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Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT+KRITIK. Ein Klassiker der »Backfisch-Literatur«: Die temperamentvolle Ilse wird vom väterlichen Hof ins Internat geschickt. Hier soll sie, die bis dahin eher wild aufgewachsen ist, standesgemäß erzogen werden. Sie findet Freundinnen, mit denen sie heitere Stunden verlebt, lernt aber auch die traurigen Seiten des Lebens kennen. Die großen Gefühle und die Natürlichkeit des »Trotzkopfs« begeistern bis heute ungebrochen.
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Seitenzahl: 347
Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen (Fischer Klassik PLUS)
Fischer e-books
»Papa, Diana hat Junge!« Mit diesen Worten trat ungestüm ein junges, schlankes Mädchen von fünfzehn Jahren in das Zimmer, in dem sich außer dem Angeredeten, dessen Frau und dem Pfarrer des Ortes noch Besuch aus der Nachbarschaft, ein Herr von Schäffer mit seiner Frau und seinem erwachsenen Sohne, befand.
Alle lachten und wandten sich dem Backfisch zu, der ohne jede Verlegenheit auf den Papa zueilte und ausführlich über das wichtige Ereignis berichtete.
»Es sind vier Stück, Papa«, erzählte das Mädchen lebhaft, »und braun sehen sie aus, wie Diana. Komm, sieh dir sie an, es sind zu reizende Tierchen! Vorn an den Pfötchen haben sie weiße Flecke. Ich habe gleich einen Korb geholt und mein Kopfkissen hineingelegt; sie müssen doch warm liegen, die kleinen Dinger!«
Herr Oberamtmann Macket hatte den Arm um die Schultern seines Lieblings gelegt und strich ihm das wirre Lockenhaar aus dem erhitzten Gesicht; dabei sah er sein Kind mit wohlgefälligen Blicken an, was eigentlich verwundern konnte, da das Äußere Ilses durchaus nicht geeignet war, Wohlgefallen zu erregen, besonders in diesem Augenblick, wo fremde Augen es musterten. Das blusenartige und abgetragene dunkelblaue Waschkleid, das von einem Ledergürtel gehalten wurde, mochte wohl recht bequem sein, aber kleidsam war es nicht, und einige Flecke und Risse darin waren ebenfalls nicht geeignet, sein Aussehen zu heben. Die hohen, plumpen Lederstiefel, die unter dem kurzen Kleide hervorblickten, waren sehr staubig und sahen eher grau als schwarz aus. Aber, wie gesagt, Herrn Macket störte dies alles nicht; er sah in die fröhlichen braunen Augen seines Lieblings, die Kleider machten ihm gar nichts aus.
Er war eben im Begriff, sich zu erheben, um den Wunsch seines Kindes zu erfüllen, als seine Gattin, eine vornehme Erscheinung mit sanften und doch bestimmten Zügen, ihm zuvorkam. Sie war aufgestanden und auf Ilse zugegangen. »Liebe Ilse«, sagte sie in freundlichem Tone und nahm sie bei der Hand, »ich möchte dir etwas sagen. Willst du mir für einen Augenblick in mein Zimmer folgen?«
Sehr ruhig, aber sehr bestimmt hatte sie diese Worte gesprochen, und Ilse fühlte, daß ein Widerstand vergeblich sein würde. Ungern und gezwungen folgte sie der Mutter in das anstoßende Zimmer.
»Was willst du mir sagen, Mama?« fragte sie und sah Frau Macket trotzig an.
»Nichts weiter, mein Kind, als daß du sogleich auf dein Zimmer gehst und dich umkleidest. Du wußtest wohl nicht, daß wir Gäste haben?«
»Doch, ich wußte es, aber ich mache mir nichts daraus«, gab Ilse kurz zur Antwort.
»Aber ich, Ilse. Mir kann es nicht gleichgültig sein, wenn du in einem so unordentlichen Kleide dich blicken läßt. Du bist kein Kind mehr mit deinen fünfzehn Jahren; bedenke, daß du seit Ostern konfirmiert bist! Eine angehende junge Dame aber muß den Anstand wahren. Was soll der junge Schäffer von dir denken! Er wird dich auslachen und dich verspotten.«
»Der dumme Mensch!« fuhr Ilse auf. »Ob der über mich lacht oder spottet, ist mir ganz gleichgültig. Ich lache auch über ihn. Tut, als ob er ein Herr wäre mit seiner Hornbrille, und geht doch noch in die Schule!«
»Er ist Primaner und neunzehn Jahre alt. Nun sei vernünftig und kleide dich um, Kind. Hörst du?«
»Nein, ich ziehe kein anderes Kleid an! Ich will mich nicht aufputzen.«
»Wie du willst. Aber dann bitte ich dich, ja, ich wünsche es entschieden, daß du in deinem Zimmer bleibst und dein Abendbrot dort verzehrst«, gab Frau Macket mit großer Ruhe zur Antwort.
Ilse biß sich auf die Unterlippe und trat mit dem Fuße heftig auf den Fußboden, aber sie sagte nichts. Mit einer schnellen Wendung ging sie zur Tür hinaus und warf sie unsanft hinter sich zu. Oben in ihrem Zimmer ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und weinte Tränen des bittersten Unmutes. »Oh, wie schrecklich ist es jetzt!« stieß sie schluchzend heraus. »Warum hat auch der Papa wieder eine Frau genommen! Es war alles viel schöner, als wir beide allein waren. Alle Tage muß ich lange Reden hören über Sitte und Anstand, und ich will doch keine Dame sein, ich will es nicht, und wenn sie es zehnmal sagt!«
Als sie mit ihrem Vater noch allein war, führte sie freilich ein ungebundeneres und lustigeres Leben. Niemand hatte ihr Vorschriften zu machen oder durfte sie an ihren dummen Streichen hindern; was sie auch tat, es galt als unübertrefflich. Das Lernen wurde als langweilige Nebensache betrachtet, und die Erzieherinnen fügten sich entweder dem Willen ihrer Schülerin oder sie gingen davon. Beklagte sich dann mal diese oder jene bei dem Vater und hatte der Vater wirklich den festen Entschluß gefaßt, ein Machtwort gegen sein unbändiges Kind zu sprechen, so kam er doch nicht dazu, seinen Vorsatz auszuführen. Sobald er mit ernster Miene Ilse gegenübertrat, fiel sie ihm um den Hals, nannte ihn ihren ›einzigen, kleinen Papa‹, obgleich Herr Macket ein sehr großer und kräftiger Mann war, und küßte ihn stürmisch. Versuchte er, ihr ernste Vorstellungen zu machen, hielt sie ihm den Mund zu.
