Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Studienausgabe - Friedrich Schiller - E-Book + Hörbuch

Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Studienausgabe E-Book

Friedrich Schiller

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Beschreibung

Oft wird behauptet, Schiller habe mit seiner Erzählung der "wahren Geschichte" des berüchtigten Verbrechers Johann Friedrich Schwan, genannt der Sonnenwirt, das Genre der Kriminalgeschichte erfunden. Das hat er zwar nicht, dennoch ist das Werk, ein frühes und besonders erfolgreiches Beispiel für die überaus beliebte literarische Gattung, die Unterhaltung mit frühen Formen von Sozialpsychologie verband und dabei gleichzeitig juristisches Wissen, z.B. über Tatmotive und Zurechnungsfähigkeit, verbreiten wollte. Die neue Studienausgabe erschließt mit einem umfangreichen Materialienteil dieses zeitgenössische kriminologische Umfeld des Textes. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 174

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Friedrich Schiller

Der Verbrecher aus verlorener Ehre

Studienausgabe

Herausgegeben von Alexander Košenina

Reclam

2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960449-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019184-2

www.reclam.de

Inhalt

Der Verbrecher aus verlorener Ehre.

Eine wahre Geschichte

Anhang

1 Textgrundlagen

2 Überlieferung und Varianten

3 Kommentar

4 Jacob Friedrich Abel: Lebens-Geschichte Fridrich Schwans (1787)

5 Dokumente

a) Steckbrief zur Ergreifung von Friedrich Schwan (1758)

b) Bericht von Konradin Ludwig Abel an den Herzog Carl Eugen (7. März 1760)

c) Briefliche Empörung Schillers gegenüber seinem Verleger Georg Joachim Göschen, der in einer Werbeanzeige die Anonymität bei der Erstpublikation verletzte (13. Februar 1786)

d) Rezensionen der Thalia, die den anonymen Erstdruck von Schillers Erzählung enthält (1786)

e) Brief Schillers an Caroline von Beulwitz (10. Dezember 1788)

f) Wilhelm von Humboldt: Ueber die Ehrlosigkeit (Infamie) als eine Kriminalstrafe (1791)

g) Schillers Vorrede zur Neuübersetzung von Pitavals Merkwürdigen Rechtsfällen (1792)

h) Rezension der Buchausgabe, die Schillers Erzählung enthält (1792)

i) Anmerkung zum ersten gemeinsamen Abdruck von Schillers und Abels Texten in einer Rechtsfallsammlung (1794)

j) Schillers Erzählung als wegweisendes Beispiel in der Gerichtspsychologie von Johann Baptist Friedreich (1835)

6 Nachwort

7 Literaturhinweise

8 Hinweise zur E-Book-Ausgabe

[7]Der Verbrecher aus verlorener Ehre*Eine wahre Geschichte*

 

[9]In der ganzen Geschichte des Menschen* ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist, als die Annalen seiner Verirrungen*. Bey jedem großen Verbrechen* war eine verhältnißmäßig große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft* bey dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer*, lauter; der feinere Menschenforscher*, welcher weiß, wie viel man auf die Mechanik der gewöhnlichen Willensfreyheit eigentlich rechnen darf, und wie weit es erlaubt ist, analogisch zu schließen, wird manche Erfahrung aus diesem Gebiete in seine Seelenlehre herübertragen, und für das sittliche Leben verarbeiten.

Es ist etwas so einförmiges, und doch wieder so zusam­mengeseztes, das menschliche Herz*. Eine und eben dieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausenderley Formen und Rich­tungen spielen, kann tausend widersprechende Phänomene bewirken, kann in tausend Karakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Karaktere und Handlungen können wieder aus einerley Neigung gesponnen seyn, wenn auch der Mensch, von welchem die Rede ist, nichts weniger denn eine solche Verwandtschaft ahndet. Stünde einmal, wie für die übrigen Reiche der Natur, auch für das Menschengeschlecht, ein Linnäus* auf, welcher nach Trieben und Neigungen klaßifizierte, wie sehr würde man erstaunen, wenn man so manchen, dessen Laster in einer engen bürgerlichen Sphäre, und in der schmalen Umzäunung der Gesetze* jezt ersticken muß, mit dem Ungeheuer Borgia* in einer Ordnung beysammen fände.

