Der Vampir von Hinterwaldeck - Markus Winkler - E-Book

Der Vampir von Hinterwaldeck E-Book

Markus Winkler

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Beschreibung

In der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 wird auf dem Einödhof "Hinterwaldeck" eine ganze Familie ausgelöscht. Während die Öffentlichkeit über Jahrzehnte rätselt, wer der Mörder ist, weiß es Markus Winkler ganz genau. Jetzt, einhundert Jahre nach der Bluttat, öffnet er das Familienarchiv und erzählt die Geschichte seines Urgroßvaters Anton Winkler, der alles miterlebt hat - ein Geheimnis, das die Familie über Generationen bewahrte, wird nun gelüftet. Der Roman "Der Vampir von Hinterwaldeck" basiert auf einer wahren Begebenheit und überlieferten Sagen und Legenden aus dem Schrobenhausener Land.

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„Vampir wird, wer mit Zähnen oder einer Glückshaube auf dem Kopfe zur Welt kommt; er hat bei der Geburt einen roten Fleck am Leib und behält als Leiche ein rotes Gesicht: Um den Vampir unschädlich zu machen, trennt man ihm das Haupt vom Rumpf und schüttet Erde zwischen beide Teile; auch verstopft man den Mund mit Erde. Ein anderes Mittel ist, ihm einen Strumpf oder ein Netz mit ins Grab zu geben, von dem er jedes Jahr eine Masche aufreißt. Ferner gibt man ihm geprägtes Geld oder eine Ziegelscherbe in den Mund, streut auch Mohnkörner in den Sarg, die der Vampir zählen muß.“

Aus „Vergleichende Volksmedizin“ von Hovorka und Kronfeld, Erster Band, Seite 428, aus dem Jahr 1908.

Markus Winkler

Der Vampir von Hinterwaldeck

Erzählt aus geheimen Familiendokumenten

© 2021 Markus Winkler

Umschlag & Grafiken: Marie Muravski

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-347-19445-8 (Paperback)

978-3-347-19446-5 (Hardcover)

978-3-347-19447-2 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: An der Westfront (1914-1918)

Kapitel 2: Endlich zu Hause (1918-1919)

Kapitel 3: Eine Vorahnung (1921)

Kapitel 4: Der Tod kommt nach Hinterwaldeck (1922)

Kapitel 5: Die Heimsuchung (1922)

Kapitel 6: Freundschaft (1922)

Kapitel 7: Das Geständnis (1922)

Schluss

Epilog

Nachwort

Vorwort

Ich heiße Markus Winkler, bin fünfunddreißig Jahre alt, verheiratet, Vater eines Sohnes, und lebe in Hohenwart, das zwischen Ingolstadt und Schrobenhausen liegt. Ich führe die Zimmerei und Dachdeckerei Eder & Winkler in vierter Generation. Aber das ist kein Buch über mein Handwerk oder eine Chronik über unser Familienunternehmen, auch wenn es wert wäre, eine solche zu verfassen; nein, es geht um etwas, das die Menschen in unserer Region und weit darüber hinaus seit nun hundert Jahren aufwühlt: der Mordfall Hinterwaldeck. Hinterwaldeck war ein abgelegener Einödhof nahe dem Dorf Graubern. Graubern wiederum gehört heute zur Gemeinde Waldhofen, beide Orte liegen etwa fünf Kilometer nordwestlich von Schrobenhausen, in Oberbayern.

Bewohnt wurde Hinterwaldeck damals von der Familie Greiner-Laag. Das sind: der Großvater Andreas Greiner (64 Jahre) und seine Frau Cäzilia (72 Jahre); deren Tochter und Witwe Viktoria Laag (35 Jahre); deren Kinder Cäzilia (7 Jahre) und Josef (2 Jahre). Diese Personen fanden in der Nacht vom 31. März auf den 01. April 1922 den Tod durch Mörderhand. Und nicht nur diese, denn tragischerweise befand sich auch die Magd Maria auf dem Hof – gerade erst an diesem Abend zum Dienst angetreten, entkam sie ihrem schrecklichen Schicksal nicht. Insgesamt sechs Personen, denen allesamt der Schädel eingeschlagen wurde.

Es war ein unerhörtes Verbrechen, das nie aufgeklärt werden konnte. Deswegen beschäftigen sich auch heute noch Medien aller Art mit diesem Vorfall, widmen sich Amateurgemeinschaften der Spurensuche und tragen auf ihren Internetseiten bergeweise Material zusammen; Menschen pilgern an den Tatort, obwohl jedes Andenken an diesen Einödhof sorgfältig ausgelöscht wurde und nur noch ein Acker zu sehen ist. Die Faszination und die Abscheu, die von diesem Verbrechen ausgehen und es umgeben, sind ungebrochen.

Anders jedoch verhält sich die Sachlage für die beteiligten Familien, die der Zeugen und Verdächtigen. Vor allem für meine Familie ist der Mordfall Hinterwaldeck eine Begebenheit, die uns wie ein Schatten begleitet. Es ist aber nicht die Schuld, die auf uns lastet, sondern das Wissen. Als mein Urgroßvater Anton starb, also der Gründer unseres Familienbetriebes, übergab er meinem Großvater eine Kiste mit Dokumenten aller Art, darunter Bilder, Tagebücher, Notizbücher, amtliche und private Briefe, Magazine, Zeitungsausschnitte und sogar Filmaufnahmen. Darunter waren auch Dinge, die eher in den Bereich des Aberglaubens fallen, wie besondere Kruzifixe, Anleitungen für die Herstellung von Tinkturen, Kräutermischungen und sogar Schutzzaubern und Bannsprüchen, besonders zu erwähnen ein entsprechendes Büchlein, das meine Urgroßmutter Klara verfasste. Aber meinem Großvater verging das Lachen über diese Dinge, als ebendiese Klara ihm erklärte, warum sie es aufbewahrten. Auch mein Vater bekam diese Kiste irgendwann vermacht und vor etwa fünf Jahren, als er schwer erkrankte, bekam ich sie. Ich tue mich heute noch schwer, über ihren Inhalt zu sprechen, geschweige denn zu schreiben, ohne dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Denn in dieser Kiste wird ein Geheimnis bewahrt: Es ist das Wissen darüber, wer der Mörder von Hinterwaldeck ist. Und es gibt auch darüber keinen Zweifel, dass Hunderttausende gerne wissen möchten, was ich weiß. Und jetzt ist der Moment gekommen, dass ich den Inhalt dieser Kiste mit der Öffentlichkeit teile.