›Ich weiß ja alles, was du mir sagen willst, und ich will mich ganz gewiß bessern!‹ Mit solchen und ähnlichen Worten und Versprechungen tröstete sie den Papa. Ach, wie gern ließ er sich so trösten! Er konnte dem Kinde nie ernstlich zürnen, es war ja sein Alles.
Als Ilses Mutter starb, hatte sie ihm das kleine, hilflose Ding in den Arm gelegt. Es hatte die schönen und frohen Augen der früh verstorbenen Mutter, und blickte es den Vater an, dann war es ihm, als ob die Gattin, die er so sehr geliebt hatte, ihn anlächle.
Viele Jahre war Herr Macket einsam geblieben und hatte nur für sein Kind gelebt. Da lernte er seine zweite Frau kennen. Ihr kluges und sanftes Wesen sprach ihn so sehr an, daß er sie heiratete.
Frau Anne betrat das Haus ihres Mannes mit dem festen Vorsatz, seinem Kinde die treueste, liebevollste Mutter zu sein und alles aufzubieten, ihm die früh verlorene Mutter zu ersetzen; aber jede herzliche Annäherung von ihrer Seite scheiterte an Ilses trotzigem Widerstand. Fast ein Jahr waltete sie nun schon als Frau Macket im Hause, und noch immer hatte sie es nicht vermocht, Ilses Liebe zu gewinnen.
Die Gäste blieben zum Abendessen auf Moosdorf. So hieß das große Gut des Oberamtmannes Macket. Als der Tisch gedeckt war und alle sich gesetzt hatten, fragte Herr Macket, warum Ilse noch nicht da sei.
Frau Anne erhob sich und zog an der Klingelschnur. Dem eintretenden Mädchen befahl sie, das Fräulein zu Tisch zu rufen.
Ilse saß noch in derselben Stellung am Fenster. Sie hatte sich eingeschlossen, und die Magd mußte erst tüchtig pochen und rufen, ehe Ilse sich bequemte, die Tür zu öffnen.
»Sie sollen herunterkommen, Fräulein! Die gnädige Mama hat es befohlen«, sagte Katharine und betonte das ›sollen‹ und ›befohlen‹ unverkennbar stark.
»Ich soll«, rief Ilse und wandte den Kopf hastig zu Katharine, »aber ich will nicht! Sag das der gnädigen Frau Mama!«
»Ja«, sagte Katharine, so recht befriedigt von dieser Antwort, denn auch sie war durchaus nicht damit einverstanden gewesen, daß wieder eine Frau ins Haus gekommen war, die der schönen Freiheit ein Ende bereitet hatte. »Ja, ich werd’s bestellen. Gnädiges Fräulein haben ganz recht, das ewige Befehlen, wenn man selbst alt genug ist, ist höchst unpassend, noch dazu, wenn fremde Leute dabei sind.«
Sie ging hinunter in das Speisezimmer und gab Ilses Antwort wörtlich wieder.
Herr Macket blickte seine Frau verlegen an; er wußte gar nicht, was diese Antwort bedeuten sollte.
Sie verstand seine stumme Frage, und ohne sich im geringsten den Unmut anmerken zu lassen, den sie empfand, sagte sie gelassen: »Ilse ist nicht ganz wohl, mein lieber Mann, sie klagte etwas über Kopfschmerzen. Katharine hat ihre Antwort ungeschickt wiedergegeben.«
Alle Anwesenden errieten sofort, daß Frau Anne eine Ausrede gebrauchte, nur Herr Macket glaubte, daß sie die Wahrheit sagte. »Wollen wir nicht lieber einen Boten zum Arzt schicken?« fragte er besorgt.
Die Antwort darauf gab ihm seine Tochter selbst, das heißt, sie bewies ihm, daß ihr nicht das geringste fehlte. Laut jubelnd und lachend trieb sie einen Reifen mit einem Stock über den großen Rasenplatz und Tyras, der Jagdhund, sprang ihr nach. Wenn er mit seinen Pfoten den Reifen beinahe erhascht hatte und ihn doch nicht halten konnte, stieß er ein verärgertes Geheul aus, worüber Ilse gar nicht genug lachen konnte.
Herrn Mackets Gesicht verklärte sich sichtlich bei diesem Anblick. Er stand auf und trat in die offenstehende Flügeltür des Zimmers.
Er war eben im Begriff, Ilse zu rufen, da hielt ihn Frau Anne zurück. »Laß sie, ich bitte dich, lieber Mann!« bat sie, vor Unwillen leicht errötend, und zu den Gästen gewendet, setzte sie hinzu: »Es tut mir leid, nun doch die Wahrheit sagen zu müssen, aber Ilses Benehmen zwingt mich dazu.« Und sie erzählte in gemilderter Form den kleinen Vorfall.
Darüber wurde allgemein gelacht, ja, Herr von Schäffer behauptete, die Kleine habe Temperament, und es sei schade, daß sie kein Junge sei. Seine Frau vermochte ihm jedoch nicht beizustimmen, sie fand das wilde Mädchen geradezu entsetzlich und nannte es auf dem Heimwege ein ›enfant terrible‹.
Als die Gäste fortgefahren waren, blieb der Pfarrer, ein wohlwollender, nachsichtiger Mann, der Ilse väterlich zugetan war, noch zurück. Er hatte sie getauft und eingesegnet, und unter seinen Augen war sie herangewachsen. Seit kurzer Zeit, nachdem die letzte Erzieherin ihren Abschied genommen hatte, leitete er auch ihren Unterricht. Ein beinahe peinliches Stillschweigen trat jetzt ein. Jeder der drei Anwesenden hatte etwas auf dem Herzen und scheute sich doch, das erste Wort zu sprechen. Herr und Frau Macket saßen am Tisch, er rauchend, sie eifrig mit einer Handarbeit beschäftigt. Pfarrer Wollert ging im Zimmer auf und ab, er sah recht ernst und nachdenklich aus.
Endlich blieb er vor dem Oberamtmann stehen. »Es geht nicht anders, lieber Freund«, sagte er zu ihm, »das Wort muß heraus. Es geht nicht mehr so weiter; wir können das unbändige Kind nicht zügeln, es ist uns über den Kopf gewachsen.«
Der Oberamtmann sah den Pfarrer verwundert an. »Wie meinen Sie das?« fragte er. »Ich verstehe Sie nicht.«
»Meine Meinung ist, geradeheraus gesagt, die«, fuhr der Pfarrer fort, »das Kind muß fort von hier, in ein Pensionat.«
»Ilse in ein Pensionat? Aber warum? Sie hat doch nichts verbrochen!« rief Macket ganz erschrocken aus.