Von dieser Seite betrachtet, läßt sich manches gegen die gewöhnliche Behandlung der Geschichte einwenden, und hier,[10] vermuthe ich, liegt auch die Schwierigkeit, warum das Studium derselben für das bürgerliche Leben noch immer so fruchtlos geblieben. Zwischen der heftigen Gemüthsbewegung des handelnden Menschen, und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird, herrscht ein so widriger Kontrast, liegt ein so breiter Zwischenraum, daß es dem leztern schwer, ja unmöglich wird, einen Zusammenhang nur zu ahnden. Es bleibt eine Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser, die alle Möglichkeit einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet, und statt jenes heilsamen Schreckens, der die stolze Gesundheit warnet, ein Kopfschütteln der Befremdung erweckt. Wir sehen den Unglücklichen*, der doch in eben der Stunde, wo er die That beging, so wie in der, wo er dafür büßet, Mensch war wie wir*, für ein Geschöpf fremder Gattung an, dessen Blut anders umläuft, als das unsrige, dessen Wille andern Regeln gehorcht, als der unsrige; seine Schicksale rühren uns wenig, denn Rührung* gründet sich ja nur auf ein dunkles Bewußtseyn ähnlicher Gefahr, und wir sind weit entfernt, eine solche Aehnlichkeit auch nur zu träumen. Die Belehrung geht mit der Beziehung verloren, und die Geschichte, anstatt eine Schule der Bildung zu seyn, muß sich mit einem armseligen Verdienste um unsre Neugier begnügen. Soll sie uns mehr seyn und ihren großen Endzweck erreichen, so muß sie nothwendig unter diesen beyden Methoden wählen – Entweder der Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.

Ich weiß, daß von den besten Geschichtschreibern neuerer Zeit und des Alterthums manche sich an die erste Methode gehalten, und das Herz ihres Lesers durch hinreißenden Vortrag bestochen* haben. Aber diese Manier ist eine Usurpation des Schriftstellers und beleidigt die republikanische Freyheit* des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen*; sie ist zugleich eine Verletzung der [11] Gränzengerechtigkeit, denn diese Methode gehört ausschließend und eigen­thümlich dem Redner und Dichter*. Dem Geschichtschreiber bleibt nur die leztere übrig.

Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier eben so viel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh’ er handelt, wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen*. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr, als an seinen Thaten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken, als an den Folgen jener Thaten. Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären, warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen? Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgaben, bis der gesammelte Zunder in seinem inwendigen Feuer fing? Den Träumer, der das Wunderbare* liebt, reizt eben das seltsame und abentheuer­liche einer solchen Erscheinung; der Freund der Wahrheit sucht eine Mutter zu diesen verlorenen Kindern. Er sucht sie in der unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele, und in den veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten, und in diesen beyden findet er sie gewiß. Ihn überrascht es nun nicht mehr, in dem nämlichen Beete, wo sonst überall heilsame Kräuter blühen, auch den giftigen Schierling* gedeihen zu sehen, Weisheit und Thorheit, Laster und Tugend in einer Wiege beysammen zu finden.

Wenn ich auch keinen der Vortheile hier in Anschlag bringe, welche die Seelenkunde aus einer solchen Behandlungsart der Geschichte zieht, so behält sie schon allein darum den Vorzug, weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend auf die gefallne herunterblickt, weil sie den sanften Geist der Duldung verbreitet, ohne welchen kein [12] Flüchtling zurückkehrt, keine Aussöhnung des Gesetzes mit seinem Beleidiger statt findet, kein angestecktes Glied der Gesellschaft von dem gänzlichen Brande gerettet wird.

Ob der Verbrecher, von dem ich jezt sprechen werde, auch noch ein Recht gehabt hätte, an jenen Geist der Duldung zu appelliren? ob er wirklich ohne Rettung für den Körper des Staats verloren war? – Ich will dem Ausspruch des Lesers nicht vorgreifen. Unsre Gelindigkeit fruchtet ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henkers Hand* – aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit, und – es ist möglich, auch die Gerechtigkeit.

