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Als Johanna eine Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen Klinik antritt, hat sie keine großen Erwartungshaltungen. Reha klingt wie orthopädische Einlagen für Schuhe, irgendwie unsexy. Zu ihrer Überraschung empfindet Johanna die Unterbrechung ihres pandemisch-getrübten Alltags als ungeahntes Geschenk des Himmels. Schnell findet sie Anschluss an andere Patienten, einen verlässlichen Hausfreund für gemeinsame Unternehmungen sowie einen schrägen Seelenverwandten, für den Schwarz die schönste aller Farben ist. Erstaunt entdeckt sie die Heilkraft von Tischtennis und lockert ihr angespanntes Zwerchfell durch hysterische Lachkrämpfe beim Meridian-Summen. Die kommenden Wochen lassen Johannas Haut bald dünn werden. Der straffe Therapieplan, strenge Verhaltensregeln, herausfordernde zwischenmenschliche Begegnungen sowie die berüchtigte Gruppentherapie triggern und erhöhen den Druck auf ihre eigenen, gut getarnten Sollbruchstellen. Es folgen ein schwieriger Spagat zwischen Empathie und Genervtheit, erstaunliche Erkenntnisse rund um das Thema Grenzen sowie schmerzhafte innere Prozesse, die ohne Pardon mitten durchs Nadelöhr führen. Ja, und Wunder dürfen auch geschehen, kleine wie große ... Humorvoller, vom Leben inspirierter Roman, der in einer psychosomatischen Reha-Klinik spielt, inmitten der Pandemie.
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Seitenzahl: 442
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Für…
meine Patenkinder Kim, Hannah, Tasi und Max
die MuTiger Anton, Ayleen, Emily, Helena, Julian, Leon, Lina, Nils, Oliver und Luca
Enna, Malte, Max F., Nicole, Noah und Samy
den kleinen Christian und alle anderen ungesehenen Kinder
Ingrid, mein Muttertierchen
meinen Zwillingsbruder auf der anderen Seite
Und für mein Herz. Mein gutes, gutes Herz.
Prolog
Anreisetag
Ein Männlein auf dem Bänkle
Gruppentherapie die Erste
Rachenabstrich, s’il vous plaît!
Eine Entspannungspoetin verzaubert
LOVE is all around
Wanneneffekt und Wiegehorror
Frust in der Mopsgruppe
Apfelessig Spritz gefällig?
Attacke auf die Anspannung
Wohin mit all dem Müll?
Duracell Hase wants to break free
Wolkenbruch und Wutattacken
Gute Wut, ganz frisch geschmettert
Ein Zwerchfell atmet auf
Lymph’ me baby one more time
Abschiede und Dankbarkeit
Erschöpfung kommt von Schöpfen
Schön gestorben ist auch tot
Helikopterschwäbinnen auf dem Vormarsch
All die dummen Regeln
Erwartungsdruck, Leistungsdruck, Blutdruck
Touchée, tief getroffen
Der traurige Herr Corneli traut sich was
Von wem geformt?
Rudi Ratlos
Der oder die Verlust von der Angst im Dunklen
Vier Hochzeiten und ein Todesfall
Abschiede-Training und bunte Neuzugänge
Brüllaffen-Alarm
Nele macht ernst
Herzkacke
Lernmodul „Grenzen“ abgeschlossen?
Wie, wo, was, welcher Widerstand?
Schaukelstuhl und Entenfüttern
Von Verbitterung und Übersäuerung
Zweifel machen Kinder krank
Federn gegen Fressattacken
Ein lieber Besuch kündigt sich an
Mal kurz und knackig
Würstchenbauch mit Speckbrot
Die unfeinen Drei: Scham, Schuld und Wut
Eng macht böse oder ein unverhoffter Herzöffner
Die vielfältige Süße des Lebens
Härtefälle
Mittelmäßigkeit strengstens verboten!