Dass es dieses Buch überhaupt gibt, ist das Ergebnis einer längeren Diskussion mit meinem Vater. Als er wieder gesundete – Gott sei Dank –, sprachen wir viele Male über unser Familiengeheimnis, das ich zwischenzeitlich studieren konnte. Ich vertrat dabei immer die Meinung, dass dieses gelüftet werden müsse, denn irgendwann verdienen sowohl die Opfer als auch die Öffentlichkeit die Wahrheit. Trotzdem zeige ich auch jetzt noch vollstes Verständnis dafür, dass die Geschichte meines Urgroßvaters Anton und meiner Urgroßmutter Klara lange geheim blieb, denn die Veröffentlichung noch zu deren Lebzeiten, hätte schwerwiegende Auswirkungen gehabt. Auch mein Großvater oder mein Vater hätten nur mit schwersten Konsequenzen die Inhalte der Schachtel publik machen können. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die meisten Menschen in Graubern oder Waldhofen endlich Ruhe haben wollten. Irgendwie schien jeder gewusst zu haben, wer es war, aber da der ultimative Beweis fehlte, fand sich die Dorfgemeinschaft mit der Unaufklärbarkeit des Verbrechens ab. Zu schweigen war der Konsens, damit es mit dem Dorfleben normal weitergehen konnte. Sehr emotional waren die Menschen also, wenn das Thema Hinterwaldeck zur Sprache kam. Bis vor zwanzig Jahren gab es immerhin noch viele Leute, die die damaligen Akteure noch zu Lebzeiten kannten und auf Enthüllungen daher sehr ungehalten reagierten. Zudem ist es so, dass viele Beweise, die den Täter hätten überführen können, bei einem Bombenangriff auf Augsburg untergingen. Eine Anschuldigung ohne Beweise hätte zu einer Ächtung meiner Vorfahren geführt. Sie hätten vielleicht die Gegend verlassen müssen, in der sie sich eine Existenz aufgebaut hatten. Also schwieg auch meine Familie.

Das alles waren bis vor wenigen Jahren gute Gründe, das Geheimnis zu bewahren. Aber jetzt? Täter, Mitwisser, Augen- und Ohrenzeugen sind nun tot, die Nachkommen aufgrund ihres jungen Alters notwendigerweise unschuldig und moralisch nicht haftbar zu machen; aus meiner Sicht überwiegt nun das Recht der Opfer auf Enthüllung. Dennoch wehrte sich mein Vater noch lange Zeit vehement gegen die Veröffentlichung unseres Familienarchivs. Er war weiterhin der Meinung, dass die Gründe, die einstmals für die Geheimhaltung galten, auch heute noch Gültigkeit besaßen.

Das änderte sich erst an einem Abend im April 2018: Wir gingen nach dem Wirtshausbesuch am Grab der Familie Greiner-Laag in Waldhofen vorbei. Das sind die Mordopfer von Hinterwaldeck, deren Grabstein (eher ein Denkmal) unübersehbar über die Mauer des Friedhofs hinausragt. Bereits leicht berauscht, fingen wir an, über dieses Thema zu reden – wieder einmal. Vor dem Grab stehend, schwiegen wir einen Moment und stellten uns vor, wie es wohl für Anton Winkler war, bei dem Begräbnis dabei sein und zu wissen, wer der Mörder war, ihm vielleicht sogar gegenüber gestanden zu sein. Ich fragte meinen Vater: „Meinst du, der Uropa würde heute immer noch schweigen?“ Mein Vater antwortete: „Ich glaube, dass er heute reden würde. Er hat sich immerhin etwas dabei gedacht, alle wichtigen Unterlagen aufzuheben. Und ich weiß, dass er sich oft auf die Lippen gebissen hat, wenn das Thema Hinterwaldeck zur Sprache kam. Es wollte aus ihm heraus. Das weiß ich genau.“ Und als ich meinen Vater dann fragte, ob es denn nicht doch Zeit wäre, das Archiv – die Kiste – zu veröffentlichen, gab er endlich seine Zustimmung. Und ja: Mehr als einmal machte er mir hinterher den Vorwurf, dass ich seinen Rausch ausnutzte. Aber liegt im Wein nicht auch die Wahrheit?

Dass unsere Familie Winkler in den Fall überhaupt so verwickelt wurde, lag an der Freundschaft meines Urgroßvaters Anton mit Karl Laag. Hinterwaldeck-Kenner werden wissen, dass er der Ehemann der Viktoria Laag (geborene Greiner) war, die unter den Mordopfern ist und in dem Fall wohl eine entscheidende Rolle spielte. Ebenso ist er der Vater der kleinen Cäzilia Laag, die unter den Opfern wohl den schlimmsten Todeskampf durchlebte. Vor allem mit ihr ist mein Mitgefühl, denn sie ist neben der Magd und dem kleinen Jungen, der ebenso brutal wie bestialisch umgebracht wurde, wohl die Unschuldigste von allen. Dass die Verbindung der beiden Freunde sprichwörtlich über den Tod hinausging, ist wahrer, als der Leser jetzt noch glauben möchte. Durch diese Verbindung jedenfalls wurde mein Urgroßvater, und dadurch auch meine Familie, zu Wissensträgern.