»Verbrochen?« wiederholte lächelnd der Pfarrer. »Nein, nein, das hat sie nicht. Aber muß denn ein Kind erst etwas Böses getan haben, ehe man es in ein Institut schickt? Ein Institut ist doch keine Strafanstalt! Hören Sie mich ruhig an, lieber Freund«, fuhr er besänftigend fort und legte die Hand auf Mackets Schulter, als er sah, daß dieser heftig auffahren wollte. »Sie wissen, wie ich Ilse liebe, und wissen auch, daß ich nur das Beste für sie im Auge habe. Nun, ich habe alles reiflich überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß Sie, Ihre Frau und ich nicht Macht genug besitzen, das Mädchen zu erziehen. Sie trotzt uns allen dreien. Was soll daraus werden? Soeben hat sie wieder ein glänzendes Beispiel ihrer widerspenstigen Natur gegeben.«
Der Oberamtmann trommelte auf dem Tisch. »Das war eine Ungezogenheit, die ich bestrafen werde«, sagte er. »Etwas Schlimmes kann ich nicht darin finden. Lieber Himmel, Ilse ist jung, halb noch ein Kind, und Jugend muß sich austoben. Weshalb soll man einem übermütigen Mädchen so strenge Fesseln anlegen und es Knall auf Fall in ein Pensionat bringen? Was ist dabei, wenn es einmal über die Stränge schlägt! Verstand kommt nicht vor den Jahren. – Was sagst du dazu, Anne?« wandte er sich an seine Frau. »Du denkst wie ich, nicht wahr?«
»Ich dachte so wie du«, entgegnete Frau Anne, »als ich vor einem Jahr dieses Haus betrat. Heute jedoch urteile ich anders, heute muß ich dem Herrn Pfarrer recht geben. Ilse ist schwer zu erziehen, trotz aller Herzensgüte, die sie besitzt. Ich weiß nichts mit ihr anzufangen, soviel Mühe ich mir auch gebe. Gewöhnlich geschieht das Gegenteil von dem, was ich ihr sage. Bitte ich sie, ihre Aufgaben zu machen, so tut sie entweder, als ob sie mich nicht verstanden habe, oder sie nimmt nur widerwillig ihre Bücher, wirft sie auf den Tisch, setzt sich davor und treibt allerlei andere Dinge. Nach kurzer Zeit erhebt sie sich wieder – und fort ist sie. Da hilft kein gütiges Zureden, keine Strenge; sie will einfach nicht! Frage den Herrn Pfarrer, wie lückenhaft Ilses Schulbildung ist, wie sie zuweilen sogar noch orthographische Fehler macht.«
»Was kommt’s bei einem Mädchen darauf an!« entgegnete Herr Macket und erhob sich. »Eine Gelehrte soll sie nicht werden; wenn sie einen Brief schreiben kann und das Einmaleins gelernt hat, weiß sie genug.«
Der Pfarrer lächelte. »Das kann nicht Ihr Ernst sein, lieber Freund. Oder würde es Ihnen Freude machen, wenn man von Ihrer Tochter sagte, daß sie dumm sei und nichts gelernt habe? Ilse hat gute Anlagen, es fehlt ihr nur der Wille und die Lust zum Lernen. Beides wird sich einstellen, sobald sie unter junge Mädchen ihres Alters kommt. Deren Streben wird ihren Ehrgeiz wecken und ihr bester Lehrmeister sein.«
Die Richtigkeit dieser Worte leuchtete Herrn Macket ein, aber die Liebe zu seinem Kinde ließ es ihn nicht offen bekennen. Der Gedanke, sich von Ilse trennen zu müssen, war ihm furchtbar. Sie nicht täglich sehen und hören können – ihm war, als würde die Sonne plötzlich aufhören zu scheinen, als solle ihm Licht und Leben genommen werden.
Frau Anne fühlte, was in ihres Mannes Herzen vorging; liebevoll trat sie zu ihm und ergriff seine Hand. »Denke nicht, daß ich hart bin, Richard, wenn ich für den Vorschlag unsres Freundes stimme«, sagte sie. »Ilse steht jetzt an der Grenze zwischen Kind und Jungfrau, noch hat sie Zeit, das Versäumte nachzuholen und ihre unbändige Natur zu zügeln. Geschieht das nicht, so könnte man eines Tages sagen, Ilse fehle das Frauliche. Wäre das nicht furchtbar?«
Er hörte kaum, was sie sprach. »Ihr wollt sie einsperren!« sagte er erregt. »Aber das hält sie nicht aus. Laßt sie erst älter werden! Es ist dann immer noch Zeit genug, sie fortzugeben.«
Dagegen erhoben Frau Anne und der Pfarrer auf das entschiedenste Einspruch; sie bewiesen ihm, daß jetzt die höchste Zeit sei, wenn ein Pensionat noch etwas nützen sollte.
»Ich wüßte ein Institut in W., das ich für Ilse sehr gut empfehlen könnte«, erklärte der Pfarrer. »Die Vorsteherin ist mir bestens bekannt, sie ist eine vortreffliche Dame. Neben dem Pensionat, das unter ihrer Leitung große Fortschritte gemacht hat, hat sie eine Schule ins Leben gerufen, die von Jahr zu Jahr größer wird. Ilse würde den besten Unterricht und die liebevollste Pflege finden. Und welch ein Vorzug wäre die wunderbare Lage dieses Ortes! Die Berge ringsum, die gesunde Luft –«
»Ja, ja«, unterbrach ihn Herr Macket unruhig und abwehrend, »ich glaube das alles gern. Aber laßt mir Zeit, bestürmt mich nicht weiter! Ein so wichtiger Entschluß, selbst wenn er notwendig ist, bedarf der Reife.«
Und dieser Entschluß kam schneller, als Herr Macket geglaubt hatte.
Am andern Morgen, es war noch sehr früh, traf der Oberamtmann sein Töchterchen, als es eben im Begriff war, hinaus auf die Wiese zu reiten, um beim Einholen des Heus mitzuhelfen. Unbekümmert hatte sich Ilse von dem Aufseher auf eines der Pferde, das vor den Leiterwagen gespannt war, helfen lassen. »Guten Morgen, Papachen!« rief sie ihm schon von weitem laut entgegen. »Wir wollen auf die Wiese fahren, das Heu muß herein; der Hofmeister sagt, wir bekämen gegen Mittag ein Gewitter. Ich will gleich mithelfen aufladen.«
Der Vater hatte keine reine Freude an dem munteren Wesen seines Kindes, ihm fielen die Worte seiner Frau vom gestrigen Abend ein. Ilse sah in diesem Augenblick wenig mädchenhaft aus, eher glich sie einem wilden Buben. Wie ein solcher saß sie auf dem Pferde und ließ die Beine an beiden Seiten herunterhängen; das kurze blaue Kleid verdeckte diese nicht, man sah den plumpen, hohen Lederstiefel und noch ein Stück des bunten Strumpfes. Es war wahrlich kein schöner Anblick.