Herr Samstag hat Recht
Therapeutische Demontage eines Lamborghini-Fuzzis
Der längste, dunkelste, seltsamste und magischste Tag
Abreisetag
Quellenverweise
Etwas in mir fragt: „Ist jetzt die richtige Zeit, ein persönliches Tagebuch über eine siebenwöchige psychosomatische Reha-Maßnahme zu veröffentlichen?“
Meiner Reha war einiges vorausgegangen, was man gemeinhin als das ganz normale Leben mit seinen Ausreißern bezeichnet. In diesem Fall sind jetzt mal hauptsächlich die Kurven nach unten gemeint. Auf dem Reha-Antrag hatte ich berufliche Erschöpfung, die Pflege und den Tod meines Vaters sowie das Anfuttern von gehörig Kummerspeck als Grund für meinen allgemeinen Zustand angegeben. Während der Wartezeit auf einen Reha-Platz gesellten sich die Unruhestifter Orientierungslosigkeit und Sinnsuche dazu. Gekrönt wurde das Ganze durch tief empfundene Einsamkeit, von den Pandemie-Maßnahmen schön herausgearbeitet wie eine in der Sonne glitzernde Eisskulptur.
„Trotzdem“, nörgelt die Stimme in mir weiter, „gibt es nicht gerade wichtigere Themen als eine Nabelschau von intimen Befindlichkeiten und diesen unsäglichen Gefühlen? Augen zu und durch.“
Gut, manche Menschen wurden mit einer fetten Portion Resilienz ausgestattet und kommen besser durch harte Zeiten. Andere hingegen resignieren verzweifelt und lassen sich vom Sturm des Lebens für immer beugen. Und wiederum einige sind vielleicht wie ich: stets high performing im Dauerkampfmodus, das Ziel im Fadenkreuz anvisierend. Ich halte durch, darauf darf man sich verlassen, bis das Ziel erreicht ist. Um später mit der Widerstandskraft einer gekochten Spaghetti in die Knie zu gehen. Oder besser gesagt mitten am helllichten Tag auf dem Marktplatz in einen Spagat versinke, aus dem ich ohne Hilfe nicht mehr hochkomme.
Jetzt kann ich die Stimme zuordnen. Sie gehört meiner inneren Skeptikerin, aus dem Hause „Reiß‘ dich gefälligst zusammen.“ Wie gewohnt lässt sie nicht locker und fragt zum dritten Mal, mit hochgezogener Augenbraue: „Muss man wirklich ein Buch daraus machen?” „Warum nicht?“, antworte ich, ein wenig unsicher geworden.
Nun werden schärfere Geschütze aufgefahren. „Nimm‘ dich mal nicht so wichtig. Denk‘ lieber an das aktuelle Weltgeschehen. So viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen, Nöte und Konflikte weltweit. Die Klima- und Energiekrise, unverändert Welthunger, Inflation, ansteigender Rechtspopulismus und andere Katastrophen. Vom Versagen der Politik mal abgesehen. On the top ein Krieg mitten in Europa, ein weiterer im Nahen Osten. Das sind Themen, die wirklich relevant sind (Betonung auf wirklich).”
„Ich weiß”, sage ich etwas eingeschüchtert. „Und genau da gibt es vielleicht einen Zusammenhang.”
„Wie bitte? Was genau haben deine seelischen Verstörtheiten mit dem aktuellen Weltgeschehen zu tun? Da soll also ein Zusammenhang bestehen, soso. Genau das befürchte ich schon länger. Dass du eines Tages verrückt wirst.”
„Ich bin nicht verrückt”, entgegne ich, selbstbewusst und ganz bei mir: „Zwischen uns Menschen, die wir zu 90% unbewusst und frei von Innenschau durch unser Leben hetzen, und Krieg bzw. Angriffen – auf wen oder was auch immer – besteht ein Zusammenhang, sogar ein deutlicher. Meistens sitzen nämlich nicht wir in erwachsener Form am Steuerrad unseres Lebens, sondern all unsere verängstigten, verunsicherten und traumatisierten Anteile. Quasi unsere Verletzungen und Narben, eigene wie übernommene. Und weil es während eines Menschenlebens öfter zu seelischen Verletzungen kommt, bilden sich im jeweiligen Unterbewusstsein weitere Anteile und Subpersönlichkeiten, die dafür sorgen, dass wir künftig besser vor Angriffen von außen geschützt sind oder – wie bei manchen – gar nicht mehr auf dem Radar wahrgenommen werden. Solche Anteile sind in ihrer Essenz zum Beispiel schnell reizbar, aggressiv und dauerwütend („Noch eiiiiin Wort, und ich flippe aus.“), extrem anpassungsfähig („Sorry, dass ich lebe. Ich verhalte mich mucksmäuschenstill. Ihr werdet gar nicht merken, dass ich da bin.“) oder einfach unflexibel, starr und duldend („Ja, wenn es aber sein muss. Dann ist das so. So war es immer. So muss es wohl sein.“).
