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Seitenzahl: 115
Friedrich Schiller
Der Verbrecher aus verlorener Ehre
Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler
Von Reiner Poppe und Frank Suppanz
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Friedrich Schiller: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Hrsg. von Yomb May und Friederike Baum. Stuttgart: Reclam, 2016 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, Nr. 19241.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8891.
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unter www.reclam.de/e-book
Lektüreschlüssel XL | Nr. 15500
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961555-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015500-4
www.reclam.de
Autor
Johann Christoph Friedrich Schiller, geboren am 10. November 1759 in Marbach am Neckar, gestorben am 9. Mai 1805 in Weimar
zunächst Jura-, dann Medizinstudium an der Carlsschule (später: Hohe Karlsschule) in Stuttgart
Militärarzt, Dramatiker, Historiker, Professor für Geschichte an der Universität Jena, freier Schriftsteller in Weimar
Entstehungszeit und Veröffentlichung
1786 anonym veröffentlicht in der Zeitschrift Thalia unter dem Titel Verbrecher aus Infamie eine wahre Geschichte
1792 geringfügig überarbeitet veröffentlicht in den Kleineren prosaischen Schriften Schillers unter dem Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte
Gattung
Erzählung (literarische Verbrechensfallgeschichte)
Epoche
(Spät-)Aufklärung / Zwischen Sturm und Drang und Klassik
Ort und Zeit der Handlung
keine bestimmten Ortsangaben, Orte werden anonymisiert
Schauplätze: eine deutsche Landschaft, von den Zeitgenossen, die darin die Geschichte Friedrich Schwans erkannten, unschwer als Württemberg zu erkennen
zeitliche Verortung am Ende der Erzählung mit der Angabe des Siebenjährigen Krieges
in Verbindung mit den relativen zeitlichen Abständen in der Erzählung ergibt sich eine erzählte Zeit von ca. 26 Jahren, von der Geburt bis zur Hinrichtung der Hauptfigur Christian Wolf
Schillers Erzählung ist in der deutschsprachigen Literatur eines der frühesten Beispiele einer Interesse an Gesellschaft und PsychologieVerbrechenserzählung oder genauer gesagt: literarischen Rechts- oder Verbrechensfallgeschichte.1 Sie ist aufgrund ihrer literarischen Qualitäten auch heute noch spannend zu lesen, vermittelt einen lebendigen Eindruck von den gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und wirkt modern. Denn sie nimmt die Frühes Beispiel einer Verbrechenserzählungsozialen Ursachen von gesellschaftlichem Abstieg und Verbrechen in den Blick, interessiert sich für die psychologischen Mechanismen sozialer Ausgrenzung und setzt sich für gesellschaftliche Reintegration statt Vergeltung als Ziel der Verbrechensbekämpfung ein.
Der Text kam zunächst aufgrund äußerer Umstände zustande. Schiller befand sich in einer Situation der persönlichen Neuorientierung. Da er aufgrund gesundheitlicher Probleme und künstlerischer Misserfolge finanziell in Schwierigkeiten geraten war, hatte er u. a. 1785 die Entstehungsanlass: Beitrag für Schillers eigene ZeitschriftZeitschrift Thalia ins Leben gerufen in der Hoffnung, dadurch und zugleich durch einen Ortswechsel seine Lebenssituation grundlegend zu verbessern. Er folgte einer Einladung von Bewunderern und Gönnern nach Leipzig und betrieb neue Projekte, so auch die Arbeit an dem Drama Dom Karlos, mit dem er sich stilistisch in Richtung Klassik zu entwickeln begann.
Die Schillers ThaliaThalia musste er zu großen Teilen mit eigenen Beiträgen füllen. So befand sich im 1786 erschienenen zweiten Heft der Thalia neben dem ersten Akt des im Entstehen begriffenen Dramas Dom Karlos (späterer Titel: Don Karlos) auch Lyrik von Schiller (in diesem Heft wurde das berühmte Gedicht An die Freude erstmals veröffentlicht), und er versuchte sich zum zweiten Mal als Erzähler2. Anders als seine anderen Beiträge veröffentlichte er den Verbrecher aus Infamie Anonyme Veröffentlichung 1786anonym.