Und dieses Wissen betrifft nicht nur den Täter, sondern auch den wahren Kern der Odysseus-Theorie, also der Vermutung, dass Karl Laag wieder zurückkam aus dem Krieg, um die unsittliche Greiner-Sippe auszulöschen. Aber der wahre Kern stellt sich ganz anders dar, als die meisten vermuten. Und das ist der Teil der Geschichte, den ich selbst nur zögernd bereit war, zu veröffentlichen. Aber er gehört eben auch zur Geschichte. Ich kann diesen Teil nicht zurückhalten, auch um den Preis, dass viele Menschen sich von der Wahrheit abwenden werden, weil sie ihnen entweder unglaublich erscheint, sie zutiefst erschüttert oder von ihrer geheiligten Lieblingstheorie abweicht.

Ich habe mich entschieden, diese Geschichte nicht wie ein Tagebuch oder ein Sachbuch zu schreiben, sondern sie zu erzählen. Der romanartige Stil liegt mir mehr und haucht den Beteiligten Leben ein. Aber ich kann versichern, dass das, was über diese im Folgenden geschrieben steht, so im Familienarchiv dokumentiert ist, so unglaublich es auch klingen mag.

Während ich diese Zeilen hier schreibe, liegt immer ein Kräuterbeutel bei mir, wie ihn meine Ururgroßmutter Josepha füllte, um ihre Familie vor den bösen Mächten zu schützen, über die nun zu erzählen sein wird.

Hohenwart in Oberbayern, Oktober 2021

Markus Winkler

Einleitung

Anton Winkler wurde im Jahr 1888 in Waldhofen geboren. Er hatte noch einen Bruder, Jakob, der 1892 geboren wurde, der aber wegen eines Unfalls im kindlichen Alter mit einer leichten Gehbehinderung gestraft war. Seine Eltern, Wolfgang und Josepha, lebten vor dem Krieg beide noch. Die Winklers hatten eine bescheidene Forst- und Landwirtschaft, welche aber an den zweiten Sohn Jakob überging, denn Anton hatte durchgesetzt, dass er seinem Beruf als Zimmerer nachgehen durfte, in dem er auch seinen Meistertitel 1913 erwarb. Hätte der Krieg nicht alle zivilen Pläne durchkreuzt, wäre ein eigener Betrieb der nächste Schritt gewesen.

Karl Laag, ebenfalls geboren 1888, stammte aus Waldhofen, genauer einem Gut, das als Kleinwaldhofen bekannt war und etwas außerhalb von Waldhofen lag – nördlich davon, jenseits der Paar. Er hatte noch fünf Geschwister, alles Brüder. Im April 1914 heiratete Karl die fast zwei Jahre ältere Viktoria Greiner – die von Hinterwaldeck, die bereits von ihm schwanger war.

Karl und Anton gingen gemeinsam auf die Volksschule in Waldhofen. Als junger Erwachsener ließ sich Anton – entgegen dem Trend der Zeit – keinen Schnurrbart wachsen, wie Karl, sondern einen richtigen Vollbart. Von anderen damit aufgezogen war seine Antwort stets: „Ich kann’s. Bei eurem Flaum geht des nicht.“ Anton wirkte daher älter als er wirklich war. Wegen der fehlenden Jugendmode war das damals sowieso nur schwer einzuschätzen. Irgendwie sahen alle gleich aus.

Karl Laag heiratete 1914 also in den Einödhof Hinterwaldeck ein. Zwischen Hinterwaldeck und Kleinwaldhofen lag ein kurzer Fußweg von vielleicht zehn, fünfzehn Minuten. Man kannte sich also schon ein Leben lang.

Anton musste bald erfahren, dass sein Freund Karl sich bei seiner Frau und deren Familie nicht wohlfühlte. Auf deren Hof, der jetzt auch Karl gehörte, wohnte noch Viktorias Vater Andreas („Anderl“), ihre Mutter Cäzilia und deren Sohn aus erster Ehe, ein Martin Asum, also Viktorias Halbbruder. Eine Halbschwester hatte den Hof bereits verlassen. Über die Familie Greiner kursierten damals bereits unheimliche Gerüchte und im Sommer 1914 lebte Karl schon wieder bei seinen Eltern in Kleinwaldhofen. Scheinbar war an den Gerüchten etwas dran.

Aber all das wurde im August 1914 zweitrangig, da ein Krieg von ungeahnten Ausmaßen über ganz Europa hereinbrach. Viele Männer, auch Anton und Karl, zogen im August 1914 jubelnd mit und meldeten sich freiwillig.

Kapitel 1: An der Westfront (1914-1918)

AUGUST-NOVEMBER 1914

Mitte August 1914 kamen Anton Winkler und Karl Laag in das 13. Königlich Bayerische Reserve-Infanterie-Regiment. Sie wurden in einem Rekrutendepot ausgebildet und traten am 01.10.1914 an der Westfront ihren Kampfeinsatz an. Es ging direkt in die Schlacht bei Arras, die Teil des Wettlaufs zum Meer war, dem Vordringen zur belgisch-französischen Nordseeküste. Es folgten die Stellungskämpfe im Artois und damit der Beginn des Stellungskrieges, also der Kampf im Schützengraben, der so sinnbildlich für die Westfront war. Noch waren die Gräben eher behelfsmäßig und liefen ständig mit Wasser voll – stundenlang standen die Männer im Wasser, bei einbrechender Winterkälte! Die Verluste in den ersten Monaten waren zahlreich, da die Reservisten keine große militärische Erfahrung hatten, wogegen vor allem bei den Engländern fast nur Berufssoldaten in den Reihen standen, die schon in den zahlreichen britischen Kolonialkriegen gekämpft hatten. Anton und Karl überlebten diese erste Zeit jedoch mit Glück, das viele ihrer Kameraden nicht hatten. Im Dezember war allen klar: Weihnachten würden sie nicht zu Hause verbringen, entgegen aller Beteuerungen des Kaisers und der Generalität.