All diese Anteile steuern und lenken uns, bloß merken wir das nicht. Erst wenn sich ein Mensch seiner inneren Anteile bewusst wird und mit diesen (allen!) zusammenarbeitet, ist Frieden möglich. Wenn wir aufhören, unser Unerlöstes im Inneren auf ein Gegenüber zu übertragen, hört der Kampf im Außen auf. Alles hängt miteinander zusammen. Tatsächlich glaube ich aus ganzem Herzen an eine bessere, friedliche Welt, wo jeder bei sich selbst anfangen darf.”
Meine innere Skeptikerin ringt um Luft. In ihrer Welt gibt es keine Hoffnung auf Besserung. Sie hat gelernt, die Beine still zu halten, um nicht aufzufallen und durchzuhalten. Wenn ich das Leben in all seiner Sinuskurvigkeit auskoste, dringt sie gern im Imperativ zu mir durch, so nach dem Motto: „Hör‘ auf!”, „Mach‘“, „Mach‘ nicht”, „Glaub‘ nur nicht, dass…“ und so weiter. Schon vor einiger Zeit habe ich bemerkt, dass sie stets die gleichen Bedenken anbringt, nie mal eine neue Perspektive. Wie auch? Sie kommt aus einer längst vergangenen Zeit. Mit ihrer Schultüte steht sie artig in der Ecke und wartet auf das Fleißkärtchen für „stets hohe Anpassungsbereitschaft“, das sie nie bekommen wird. Vor dem, was entfesselt werden könnte, wenn ich meinen Weg mit all seinen Möglichkeiten gehe, hat sie fürchterliche Angst. Als sie das letzte Mal voller Mut und prall vor Leben gewesen war, hatte das keinen guten Ausgang genommen.
Als mir all dies bewusst wird, öffnet sich mein Herz sperrangelweit. Ich werde innen weich und fließe zu meiner inneren Skeptikerin rüber. Mit sanfter Stimme spreche ich zu ihr, zu mir:
„Komm‘ her, meine Kleine. Ich sehe dich und deine Angst. Und ich verstehe sehr gut, warum du dich so fühlst. Keine Angst, ich will dich nicht loswerden. Du gehörst nämlich zu mir und darfst sein, wie du bist. Und weißt du was? Du darfst dich ab sofort entspannen, deine Stimme wurde gehört. Jetzt übernehme ich die Führung und bringe das Buch zu Ende. Wenn du magst, lese ich dir daraus vor. Du wirst es mögen, es ist leicht und tief zugleich. Vor allem ist es lebendig. So wie du und alle anderen Anteile in mir.
Und jetzt rutsch‘ bitte zur Seite und lass‘ mich ans Steuerrad.”
Die moderne, farbig durchdesignte Empfangshalle wimmelt von Menschen im Sportdress, allesamt mit apfelgrünen Turnbeuteln ausstaffiert, das Klinik-Logo aufgedruckt. Freundliches Schauen hin und her, ein Hallo hier, ein Nicken dort. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte es sich auch um den Anreisetag im Robinson Club handeln, denke ich überrascht, in einer bunten Sesselgruppe auf das Anmeldungsprozedere wartend. 30 Minuten später geht es dann auch los. Nach dem Fiebermessen per Kopfschuss folge ich einem freundlich aufgeweckten Herrn zum Corona-Test in ein separates Räumchen. „Sie sind aber groß. Wie groß sind Sie denn?“ lautet sein Intro, bald gefolgt von: „Ich weiß nicht warum, aber ich stehe auf große Frauen.“ Aha. „Und ich fürchte Männer mit „Große Frauen“-Trophäenfetisch”, lasse ich ihn wiederum wissen. „Die haben irgendwas Pathologisches.“ Schnell schaltet er einen Gang runter und steckt liebevoll ein Teststäbchen in meine Nase. Mir laufen trotzdem die Tränen. Jetzt noch 15 Minuten Quarantäne im Nebenraum. Negativ, hurra!