Die im Untertitel als »wahre Geschichte« bezeichnete Erzählung, 1792 mit dem Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre geringfügig verändert in die Ausgabe Kleinerer prosaischer Schriften aufgenommen, greift die Geschichte des württembergischen Hintergrund: die Geschichte des Räubers Johann Friedrich SchwanRäubers Johann Friedrich Schwan (1729–1760) mit dem Beinamen »Sonnenwirt« auf. Wegen einiger Bagatellvergehen über die Maßen streng bestraft, hatte jener Friedrich Schwan starke Hass- und Rachegefühle gegen die Obrigkeit entwickelt und als Anführer einer Räuberbande ungehemmt ausgelebt. Obwohl er sich schließlich selbst den Behörden stellte, wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.3
Schillers besonderes Augenmerk in der von ihm neu gegründeten Zeitschrift galt ungewöhnlichen Menschen und den Motiven ihres Handelns. Damit wollte er einerseits den Publikumsgeschmack seiner Zeit treffen und spannenden Lesestoff liefern, andererseits seinen eigenen Neigungen für »alles Außerordentliche, Sensationelle und Kriminelle«4 als literarischem Gegenstand nachgehen. Er verfolgte sein Interesse an Fragen der Psychologie und RechtPsychologie und an Rechtsfällen während seiner Schulzeit und seines Jura- und Medizin-Studiums an der Carlsschule intensiv.5
Die (einzige) Hauptfigur der Erzählung ist Christian Wolf, ein innerlich Kein »Held«, sondern ein innerlich zerrissener Menschzerrissener Mensch, der in kürzester Zeit eine wüste ›Karriere‹ als Wilddieb, Mörder und Anführer einer Räuberbande macht. Wie das wirkliche Vorbild für diese Figur und wie Karl Moor am Ende des Räuber-Dramas gibt sich Wolf in freiem Entschluss schließlich den Richtern als landesweit gesuchter Verbrecher zu erkennen. Mehr als um das Aufzeigen der kriminellen Taten Wolfs ging es Schiller um die spannende Frage, was einen Menschen zu einem Verbrecher, gar zu einem Mörder macht.6
Schillers Erzählung ist deshalb alles andere als eine nur vordergründig spannende ›Räuberpistole‹, sondern vielmehr die knappe Lebenschronik einer problematischen Persönlichkeit, die von der Gesellschaft ausgegrenzt und dadurch Schritt für Schritt zum Das Publikum soll selbst urteilenGesetzlosen gemacht wird.7 Schillers Anspruch ist, dass das lesende Ein Ausgegrenzter wird zum GesetzlosenPublikum sich über diese Zusammenhänge ein Urteil bilden kann.
In der Logik der Zeit findet Christian Wolf in Schillers Erzählung am Ende seiner Verbrecherlaufbahn einen Weg zur Aussöhnung mit sich selbst und der Welt durch persönliche Reue. Eine woher auch immer kommende sittliche Kraft in ihm überwindet die psychischen und physischen Bedingtheiten. Damit markiert Schiller eine Leerstelle, die in der damaligen Zeit unausgefüllt bleibt, nämlich die Möglichkeit zur Am Ende: Reue statt ResozialisierungResozialisierung. In Schillers Zeit und entsprechend in der Erzählung wird einem Verbrecher keine dahingehende Unterstützung zuteil, Wolfs Versöhnung mit der Gesellschaft muss noch ganz vom Einzelnen und seiner Fähigkeit zur Reue (angesichts des Todes) ausgehen.
Knapp zehn Jahre nach der Veröffentlichung der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre wird Schiller diese Gedankenfigur im philosophischen Konzept einer ästhetischen Erziehung abbilden, mit der er sein Ausblick auf die Klassikklassisches Literaturprogramm begründet. Damit zeigt sich die Erzählung auch als ein Werk des Übergangs vom Sturm und Drang zur Klassik.