Christian Wolf* war der Sohn eines Gastwirths in einer …schen Landstadt* (deren Namen man, aus Gründen, die sich in der Folge aufklären, verschweigen muß) und half seiner Mutter, denn der Vater war todt, bis in sein zwanzigstes Jahr die Wirthschaft besorgen. Die Wirthschaft war schlecht, und Wolf hatte müßige Stunden. Schon von der Schule her war er für einen losen Buben bekannt. Erwachsene Mädchen führten Klagen über seine Frechheit, und die Jungen des Städtchens huldigten seinem erfinderischen Kopfe. Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt*. Eine kleine unscheinbare Figur, kraußes Haar von einer unangenehmen Schwärze, eine plattgedrückte Nase und eine geschwollene Oberlippe, welche noch überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war, gaben seinem Anblick eine Widrigkeit, welche alle Weiber von ihm zurückscheuchte, und dem Witz seiner Kameraden eine reichliche Nahrung darbot.

Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er mißfiel, sezte er sich vor, zu gefallen. Er war sinnlich, und beredete sich, daß er liebe. Das Mädchen, das er wählte, mißhandelte ihn, er hatte Ursache zu fürchten, daß seine Nebenbuhler glücklicher wären; doch das Mädchen war arm. Ein Herz, das seinen Be­theurungen verschlossen blieb, öffnete sich vielleicht seinen [13] Geschenken, aber ihn selbst drückte Mangel, und der eitle Versuch, seine Außenseite geltend zu machen, verschlang noch das wenige, was er durch eine schlechte Wirthschaft erwarb. Zu bequem und zu unwissend, seinem zerrütteten Haus­wesen durch Spekulation aufzuhelfen, zu stolz, auch zu weichlich, den Herrn, der er bisher gewesen war, mit dem Bauer zu vertauschen, und seiner angebeteten Freyheit zu entsagen, sah er nur einen Ausweg vor sich – den tausende vor ihm und nach ihm mit besserem Glücke ergriffen haben – den Ausweg, honett zu stehlen*. Seine Vaterstadt gränzte an eine landesherrliche Waldung, er wurde Wilddieb, und der Ertrag seines Raubes wanderte treulich in die Hände seiner Geliebten.

Unter den Liebhabern Hannchens* war Robert, ein Jägerpursche des Försters. Frühzeitig merkte dieser den Vortheil, den die Freygebigkeit seines Nebenbuhlers über ihn gewonnen hatte, und mit Scheelsucht forschte er nach den Quellen dieser Veränderung. Er zeigte sich fleißiger in der Sonne – dieß war das Schild zu dem Wirthshaus – sein laurendes Auge von Eifersucht und Neide geschärft, entdeckte ihm bald, woher dieses Geld floß. Nicht lange vorher war ein strenges Edikt gegen die Wildschützen* erneuert worden, welches den Uebertreter zum Zuchthaus verdammte. Robert war unermüdet, die geheimen Gänge seines Feindes zu beschleichen, endlich gelang es ihm auch, den Unbesonnenen über der That zu ergreifen. Wolf wurde eingezogen, und nur mit Aufopferung seines ganzen kleinen Vermögens brachte er es mühsam dahin, die zuerkannte Strafe durch eine Geldbuße abzuwenden.

Robert triumphirte. Sein Nebenbuhler war aus dem Felde geschlagen, und Hannchens Gunst für den Bettler verloren. Wolf kannte seinen Feind, und dieser Feind war der glückliche Besitzer seiner Johanne. Drückendes Gefühl des Mangels gesellte sich zu beleidigtem Stolze, Noth und Eifersucht stürmen* vereinigt auf seine Empfindlichkeit ein, der Hunger treibt ihn [14] hinaus in die weite Welt, Rache und Leidenschaft halten ihn fest. Er wird zum zweytenmal Wilddieb; aber Roberts ver­doppelte Wachsamkeit überlistet ihn zum zweitenmal wieder. Jezt erfährt er die ganze Schärfe des Gesetzes: denn er hat nichts mehr zu geben, und in wenigen Wochen wird er in das Zuchthaus der Residenz abgeliefert.

Das Strafjahr war überstanden, seine Leidenschaft durch die Entfernung gewachsen, und sein Trotz unter dem Gewicht des Unglücks gestiegen. Kaum erlangt er die Freyheit, so eilt er nach seinem Geburtsort, sich seiner Johanne zu zeigen. Er erscheint: man flieht ihn. Die dringende Noth hat endlich seinen Hochmuth gebeugt, und seine Weichlichkeit überwunden – er bietet sich den Reichen des Orts an, und will für den Taglohn dienen. Der Bauer zuckt über den schwachen Zärtling die Achsel; der derbe Knochenbau seines handvesten Mitbewerbers sticht ihn bey diesem fühllosen Gönner aus. Er wagt einen lezten Versuch. Ein Amt ist noch ledig, der äußerste verlorne Posten des ehrlichen Namens – er meldet sich zum Hirten des Städtchens, aber der Bauer will seine Schweine keinem Taugenichts anvertrauen*. In allen Entwürfen getäuscht, an allen Orten zurück gewiesen, wird er zum drittenmal Wilddieb*, und zum drittenmal trift ihn das Unglück, seinem wachsamen Feind in die Hände zu fallen.

