, hörst du?«

Der Kut­scher war glück­lich über die­sen Auf­trag und daß er dem lie­ben, klei­nen Fräu­lein noch einen Lie­bes­dienst er­wei­sen konn­te. Er lä­chel­te ver­schmitzt und ver­sprach, Bob so ge­schickt un­ter­zu­brin­gen, daß kei­ne mensch­li­che See­le von dem Hun­de et­was mer­ken sol­le.

Früh am an­dern Mor­gen stand der Wa­gen vor der Tür, der Ilse fort­brin­gen soll­te. Herr Macket be­glei­te­te sie bis W., um sie der Vor­ste­he­rin, Fräu­lein Rai­mar, selbst zu über­brin­gen. Er muß­te sich doch per­sön­lich über­zeu­gen, wo und wie sein Lieb­ling auf­ge­ho­ben sein wer­de. Frau Anne na­he­te sich Ilse im letz­ten Au­gen­blick, um zärt­lich und ge­rührt von ih­rem Kin­de Ab­schied zu neh­men, aber die­se mach­te ein fins­te­res, trot­zi­ges Ge­sicht und ent­wand sich der Mut­ter Ar­men.

»Lebe wohl,« sag­te sie kurz und sprang in den Wa­gen; nicht um die Welt hät­te sie der Mut­ter ver­ra­ten mö­gen, wie weh und schmerz­lich ihr das Schei­den wur­de.

Als der Wa­gen sich in Be­we­gung setz­te und Dia­na den­sel­ben laut bel­lend noch eine kur­ze Stre­cke be­glei­te­te, bog sie sich weit zum Wa­gen hin­aus mit trä­nen­den Au­gen und nick­te ihr zu. Gut war es, daß der Va­ter nichts von den Trä­nen merk­te, er wür­de viel­leicht au­gen­blick­lich Kehrt ge­macht ha­ben.

Auf dem Bahn­ho­fe, als al­les be­sorgt und Ilse mit dem Papa in das Kou­pee ge­stie­gen war, trat Jo­hann hin­zu mit Bob un­ter dem Arme und der Müt­ze in der Hand.

»Le­ben Sie recht wohl, Fräu­lein Il­schen, und kom­men Sie gut hin,« sag­te er et­was ver­le­gen. »Die Hun­de wer­de ich schon be­sor­gen, da­für ha­ben Sie nur kei­ne Angst nicht. Den hier neh­men Sie wohl mit, es ist doch gut, wenn Sie nicht so al­lein in der Pen­si­on sind.«

Ilse jauchz­te vor Freu­de. Sie nahm den Hund in Empfang, lieb­kos­te und strei­chel­te ihn, dann reich­te sie Jo­hann die Hand.

»Leb wohl,« sag­te sie, »und habe Dank. Ich freue mich zu sehr, daß ich ein Hünd­chen mit mir neh­men kann.«

»Ja, aber Ilse, das geht doch nicht,« wand­te der er­staun­te Obe­r­amt­mann ein, »du darfst doch kei­ne Hun­de mit in das In­sti­tut brin­gen. Sei ver­nünf­tig und gib Bob Jo­hann wie­der zu­rück.«

Doch dar­an war nicht zu den­ken. Ilse ließ sich durch kei­ne Vor­stel­lung dazu be­we­gen.

»Die ein­zi­ge Freu­de laß mir, Pa’chen! Willst du mich denn ganz al­lein un­ter den frem­den Men­schen las­sen? Wenn Bob bei mir ist, dann habe ich doch einen gu­ten Freund. Nicht wahr, Bob­chen, du willst nicht wie­der fort von mir,« wand­te sie sich an den Hund, der es sich be­reits höchst be­quem auf ih­rem Scho­ße ge­macht hat­te, »du bleibst nun im­mer bei mir!«

Es war dem Obe­r­amt­mann un­mög­lich, ein Macht­wort da­ge­gen zu spre­chen, zu­mal ja Ilse so trif­ti­ge Grün­de für ih­ren Wunsch an­führ­te. Am meis­ten über­zeug­te ihn der Ge­dan­ke, daß die Klei­ne doch einen hei­mat­li­chen Trost mit in die Frem­de bräch­te.