11. DEZEMBER 1914

Trotz der ersten Feuertaufe und vieler Gefallenen, war die Begeisterung unter den Soldaten immer noch groß, an diesem gewaltigen Geschehen teilnehmen zu dürfen. Den beiden Bauernburschen Anton und Karl schwante jedoch, dass das hier nicht das französische Abenteuer war, von dem die Großväter erzählten, die den Krieg von 1870/71 miterlebten. Das war eigentlich für Viele die Motivation, auch für Anton. Bei Karl lagen die Dinge allerdings etwas anders: Er hatte sich Anton wenigstens so weit anvertraut, dass er aus der kurzen Ehe wegwollte, denn Viktoria war zwar schön, aber die Familie schlecht und er rückte mit mindestens einem pikanten Detail heraus. Anton verstand andeutungsweise, was dort vorgegangen sein musste – und das Schlimmste war: Karls Frau wollte sich bei dem Problem nicht helfen lassen; er hätte den alten Greiner, Viktorias Vater, am liebsten rausgeschmissen und des Anwesens für immer verwiesen, aber er konnte sich nicht durchsetzen. Anton war sich immer schon sicher, dass es etwas mehr sein musste, als nur das magere Essen, das Karl auf Hinterwaldeck aufgetischt bekam. Deswegen die schwangere Frau zu verlassen, hätte er nicht gutgeheißen, aber das! „Unfassbar“, sagte Anton zu dem, was Karl ihm enthüllte.

Durch den Krieg war die Scheidung zwar zunächst vom Tisch, aber wie es mittelfristig weitergehen sollte, wusste Karl nicht, war doch nicht einmal sicher, ob er lebend aus dem Krieg zurückkehren würde. Aber Karl merkte, dass auch bei den anderen Männern aus Bauernfamilien nicht alles eitel Sonnenschein war. In den Briefen der Kameraden ging es selten um die Liebe und oft um knallharte Entscheidungen in privaten und wirtschaftlichen Dingen, denn die Frauen waren nun alleine und mussten die Geschäfte auf dem Hof führen. In vielen Briefen wurde hart gerungen und teilweise auch Unfreundlichkeiten ausgetauscht. Diese Erkenntnis machte es Karl etwas leichter, mit seiner Situation zurechtzukommen. Die Viktoria regelte sowieso alles ohne ihn, denn für sie war es immer noch ihr eigener Hof und Karl nur ein Gast.

Briefe wollte Karl nur seinen Eltern und anderen Angehörigen der eigenen Familie schicken – mit seiner Frau wechselte er wohl nur ein einziges Mal Worte und das war wegen der Schwangerschaft. Und doch musste er sie geliebt haben, seine Viktoria, denn ein Bild von ihr trug er bei sich.

Anton selbst kannte die Greiner-Familie nicht sehr gut, denn mit der Landwirtschaft hatte er nichts am Hut und daher auch keinen engen Kontakt zu den Landwirten der Umgebung – auch und erst recht nicht zu den Hinterwaldeckern. Aber Antons Mutter meinte, dass sie nichts Gutes über diese Familie zu erzählen wüsste. Anton war, was Gerüchte betraf, immer schon schlecht informiert, weil er sich dafür normalerweise nicht interessierte, aber nun betraf es seinen Freund. Offensichtlich überwog bei der Heirat das wirtschaftliche Interesse, denn Karl konnte in eine recht begüterte Familie einheiraten und der Hahn im Korb werden – zumindest theoretisch. Auch durfte man nicht vergessen, dass Karl fünf Brüder hatte und er war der älteste, also erbte er eigentlich den Hof und die anderen mussten schauen, wo sie blieben. Das führte gerne und oft zu Spannungen in den Familien – wenn dann die Chance bestand, einen der Söhne gut unterzubringen, dann musste diese genutzt werden; Liebe hin oder her. Im Fall der Laags rückte nun der zweitälteste Sohn Josef als Erbe des Hofs nach, weil Karl mit Hinterwaldeck nun mit einem eigenen Hof versorgt war. Somit war diese Beziehung sinnvoll, wenn auch emotional ungefestigt.

Was die Liebe betraf, lief es bei Anton harmonischer: Er hatte eine Verlobte, in die er sehr verliebt war, und die hieß Klara. Sie kam aus Ingolstadt und war eine Metzgerstochter. Das war nicht einfach durchzusetzen, weil Antons Vater für ihn schon eine andere Frau ausgesucht hatte, aber der ließ sich überreden, und so übernahm Antons jüngerer Bruder Jakob, der wegen eines Gehfehlers ohnehin nicht wehrtauglich war, die ausgesuchte Frau (Rosa, die Tochter eines anderen Landwirts aus Waldhofen). In Jakobs Händen war der Hof eindeutig besser aufgehoben, denn der konnte nicht im Krieg fallen. Und auch der Vater musste erkennen: Anton und Landwirtschaft waren zwei Dinge, die nicht auf einen Nenner zu bringen waren. Anton freute sich daher, dass sein Vater verständnisvoll war und ihn gewähren ließ. Umso mehr traf es Anton, dass Wolfgang Winkler Ende Oktober 1914 verstarb und er nicht bei ihm sein konnte, als er seinen letzten Atemzug tat. Die Mutter Josepha informierte Anton über die Feldpost über des Vaters Tod; eine Lungenentzündung raffte ihn dahin. Die Lunge des Vaters war wegen des vielen Pfeiferauchens sowieso schon angegriffen und auf den Rat anderer wollte er nicht hören. Das hatte sich nun gerächt. Ein Brief seines Bruders Jakob folgte einige Zeit später, in dem es um das Testament und die Erbschaft ging.