Die Erzählung ist aber weder nur Zufallsprodukt noch Übergangserscheinung, sondern in ihr kam die Verbrechensthematik in der anspruchsvollen Literatur an und machte einen Entwicklungsschritt in Richtung Wegweisend in Richtung Kriminalliteratur und StrafrechtsreformKriminalliteratur als eigenständiger Gattung weiter. Aber nicht nur was die literarische Form betrifft, war die Erzählung wegweisend, auch inhaltlich hatte sie Pioniercharakter: Schillers Plädoyer für ein humaneres Strafrechtssystem fand mehr und mehr Anhänger, die mit ihrem Einsatz auch auf ihn Bezug nahmen.
Der Erzähler deklariert den zu berichtenden Fall als Musterbeispiel für Menschenkunde. Die Leser sollen keine reißerische Erzählung, sondern einen objektiven Einleitender ErzählerberichtBericht über das Schicksal des Verbrechers bekommen, um in der Lage zu sein, den Fall nicht nur nach den Taten, sondern auch nach den (sozialen und psychologischen) Umständen des Verbrecherlebens zu beurteilen. Dann beginnt die Erzählung.
Christian Wolf, Halbwaise nach dem Tode seines Vaters, wird von den Menschen in seiner Umgebung nicht akzeptiert, obwohl er sich alle Mühe gibt, ihnen zu gefallen. Von Geburt an Unglückliche Kindheit und Jugendunansehnlich und zusätzlich durch den Tritt eines Pferdes im Gesicht verunstaltet, wird er von den Gleichaltrigen verspottet. Die freie Zeit, die er hat, kann er nicht sinnvoll nutzen: Er verwendet große Energie darauf, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dadurch bringt er sich jedoch noch mehr in Misskredit. Auch sein Vergebliches Werben um JohanneBemühen, sich die Zuneigung Johannes (Hannchens), eines armen Mädchens, mit Geschenken zu erkaufen, verfängt nicht. Bis zu seiner Volljährigkeit hilft er der Mutter in der Gastwirtschaft, ehe er den Entschluss fasst, »honett zu stehlen« (S. 9) und sich dadurch seinen Lebensunterhalt auf vermeintlich einfachere Art und Weise zu sichern. So will er auch endlich die Mittel in die Hand bekommen, mit denen er vor der Männerwelt triumphieren kann und die Gunst des Mädchens zu gewinnen hofft. Als Beginn der WilddiebereiWilddieb in einem an die Stadt grenzenden herrschaftlichen Wald macht er tatsächlich gute Beute und manchen Gewinn, den er in Geschenke für Hannchen umsetzt.
Das geht einige Zeit gut, bis ihm der Jagdgehilfe Robert: Konkurrent um HannchenRobert auf die Spur kommt. Dieser hat ebenfalls ein Auge auf Hannchen geworfen und wundert sich über die schönen Geschenke, die sie bekommt. Seine Eifersucht lässt ihm keine Ruhe, und so findet er bei häufigen Besuchen in der »Sonne« (S. 9), dem Gasthaus, das Christians Mutter führt, seinen Argwohn bestätigt. Eifersüchtig verfolgt er fortan die Wege seines Konkurrenten und kann ihn bald darauf auf frischer Überführung durch Robert, erste StrafeTat bei einer Wilddieberei stellen (S. 10). Über Christian Wolf wird das Urteil gesprochen, aber er kauft sich frei.
Christian Wolf verlässt die Stadt, dennoch hat er beide, Hannchen und Robert, nicht vergessen. Eifersucht und verletzter Stolz quälen ihn. Er treibt erneut als Wilddieb sein Unwesen und kann sich damit einige Zeit über Wasser halten. Doch der junge Jagdgehilfe ist doppelt wachsam. Er ahnt, dass Christian dem Mädchen keine Ruhe lassen und früher oder später wieder auftauchen wird. Robert kann ihn ein Erneute Überführung durch Robert, zweite Strafezweites Mal auf frischer Tat ertappen und dingfest machen. Christian ist Wiederholungstäter, und so trifft ihn die ganze Härte des Gesetzes. Da er kein Geld mehr hat, um sich selbst auszulösen, muss er dieses Mal ein volles Strafjahr im Staatsgefängnis absitzen (S. 10).