Zur Mittagszeit treffe ich an der Rezeption die mir zugewiesene Patin, eine Sigrid aus dem Saarland, Patientin in der fünften Woche. Das gemeinsame Kantinenessen mit Maske und Trennscheibe bietet ein völlig neues Kennenlern-Erlebnis, Herzblatt-Feeling kommt auf. Die Küche bietet vegetarisches und sogar veganes Essen an, man kann sich täglich frei entscheiden. Außerdem tischt der Koch zum Abendessen das Gemüse von mittags wieder auf, wenn dies gewünscht ist. Diese Kombi finde ich ganz wunderbar für mich, bergeweise Gemüse und eine knackefrische Salatbar. Sigrid erzählt, dass die Geschäfte in dem gemütlichen Kurstädtchen teilweise geöffnet sind. Das ist einfach nur wundervoll, seit Monaten war ich in keinem Geschäft mehr. Beim Eintreten in mein Zimmer Nr. 112 muss ich unglaublicherweise losheulen, so schön ist es. Modern, hell und freundlich, der Raum ist groß und gemütlich zugleich. Ein bodenlanges Panoramafenster bietet Ausblick auf eine raschelnde Birkenreihe, den Kurpark und majestätische Schwarzwald-Tannen bis zum Horizont. Ergriffen fasse ich mir ans Herz, die Tränen wollen gar nicht mehr aufhören. Was haben dreizehn Monate Kontakt- und Erlebnisarmut nur aus mir gemacht? Offensichtlich einen dankbaren Menschen.
Um 13.00 Uhr treffe ich meine Ärztin, „ein Glücksgriff“, wie der Nasenstäbchenmann vorhin stolz verrät, als er den Namen der mir zugeteilten Ärztin erfährt. Sie geht mir ungefähr bis zum Bauchnabel und strahlt vor Kompetenz. Zwei Stunden später weiß auch ich: Sie ist tatsächlich ein Glücksgriff und meine betreuende Ärztin für die gesamten fünf Wochen, sowohl neurologisch als auch psychologisch. Frau Doktor funkt auf meiner Wellenlänge und bringt von ihrer Warte her viel Gutes ein, was bei mir tiefe Freude und Hoffnung auslöst. Gemeinsam stimmen wir den Therapieplan ab. Ihre Ideen und Vorschläge finde ich allesamt gut und befolgenswert. Umgekehrt verspreche ich ihr meine Mitarbeit in Sachen FFP2-Maske. In dieser Klinik gab es bisher noch keinen Corona-Fall, man sei daher sehr vorsichtig. Wenn jeder mit der OP-Maske anstelle der FFP2-Maske rumrennt, mache das vielleicht Schule. Und das sei nicht gewünscht. Klar, verstehe ich. Sport darf mit der OP-Maske betrieben werden, für alles andere ist das Tragen von FFP2 vorgeschrieben. Die OP-Maske steht quasi für Wellness, Jesus steh‘ mir bei! Permanent Maske zu tragen ist mein Angstthema, da ich mit Beklemmungen durch jede Form von Beengung zu tun habe. Schon Wochen vor der Reha stresst mich die Vorstellung bis tief in die Nacht. Aber ich will mitarbeiten und meine Angst vor Luftnot überwinden, das habe ich mir vorgenommen. Wir einigen uns darauf, dass ich zum Essen und bei Versammlungen meinen guten Willen zeige und brav den dystopischen Kaffeefilter trage. Außerdem will ich nicht die Extrawurst spielen. Keiner hier trägt das Ding aus persönlicher Begeisterung oder als modisches Accessoire.
Im Anschluss findet ein persönliches Treffen mit der Pflegeleitung statt, wo alles Mögliche rund um den täglichen Ablauf besprochen wird. Beim Klinikgebäude handelt es sich um einen relativ frisch bezogenen Neubau, und man hofft auf Mitarbeit seitens der Patienten in Sachen Verbesserungsvorschläge. Die Freundlichkeit der Klinikmitarbeiter ist auffallend, der „luschtige“ Dialekt hingegen zum Wegwerfen. Bis jetzt hat das Ganze etwas von einem Wellness-Hotel mit therapeutisch geschultem Personal.