Der Unterstand war eine Art Bunker, mit Holzbrettern ausgekleidet, der vom Schützengraben aus zugänglich war. Hier hielten sich die Soldaten auf, wenn sie sich vor dem gegnerischen Granatfeuer in Sicherheit brachten oder sich ausruhen durften. Einige Meter unter der Erde, war vom Granatfeuer nur noch ein dumpfes Grollen und leichte Erschütterungen zu vernehmen, sodass ein wenig Entspannung möglich war. Karl saß an diesem Abend am Tisch, der in der Mitte des Schlafraums stand, und spielte mit drei anderen Kameraden Schafkopf. Umgeben waren die vier Kartenspieler von fünf Stockbetten, in denen jeweils zwei Mann schliefen. In einem davon lag Anton, der gerade einen Brief an seine Klara schrieb, was seine liebste Beschäftigung nach dem Lesen ihrer Antworten war:

Neuville, d. 11. Dezember 1914, Freitagabend 3/411 Uhr.

Mein heißgeliebtes Mädchen! Klara

Jetzt habe ich etwas Ruhe. Liege hier im Unterstand auf meinem Strohbett und versuchte ein wenig zu schlafen, aber es wollte mir nicht gelingen. Das Ungeziefer lässt mich nicht. Ein Lichtblick – man ist hier nie ohne Gesellschaft. Dann machen die Kameraden so viel Krach beim Kartenspielen. Und dann kracht regelmäßig eine Granate vom Franzosen herunter und man wacht sowieso wieder auf. Manche haben aber so einen gesegneten Schlaf – die würden sogar ihren Tod verschlafen.

Draußen ist es bitterkalt, aber unser Unterstand ist ein Backofen. Viele sind krank wegen dem ganzen Hin und Her, heiß und kalt. Übrigens soll ich Grüße vom Michler ausrichten. Den hast du ja beim Maifest kennengelernt. Der ist in einer Nachbarkompanie und ist auch schon am Fluchen. Hier und da sehe ich beim Essenholen ein paar bekannte Gesichter, aber wenns ums Essen geht, da herrscht keine Geduld und ich kann mich nicht unterhalten mit den Leuten. Und wir dürfen auch nicht zu weit weg und herumstreunen, wenn wir an der Front sind. Aber schön haben wir es uns doch gemacht. Gestern kam einer der Kameraden vorbei und hatte einen kleinen Tannenbaum dabei – den haben wir geschmückt mit tollen Sachen, die hier die Leute schnitzen und feilen, aus Splittern und Patronenhülsen. Schön ist er geworden, unser Christbaum.

Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich um jeden Tag bin, den ich weiterleben darf. Ich schlafe nachts ein und denke an dich – ich wache morgens auf und denke immer noch an dich. Und ich will jeden Tag an dich weiterdenken, bis ich wieder zuhause bin und wir dann heiraten. Weißt du noch, als wir im Juli am See waren? Nur wir zwei? Ich lebe diesen Augenblick immer wieder und wieder. Du mußt mir das nächste Mal etwas von dir schicken, an dem dein Geruch ist. Ein Taschentuch, das du nahe an dir getragen hast. Ich will, daß du mir nahe bist. Du bringst mir Glück.

Bist du jetzt bei Mama? Ich finde es schön, daß du bei ihr sein wirst, jetzt da mein Vater gestorben ist. Sag ihr, daß ich meine Leibspeisen vermisse: Dampfnudeln, und das Gulasch; die Knödel und die Kuchen. Abgenommen habe ich gut hier – wirst mich nicht wiedererkennen, wenn ich vor dir stehe. Sag dem Jakob, daß er brav sein soll. Alle Hoffnungen ruhen auf ihm. Sag ihm auch, daß er hier nichts verpasst. Soll froh sein, daß er daheim sein kann. Da wäre ich jetzt auch gerne. Aber die Pflicht ruft und wir folgen. So muß es sein, auch wenn es hart ist.

Schreib mir bald deine ersten Eindrücke vom Hof.

Dein Toni

P.S.: Wenn die Mama Gebäck macht für Weihnachten, soll sie mir ein Paket schicken. Die Kameraden freuen sich so, vor allem die, die niemanden haben. Da gibt es hier ein paar traurige Gestalten, denen ich eine Freude machen will.

Wegen der Zensur musste er mit negativen Aussagen vorsichtig sein, ansonsten kam der Brief nicht am Ziel an. Anton packte den beidseitig beschriebenen Zettel ins Kuvert und steckte ihn ein, bis ein Kamerad die nächste Post einsammelte. Mit dem Brief war für heute alles getan: Er streckte sich auf dem Bett aus und sah an die grobe Holzdecke, auf der das Lichtspiel der flackernden Kerzen eigenartige Figuren zeichnete. Er schlief oben, Karl unten im Stockbett. Einer der Kameraden meinte, aus dem Flackern die Zukunft lesen zu können, aber Anton wollte seine Zukunft nicht wissen. So etwas war Unsinn für ihn. Sollte es ihn erwischen, dann bitte kurz und schmerzlos und vor allem: überraschend. Antons Gedanken waren ansonsten nur bei seiner Klara. Als er von der Mutter erfuhr, dass sein Vater starb, bat er Klara in einem Brief, seiner Mutter Beistand zu leisten und nach Waldhofen zu gehen, auf den Hof der Familie. Das war schon eine Umstellung von der Stadt auf das kleine Dorf, aber Klara musste auch das einmal kennenlernen. Schließlich war sie mit einem Bauernburschen verlobt. Jakob hatte jetzt alle Hände voll zu tun und war für jede Hilfe dankbar. Anton war sehr erleichtert, als Klara zurückschrieb, dass sie damit einverstanden war.