Der doppelte Rückfall hatte seine Verschuldung erschwert. Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemüthsfassung des Beklagten*. Das Mandat gegen die Wilddiebe bedurfte einer solennen* und exemplarischen Genugthuung, und Wolf ward verurtheilt, das Zeichen des Galgens* auf den Rücken gebrannt, drey Jahre auf der Vestung zu arbeiten.

Auch diese Periode verlief, und er ging von der Vestung – aber ganz anders, als er dahin gekommen war*. Hier fängt eine neue Epoche in seinem Leben an; man höre ihn selbst, wie er [15] nachher gegen seinen geistlichen Beystand, und vor Gerichte bekannt hat. »Ich betrat die Vestung«, sagte er, »als ein Verirrter, und verließ sie als ein Lotterbube. Ich hatte noch etwas in der Welt gehabt das mir theuer war, und mein Stolz krümmte sich unter der Schande. Wie ich auf die Vestung gebracht war, sperrte man mich zu drey und zwanzig Gefangenen ein, unter denen zwey Mörder, und die übrigen alle berüchtigte Diebe und Vagabunden waren. Man verhöhnte mich, wenn ich von Gott sprach, und sezte mir zu, schändliche Lästerungen gegen den Erlöser zu sagen. Man sang mir Hurenlieder vor, die ich, ein lüderlicher Bube, nicht ohne Ekel und Entsetzen hörte, aber was ich ausüben sah, empörte meine Schamhaftigkeit noch mehr. Kein Tag verging, wo nicht irgend ein schändlicher Lebenslauf wiederholt, irgend ein schlimmer Anschlag geschmie­det ward. Anfangs floh ich dieses Volk, und verkroch mich vor ihren Gesprächen, so gut mirs möglich war, aber ich brauchte ein Geschöpf, und die Barbarey meiner Wächter hatte mir auch meinen Hund* abgeschlagen. Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich, ich brauchte Beystand, und wenn ichs aufrichtig sagen soll, ich brauchte Bedaurung, und diese mußte ich mit dem lezten Ueberrest meines Gewissens erkaufen. So gewöhnte ich mich endlich an das abscheulichste, und im lezten Vierteljahr hatte ich meine Lehrmeister übertroffen.«

»Von jezt an lechzte ich nach dem Tag meiner Freyheit, wie ich nach Rache lechzte. Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich. Ich betrachtete mich als den Märtirer des natürlichen Rechts, und als ein Schlachtopfer der Gesetze*. Zähneknirschend rieb ich meine Ketten, wenn die Sonne hinter meinem Vestungsberg heraufkam; eine weite Aussicht ist zwiefache Hölle für einen Gefangenen. Der freye Zugwind, der durch die Luftlöcher meines Thurmes pfeifte, und die Schwalbe, die sich auf dem eisernen [16] Stab meines Gitters niederließ, schienen mich mit ihrer Freyheit zu necken, und machten mir meine Gefangenschaft desto gräßlicher. Damals gelobte ich unversöhnlichen glühenden Haß allem was dem Menschen gleicht, und was ich gelobte, hab ich redlich gehalten.«

»Mein erster Gedanke, sobald ich mich frey sah, war meine Vaterstadt. So wenig auch für meinen künftigen Unterhalt da zu hoffen war, so viel versprach sich mein Hunger nach Rache. Mein Herz klopfte wilder, als der Kirchthurm von weitem aus dem Gehölze stieg. Es war nicht mehr das herzliche Wohlbehagen, wie ichs bey meiner ersten Wallfahrt empfunden hatte. – Das Andenken alles Ungemachs, aller Verfolgungen, die ich dort einst erlitten hatte, erwachte mit einemmal aus einem schrecklichen Todesschlaf, alle Wunden bluteten wieder, alle Narben gingen auf. Ich verdoppelte meine Schritte, denn es erquickte mich im voraus, meine Feinde durch meinen plözlichen Anblick in Schrecken zu setzen, und ich dürstete jezt eben so sehr nach neuer Erniedrigung, als ich ehemals davor gezittert hatte.«