Mit einer Sackkarre transportiere ich mein Gepäck aus dem Auto in die Klinik und beziehe Zimmer Nr. 112 so langsam voll und ganz. Es gibt genug Stauraum in den deckenhohen weißen Schrankwänden. Auch mein großer, schwarzer Koffer verschwindet darin. Die Raumaufteilung ist klug durchdacht, praktisch und geschmackvoll zugleich. Meine innere Architektin und ihre Dekorateurin sind hoch beeindruckt und raunen einander anerkennend „Zehn von zehn Punkten!“ zu. Strecke mich erst einmal lang auf dem Bett aus und weiß schon jetzt, dass ich die fünf Wochen hier gut aushalten werde. Meine kleine Bettkoje ist urgemütlich, ich fühle mich geborgen. Der Blick auf die riesige Raschelbirke entspannt mich und lässt meinen Atem tief in den Bauch fließen.
Das erste Abendessen ist aufregend und gewöhnungsbedürftig zugleich. Da ich noch niemanden außer Sigrid kenne, setze ich mich an den ersten freien Doppelplatz, mit dem Rücken zum L-förmigen Buffet und der gesunden Salatinsel. Mir gegenüber hinter der Plexiglasscheibe sitzt ein Mann mit Glatze, Bart und Designerbrille, der so tut, als wäre ich dem Aggregatzustand gasförmig zugeordnet. Meine höflichen Minimalkontaktversuche wie „Guten Abend!“, „Ist hier noch frei?“ oder „Guten Appetit!“ werden komplett ignoriert. Okay, ich hab’s kapiert und werde es dir jetzt gleichtun. Fortan ist das Glatzenmännlein für mich aus Glas. Während ich auf meinem Abendessen rumkaue, schaue ich mir die Bäume im Kurpark durch ihn hindurch an. Das funktioniert hervorragend, wer hätte das gedacht? Normalerweise hasse ich solche seltsamen Situationen. Souveränes „So tun als ob“ gehört nicht gerade zu meinen Top-Disziplinen. Hier, in einer Fachklinik für Psychosomatik, gehört das unaufgeregte Ignorieren von Mitpatienten wahrscheinlich in den Notfallkoffer. Leider ist von mittags kein Gemüse mehr übrig. Also muss ich notgedrungen vom schwäbischen Wurstsalat nehmen. Oh mein Gott, ist der lecker. Selig versinke ich in den Wurststreifen. Hoffentlich sieht die vegane Sigrid, meine Patin, nicht den rosa Wurstberg auf meinem Teller. Gerade winkt sie mir von einem anderen Tisch zu. Noch am Mittag habe ich mich eifrig zum Thema „Vegetarisches und veganes Essen in der Klinik“ bei ihr informiert. Und schon am ersten Abend knicke ich ein. Na, tolle Wurst.
Um 18.00 Uhr soll an der Rezeption eine Hausführung für die Neuankömmlinge starten. Ich bin als Erste in der Eingangshalle und nutze die gute WLAN-Anbindung, um ein paar Fotos zu versenden. Zu mir gesellen sich zwei weitere Damen sowie ein Mann, allesamt Neuankömmlinge des heutigen Tages. Nach 20 Minuten Wartezeit beschließen wir, die Führung auf eigene Faust anzugehen, da niemand auftaucht. Wir schauen uns die Turnhalle im Keller an, checken den Waschmaschinenraum, die zahlreichen Therapieräume und bestaunen den geräumigen Saal für Kunst, Malen und Werken. Mein Bastelherz schlägt wild vor Freude.
Eine der beiden Damen, Heike, ist 1,84 m groß und kann es nicht fassen, dass ich noch größer bin. Na fein, das Thema scheint ein Dauerbrenner zu werden. Sie erkundigt sich direkt bei mir, ob ich noch meine Periode bekomme und das nach fünf Minuten Kennenlernen und vor den beiden anderen. Hm. Das finde ich eher gewöhnungsbedürftig. Noch bevor ich mir passende Worte zum Status meiner Monatsblutung überlegen kann, werde ich mit ca. 50 weiteren Fragen bombardiert. „Oha, hier ist allerhöchste Obacht geboten“, funkt es alarmrot aus meiner Warnzentrale. Die „Achtung, anstrengend“-Antenne hat bereits ausgeschlagen. Ich flüchte vor die Tür, reiße mir den Mundschutz runter und schnappe hysterisch nach Frischluft. Das Thema rund um meine Körpergröße geht mir zunehmend auf die Gurke. Außerdem möchte ich meinen Zyklus nicht mit fremden Menschen diskutieren. Es sei denn, es gibt dafür medizinische Gründe.
