Der verlorene Affe und andere Erzählungen - Hans Scherfig - E-Book

Der verlorene Affe und andere Erzählungen E-Book

Hans Scherfig

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Beschreibung

Die Handlung dieser Sammlung satirischer Novellen spielt auf drei Kontinenten: In der Titelerzählung macht ein Privatdetektiv in der französischen Unterwelt Jagd auf einen verschwundenen Affen, der gleichzeitig ein Meisterkünstler ist; in Amerika setzt ein Unternehmer all seine Ersparnisse auf "die große Chance"; und in "Leda mit dem Schwan" terrorisiert eine weiße Frau ihre afrikanischen Zeitgenossen mit aufdringlicher Freundlichkeit, die allerdings eines Tages plötzlich umschlägt.Wie in den meisten von Scherfigs Werken steht auch hier die kompromisslose Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft ganz oben auf der Tagesordnung.-

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Hans Scherfig

Der verlorene Affe

Und Andere Erzählungen

Saga

Der verlorene Affe und andere ErzählungenÜbersetzt von Ruth Stöbling OriginaltitelDen fortabte abeCopyright © 1975, 2019 Hans Scherfig and und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711842799

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der verlorene Affe

1

Gewissenhafte Zeitungsleser erinnern sich wahrscheinlich noch an die Geschichte mit dem Affen, der aus der Isolierstation von Helsingør entführt wurde.

Der Affe war vom Zoll zurückgehalten worden, als ein älteres schwedisches Ehepaar versuchte, das Tier in Dänemark einzuschmuggeln. Man hatte es als Säugling verkleidet, aber der kinderfreundliche Zöllner, der mit dem Kleinen scherzen wollte, sah überrascht, daß es einen grauen Backenbart und ungewöhnliche Zähne und einen erfahreneren Blick hatte, als das bei Babys üblich ist. Außerdem besaß dieses Kind einen ziemlich langen, behaarten Rollschwanz.

Bei einer gründlicheren Untersuchung stellte man fest, daß der Säugling, der von dem Ehepaar als sein eigener ausgegeben wurde, ein Affe der Gattung Cebus capucinus – ein sogenannter Sapajus oder Kapuzineraffe – war, dessen lebhafte und gesellige Natur Dr. Grimpe so schön beschrieben hat. Nach Dr. Grimpes Meinung stehen diese Affen in geistiger Hinsicht unter den Westaffen an erster Stelle und können sich sehr wohl mit den Meerkatzen und den Pavianen der Alten Welt messen.

Vor dem Zoll und der Polizei gab das schwedische Ehepaar zu, daß der Affe ihnen nicht gehörte. Er sei ihnen von einem Bekannten in Oslo anvertraut worden, und sie hätten sich überreden lassen, ihn in ihrem Auto mitzunehmen. Die Kinderwäsche sei keine Verkleidung, sondern ein zweckmäßiger Anzug für ein kälteempfindliches Geschöpf, das über eine weite Entfernung durch Länder mit kühlem Klima transportiert werden müßte. Sei seien unterwegs nach Frankreich, wo das Tier einer näher bezeichneten Person, die sie aber nicht persönlich kannten, übergeben werden sollte. Das Ehepaar war, was Affen betrifft, nicht sehr fachkundig, aber beide waren Tierfreunde und der Ansicht, es sei für den Affen besser, mit guten Menschen im Auto zu reisen, als allein in einer Kiste verschickt zu werden. Es sah jedoch so aus, als habe sich der Affe, obgleich er warm angezogen war, auf der Reise dennoch erkältet. Er wirkte unlustig und hatte bei seiner Ankunft in Dänemark möglicherweise leichteres Fieber.

Wer der tatsächliche Besitzer des Affen war, ließ sich nicht ermitteln. Die Schweden gaben die Adresse einer Osloer Familie an, bei der der Kapuzineraffe vorübergehend als Gast gelebt hatte, und sie nannten auch den Namen der Person in Frankreich, die ihn in Empfang nehmen sollte. Es war ein gewisser Monsieur Ménard; hier seine Visitenkarte: Maurice Menard, Rue Beauregard 25, Paris.