Anton sah zu Karl hinüber, der immer noch fleißig Karten spielte. Er war heilfroh, hier nicht ohne alte Bekannte zu sein. Die meisten, die hier saßen oder lagen, hatten eigentlich andere Pläne, als in den Krieg zu ziehen, vor allem Anton. Er hatte 1913 seine Meisterprüfung abgelegt und plante einen eigenen Betrieb zu gründen. Das Geld dafür sollte von Jakob kommen, als Ausgleich für den väterlichen Hof, der auf Jakob statt auf ihn überschrieben wurde. Während Anton aber schon sehr konkrete Pläne hatte, war das bei einigen anderen Kameraden hier im Unterstand nicht der Fall: Es gab einige, die ganz froh waren, dass sie im Krieg ein neues Zuhause fanden und aufgeräumt waren. Es tummelten sich schon verrückte Gestalten hier und das war so ein Effekt des Krieges: Die starren Schichtungen der Gesellschaft waren plötzlich aufgehoben. Ein Bauernbursche musste mit einem linken (Pseudo-)Intellektuellen aus der Stadt seinen Dienst schieben – sehr behütete Kinder kamen nun mit komplett abgerissenen Gestalten in Kontakt, die einen anderen Umgang pflegten. Aber irgendwie funktionierte es, denn man hatte einen gemeinsamen Feind und kämpfte ums Überleben. Und das gemeinsam oder gar nicht. Zugegeben: Feindbilder änderten sich hier; manchmal waren es die Ratten, dann die Offiziere oder Unteroffiziere, und meistens natürlich der Franzose und der Engländer. Je nachdem, was gerade penetranter war.

Das Lichtspiel der Kerzen an der Decke wog Anton langsam in den Schlaf und auch das Lärmen der Kartenspieler und das dumpfe Getrommel der Granaten störte ihn nicht mehr. Ausruhen, endlich. Er schlief ein.

12. DEZEMBER 1914

„Winkler! Laag!“, rief der Unteroffizier Fürmetz Karl und Anton zu. „Ihr kommt mit zum Hauptmann. Wir machen heute eine Erkundung.“

Karl und Anton hatten gerade gefrühstückt und sahen sich jetzt verwundert an. Warum gerade sie?! Erkundung hieß im Niemandsland nachts möglichst nahe an die feindliche Linie heranrücken und diese ausspionieren. Sie mussten herausfinden, wo etwa Maschinengewehrnester lagen, wie stark Stacheldrahtsperren oder wie weit der Stellungsausbau waren, wie schnell auf Geräusche reagiert wurde (also wie wachsam der Gegner war) und so weiter. Und falls immer möglich: einen Gegner gefangen nehmen und in die Stellung bringen, damit dieser ausgehorcht werden konnte. Man musste dafür eine Halbmondnacht auswählen, bei der es genug Licht gab, damit man selbst noch etwas sah, aber nicht so viel, dass man selbst schnell entdeckt werden konnte. Der einzige Vorteil einer solchen Mission war die Sonderration Verpflegung und die verlängerte Ruhepause.

„Also, gehen wir“, meinte Karl.

„Ja, wunderbar“, raunte Anton und folgte Karl zum Befehlsunterstand, wo der Kompaniechef auf die beiden wartete: „So, Laag und Winkler: Unteroffizier Fürmetz hat Ihnen ja schon gesagt, um was es geht. Sie müssen die feindlichen Stellungen vor uns erkunden. Wir brauchen für unseren Abschnitt genaue Informationen über die Befestigungen auf der anderen Seite. Am besten auch jemanden gefangen nehmen. Sie lassen alles da, was Ihre Einheit verraten könnte. Auch alle persönlichen Dinge hierlassen. Können Sie beim Spieß deponieren. Der passt persönlich darauf auf. Wenn Sie – wie beim letzten Mal – gute Arbeit leisten und dieses Mal einen lebenden Gefangenen mitbringen, schlage ich Sie für einen Orden vor. Sie nehmen keine Gewehre mit und geben auch keine Schüsse ab – das lenkt nur das MG-Feuer auf Sie. Bewaffnen Sie sich mit Keule, Dolch und einer Pistole, für den absoluten Notfall. Und passen Sie auf gegnerische Kundschafter und Horchposten auf. Sie gehen gegen acht abends raus. Bis dahin haben Sie Pause. Holen Sie sich eine extra Ration Verpflegung. Melden Sie sich gegen halb acht beim Unteroffizier.“

„Jawohl Herr Hauptmann!“, schallte es aus Anton und Karl heraus.

Der Spieß, der hinter ihnen stand, sammelte sofort alle persönlichen Gegenstände ein, also den Militärpass, Erkennungsmarke und auch die Einheitsabzeichen, damit das später in der Aufregung nicht vergessen wurde. Sollten die beiden gefangen genommen werden, durfte der Feind nicht erfahren, welche Einheit ihnen gegenüberlag. „Schreibt’s noch einen Brief nach Hause. Aber keine Details. Ihr wisst’s Bescheid“, meinte der Feldwebel. Die beiden Männer wussten genau, warum sie noch einen schreiben sollten: Es konnte ihr letzter sein.