Der einzige Mann unter uns Neuankömmlingen, Simon, leistet mir vor dem Klinikeingang Gesellschaft. Unaufgefordert spielt er mir seine Lieblingslieder auf dem Handy vor. Er taucht ganz in den Song ein, singt leidenschaftlich mit und lässt sich dabei nicht von seiner eher unpräzisen Tonlage irritieren. Interessanter Move beim Kennenlernen, aber irgendwie goldig in seiner Unschuld. Come as you are. In den fünf Wochen will er endlich Weinen lernen, hat er sich vorgenommen. Vielleicht kann ich ihm das beibringen.
Eine gute erste Nacht!
Was für ein knackig vollgepackter Tag! Der frisch gedruckte Wochen-Therapieplan in meinem persönlichen Postfach lässt schon jetzt darauf schließen, dass ich mich keine Minute langweilen werde. Beim Frühstück hinter Plexiglas treffe ich Sigrid, meine Patin. Sie lädt mich auf eine Wanderung am Wochenende ein, und ich sage begeistert zu. Der Satz „Hast du Lust mitzukommen?“ klingt wie Musik in meinen Ohren, nach all den Corona geprägten, oft einsamen Monaten zuhause.
Um 8.00 Uhr steht die „Einführung ins Gerätetraining“ im Kraftsport-Raum auf dem Behandlungsplan. Weil ich noch schnell mein Sporthandtuch aufs Zimmer holen gehe, komme ich eine gute Minute zu spät. Im Raum sitzen bereits einige Patienten auf der Holzbank, ein paar kenne ich flüchtig vom Sehen. Vom Sportlehrer weit und breit keine Spur. „Prima“, sage ich in die Runde, „der Sportlehrer ist noch nicht da.“ „Doch, das bin ich“, brummt das kreisrunde Männlein in kurzer Hose und Strümpfen bis zur Kniescheibe. Es klingt pikiert. „Oh!“, entfährt es mir, so schrecklich laut gedacht. Fettnapf der Erste. Im Kraftsportraum gibt es tolle Crosstrainer, Trimm-Fahrräder und exakt das gleiche Profi-Rudergerät, das bei mir auf dem Balkon allmählich Moos ansetzt. Ich bin erschüttert, gebe mich ahnungslos und lasse mir mein Gerät erst einmal detailliert erklären. Hätte gerade voll Bock auf eine Crosstrainer-Einheit und bin richtig enttäuscht, dass es sich nur um die theoretische Einführungsrunde handelt. Laut Plan darf ich um 16.00 Uhr wiederkommen, dann geht es endlich auf die Geräte.
Um 9.00 Uhr die erste Ergotherapie. Hier habe ich null Vorstellung, was das genau sein soll, Ergotherapie kenne ich bisher nur aus der Demenz-Pflegezeit mit meinem Vater. Mit großer Freude stelle ich fest, dass in der Ergo künstlerisch gewerkelt wird. Korbflechten, Traumfänger, Mosaik, Untersetzer, Origami, Seidenmalerei, alles ist möglich. Aufs Geratewohl frage ich nach Ton. „Ach, wie schön, dass mal wieder jemand mit Ton arbeiten will”, sagt die Ergo-Dame und bringt Arbeitsplatte, Werkzeug und einen fetten Batzen Ton. In den 45 Minuten zwirbele ich einen lustigen Fliegenpilz, macht Riesenspaß. Ich freue mich auf mehr und platziere den Pilz vorsichtig zum Austrocknen in einem Becher auf den langen Tisch, wo die Artefakte der Neukünstler zu bewundern sind. Demnach scheint es einen bundesdeutschen Notstand an quietschbunten Mosaik-Untersetzern zu geben. Willkommen in den Neunzigern.