»Die Glocken läuteten zur Vesper, als ich mitten auf dem Markte stand. Die Gemeine wimmelte zur Kirche. Man erkannte mich schnell, jedermann der mir aufstieß, trat scheu zurück. Ich hatte von jeher die kleinen Kinder sehr lieb gehabt, und auch jezt übermannte michs unwillkührlich, daß ich einem Knaben, der neben mir vorbey hüpfte, einen Groschen bot. Der Knabe sah mich einen Augenblick starr an, und warf mir den Groschen ins Gesicht. Wäre mein Blut nur etwas ruhiger gewesen, so hätte ich mich erinnert, daß der Bart, den ich noch von der Vestung mitbrachte, meine Gesichtszüge bis zum gräßlichen entstellte – aber mein böses Herz hatte meine Vernunft angesteckt. Thränen, wie ich sie nie geweint hatte, liefen über meine Backen.«

»›Der Knabe weiß nicht wer ich bin noch woher ich komme‹, [17] sagte ich halb laut zu mir selbst, ›und doch meidet er mich, wie ein schändliches Thier. Bin ich denn irgendwo auf der Stirne gezeichnet*, oder habe ich aufgehört, einem Menschen ähnlich zu sehen, weil ich fühle, daß ich keinen mehr lieben kann?‹ – Die Verachtung dieses Knaben schmerzte mich bitterer, als dreijähriger Galliottendienst*, denn ich hatte ihm Gutes gethan, und konnte ihn keines persönlichen Hasses beschuldigen.«

»Ich sezte mich auf einen Zimmerplatz, der Kirche gegenüber; was ich eigentlich wollte, weiß ich nicht; doch ich weiß noch, daß ich mit Erbitterung aufstand, als von allen meinen vorübergehenden Bekannten keiner mich nur eines Grusses gewürdigt hatte, auch nicht einer. Unwillig verließ ich meinen Standort, eine Herberge aufzusuchen; als ich an der Ecke einer Gasse umlenkte, rannte ich gegen meine Johanne. ›Sonnenwirth!‹ schrie sie laut auf, und machte eine Bewegung mich zu umarmen. ›Du wieder da, lieber Sonnenwirth! Gott sey Dank, daß du wieder kömmst!‹ Hunger und Elend sprach aus ihrer Bedeckung, eine schändliche Krankheit* aus ihrem Gesichte, ihr Anblick verkündigte die verworfenste Kreatur, zu der sie erniedrigt war. Ich ahndete schnell, was hier geschehen seyn möchte; einige fürstliche Dragoner, die mir eben begegnet waren, ließen mich errathen, daß Garnison in dem Städtchen lag. ›Soldatendirne!‹ rief ich, und drehte ihr lachend den Rücken zu. Es that mir wohl, daß noch ein Geschöpf unter mir war im Rang der Lebendigen. Ich hatte sie niemals geliebt.«

»Meine Mutter war todt. Mit meinem kleinen Hause hatten sich meine Kreditoren bezahlt gemacht. Ich hatte niemand und nichts mehr. Alle Welt floh mich wie einen Giftigen, aber ich hatte endlich verlernt, mich zu schämen. Vorher hatte ich mich dem Anblick der Menschen entzogen, weil Verachtung mir unerträglich war. Jezt drang ich mich auf, und ergözte mich, sie zu verscheuchen. Es war mir wohl, weil ich nichts [18] mehr zu verlieren, und nichts mehr zu hüten hatte. Ich brauchte keine gute Eigenschaft mehr, weil man keine mehr bey mir vermuthete.«

»Die ganze Welt stand mir offen, ich hätte vielleicht in einer fremden Provinz für einen ehrlichen Mann gegolten, aber ich hatte den Muth verloren, es auch nur zu scheinen. Verzweiflung und Schande hatten mir endlich diese Sinnesart aufgezwungen. Es war die lezte Ausflucht, die mir übrig war, die Ehre entbehren zu lernen, weil ich an keine mehr Anspruch machen durfte. Hätten meine Eitelkeit und mein Stolz meine Erniedrigung* erlebt, so hätte ich mich selber entleiben müssen.«