Anton verließ den Befehlsstand wieder mit einem schlechten Gefühl und teilte dies auch Karl mit, der ihm dicht nachfolgte. Als sie in einer Ecke des Grabensystems waren, wo sie keiner hören konnte, sagte er zu Karl: „Ich weiß nicht. Da machst du eine gute Arbeit und was bringt dir das ein? Dass sie einen wieder da rausschicken. Weißt du was? Das Beste ist, zu nichts nutze zu sein. Dann wird man nicht behelligt und überlebt.“

„Das habe ich mir auch gerade gedacht. Aber jetzt wissen wir, warum’s uns ausgewählt haben.“

„Also: Was machen wir, Karl? Untertauchen? Auf Nummer sicher gehen? Oder wollen wir uns einen Orden verdienen?“

Karl überlegte: „Wie wäre es damit: Mir verdienen uns heute einen Orden – und danach lassen wir’s ruhiger angehen. Danach gehen wir Gefahren aus dem Weg.“

Anton nickte: „Saubere Idee. So machen wir’s. Wir schauen einfach, wie es heute Abend läuft. Wir pirschen uns ran, erkunden die Lage. Wir machen keinen Schmarrn. Und wenn sich irgendeine gute Gelegenheit ergibt, machen wir’s; aber danach nie wieder Held sein.“

Karl blickte umher, als wenn er nach Beobachtern Ausschau hielt. Etwas verschämt schlug er ein und nickte dabei.

„Gut“, sagte Anton, „dann lass uns wieder in den Unterstand gehen. Ich will noch einen Brief schreiben. Und wir holen uns noch die Sonderration. Danach legen wir uns hin. Wir müssen später hellwach sein. Ich will keinen Fehler machen.“

Halb acht Uhr. Karl und Anton standen vor dem Unteroffizier, der eine kurze Ansprache hielt: „Also, Burschen: Geht’s zum vordersten Posten und dann hinauf ins freie Feld. Seht euch die feindlichen Stellungen genau an. Und wie gesagt: Wenn ihr Gefangene macht, gibt’s einen Orden.“

Karl und Anton blickten sich an – sie hatten einen Plan geschmiedet: Helden für eine Nacht; und danach war Überleben angesagt. Aber diese Aufgabe, die ihnen heute gestellt wurde, wollten sie meistern. Mit diesem Vorhaben in den Köpfen gingen sie durch die Verbindungsgräben zum vordersten Posten; das war ein Loch, in dem sich zwei Soldaten statt aufzupassen, mit rhythmischen Bewegungen zu wärmen versuchten. Als die beiden Männer Karl und Anton herannahen sahen, hielten sie mit ihren Übungen an, machten etwas Platz und wünschten den beiden viel Glück, was die Helden für eine Nacht mit einem kurzen Handzeichen dankend quittierten. Karl und Anton prüften noch einmal ihre Ausrüstung: Grabenkeule in der Hand; Dolch gut am Gürtel befestigt; Pistole fest im Holster. Alles war ordentlich an seinem Platz. Anton ergriff zuerst die Leiter, die aus dem Postenloch über die Brustwehr auf das freie Feld führte. Jeder Schritt hinauf fiel schwer. Nach einigen Stufen war er oben. Hier, auf der Grabenkante stehend, fühlte man sich sofort nackt und ausgeliefert. Jetzt gab es keinen Schutz mehr. Umso fester umgriffen Karl, der mittlerweile nachgerückt war, und Anton ihre Grabenkeulen; vielmehr klammerten sie sich an diese Waffen. Sie hatten auch keinen Helm auf und auch keine Mütze, denn jetzt ging es darum, jeden leisesten Mucks zu hören und nichts zu übersehen. Dabei störten Mütze und Helm nur. Jederzeit konnten sie hier im Niemandsland auf eine feindliche Patrouille stoßen, die genau das Gleiche im Sinn hatte: Beute machen!

Karl und Anton gingen nun in die Hocke, orientierten sich, um sich dann in Richtung der feindlichen Stellung in Bewegung zu setzen, die im Dunkel der Nacht jetzt noch außer Sichtweite lag. Manchmal geduckt, manchmal auch kriechend, sollten die Scharfschützen des Gegners im Licht des Mondes höchstens die Hintern der beiden entdecken, die in die Höhe reckten. Die konnten sie ruhig treffen.

Der Weg nach vorne war ein Zickzackkurs; erst ging es in einen Granattrichter, dann hinter einen umgeknickten Baum, dann hinter eine Leiche. Machte einer der Späher etwas Lärm, gab es vom anderen einen Schlag auf den Hinterkopf.

Nach etwa einer halben Stunde kamen Karl und Anton etwa zwanzig Meter vor dem vordersten feindlichen Graben an. Sie beobachteten genau, was dort vor sich ging. Gelegentlich konnte man leise Gespräche, ein metallisches Klappern oder fiepende Ratten hören. Dann flüsterte Karl: „Bleib du hier. Ich pirsche mich näher ran, weil ich sehen will, ob es einen Horchposten gibt. Wenn du etwas siehst, mach ein Hundegeheul. Dann komme ich gleich wieder.“

„Karl …“, setzte Anton ebenfalls flüsternd an und versuchte seinen Freund zurückzuhalten, aber da war dieser schon außer Reichweite. Anton sah ihm kopfschüttelnd nach; Karl musste verrückt geworden sein. Anton beobachtete genau und sah, wie Karl nach vorne robbte, Meter für Meter.

Es blieb zunächst still. Aber plötzlich: etwas regte sich in der Dunkelheit. Zwei Männer sprangen auf einmal aus einer Deckung hervor und griffen Karl an. Nun musste Anton ihm zu Hilfe eilen. Er nahm seine Grabenkeule und rannte auf die Schlägerei zu. Einer der Männer rang mit Karl und sie rollten in einen Granattrichter. Gleich darauf saß der Franzose auf Karl und rammte ihm ein Messer in den Bauch, während der andere daneben stand und sich überlegte, wie er noch helfend eingreifen konnte. Gut so, denn er achtete deswegen nicht auf Anton. Der war schon da und zog ihm mit einem wuchtigen Schlag die Grabenkeule über den Rücken; der Getroffene kippte bewusstlos nach vorn. Da schrak der Messermann auf, der Karl bearbeitete, drehte sich zum Angriff auf Anton, aber da sauste schon der nächste Hieb herab, dem Franzmann mitten ins Gesicht. Blut und anderes Zeug spritzte durch die Luft – der Soldat war sofort tot.