Es war eine lan­ge und ziem­lich lang­wei­li­ge Fahrt, meist durch fla­ches Land, erst zu­letzt ka­men die Ber­ge. Für Ilse tat sich eine neue Welt auf, sie hat­te noch nie eine so große Rei­se ge­macht. Auf je­der Sta­ti­on schau­te sie mit neu­gie­ri­gen Au­gen hin­aus, je­des Bahn­wärt­er­häus­chen amü­sier­te sie. Über all den neu­en Ein­drücken, die sich ihr auf­dräng­ten, trat der Tren­nungs­schmerz in den Hin­ter­grund.

Spät am Abend, es war zehn Uhr vor­bei, lang­ten sie in W. an. Na­tür­lich über­nach­te­te Ilse mit ih­rem Va­ter im Ho­tel, erst am an­dern Mor­gen soll­te sie in ihre neue Hei­mat ein­ge­führt wer­den.

Als es am nächs­ten Tage neun Uhr schlug, stand Ilse fer­tig an­ge­zo­gen vor ih­rem Papa. Sie sah in ih­rem grau­en Rei­se­klei­de und den zier­li­chen Le­ders­tie­feln ganz al­ler­liebst aus. Un­ter dem run­den, wei­ßen Stroh­hu­te, der mit ei­nem Feld­sträuß­chen und schwar­zen Samt­band auf­ge­putzt war, fie­len die brau­nen Lo­cken her­ab. Die schö­nen, großen Au­gen blick­ten heu­te nicht so fröh­lich wie sonst, sie hat­ten einen ängst­lich er­war­tungs­vol­len Aus­druck, und um den Mund zuck­te es in ner­vö­ser Auf­re­gung.

»Dir fehlt doch nichts, Il­schen?« frag­te Herr Macket und sah sein Kind be­sorgt an. »Du bist so blaß, hast du schlecht ge­schla­fen?«

Die herz­li­che Fra­ge des Va­ters lös­te mit ei­nem­mal die un­na­tür­li­che Span­nung in Il­ses We­sen. Sie fiel ihm um den Hals, und die bis da­hin trot­zig zu­rück­ge­hal­te­nen Trä­nen bra­chen mit al­ler Macht her­vor.

»Aber Kind, Kind,« sag­te Herr Macket sehr ge­ängs­tigt durch ihre Lei­den­schaft­lich­keit, »du wirst ja nicht lan­ge von uns ge­trennt blei­ben. Ein Jahr ver­geht schnell, und zu Weih­nach­ten be­suchst du uns. Komm, Klei­nes, trock­ne die Trä­nen. Du mußt dir das Herz nicht schwer ma­chen. Du wirst uns flei­ßig Brie­fe schrei­ben und die Mama oder ich wer­den dir täg­lich Nach­richt ge­ben von uns, von al­lem, was dich in Moos­dorf in­ter­es­siert.« Und er nahm sein Ta­schen­tuch und trock­ne­te da­mit die im­mer von neu­em her­vor­bre­chen­den Trä­nen sei­nes Kin­des.

Der Obe­r­amt­mann be­fand sich in ei­ner gleich auf­ge­reg­ten Stim­mung wie sein Kind, es wur­de ihm nicht leicht zu trös­ten, wo er selbst des Tros­tes be­dürf­tig war. So schwer hat­te er sich die Tren­nung nicht ge­dacht, er wür­de sonst nicht dar­ein ge­wil­ligt ha­ben; aber da er das ein­mal ge­tan hat­te, woll­te er sich in die Not­wen­dig­keit fü­gen.