»Steig ab, Ilse!« sagte Herr Macket, dicht an sie herantretend, um ihr behilflich zu sein; »du wirst jetzt nicht auf die Wiese reiten, hörst du, sondern deine Aufgaben machen!«
Es war das erstemal in Ilses Leben, daß der Vater in so bestimmter Weise zu ihr sprach. Im höchsten Grade verwundert blickte sie ihn an, aber sie machte keine Miene, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Sie schlug die Arme ineinander und fing an, herzlich zu lachen. »Hahahaha, arbeiten soll ich! Du kleiner reizender Papa, wie kommst du denn auf diesen komischen Einfall? Mach’ nur nicht ein so böses Gesicht! Weißt du, wie du jetzt aussiehst, Papa? Wie unsere Mademoiselle, die letzte von den vielen, die wir hatten, wenn sie böse war. ›Fräulein Ilse, gehen Sie auf Ihr Zimmer, mais tout de suite! Aben Sie mir compris?‹ Dabei zog sie die Stirn in Falten und riß die Augen auf – so.« Ilse versuchte nachzuahmen. »Oh, es war zu himmlisch! Leb’ wohl, Papachen! Zum Frühstück komm ich zurück.« Sie warf ihm noch eine Kußhand zu, lachte ihn schelmisch an und fort ging’s im lustigen Trab hinaus auf die Wiese, in den taufrischen Sommermorgen hinein.
Herr Macket schüttelte den Kopf, mit einem Mal stiegen ernstliche Bedenken wegen Ilses Zukunft in ihm auf. Er fand den Gedanken, sie in ein Pensionat zu geben, heute weniger schrecklich als gestern. Seine Tochter hatte ihm soeben den Beweis gegeben, daß sie auch ihm Widerstand entgegensetzte. Freilich mußte er sich gestehen, daß er ihn durch seine Nachgiebigkeit gefördert hatte. Er ging in das Speisezimmer und trat von dort auf die Veranda, die weinumrankt sich an der Vorderseite des Hauses entlangzog. Seine Frau erwartete ihn bereits am gedeckten Frühstückstisch. Ganz gegen seine Gewohnheit war er still und einsilbig.
»Hattest du Unannehmlichkeiten?« fragte Frau Anne und schenkte ihm den Kaffee ein.
»Nein«, entgegnete er, »das nicht.« Er hielt einen Augenblick inne, als ob es ihm schwer fiele, weiterzusprechen, dann fuhr er fort: »Ich habe über unser gestriges Gespräch nachgedacht und den Entschluß gefaßt, Ilse zum ersten Juli in ein Pensionat zu geben.«
»Du scherzest«, sagte Frau Anne und sah ihn fragend an.
»Es ist mein Ernst«, erwiderte er. »Wirst du imstande sein, bis zu diesem Zeitpunkt alles für Ilses Abreise vorbereiten zu können? Wir haben heute den zwölften Juni.«
»Ja, das könnte ich, lieber Richard; aber verzeihe, mir kommt dein Entschluß etwas übereilt vor. Wird er dich nicht gereuen? Laß Ilse die schönen Sommermonate noch ihre Freiheit genießen und gib sie erst zum Herbst fort. Der Abschied von der Heimat wird ihr dann weniger schwer werden.«
»Nein, keine Änderung!« sagte Herr Macket, weil er befürchtete, daß eine Verzögerung ihn doch noch wankelmütig machen könnte. »Es bleibt dabei: zum ersten Juli wird sie angemeldet.«
Nach einigen Stunden kehrte Ilse wohlgemut, mit erhitzten Wangen und über und über mit Heu bestreut, zum zweiten Frühstück zurück. So wie sie war, ohne das Kleid zu wechseln, trat sie höchst vergnügt auf die Veranda. »Da bin ich!« rief sie. »Bin ich lange fortgeblieben? Ich sage dir, Papa, das Heu ist kostbar! Nicht einen Tropfen Regen hat es bekommen! Du wirst deine Freude daran haben. Der Hofmeister meint, so gut hätten wir es seit Jahren nicht eingebracht.«
»Laß das Heu jetzt, Ilse«, entgegnete Herr Macket, »und höre zu, was ich dir sagen werde.« Er sagte es ziemlich ernst, und es wurde ihm nicht leicht, über seinen Plan zu sprechen.
Ilse war völlig ahnungslos, ja sie schenkte seiner Stimmung gar keine Beachtung. Ihre Aufmerksamkeit war auf den reich gedeckten Frühstückstisch gerichtet; sie war sehr hungrig von der Fahrt.
»Soll ich dir ein Brötchen zurecht machen?« fragte die Mutter freundlich, aber Ilse lehnte es ab.
»Ich will es schon selbst tun«, sagte sie, nahm das Messer und schnitt sich ein tüchtiges Stück Schwarzbrot ab. Die Butter strich sie fast fingerdick darauf. Nachdem sie ein großes Stück Wurst dazu genommen hatte, begann sie unbekümmert zu essen und nahm bald von dem Brot einen Bissen, bald von der Wurst, die sie in der Hand hielt. Höchst unbefangen lehnte sie dabei hintenüber in einem Sessel und schlug die Füße übereinander. Es schmeckte ihr köstlich.
»Ich denke, du wolltest mir etwas sagen, Papachen?« sagte sie mit vollem Munde. »Nun schieß los! Ich bin ordentlich neugierig darauf.«
Herr Macket zögerte ein wenig mit der Antwort; noch war es Zeit, noch konnte er seinen Entschluß zurücknehmen. Einen Augenblick überlegte er, und es fehlte nicht viel, dann hätte er es wirklich getan. Die Schwäche ging jedoch vorüber, und so ruhig wie möglich teilte er Ilse seinen Entschluß mit.
Wenn er erwartet hatte, daß sie sich stürmisch widersetzen würde, so hatte er sich geirrt. Zwar blieb Ilse buchstäblich der Bissen im Munde stecken vor Überraschung und Schreck, aber ihr Blick flog zur Mutter hinüber, und sie unterdrückte den Sturm, der in ihr tobte. Um keinen Preis sollte sie erfahren, wie furchtbar es ihr war, die Heimat, den Vater vor allem, zu verlassen, denn die Mutter war doch sicherlich ganz allein die Anstifterin dieses Planes. Der Papa – nein, der würde sie nimmermehr von sich geben wollen.