Der andere Franzose, der den Schlag auf den Rücken bekam, krümmte sich nun etwas und Anton rief ihn flüsternd an: „Capitulez! Tu es mon prisonnier!“ Mit schlechtem Französisch forderte er ihn auf, sich zu ergeben. Dabei bäumte sich Anton vor dem Franzosen auf, mit der Keule in der Hand; er musste dabei furchterregend gewirkt haben, denn der Franzose nickte erschrocken. Dann rief jemand auf Französisch etwas aus dem gegnerischen Graben und der Gefangene wollte schon reagieren, aber Anton wies ihn an, still zu sein, indem er den Zeigefinger auf seine Lippen legte. Der verletzte Franzose verstand und blieb still.

Jetzt fühlte Anton den Puls von Karl und musste feststellen, dass sein Freund tot war. Er stand jetzt vor der Wahl: Der Franzose konnte Karl nicht tragen, weil er durch den Keulenschlag verletzt war; Anton hätte Karl zwar tragen, aber nicht gleichzeitig auf den Gefangenen aufpassen können. So schrecklich es war: Karl war tot und der Gefangene lebte und war vielleicht Gold wert, wenn er etwas wusste, was für die deutsche Seite interessant war. Also entschied sich Anton schweren Herzens, Karl hier liegenzulassen und ihn während der nächsten Feuerpause zu bergen.

„Lá!“ Anton zeigte dem Franzosen mit der Keule die Richtung an, in die er zu gehen hatte. Eigentlich konnte er kein Französisch, aber der Hauptmann brachte ihnen ein paar Wörter bei für den Fall, dass sie Gefangene machten. Das konnte er jetzt gut gebrauchen. Der Franzose schleppte sich mit gekrümmtem Rücken auf den deutschen Graben zu, dabei Anton immer im Rücken habend, der jederzeit bereit war, ihm den Rest zu geben, sollte er auf dumme Gedanken kommen.

13. DEZEMBER 1914

„Sehr gut, Gefreiter Winkler. Das haben Sie wirklich gut gemacht. Um den Kamerad Laag tut es mir leid. Ich weiß, dass Sie befreundet waren. Hoffentlich gibt es bald Gelegenheit, die Leiche zu bergen. Sind Sie sich sicher, dass er gefallen ist?“, fragte der Kompaniechef.

Morgens um sieben durfte Anton berichten, über das, was in der Nacht zuvor passiert war. Anton stand vor dem Kompaniechef in strammer Haltung: „Jawohl, Herr Hauptmann. Wir waren im Zweikampf mit dem Gegner und ich konnte sehen, dass der Karl mehrere Messerstiche abbekommen hat. Dem Messerstecher schlug ich dann ins Gesicht. Er war gleich tot. Der andere ging danach freiwillig mit, als ich mit der Keule vor ihm stand. Ich entschied mich, den Karl Laag zurückzulassen, in der Absicht, ihn später zu bergen. Ich war mir sicher, dass er tot war, also nicht mehr zu retten.“

Der Spieß fragte aus dem Hintergrund: „Konnten Sie seinen Puls fühlen? Oder andere Lebenszeichen prüfen?“

„Ja, Herr Feldwebel. In der Situation, also mit dem Gefangenen, war das aber nur kurz möglich. Ich musste mich ja auch um den Gefangenen kümmern. Aber Karls Augen waren offen und sein Blick, der sah so aus, als wenn gerade die Lebensgeister aus ihm entweichen. Ich bin … kann es nicht ohne Zweifel bestätigen, aber mein Gefühl sagt mir, dass er tot war.“

„Das heißt, Sie haben keinen Puls fühlen können?“, hakte der Spieß nach.

„Nein, Herr Feldwebel. Es war kein Puls zu fühlen“, antwortete Anton knapp.

Der Spieß und der Kompaniechef sahen sich zweifelnd an. Nun sprach der Kompaniechef wieder: „Gut. Wir machen das so: Laag gilt, Stand heute, als tot, bis wir den Gegenbeweis haben. Vielleicht kriegen wir die nächste Zeit eine Feuerpause und können auch seine Leiche einsammeln.“

„Herr Hauptmann?“

„Ja, Gefreiter Winkler?“

„Darf ich selbst nachsehen? Es sind ja nur hundert Meter.“

„Jetzt gleich? Nein. Auf keinen Fall auf eigene Faust, Winkler. Wir haben solche Verluste. Wir brauchen Sie noch.“ Die Antwort des Hauptmanns war sehr entschlossen. „Ich werde Sie für das Eiserne Kreuz vorschlagen. Sie haben einen Feind im Zweikampf getötet, einen anderen gefangen genommen. Aus diesem Gefangenen konnten wir wichtige Informationen gewinnen. Das war eine sehr gute Leistung. Ruhen Sie sich jetzt aus.“

24. DEZEMBER 1914

Für den Weihnachtstag vereinbarten die verfeindeten Parteien eine Feuerpause und Anton machte sich sofort auf, Karls Leiche zu suchen. Er erhielt vom Spieß die Erlaubnis dazu und rannte sofort aufs freie Feld. Den Granattrichter, in dem sie in den Kampf verwickelt waren, fand Anton problemlos. Auch der Franzose, den er erschlagen hatte, lag noch mit zertrümmertem Schädel darin. Aber wo war Karls Leiche? Sie hätte neben dem Messermann liegen müssen.