Er strich Ilse das Haar aus der Stirn und setz­te ihr den her­ab­ge­sun­ke­nen Hut wie­der auf. »Komm,« sag­te er, »jetzt wol­len wir ge­hen. Nun sei ein ver­stän­di­ges Kind.«

»Die Mama soll mir nicht schrei­ben!« stieß Ilse schluch­zend her­aus, »nur dei­ne Brie­fe will ich ha­ben! Mei­ne Brie­fe an dich soll sie auch nicht le­sen!«

»Ilse!« ver­wies Herr Macket, »so darfst du nicht spre­chen. Die Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir.«

»Sehr gut!« wie­der­hol­te sie in kin­di­schem Zor­ne, »wenn sie mich lieb hät­te, wür­de sie mich nicht ver­sto­ßen ha­ben!«

»Ver­sto­ßen! Du weißt nicht, was du sprichst, Ilse! Wer­de erst äl­ter, dann wirst du das große Un­recht ein­se­hen, das du heu­te dei­ner Mut­ter an­tust, und dei­ne bö­sen Wor­te be­reu­en.«

»Sie ist nicht mei­ne Mut­ter, -- sie ist mei­ne Stief­mut­ter!«

»Du bist kin­disch!« sag­te der Obe­r­amt­mann, »aber mer­ke dir, nie­mals wie­der will ich der­glei­chen Äu­ße­run­gen von dir hö­ren. Du kränkst mich da­mit!«

Ilse sah schmol­lend zur Erde nie­der und konn­te nicht be­grei­fen, wie es kam, daß der Papa sie nicht ver­stand, er muß­te doch ein­se­hen, wie un­recht ihr ge­sch­ah.

»Komm jetzt,« fuhr er in mil­dem Tone fort, »wir wol­len ge­hen, mein Kind.« Sie er­griff den Hund, nahm ihn auf den Arm und woll­te so aus­ge­rüs­tet dem Va­ter fol­gen.

»Laß ihn zu­rück,« ge­bot der­sel­be, »wir wol­len die Vor­ste­he­rin erst fra­gen, ob du ihn mit­brin­gen darfst.«

Aber Ilse setz­te ih­ren Kopf auf, »dann gehe ich auch nicht,« er­klär­te sie mit al­ler Be­stimmt­heit. »Ohne Bob blei­be ich auf kei­nen Fall in der Pen­si­on!«

Macket tat dem Ei­gen­sin­ne den Wil­len aus Furcht, von neu­em Trä­nen her­vor­zu­lo­cken. Aber Il­ses Wi­der­stand war ihm im höchs­ten Gra­de pein­lich. Was soll­te Fräu­lein Rai­mar den­ken!

Eine Vier­tel­stun­de dar­auf stan­den Va­ter und Toch­ter vor ei­nem statt­li­chen, zwei­stö­cki­gen Hau­se, das vor dem Tore der klei­nen Stadt mit­ten im Grü­nen lag; es war das In­sti­tut des Fräu­lein Rai­mar.

Der Obe­r­amt­mann blieb über­rascht da­vor ste­hen. »Sieh Ilse, welch ein schö­nes Ge­bäu­de!« rief er höchst be­frie­digt. »Der Blick von hier aus in die na­hen Ber­ge ist ge­ra­de­zu be­zau­bernd.«

Was küm­mer­ten sie die Ber­ge! Sie fühl­te sich so ge­drückt von Kum­mer, daß ihr die gan­ze Welt ein Jam­mer­thal dünk­te.

»Wie kannst du dies Haus schön fin­den, Papa,« ent­geg­ne­te sie. »Wie ein Ge­fäng­nis sieht es aus.«

Herr Macket lach­te. »Be­trach­te doch die ho­hen, brei­ten Fens­ter, Kind,« sag­te er. »Glaubst du, daß in ei­nem Ge­fäng­nis­se ähn­li­che zu fin­den sind? Die ar­men Ge­fan­ge­nen sit­zen hin­ter klei­nen, blin­den Schei­ben, die au­ßer­dem noch mit ei­nem Ei­sen­git­ter ver­se­hen sind.«

»Ich wer­de jetzt auch eine Ge­fan­ge­ne sein, Papa, und du selbst lie­ferst mich in dem Ge­fäng­nis­se ab.«

»Du bist eine klei­ne När­rin!« lach­te er und brach das Ge­spräch, das ihm be­denk­lich zu wer­den schi­en, ab.