Der Name schien die Polizei nicht zu interessieren. Wäre man jedoch aufmerksamer gewesen und hätte man sich die Zeit genommen, in den Berichten nachzuschlagen, würde man festgestellt haben, daß eine Person dieses Namens im August 1952 im Hotel Bristol in Kopenhagen gewohnt hatte und daß dieser Maurice Ménard des Landes verwiesen worden war, nachdem man bei einer Leibesvisitation vier Goldbarren bei ihm gefunden hatte.

Der Affe hieß Primus. Dies wurde den Behörden jedoch nicht mitgeteilt, was eine gewisse Nachlässigkeit bei der weiteren Behandlung der Angelegenheit erklären mag.

Primus wurde vorläufig in der Isolierstation von Helsingør untergebracht, wo ein Tierarzt ihn betreuen sollte, und die Schweden hinterlegten willig den Betrag, den die Behörden als ausreichende Sicherheit für eine eventuelle Bestrafung des Ehepaares und für die Verpflegung des Affen ansahen, bis dessen Identität und die näheren Umstände seiner illegalen Einreise ermittelt waren.

Hierauf durften die Schweden ihre Reise nach Süden fortsetzen. Sie versprachen, sich bei den dänischen Behörden zu melden, wenn sie drei Wochen später auf der Rückreise wieder durch Helsingør kommen würden. Man hatte auch festgestellt, daß sie weder vorbestraft noch übel beleumundet waren. Der Mann hieß Bertil Boman und war Antiquitätenhändler in Göteborg.

Später ereignete sich das, worüber die Zeitungen berichteten und woran sich gewiß noch viele erinnern: Eine ältere, stark geschminkte Dame erschien in der Isolierstation von Helsingør und verlangte, den zurückgehaltenen Kapuzineraffen besuchen zu dürfen. Sie behauptete, eine gute Bekannte des Tieres zu sein und daß es den Internierten aufmuntern würde, wenn er eine alte Freundin sah. Die Dame erklärte, Frau Poulsen zu heißen, was sich später als unwahr erwies.

Das Stationspersonal hegte gegen die falsche Frau Poulsen keinen Verdacht. Man gönnte dem Äffchen gern ein wenig Aufmunterung durch einen Besuch, und da die Isolierstation dem Charakter nach keine Untersuchungshaftanstalt war und der Affe keines Verbrechens beschuldigt wurde, hatte man keine Bedenken, die beiden Freunde allein zu lassen, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. Man forderte nur, daß Primus während des Besuches nicht gefüttert werden durfte, und nahm eine kleine Tüte mit Nüssen und Rosinen, die Frau Poulsen mitgebracht hatte, in Verwahrung, bis das Einverständnis des Tierarztes vorlag.

Die diensthabende Schwester erklärte später, der Affe habe bei Frau Poulsens Eintreten keine besondere Wiedersehensfreude gezeigt; er sei ihr gegenüber kühl und höflich zurückhaltend gewesen. Die Frau habe erklärt, der Affe friere, und sie, die Schwester, daraufhin versprochen, in seiner Nähe ein Heizgerät aufstellen zu lassen.

Bald nachdem die Schwester gegangen war, bemächtigte sich Frau Poulsen des Kapuzineraffen und verschwand mit ihm unbeachtet vom Gelände der Isolierstation. Es ist denkbar, daß sie einen Helfer hatte, der draußen wartete, und es ist nicht auszuschließen, daß die beiden mit dem Affen in einem Auto davongefahren sind. Einige Zeugen glauben jedoch, eine Dame bemerkt zu haben, deren Aussehen auf die Beschreibung der Frau Poulsen zutraf und die mit einem blauen Kinderwagen in der Nähe der Isolierstation spazierenging.

Später wurde eine Fahndung eingeleitet und die Beschreibung des Affen und der Dame allen Polizeirevieren zugestellt.

Der entführte Kapuzineraffe wurde als durchschnittlich groß beschrieben, das heißt bei einem Kapuzineraffen um die fünfundvierzig Zentimeter (plus etwa fünfunddreißig Zentimeter Schwanz). Er hatte ein braunes Fell; Schläfen, Backenbart, Kehle, Bauch und Oberarme waren etwas heller als der übrige Körper. Auch der Schwanz war bis zur pinselförmigen Spitze behaart. Das Kopfhaar war dunkel und bildete gleichsam eine Art Kapuze, die in der Form denen ähnelte, die früher die Kapuzinermönche trugen. Das Gesicht hatte eine helle Fleischfarbe, und die Stirn war runzlig beziehungsweise faltig. Der Affe trug bei der Entführung eine hellblaue, wollene Strickjacke, Strickhosen von der gleichen Farbe, Windeln und Gummihöschen und eine weiße Strickmütze mit blauen Bändern.