»Was ich nunmehr eigentlich beschlossen hatte, war mir selber noch unbekannt. Ich wollte Böses thun, soviel erinnere ich mich noch dunkel. Ich wollte mein Schicksal verdienen. Die Gesetze, meinte ich, wären Wohlthaten für die Welt, also faßte ich den Vorsatz, sie zu verletzen; ehemals hatte ich ausNothwendigkeit und Leichtsinn gesündigt, jezt that ichs aus freyer Wahl zu meinem Vergnügen.«

»Mein erstes war, daß ich mein Wildschießen fortsezte. Die Jagd überhaupt war mir nach und nach zur Leidenschaft geworden, und außerdem mußte ich ja leben. Aber dieß war es nicht allein; es kitzelte mich, das fürstliche Edikt zu verhöhnen und meinem Landesherrn nach allen Kräften zu schaden. Ergriffen zu werden, besorgte ich nicht mehr, denn jezt hatte ich eine Kugel für meinen Entdecker bereit*, und das wußte ich, daß mein Schuß seinen Mann nicht fehlte. Ich erlegte alles Wild das mir aufstieß, nur weniges machte ich auf der Gränze zu Gelde, das meiste ließ ich verwesen. Ich lebte kümmerlich, um nur den Aufwand an Bley und Pulver zu bestreiten. Meine Verheerungen in der großen Jagd wurden ruchtbar, aber mich drückte kein Verdacht mehr. Mein Anblick löschte ihn aus. Mein Name war vergessen.«

[19] »Diese Lebensart trieb ich mehrere Monate. Eines Morgens hatte ich nach meiner Gewohnheit das Holz durchstrichen, die Fährte eines Hirsches zu verfolgen. Zwey Stunden hatte ich mich vergeblich ermüdet, und schon fing ich an, meine Beute verloren zu geben, als ich sie auf einmal in schußgerechter Entfernung entdecke. Ich will anschlagen* und abdrücken – aber plözlich erschreckt mich der Anblick eines Hutes, der wenige Schritte vor mir auf der Erde liegt. Ich forsche genauer, und erkenne den Jäger Robert, der hinter dem dicken Stamm einer Eiche auf eben das Wild anschlägt, dem ich den Schuß bestimmt hatte. Eine tödtliche Kälte fährt bey diesem Anblick durch meine Gebeine. Just das war der Mensch, den ich unter allen lebendigen Dingen am gräßlichsten haßte, und dieser Mensch war in die Gewalt meiner Kugel gegeben. In diesem Augenblick dünkte michs, als ob die ganze Welt in meinem Flintenschuß läge, und der Haß meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze sich zusammendrängte, womit ich den mördrischen Druck thun sollte. Eine unsichtbare fürchterliche Hand schwebte über mir, der Stundenweiser meines Schicksals zeigte unwiderruflich auf diese schwarze Minute. Der Arm zitterte mir, da ich meiner Flinte die schreckliche Wahl erlaubte – meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost, und der Odem sperrte sich erstickend in meiner Lunge. Eine Minute lang blieb der Lauf meiner Flinte ungewiß zwischen dem Menschen und dem Hirsch mitten inne schwanken – eine Minute – und noch eine – und wieder eine. Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag todt am Boden.«

»Mein Gewehr fiel mit dem Schuße ….. ›Mörder‹ … stammelte ich langsam – der Wald war still wie ein Kirchhof – ich hörte deutlich, daß ich Mörder sagte. Als ich näher schlich, starb der Mann. Lange stand ich sprachlos vor dem Todten, ein helles Gelächter* endlich machte mir Luft. ›Wirst du jezt [20] reinen Mund halten, guter Freund!‹ sagte ich, und trat keck hin, indem ich zugleich das Gesicht des Ermordeten auswärts kehrte. Die Augen standen ihm weit auf. Ich wurde ernsthaft, und schwieg plözlich wieder stille. Es fing mir an, seltsam zu werden.«

»Bis hieher hatte ich auf Rechnung meiner Schande gefrevelt, jezt war etwas geschehen, wofür ich noch nicht gebüßt hatte. Eine Stunde vorher, glaube ich, hätte mich kein Mensch überredet, daß es noch etwas schlechteres, als mich, unter dem Himmel gebe; jezt fing ich an zu muthmaßen, daß ich vor einer Stunde wohl gar zu beneiden war.«

»Gottes Gerichte fielen mir nicht ein – wohl aber eine, ich weiß nicht welche? verwirrte Erinnerung an Strang und Schwerdt, und die