»Nun, du schweigst?« fragte Herr Macket. »Du hast vielleicht selbst schon die Notwendigkeit eingesehen, daß du noch tüchtig lernen mußt, mein Kind, denn mit deinen Kenntnissen hapert es noch überall, nicht wahr?«
»Gar nichts habe ich eingesehen!« platzte Ilse heraus. »Du selbst hast mir ja oft genug gesagt, ein Mädchen brauche nicht so viel zu lernen; das allzuviele Studieren mache erst recht dumm. Ja, das hast du gesagt, Papa, und jetzt sprichst du mit einem Male anders. Nun soll ich fort, soll auf den Schulbänken sitzen zwischen andern Mädchen und lernen, bis mir der Kopf weh tut. Aber es ist gut, ich will wirklich fort, ja, ich freue mich schon auf die Abreise. Wenn nur schon der erste Juli da wäre!«
Ilse erhob sich hastig, warf den Rest ihres Frühstücks auf den Tisch und eilte hinauf in ihr Zimmer. Dort brachen die Tränen hervor, die sie bis dahin nur mühsam zurückgehalten hatte.
Frau Anne wäre dem Kinde gar zu gerne gefolgt; sie fühlte, was in dem jungen Herzen vorging, aber sie wußte genau, daß Ilse ihre gütigen Worte trotzig zurückweisen würde. So blieb sie zurück und hoffte auf die Zeit, wo Ilses gutes Herz den Weg zu ihrer mütterlichen Liebe finden würde.
Die wenigen Wochen bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt vergingen schnell. Frau Anne hatte alle Hände voll zu tun, um Ilses Kleider in Ordnung zu bringen. Die Vorsteherin des Pensionates hatte auf Herrn Mackets Anfrage sofort geantwortet und sich gern zur Aufnahme seiner Tochter bereit erklärt. Gleichzeitig hatte sie ein Verzeichnis der Gegenstände mitgeschickt, die jeder Zögling bei seinem Eintritt in das Institut mitbringen mußte.
Ilse lachte spöttisch über die vielen nach ihrer Meinung unnützen Dinge; besonders die Hausschürzen fand sie geradezu lächerlich. Sie hatte bis dahin niemals eine Schürze getragen.
»Die dummen Dinger trage ich doch nicht, Mama!« sagte sie, als Frau Anne dabei war, den Koffer zu packen; »die brauchst du gar nicht einzupacken.«
»Du wirst dich der allgemeinen Sitte fügen müssen, mein Kind«, entgegnete die Mutter. »Warum willst du es nicht? Sieh einmal her! Diese blau und weiß gestreifte Schürze mit den gestickten Zacken ringsum ist eine reizende Zierde für ein junges Mädchen, das sich im Haushalt nützlich machen will.«
»Ich werde mich aber nicht im Haushalt nützlich machen!« entgegnete Ilse in trotzigem Tone. »Das fehlte noch! Ihr denkt wohl, ich soll dort in der Küche arbeiten oder die Stuben aufräumen? Die Schürzen trage ich nicht, ich will es nicht!«
»Übertreib nicht, Ilse!« entgegnete Frau Anne. »Du weißt recht gut, daß man dergleichen nie von dir verlangen wird. Wenn du die Schürzen durchaus nicht tragen magst, so kannst du ja deinen Wunsch der Vorsteherin mitteilen; vielleicht erfüllt sie ihn dir.«
»Ich werde sie nicht erst darum fragen. Diese Dinge gehen sie gar nichts an«, war Ilses unartige Antwort.
Sie verließ ihre Mutter, gegen die sie einen tiefen Groll hegte. All die schönen Wäsche- und Kleidungsstücke, die Frau Anne mit Liebe und Sorgfalt für Ilse ausgewählt hatte, fanden keine Gnade in ihren Augen; nicht das geringste Interesse zeigte sie dafür.
Dem Papa erklärte Ilse, daß sie ein kleines Köfferchen für sich selbst packen werde. Niemand solle ihr dabei helfen, niemand wissen, welche Schätze sie in das neue Heim mitnehmen werde.
»Das ist ein prächtiger Einfall, Ilschen«, stimmte Herr Macket bei. »Nimm nur mit, was dir Freude macht!« Und er ließ sofort einen hübschen kleinen Koffer kommen und überraschte seinen Liebling damit. Als Ilse ihm erfreut dankend um den Hals fiel, als sie ihn seit längerer Zeit zum erstenmal wieder ›mein kleines Pa’chen‹ nannte, da wurde es ihm so weich ums Herz, daß er sich abwenden mußte, um seine Rührung zu verbergen.
Am Tage vor ihrer Abreise schloß Ilse sich in ihr Zimmer ein und begann zu packen. Aber wie! Bunt durcheinander, wie ihr die Sachen in die Hand kamen. Zuerst das geliebte Blusenkleid mit dem Ledergürtel. Es wurde nur so in den Koffer hineingeworfen und mit den Händen etwas festgedrückt. Dann folgten die hohen Lederstiefel mit Staub und Schmutz, wie sie waren, ferner eine alte Ziehharmonika, auf der sie nur ein paar Töne hervorbringen konnte, ein neues Hundehalsband mit einer langen Leine daran, ein ausgestopfter Kanarienvogel, und zuletzt, nachdem die seltsamsten Dinge in den Koffer gewandert waren, griff sie nach einem Glase, in dem ein Laubfrosch saß. Es ist kaum zu glauben, aber auch der Laubfrosch sollte mitverpackt werden, weil sich Ilse so sehr an das Tierchen gewöhnt hatte. Sie nahm ein gutes, gesticktes Taschentuch aus dem Schrank, band es über das Glas, legte noch eine Papierhülle darüber, schnitt ganz kleine Löcher in beides und steckte einige Fliegen hindurch. »So«, sagte sie höchst zufrieden mit ihrer Packerei, »nun bist du gut versorgt, mein liebes Tierchen, und wirst nicht verhungern auf der weiten Reise.«
Wie sie das Glas in dem Koffer unterbrachte, war wirklich ein Kunststück, das ihr erst nach vieler Mühe gelang. Aber endlich war sie doch so weit, daß sie den Deckel schließen konnte. Er klemmte etwas, und Ilse mußte erst darauf knien, ehe er ins Schloß fiel. Den kleinen Schlüssel zog sie ab und befestigte ihn an einer schwarzen Schnur, die sie sich um den Hals band.