Das Alter der angeblichen Frau Poulsen wurde auf siebzig bis fünfundsiebzig Jahre geschätzt. Ihr Haar war hellblond gefärbt. Sie war auffällig gepudert und geschminkt, trug Ohrringe mit länglichen grünen Steinen und einen sektfarbenen Mantel mit abgewetztem Pelzbesatz. Möglicherweise führte sie einen blauen Kinderwagen mit sich.

Hinweise zu beiden würden unter der Telefonnummer 21 14 48 oder vom nächsten Polizeirevier entgegengenommen.

Es kamen keine Hinweise. Offenbar hatte niemand das auffällige Paar gesehen. Und niemand schien am Auffinden des Affen interessiert zu sein.

2

Das Merkwürdige an dieser Angelegenheit war, daß die Behörden offenbar nicht ermitteln konnten, wem der Affe gehörte. Niemand meldete irgendeine Forderung an, und niemandem schien daran gelegen, die Interessen des Verschwundenen wahrzunehmen.

Hierin ist vielleicht auch die Erklärung für die Tatsache zu suchen, daß die Polizei keine umfangreicheren Nachforschungen anstellte, sondern den Vorfall mit einer gewissen Kaltblütigkeit hinnahm und die Zeit verstreichen ließ. Der Affe war verschwunden. Es lag keine Anzeige vor, keiner vermißte ihn, und sein Verschwinden war ordnungsgemäß bekanntgemacht worden. Was sollte man da noch unternehmen?

Daß sich niemand zu dem verschwundenen Kapuzineraffen bekennen wollte, war um so merkwürdiger, als sich später erweisen sollte, daß Primus kein gewöhnlicher Affe war. Der Name Primus war für Kenner sowohl in Europa wie auch in Amerika ein Begriff. Sogar Literatur gab es über diesen merkwürdigen Affen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß der Kapuzineraffe Primus weltberühmt war, bevor er entführt wurde.

Doch man kann in der großen Welt berühmt sein, ohne in Helsingør beachtet zu werden. Die kuriose Verkleidung des Kapuzineraffen, seine Festnahme und vorübergehende Internierung in der Isolierstation sowie die mysteriöse Entführung gaben natürlich zu manchem Zeitungsartikel Anlaß. Aber weder die Zeitungen noch die Behörden ahnten, daß es sich um einen Affen handelte, der nicht nur berühmt war und bestaunt wurde, sondern wahrscheinlich auch mächtige Feinde hatte. Und es muß zur Entschuldigung der dänischen Polizei gesagt werden, daß der Name Primus überhaupt nicht erwähnt worden war. Es ist sehr gut möglich, daß die schwedischen Eheleute, die sich so leichtfertig über die geltenden Quarantäne- und veterinärpolizeilichen Bestimmungen für die Einfuhr und den Transit von Affen hinweggesetzt hatten, selbst nicht wußten, wer in Wirklichkeit in ihrem Auto mitgefahren war.

Es gibt eine Gruppe von Menschen, die auf seltsame Art Schönheitsverehrung mit Verschlagenheit und hohes Streben mit niedrigem Neid vereinen. Dieser geistige Widerspruch ist kein modernes Phänomen und kann nicht einfach mit dem harten Konkurrenzkampf und der kommerziellen Moral der Gegenwart erklärt werden. Das ist schon seit Jahrhunderten so. Bereits in der Frührenaissance haben bildende Künstler aller Kategorien einander mit großem Eifer verleumdet und befehdet und bisweilen auch ermordet. Mit dem Stilett umgehen können gehörte zum Handwerk. Der Dolch war für den Maler ein ebenso notwendiges Werkzeug wie Pinsel und Spachtel, und Kenntnisse in der Giftmischerei waren in diesem Fach ebenso erforderlich wie das Wissen über Öle und Lacke und die harzhaltigen Mischungen, die die Farbstoffe binden und den göttlichen Bildern einen überirdischen Glanz verleihen.