Nach seiner Entlassung zieht es Christian Wolf sofort wieder in die Vergebliche Rückkehr in die HeimatstadtHeimatstadt. Er hofft, dort Hannchen zu treffen. Als man ihn erkennt, weicht man ihm aus. Keiner möchte mehr etwas mit ihm zu tun haben. Doch anders als nach der ersten Festnahme zeigt sich Christian diesmal gewillt, auf ehrliche Weise wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Er versucht, sich als Tagelöhner zu verdingen, wird jedoch überall abgewiesen. Selbst als Sauhirt will man ihn nicht haben (S. 11). Tief enttäuscht und verbittert wendet sich Christian wieder der Erneute Wilddieberei und dreijährige HaftWilddieberei zu. Aber schon bald wird er erneut gefasst und zu drei Jahren verschärfter Haft verurteilt. Ihm wird »das Zeichen des Galgens auf den Rücken gebrannt« (S. 11). Sollte er nach der Haftentlassung abermals der Wilddieberei schuldig gesprochen werden, würde das den Tod durch den Strang bedeuten.
Die Haft ist selbst für einen abgebrühten Burschen wie Christian Wolf hart. Er wird von den ›schweren Jungs‹, die mit ihm ihre Zeit abarbeiten müssen, verhöhnt und gedemütigt. Er hört von schrecklichen Taten und von noch schrecklicheren, die geplant sind. Wenn die Rohheit und Gemeinheit ihm unerträglich werden, zieht er sich zurück, soweit ihm das unter den gegebenen Bedingungen möglich ist. Auf der anderen Seite braucht er Menschen, die in derselben Situation sind wie er und ihm helfen, die Härte der Haft zu ertragen. In diesen drei Jahren wird Christian so Verrohung durch die Haftverroht und gewissenlos, dass er am Ende schlimmer ist als alle Mithäftlinge (S. 12). Unter Qualen erträgt er die Schönheit der aufgehenden Sonne, den freien Flug der Vögel und die Weite der Landschaft, die sich seinem Blick durch das vergitterte Fenster aus der Höhe seines Festungsberges bieten. Allein der Hass- und RachegefühleHass und ein ungeheures Bedürfnis, sich an allen Menschen zu rächen, halten ihn aufrecht und lassen ihn die Zeit im Gefängnis überstehen.
Nach der Entlassung führt ihn sein erster Weg zurück in die Heimatstadt. Aber nicht, um noch einmal den Ansatz zu einem rechtschaffenen Leben zu machen, kehrt er heim, sondern um seinen »Hunger nach Rache« (S. 12) zu stillen. Er will die Menschen durch sein bloßes Erscheinen erschrecken und sich von ihnen erniedrigen lassen, weil er weiß, dass ihm das nichts mehr anhaben kann nach dem, was er in den Jahren der Haft erlebt hat. Er sieht wild und zum Fürchten aus. Die Menschen in der Stadt Mutter tot, das Elternhaus verlorenerkennen ihn sogleich, und jeder macht einen großen Bogen um ihn. Christian reicht einem kleinen Jungen einen Groschen, der ihm das Geldstück aber ins Gesicht wirft. Von diesem Kind zurückgewiesen zu werden, das ihn nicht kennt und dem er nichts getan hat, verletzt ihn mehr, als von allen einstigen Bekannten, die an ihm vorübergehen, nicht einmal gegrüßt zu werden. Auf der Suche nach einer Unterkunft läuft er Johanne über den Weg. Auch sie erkennt ihn sofort. Im Gegensatz zu allen anderen zeigt sie sich aber hocherfreut, ihn zu sehen (S. 14). Christian bemerkt sogleich, dass sie zu einer Soldatenhure geworden und zudem noch von einer Geschlechtskrankheit gezeichnet ist.