Als das Abendbrot verzehrt war und die Eltern noch am Tisch saßen, ging Ilse in den Hof und machte eine Runde durch alle Ställe. Sie nahm von den Hühnern, Tauben, Kühen, Pferden – sie hatte so viele Lieblinge darunter – Abschied; morgen mußte sie die ja alle auf lange Zeit verlassen. Der Abschied von den Hunden fiel ihr am schwersten; sie waren alle ihre guten Freunde. Dianas Sprößlinge, die schon prächtig herangewachsen waren und sie zärtlich begrüßten, entlockten ihr Tränen tiefsten Leides.
Neben ihr stand Johann. Er hatte Ilse vom ersten Tage ihres Lebens an gekannt und liebte sie abgöttisch. Als er sie weinen sah, liefen auch ihm einige Tränen über die Wangen. »Wenn das kleine Fräulein wiederkommt«, sagte er mit kläglicher Stimme und fuhr mit dem Handrücken über die Augen, »dann wird es wohl eine große Dame sein. Ja, ja, Fräulein Ilschen, unsre schöne Zeit ist dahin! Ach, und die Hunde, wie werden sie das Fräulein vermissen! Die sind gescheit. Beinahe menschlichen Verstand hat das dumme Vieh. Wie sie schmeicheln, als ob sie wüßten, daß unser kleines Fräulein morgen abreist!« Jetzt wurde seine Stimme so unsicher, daß er nicht weitersprechen konnte.
Ilse sah sich vorsichtig um, ob auch niemand in der Nähe war, und entgegnete unter Schluchzen: »Johann, sorge für die Hunde. Und wenn du mir einen großen, letzten Gefallen tun willst, so nimm Bob« – diesen Namen hatte sie Dianas kleinstem Söhnchen gegeben – »morgen mit auf den Kutscherbock, wenn du mich zur Bahn fährst, aber heimlich! Niemand darf es wissen; ich will ihn mitnehmen. Ein Halsband und eine Leine habe ich schon eingepackt. Aber Johann, heimlich, hörst du?«
Der Kutscher war glücklich, daß er dem kleinen Fräulein noch einen Liebesdienst erweisen konnte. Er lächelte verschmitzt und versprach, Bob so geschickt unterzubringen, daß keine menschliche Seele von dem Hund etwas merken werde.
Früh am andern Morgen stand der Wagen vor der Tür, der Ilse fortbringen sollte. Herr Macket begleitete sie bis W., um sie der Vorsteherin, Fräulein Raimar, selbst zu übergeben. Er mußte sich doch persönlich überzeugen, wo und wie sein Liebling untergebracht war. Frau Anne trat im letzten Augenblick zu Ilse, um zärtlich und gerührt von ihrem Kinde Abschied zu nehmen, aber Ilse machte ein finsteres, trotziges Gesicht und entwand sich den Armen der Mutter. »Lebe wohl!« sagte sie kurz und sprang in den Wagen. Nicht um die Welt hätte sie der Mutter verraten mögen, wie weh ihr war, wie schmerzlich das Scheiden.
Als der Wagen sich in Bewegung setzte und Diana ihn laut bellend noch eine kurze Strecke begleitete, sah Ilse mit tränenden Augen noch einmal zum Wagen hinaus und nickte dem Hund zu. Es war gut, daß der Vater nichts von den Tränen merkte, er würde vielleicht augenblicklich kehrtgemacht haben.
Auf dem Bahnhof, als alles erledigt und Ilse mit dem Papa in den Zug gestiegen war, erschien Johann mit Bob unter dem Arme und der Mütze in der Hand noch einmal vor dem Fenster des Abteils. »Leben Sie recht wohl, Fräulein Ilschen, und kommen Sie gut hin!« sagte er ein wenig verlegen. »Die Hunde werde ich schon besorgen, haben Sie nur keine Angst! Den hier nehmen Sie wohl mit; es ist doch gut, wenn Sie nicht so allein im Pensionat sind!«
Ilse jauchzte vor Freude. Sie nahm den Hund in Empfang, liebkoste ihn und streichelte ihn, dann reichte sie Johann die Hand.
»Leb’ wohl«, sagte sie, »und hab’ Dank! Ich freue mich so sehr, daß ich ein Hündchen mit mir nehmen kann.«
»Ja, aber Ilse, das geht doch nicht!« mischte sich der erstaunte Oberamtmann ein. »Du darfst doch keinen Hund mit in das Institut bringen! Sei vernünftig und gib Bob Johann wieder zurück!«
Doch daran war nicht zu denken. Ilse ließ sich durch nichts dazu bewegen.
»Die einzige Freude gönn’ mir, Pa’chen! Willst du mich denn ganz allein unter den fremden Menschen lassen? Wenn Bob bei mir ist, dann habe ich doch einen guten Freund! Nicht wahr, Bobchen, du willst nicht wieder fort von mir?« wandte sie sich an den Hund, der es sich bereits höchst bequem auf ihrem Schoße gemacht hatte. »Du bleibst nun immer bei mir.«
Es war dem Vater unmöglich, ein Machtwort dagegen zu sprechen, zumal ja Ilse so triftige Gründe für ihren Wunsch anführte. Am meisten überzeugte ihn der Gedanke, daß die Kleine einen Trost aus der Heimat mit in die Fremde nahm.
Es war eine lange und ziemlich langweilige Fahrt durch meist flaches Land; erst zuletzt kamen die Berge. Für Ilse tat sich eine neue Welt auf, sie hatte noch nie eine so ausgedehnte Reise gemacht. Auf jeder Station schaute sie mit neugierigen Augen hinaus. Jedes Bahnwärterhäuschen erfreute sie. Über all den neuen Eindrücken, die sich ihr aufdrängten, trat der Trennungsschmerz in den Hintergrund.
Spät am Abend, es war schon zehn Uhr vorbei, langten sie in W. an. Natürlich übernachtete Ilse mit ihrem Vater im Hotel; erst am nächsten Tag sollte sie in ihr neues Heim geführt werden.
Als es am andern Morgen neun Uhr schlug, stand Ilse fertig angezogen vor ihrem Papa. Sie sah in ihrem grauen Reisekostüm und den zierlichen Lederstiefeln ganz allerliebst aus. Unter dem weißen Strohhute schlängelten sich übermütig die braunen Locken hervor. Die schönen großen Augen blickten heute nicht so fröhlich wie sonst, sie hatten einen ängstlich erwartungsvollen Ausdruck, und um den Mund zuckte es in nervöser Aufregung.