Der Maler, Kritiker und Kunstagent Vasari, der sich vor vierhundert Jahren durch ausgeklügelte Intrigen und rohe Brutalität eine Monopolstellung als meinungsbestimmender Schöngeist und Mittelsmann erkämpfte, war ein Meister, wenn es galt, seine Mitbewerber um den Markt aus dem Wege zu räumen. Sein Freund, Benvenuto Cellini, der wie durch ein Wunder zahlreiche Mordanschläge und hinterhältige Überfälle neidischer Kollegen überlebte, führte nach seiner eigenen Aussage blitzschnell Dolch und Degen, und unter den Werken, die diesem Meister zugeschrieben werden, befindet sich auch eine reich verzierte Silberkanne mit doppelter Tülle, und doppeltem Boden und einer sinnreichen Einrichtung für vergifteten Wein.

Das junge Genie Masaccio, das der größte Maler seines Jahrhunderts zu werden drohte, wurde rechtzeitig von mißgünstigen Kameraden umgebracht. Der große Michelangelo kam mit einer gebrochenen Nase davon, die er einem Konkurrenten in der Kunst verdankte, und lebte neunundachtzig Jahre haßerfüllt und rachsüchtig und menschenfeindlich, aber stets nach dem Vollkommenen strebend.

Als der Kapuzineraffe Primus mit eineinhalb Jahren zum erstenmal ein Stück Kreide in die Finger bekam und damit kindliche Striche auf Fußboden und Wände kritzelte, ahnte er kaum etwas von der Gefährlichkeit dieses Faches. Und als man ihm später Farbstifte gab und ihn nonfigurativ auf abgemessenen Papierbogen malen ließ, war er noch immer unschuldig unwissend, was die Intrigen des Kunstlebens und die Heimtücke der menschlichen Kollegen anging.

Im Alter von zwei Jahren konnte Primus einen Pinsel in verschiedene Farbtöpfe tauchen und auf einer ausgespannten Leinwand fächerförmige Kompositionen hervorbringen. Mitunter benutzte er bei dieser Tätigkeit die bloßen Finger und erzielte auch so interessante Ergebnisse. Durch den Zusatz stark riechender Stoffe verhinderten seine Lehrmeister, daß der junge Affe an den schädlichen Farben leckte und sich den Magen verdarb, wie das bei anderen malenden Primaten so oft der Fall gewesen war.

Als Beispiel für die Gefährlichkeit solchen künstlerischen Wirkens sei an den ergreifenden Bericht erinnert, den Prof. H. Hediger aus Basel im Jahre 1953 über die Erkrankung und Operation des Gorillas Achilla herausgab. Wie bekannt, hatte Achilla bei der Ausführung einer abstrakten Komposition in seinem Eifer einen Bleistift der Marke Faber Nr. 5 verschluckt. Durch eine gewagte Operation gelang es zwar, das Leben des Gorillas zu retten, doch nach seiner Genesung hatte Achilla jegliches Interesse an der Kunst verloren, und seither ist er nicht mehr zum Zeichnen oder Malen zu bewegen (H. Hediger: „Operative Fremdkörperentfernung aus dem Magen eines Gorillas“, Basel 1953).

Primus’ erster Lehrmeister war kein professioneller Kunstmaler, sondern ein gutmütiger Mann, der in der Malerei nur als Laienkünstler betrachtet werden kann. Er heißt Herbert Nicholsson, fuhr damals als Schiffsfunker auf der Route Nordamerika-Südamerika und geht in seiner Freizeit guten und friedlichen Interessen nach. So studierte er die peruanische Knotenschrift und die Zauberknoten der Lappen und knüpfte Schmuckstücke und kunstreiche Gürtel aus weißem Bindfaden. Er spielte auch Schach gegen sich selbst und löste schwierige Schachaufgaben, und da ihm das traditionelle Schachspiel nicht genug Möglichkeiten zu bieten schien, erfand er das Raumschach, bei dem er das Schachbrett durch einen Würfel mit sechs Flächen ersetzte, so daß die Figuren in drei Dimensionen bewegt werden können, was das Spiel wesentlich komplizierter macht.

Außerdem malt der Funker Herbert Nicholsson, wie gesagt, in seiner Freizeit. Er fertigt bescheidene Aquarelle und zierliche Zeichnungen an, die in farbiger Kreide ausgeführt werden und steile Felsenküsten mit Leuchttürmen, niedrige Häuser und holländische Windmühlen zeigen. Er malt zu seinem Vergnügen und verschenkt seine kleinen Bilder gern an jeden, dem sie gefallen. Er war damals zweiundvierzig Jahre alt, unverheiratet und glaubte an die Seelenwanderung.