Er stieg die brei­ten, stei­ner­nen Stu­fen, die zu dem Ein­gan­ge führ­ten, hin­auf und zog an der Klin­gel. Ilse, die ihm lang­sam ge­folgt war, schrak un­will­kür­lich zu­sam­men, als sie den hel­len Schall im Hau­se ver­nahm.

Gleich dar­auf wur­de die Tür von ei­ner Magd ge­öff­net. Nach­dem die­sel­be die An­ge­kom­me­nen ge­mel­det hat­te, wur­den sie in das Empfangs­zim­mer der Vor­ste­he­rin ge­führt.

Be­vor sie das­sel­be er­reich­ten, muß­ten sie den Haus­flur und einen lan­gen Kor­ri­dor, von wel­chem zwei Aus­gän­ge in einen schö­nen, großen Hof führ­ten, durch­schrei­ten. Es war ge­ra­de die Früh­stücks­pau­se in der Schu­le und so war es na­tür­lich, daß über­all la­chend und plau­dernd große und klei­ne Mäd­chen um­her­stan­den. Sie ver­stumm­ten, als sie die neue Pen­sio­nä­rin, von der sie wuß­ten, daß sie heu­te an­kom­men wer­de, er­blick­ten, und al­ler Au­gen rich­te­ten sich auf Ilse, der es plötz­lich höchst be­klom­men zu Mute wur­de. Es schi­en ihr, als höre sie ver­steck­tes Ki­chern hin­ter sich und sie war herz­lich froh, als die Tür in dem Empfangs­zim­mer sich hin­ter ihr schloß. Noch war das­sel­be leer.

Ilse blick­te sich um, und in die­sem großen, vor­neh­men Rau­me, der künst­le­risch und ele­gant zu­gleich ein­ge­rich­tet war, stieg mit ei­nem Male ein et­was ban­ges Ge­fühl in ihr auf we­gen Bob, sie wünsch­te fast, des Va­ters Wil­len ge­folgt zu sein. Hät­te sie den Hund in ih­rem Arme plötz­lich un­sicht­bar ma­chen kön­nen, sie hät­te es ge­tan. Nun woll­te der Un­ar­ti­ge auch noch her­un­ter auf den Bo­den, und die­sen Wunsch konn­te sie ihm doch un­mög­lich er­fül­len, wie hät­te sie wa­gen dür­fen, ihn auf den kost­ba­ren Tep­pich, der durch das Zim­mer ge­brei­tet lag, her­ab zu las­sen!

Die Tür öff­ne­te sich und Fräu­lein Rai­mar trat ein. Sie be­grüß­te Herrn Macket mit stei­fer Freund­lich­keit, dann blick­te sie mit ih­ren stahl­grau­en Au­gen, die einen zwar stren­gen, erns­ten, trotz­dem aber ge­win­nen­den Aus­druck hat­ten, auf Ilse. Die­se war dicht an den Va­ter ge­tre­ten und hat­te sei­ne Hand er­grif­fen.

»Sei will­kom­men, mein Kind!« Mit die­sen Wor­ten be­grüß­te die Vor­ste­he­rin Ilse und reich­te ihr die Hand. »Ich den­ke, du wirst dich bald bei uns hei­misch füh­len.« Als sie den Hund sah, frag­te sie: »Hat dich dein Hund bis hier­her be­glei­tet?«

Ilse blick­te et­was hilf­los den Papa an, der dann auch für sie das Wort nahm. »Sie moch­te sich nicht von ihm tren­nen, Fräu­lein Rai­mar,« sag­te er et­was ver­le­gen, »sie glaub­te, daß Sie die Güte ha­ben wür­den, ih­ren klei­nen Ka­me­ra­den mit ihr auf­zu­neh­men.«