»Dir fehlt doch nichts, Ilschen?« fragte Herr Macket und sah sein Kind besorgt an. »Du bist so blaß. Hast du schlecht geschlafen?«
Die herzliche Frage des Vaters löste mit einem Male die unnatürliche Spannung in Ilses Wesen. Sie fiel ihm um den Hals, und die bis dahin trotzig zurückgehaltenen Tränen brachen mit aller Macht hervor.
»Aber Kind, Kind«, sagte Herr Macket, betroffen von ihrer Leidenschaftlichkeit, »du wirst ja nicht lange von uns getrennt bleiben! Ein Jahr vergeht schnell, und zu Weihnachten besuchst du uns. Komm, Kleines, trockne die Tränen. Mach’ dir das Herz nicht schwer. Du wirst uns fleißig Briefe schreiben und die Mama oder ich werden dir täglich Nachricht geben von uns, von allem, was dich in Moosdorf interessiert!« Er nahm sein Taschentuch und trocknete damit die immer von neuem hervorbrechenden Tränen seines Kindes.
Der Oberamtmann war ebenso erregt wie sein Kind. Es wurde ihm nicht leicht zu trösten, wo er selbst des Trostes bedurfte. So schwer hatte er sich die Trennung nicht gedacht, sonst hätte er nie seine Einwilligung dazu gegeben; aber da er es einmal getan hatte, wollte er sich nun auch fügen. Er strich Ilse das Haar aus der Stirn und setzte ihr den herabgesunkenen Hut wieder auf. »Komm«, sagte er, »jetzt wollen wir gehen! Nun sei ein verständiges Kind.«
»Die Mama soll mir nicht schreiben«, stieß Ilse schluchzend heraus, »nur deine Briefe will ich haben! Meine Briefe an dich soll sie auch nicht lesen!«
»Ilse«, tadelte Herr Macket, »so darfst du nicht sprechen! Die Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir!«
»Sehr gut!« wiederholte sie in kindlichem Zorn. »Wenn sie mich lieb hätte, würde sie mich nicht verstoßen haben.«
»Verstoßen? Du weißt nicht, was du sprichst, Ilse. Werde erst älter, dann wirst du das große Unrecht einsehen, das du heute deiner Mutter antust, und deine bösen Worte bereuen.«
»Sie ist nicht meine Mutter – sie ist meine Stiefmutter!«
»Du sprichst wie ein Kind«, sagte der Oberamtmann. »Aber merke dir, niemals will ich wieder solche Äußerungen von dir hören! Du kränkst mich damit.«
Ilse sah schmollend zur Erde nieder und konnte nicht begreifen, wie es möglich war, daß der Papa sie nicht verstand; er mußte doch einsehen, wie unrecht ihr geschah.
»Komm jetzt«, fuhr er in mildem Tone fort, »wir wollen gehen, mein Kind.«
Ilse ergriff den Hund, nahm ihn auf den Arm und wollte mit ihm dem Vater folgen.
»Laß ihn zurück«, gebot Herr Macket. »Wir wollen die Vorsteherin erst fragen, ob du ihn mitbringen darfst.«
Aber Ilse setzte ihren Trotzkopf auf. »Dann gehe ich auch nicht!« erklärte sie mit aller Bestimmtheit. »Ohne Bob bleibe ich auf keinen Fall im Pensionat.«
Herr Macket tat der eigensinnigen Tochter den Willen, aus Furcht, von neuem Tränen hervorzulocken. Aber Ilses Widerstand war ihm im höchsten Grade peinlich. Was sollte Fräulein Raimar denken!
Eine Viertelstunde später standen Vater und Tochter vor einem stattlichen zweistöckigen Hause, das vor dem Tore der kleinen Stadt mitten im Grünen lag. Es war das Institut von Fräulein Raimar.
Der Oberamtmann blieb überrascht davor stehen. »Sieh, Ilse, welch ein schönes Gebäude!« rief er höchst befriedigt. »Der Blick von hier aus in die nahen Berge ist geradezu bezaubernd.«
Was kümmerten sie die Berge! Sie fühlte sich so bedrückt von Kummer, daß ihr die ganze Welt ein Jammertal dünkte.
»Wie kannst du dies Haus schön finden, Papa!« entgegnete sie. »Wie ein Gefängnis sieht es aus.«
Herr Macket lachte. »Betrachte doch die hohen breiten Fenster, Kind!« sagte er. »Glaubst du, daß in einem Gefängnis ähnliche zu finden sind? Die armen Gefangenen sitzen hinter kleinen blinden Scheiben, die außerdem noch mit Eisengittern versehen sind.«
»Ich werde jetzt auch eine Gefangene sein, Papa, und du selbst lieferst mich dem Gefängnis aus.«
»Du bist eine kleine Närrin!« sagte er lachend und brach das Gespräch ab, das ihm bedenklich zu werden schien.
Er stieg die breiten steinernen Stufen hinauf, die zu dem Eingang führten, und zog an der Klingel. Ilse, die ihm langsam gefolgt war, schrak unwillkürlich zusammen, als sie den hellen Ton im Hause vernahm.
Gleich darauf wurde von einem Mädchen die Tür geöffnet. Nachdem das Mädchen die Ankömmlinge gemeldet hatte, wurden sie in das Empfangszimmer der Vorsteherin geführt.
Ehe sie es erreichten, mußten sie den Hausflur und einen langen Gang, von dem zwei Ausgänge in einen schönen großen Hof führten, durchschreiten. Es war gerade Frühstückspause in der Schule, und so war es natürlich, daß überall lachend und plaudernd große und kleine Mädchen umherstanden. Sie verstummten, als sie die neue Schülerin, von der sie wußten, daß sie heute ankommen sollte, erblickten, und aller Augen richteten sich auf Ilse, der es plötzlich höchst beklommen zumute wurde. Es schien ihr, als höre sie verstecktes Kichern hinter sich, und sie war herzlich froh, als die Tür des Empfangszimmers sich hinter ihr schloß und sie mit dem Vater allein war.
Ilse sah sich in dem großen, vornehmen Raume um, der mit künstlerischem Geschmack eingerichtet war, und mit einem Male überkam sie ein banges Gefühl, als sie an Bob dachte. Fast wünschte sie, den Willen des Vaters doch befolgt zu haben. Hätte sie den Hund in ihren Armen plötzlich unsichtbar machen können, sie hätte es getan. Nun wollte der Unartige auch noch hinunter auf den Boden, und diesen Wunsch konnte sie ihm doch unmöglich erfüllen. Wie hätte sie es wagen dürfen, ihn auf den kostbaren Teppich zu setzen!