Seinen Lehrling und Pflegesohn hatte er für eine halbe Stange amerikanischer Zigaretten in Caracas eingetauscht. Daß der Schüler seinen menschlichen Lehrmeister rasch überflügeln und eine Berühmtheit erlangen sollte, die anzustreben Herbert Nicholsson nicht einmal im Traum eingefallen wäre, konnte niemand voraussehen.

Eine kleine Ausstellung von Primus’ nonfigurativen Kunstwerken in einem Drugstore im Hafenviertel von Boston erhielt eine überraschend gute Pressekritik und weckte das Interesse der Fachleute. Wenn Herbert Nicholsson nun sein Kapuzineräffchen gegen angemessene Entschädigung einem amerikanischen Kunsthändler – einem ehemaligen Tiefenpsychologen und Zen-Buddhisten – überließ, dann nicht des Verdienstes wegen, sondern weil er dem Glück seines Lehrlings nicht im Wege stehen wollte.

Einige Jahre später war Primus der führende Name innerhalb der Kunstrichtung, der man die Bezeichnung „Infrahumane“ gegeben hat.

Es versteht sich von selbst, daß es für einen menschlichen Künstler schwierig sein kann, die Forderung der Kunst nach völliger Loslösung von allem Menschlichen zu erfüllen. Selbst in den spontanen Strichzeichnungen ganz kleiner Kinder, die in ihrem ersten Stadium ohne jeden Bezug zur erkennbaren Realität zu sein scheinen, zeigen sich schon bald Elemente, die mit der umgebenden Wirklichkeit in Verbindung gebracht werden können.

Der Psychologe W. N. Kellogg von der Indiana University stellte 1933 fest, daß ein junger Schimpanse wie ein Kind zeichnet. Daß er spontan zeichnet und im Gegensatz zum Kind, dessen Zeichnungen bald imitativ werden, die Spontaneität beibehält. Professor Kellogg kam zu dieser scharfsinnigen Schlußfolgerung, nachdem er mit dem jungen Affen Gua und seinem Sohn Donald, die beide nahezu gleichaltrig waren, eine Reihe Gesell-Tests durchgeführt hatte.

Über die infrahumane Bildkunst ist in den letzten Jahren eine beachtliche Literatur erschienen.

In Heft 44 des „Journal of Comparative Physiological Psychology“ schrieb Paul Schiller zum Beispiel über die Malereien des Schimpansen Alpha, die rein infrahuman und von umgebenden Objekten unbeeinflußt sind.

Dr. Antoni Kortlandt aus Groningen in Holland gab einen Bericht über die Malerin Bella heraus, einer leidenschaftlichen Schimpansin, die ebenso wie Carmen Sylva mit Vorliebe im Liegen malte und bei ihrer Arbeit so in Ekstase geriet, daß sie dargebotene Leckereien nicht beachtete und einmal sogar Fräulein Hylkema biß, als diese sie durch psychologische Versuche störte.

Der deutsche Professor Bernhard Rensch veröffentlichte 1957 das Ergebnis seiner gründlichen Untersuchungen über die ästhetischen Faktoren der Farbenwahl und Formensprache in der Affenkunst („Ästhetische Faktoren bei Farb- und Formbevorzugungen von Affen“). Hierbei handelt es sich vor allem um die ästhetischen Experimente eines bekannten Kapuzineraffen, die innerhalb des Infrahumanismus als bahnbrechend angesehen werden müssen.

Beachtung fanden auch die Abhandlungen des Engländers Desmond Morris über die infrahumane Schule in der Kunst sowie seine prinzipiellen Betrachtungen über die Affenästhetik („Primates aesthetics“), seine speziellen Arbeiten über Schimpansenmalerei und seine populären Publikationen über den berühmten Maleraffen Congo, dessen Gemälde durch Ausstellungen in vielen Galerien der Welt, unter anderen in The Institute of Contemporay Arts in London und The Senate House Museum in Kingston, New York, berühmt geworden sind.

In der gesamten westlichen Welt wächst bekanntlich das Interesse an der infrahumanen Kunst, und in zahlreichen Veröffentlichungen wurde festgestellt, daß die älteren Kunstrichtungen wie der Imaginismus, Biokosmismus, Luminismus, Suprematismus, Konstruktivismus, Dadaismus, Surrealismus, Tachismus, Merdismus, Morbismus, Spontanismus, Lettrismus, Situationismus und so weiter lediglich tastende Schritte auf dem Wege zum absoluten Infrahumanismus waren.

Zur Literatur über Primus haben nicht nur Kunsthistoriker, sondern auch Psychologen und Geistliche ihren Beitrag geleistet.

Ein Kinderpsychologe, der in dem Glauben, Primus sei ein Mensch, die Bilder auf der Debütausstellung in Boston analysierte, kam zu dem Schluß, der Künstler müsse ein aggressives, zehnjähriges Mädchen mit paranoiden Tendenzen und einer ausgesprochenen Vaterindentifikation sein. Andere Analytiker gelangten später zu völlig entgegengesetzten Resultaten. Die meisten betonten jedoch, daß sich Primus während der schöpferischen Arbeit offensichtlich ständig in einem Zustand sexueller Erregung befände.

Das Verhältnis des Infrahumanismus zum Christentum und Primus’ Wirken als Kirchenmaler beleuchtete der Abbe Esteban de Valdes in seinem schön illustrierten Buch „Das erste Gebot“ (Madrid 1962). Auch ein französischer Geistlicher, Nicolas Arnoux, erwähnte in seinem Werk „Credo quia absurdum“ Primus’ infrahumane Malereien und andere Kunstformen, die ohne Verbindung zur sichtbaren materiellen Welt in ihrer Unfaßlichkeit göttliche Bilder von der Absurdität des Glaubens vermitteln.

Schließlich legte der Zen-Buddhist P. Nielsen in einem Feuilleton im „Dagbladet“ dar, wie bei einem Gemälde von Primus durch die fächerförmige Aufteilung der Fläche in dunklere und hellere Zonen – in Übereinstimmung mit der additiven Methode – gleichsam durch eine unsichtbare weiße Schrift die Farbe ein Besinnen auf das Universum hervorruft.

Trotz des Umfangs der vorliegenden Literatur über Primus sind viele Umstände seines Lebens jedoch noch unerforscht.

Im folgenden wird über einige Vorfälle in Verbindung mit der Entführung des berühmten Kapuzineraffen Primus die Rede sein. Diese Angaben sind der Öffentlichkeit bisher noch unbekannt, und man darf vielleicht hoffen, daß dadurch ein bescheidener Beitrag zur Primus-Forschung und damit auch zur Beleuchtung der Probleme des Infrahumanismus geleistet wird.

3

Es war kaum zu erwarten, daß der Zoll in Helsingør oder die Veterinärpolizei wesentliche Kenntnisse über die infrahumanen Richtungen in der bildenden Kunst besaßen. Und da der Name des Kapuzineraffen im Bericht nicht einmal erwähnt worden war, konnte auch kaum jemand auf den Gedanken kommen, sein Verschwinden mit Phänomenen innerhalb des Kunstlebens in Zusammenhang zu bringen.

Der Antiquitätenhändler Bertil Boman und seine Frau, die versucht hatten, das Tier durch Dänemark zu schmuggeln, kehrten aus Frankreich nach Helsingør zurück und fanden sich – wie vereinbart – in dem häßlichen roten Gebäude in der Olaigade ein, wo es beunruhigend nach Gefängnis und Polizisten roch.

Sie hatten in Frankreich keine dänischen Zeitungen zu sehen bekommen und wußten deshalb nicht, was in Helsingør geschehen war.

Kriminaloberwachtmeister Nielsen, der als führender Detektiv Nordseelands galt, stellte den Schweden einige überraschende Fragen.

„Kennen Sie vielleicht die Adresse einer gewissen Frau Poulsen? Was wissen Sie von einem blauen Kinderwagen? Denken Sie gut nach!“

Frau Boman weinte, als sie erfuhr, daß der Affe gekidnappt worden war. Weshalb habe man denn nicht auf ihn aufgepaßt? Es stimme also, was Monsieur Ménard in Paris vorausgesagt habe: Dänemark sei ein Räuberland. Dort herrsche weder Recht noch Gesetz. Es sei ein entsetzliches Land! Man könne dort niemandem trauen, am allerwenigsten der Polizei.

„Wer ist Monsieur Ménard?“ fragte Oberwachtmeister Nielsen.