Die Türe öffnete sich und Fräulein Raimar trat ein. Sie begrüßte Herrn Macket mit steifer Freundlichkeit, dann blickte sie mit ihren stahlgrauen Augen, die einen zwar strengen und ernsten, trotzdem aber gewinnenden Ausdruck hatten, auf Ilse. Ilse war dicht zu ihrem Vater getreten und hatte seine Hand ergriffen.
»Sei willkommen, mein Kind!« Mit diesen Worten begrüßte die Vorsteherin Ilse und reichte ihr die Hand. »Ich denke, du wirst dich bei uns bald heimisch fühlen.« Als sie den Hund sah, fragte sie: »Hat dich dein Hund bis hierher begleitet?«
Ilse blickte etwas hilflos den Papa an, der dann auch für sie das Wort nahm. »Sie konnte sich nicht von ihm trennen, Fräulein Raimar«, sagte er etwas verlegen; »sie glaubte, daß Sie die Güte haben würden, ihren kleinen Kameraden mit ihr aufzunehmen.«
Das Fräulein lächelte. Es war das erstemal, daß ihr so etwas zugemutet wurde. »Es tut mir leid, Herr Oberamtmann«, sagte sie, »daß ich den ersten Wunsch Ilses rücksichtslos abschlagen muß. Sie wird verständig sein und einsehen, daß ich nicht anders handeln kann. – Stell dir einmal vor, liebes Kind, wenn alle meine Zöglinge den gleichen Wunsch hätten, dann würden zweiundzwanzig Hunde im Institut sein! Welch einen Lärm würde das geben! Möchtest du das Tier gern in deiner Nähe behalten, so wüßte ich einen Ausweg. Mein Bruder, der Bürgermeister hier, wird deinen Hund gewiß aufnehmen, wenn ich ihn darum bitte; dann kannst du täglich deinen Liebling sehen.«
Ilse war rot geworden und dicke Tränen perlten in ihren Augen. ›Dann bleibe ich auch nicht hier!‹ wollte sie eben erwidern, aber sie wagte es nicht. Die Dame vor ihr hatte so etwas Unnahbares, Vornehmes in ihrem Wesen. Wie eine Fürstin erschien sie ihr trotz des schlichten grauen Kleides, dessen kleiner Stehkragen am Halse mit einer einfachen goldenen Nadel zusammengehalten wurde. Ilse senkte den Blick und schwieg.
Der Oberamtmann lachte. »Sie haben recht, Fräulein Raimar«, sagte er, »und wir hätten das selbst vorher bedenken können. Ihre große Güte, den Hund bei Ihrem Herrn Bruder unterzubringen, wird Ilse mit vielem Danke annehmen, nicht wahr?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Fremde Leute sollen Bob nicht haben, Papa; du nimmst ihn wieder mit nach Moosdorf!«
Herr Macket schämte sich der Antwort seines Kindes, aber Fräulein Raimar half ihm geschickt über seine Verlegenheit. Mit ihrem erfahrenen Sinn hatte sie sofort das Trotzköpfchen vor sich erkannt. Sie tat, als bemerkte sie Ilses Ungezogenheit nicht. »Du hast ganz recht«, sagte sie freundlich, »es ist das beste, der Papa nimmt das Tier wieder mit in die Heimat. Du würdest durch den Hund vielleicht doch mehr abgelenkt, als mir lieb wäre. – Soll ihn das Mädchen in das Hotel zurücktragen, in dem Sie abgestiegen sind, Herr Oberamtmann?«
»Ich will ihn selbst dorthin tragen, nicht wahr, Papachen?« fragte Ilse und hielt Bob ängstlich fest.
»Ich wünsche nicht, daß du es tust, liebe Ilse«, wandte Fräulein Raimar ein. »Ich möchte dich gleich zu Mittag hier behalten, um dich den übrigen Zöglingen vorzustellen. Ich halte es so für das beste. – Es tut nicht gut, Herr Oberamtmann, wenn ein Kind, das der Vater oder die Mutter mir übergeben hat, noch einmal ins Hotel zurückkehrt. Der Abschied wird ihm weit schwerer gemacht!«
»Nein, nein«, rief Ilse zitternd vor Aufregung, »ich bleibe nicht gleich hier! Ich will mit meinem Papa so lange zusammen sein, bis er abreist. – Du nimmst mich mit dir, nicht, Papa?«
Herrn Macket überlief es heiß und kalt bei ihren ungestümen Worten, aber auch diesmal half ihm Fräulein Raimar über die peinliche Lage hinweg. »Gewiß, mein Kind«, entgegnete sie mit Ruhe, »dein Wunsch soll dir erfüllt werden. Darf ich Sie bitten, Herr Oberamtmann, heute mittag mein Gast zu sein? Es würde mich sehr freuen.«
Ilse warf ihrem Papa einen flehenden Blick zu, der ungefähr ausdrücken sollte: ›Bleib nicht hier, nimm mich mit dir! Ich mag nicht hierbleiben bei dem bösen Fräulein, das mich schlecht behandeln wird.‹
Leider verstand Herr Macket den Blick anders; er hielt ihn für eine stumme Bitte, die Einladung anzunehmen, und sagte zu.
Die Vorsteherin erhob sich und zog an einer Klingelschnur. Dem eintretenden Mädchen trug sie auf, Fräulein Güssow zu rufen.
Wenige Augenblicke darauf trat das Fräulein in das Zimmer.
Die Gerufene war die erste Lehrerin im Institut und wohnte im Hause. Weit jünger als die Vorsteherin, war sie eine höchst anmutige und liebenswürdige Erscheinung von sechsundzwanzig Jahren. Sämtliche Schülerinnen und besonders die Zöglinge des Pensionats schwärmten für sie; sie verstand es, durch gleichmäßige Güte die jungen Herzen für sich zu gewinnen.
»Wollen Sie die Güte haben, Ilse auf ihr Zimmer zu bringen, damit sie dort ihren Hut ablegen kann«, sagte die Vorsteherin, nachdem sie die junge Lehrerin vorgestellt hatte.
»Gern«, erwiderte die Angeredete und trat auf Ilse zu. »Komm, liebes Kind!« sagte sie freundlich und ergriff das Mädchen bei der Hand. »Jetzt werde ich dir zeigen, wo du schläfst. Du hast ein schönes, großes Zimmer. Aber du wohnst nicht allein dort; Ellinor Grey wird deine Stubengenossin sein. Sie ist ein liebes Mädchen. Du möchtest doch gern gleich mit ihr bekannt werden, nicht wahr?«