„Das ist der Herr, der den Affen in Paris in Empfang nehmen sollte. Er ist einmal in Dänemark gewesen, kennt das Land und kann es nicht ausstehen. Er sagte rundheraus, die dänische Polizei habe ihn bestohlen. Und wenn sich unser Äffchen in der Obhut der dänischen Polizei befände, müsse man es als verloren ansehen.“

„Monsieur Ménard sollte mit seinen Behauptungen vorsichtig sein“, erwiderte Oberwachtmeister Nielsen. „Es ist gut möglich, daß dieser Franzose in Dänemark gewesen und mit der Obrigkeit dieses Landes in Konflikt geraten ist. Aber dann war das seine eigene Schuld. Was ist das für ein Herr? Es ist höchst ungehörig von Ihnen, gnädige Frau, Monsieur Ménards bösartige Verleumdungen zu wiederholen!“

„Ja“, pflichtete ihm Herr Boman bei, „es ist wirklich nicht recht von dir, Brittalein, so etwas zu äußern! Waren wir uns nicht darin einig, daß dieser Herr Ménard ganz und gar keinen sympathischen Eindruck erweckte? Meintest du nicht selbst, der Mann habe eine düstere Physiognomie? Was bedeuten da schon Monsieur Ménards Behauptungen!“

„Aber er hatte doch recht! Der Affe ist ja gestohlen worden, obwohl er sich in Polizeigewahrsam befand. Du erinnerst dich gewiß daran, daß er erklärte: ,Ach, ach, den Kapuzineraffen sehen wir niemals wieder. In Dänemark wird alles gestohlen. Und die dänischen Polizisten sind die schlimmsten Diebe. Wenn sie den Affen erst in den Fingern haben, geben sie ihn nie wieder heraus!’“

„Brittalein, so beruhige dich doch!“ Herr Boman bemühte sich, seine Frau zu besänftigen.

„Ich bin nun seit zweiundzwanzig Jahren im Dienst“, sagte Oberwachtmeister Nielsen. „In drei Jahren feiere ich mein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Doch in dieser ganzen Zeit ist es nie vorgekommen, daß sich ein Kollege einen Affen angeeignet hat! Niemals!“

„Gewiß nicht“, pflichtete ihm Antiquitätenhändler Boman bei.

„Das hier ist ein ganz ungewöhnlicher Fall. Dafürkann man uns nicht verantwortlich machen. Hier in der Stadt ist noch nie ein Affe verschwunden. Was den Umständen nach möglich war, haben wir getan, um das Tier wiederzufinden. Wir sind nicht genug Leute für all die Aufgaben, die wir zu erledigen haben. Die Arbeit übersteigt unsere Kräfte. Es ist sehr ungehörig von Ihnen, und es ist auch ungesetzlich, daherzukommen und zu behaupten, die dänische Polizei stehle Affen!“

„Herr Staatsbeamter, verzeihen Sie bitte vielmals“, beschwichtigte ihn der Antiquitätenhändler, „meine Frau wiederholte die ungebührlichen Worte des Franzosen nur, weil sie sich so erregt hat.“

„Meine Nerven sind nicht die besten. Und dies hier hat mich sehr mitgenommen“, klagte Frau Boman.

„Wir hatten den kleinen Affen inzwischen liebgewonnen“, fuhr ihr Mann fort.

„Das ist schon möglich. Aber Sie dürfen nie wieder so etwas sagen“, rügte Krimihaioberwachtmeister Nielsen.

Danach war er in der Lage, dem Ehepaar mitzuteilen, daß man die Anklage wegen ungesetzlicher Einfuhr und versuchten Transits eines Cebus capucinus fallengelassen habe. Der Betrag, den Herr Boman deponiert habe, würde im Büro nebenan zurückgezahlt und in dieser Hinsicht nichts weiter unternommen werden. Als Oberwachtmeister müsse er jedoch ernstlich vor einer Wiederholung warnen.

„Solange ich lebe, wird kein Kapuzineraffe mehr in mein Auto kommen!“ beteuerte Antiquitätenhändler Boman.

Merkwürdigerweise wurde keine Absprache darüber getroffen, was geschehen solle, falls man den verschwundenen Affen wiederfinden würde. Offensichtlich rechnete die Polizei von Helsingør überhaupt nicht mit dieser Möglichkeit.

Es hatte sich kein Besitzer gemeldet, keine Anzeige war erstattet worden, weder Forderungen noch Beschwerden waren eingegangen.