Nach dem Essen kommt es zur ersten seltsamen Veranstaltung. Ein Mann mit langem Bart und freundlich hellen Augen gibt Tipps für eine bessere Strukturierung des Alltags, so nach dem Motto: „Wie schafft man es, dass man keinen Arzttermin vergisst?“ Dafür sitze ich mit ungefähr zehn Leuten zur Diskussion in einem Raum. Das ist erstmal richtig ungewohnt nach 13 Monaten Kontaktbeschränkung. Ich erinnere mich schnell daran, dass es so eigentlich normal ist. Schon nach fünf Minuten wünsche ich mir wieder eine massive Kontaktbeschränkung herbei. Ich bin aufs Äußerste gefordert, nicht aufzustehen und den Raum zu verlassen. Der Grund dafür ist, dass eine Frau mit Hornissenbrille und massivem Geschwäbel jeden unterbricht, der eine Frage beantwortet oder einen Wortbeitrag leistet. Auch bei mir grätscht sie mehrfach rein, kommentiert ungefragt mein Gesagtes und stellt schnippisch Gegenfragen. In mir wütet es bereits. Ja, geht es noch? What’s wrong with you? Und wieso lässt der Alltagsverbesserungstherapeut die Eule so frei und ungehemmt rumnerven? Irgendwann frage ich eishöflich, ob sie generell statt meiner sprechen möchte, da sie dies sowieso die ganze Zeit täte. Das bringt Frau Eule mit einem Ruck zum Schweigen. Unsere Blicke sprechen Bände, kalte Hassblitze werden ausgetauscht. Die Stimmung im Raum wird derart frostig, dass sich Eisblumen am Fenster in die Höhe kringeln. Und der Therapeut greift weiterhin nicht ein. Na prima! Meine innere Frau Rottenmeier ist vollends empört und lässt ihren Stickrahmen sinken. Wenn die Psychosomaten alle so drauf sind, dann werden das ja ätzende fünf Wochen. Den starken Impuls, aufzustehen und rauszugehen, kann ich gerade noch unterdrücken, zähle aber die Minuten, bis die unerträgliche Veranstaltung zu Ende ist.
Danach bekomme ich ein EKG im Laborraum angelegt. Man bestätigt mir, dass mein Herz gut und in Ordnung ist. Irgendwie wusste ich das. Im Anschluss geht’s zu einer Stunde Sport und Spiel in die große Turnhalle, wieder bei dem runden Männlein. Insgesamt eine Stunde spiele ich abwechselnd Badminton und Tischtennis und das dauerhaft mit Maske, was eine echt krasse Erfahrung ist. Motiviert hechte ich jedem Ball nach, meine Brille dabei völlig beschlagen. Ich sehe nichts und bekomme keine Luft. Wäre ich nur ansatzweise pervers veranlagt, würde ich auf den Orgasmus meines Lebens zusteuern. Zu mir an die Tischtennisplatte gesellt sich ein neuer Gegenspieler, der jeden Ballwechsel krampfhaft mit einem Schmetterball abschließen will, ob es nun passt oder nicht. Ich bin zusehends genervt. Der Typ gibt mir null Gelegenheit, mich vernünftig einzuspielen und pfeffert verbissen jeden Ball ins Nichts. Menschenskinder, was für ein Doofmatz! Nach fünf defensiven Minuten, wo ich einige Schmetterbälle kassiere und mich jedes Mal kopfschüttelnd nach dem Bällchen bücke, channele ich meinen inneren Hendrik an der Tischtennisplatte. Mein Bruder ist nämlich ein Ass in sämtlichen Ballsportarten und eiskalt auf Sieg programmiert. Mit ihm habe ich zahlreiche Kämpfe an der Tischtennisplatte im elterlichen Hobbykeller ausgetragen. Was sich für den Verlauf der Reha noch von Vorteil erweisen wird.
Die Aktivierung von geschwisterlichem Tischtennis-Ehrgeiz ist der Game Changer. Aus der Empörung über die Unhöflichkeit wird eine messerscharfe Revanche. Jetzt knalle ich ihm einen Schmetterball nach dem anderen um die Gurke. Bin endlich im Spiel angekommen, es wird gnadenlos zurückgeschmettert. Und das ist definitiv besser als ein Orgasmus durch Erstickungstod!
Im Anschluss findet endlich das Gerätetraining statt, wieder bei dem kreisrunden Männlein. Er kennt mich jetzt vom Sehen und stellt trocken fest: „Sie schon wieder!“ Leidenschaftslos antworte ich: „Ich bin besessen von Ihnen.“ 25 Minuten Crosstrainer mit Bergprofil stehen an, ich will es wissen. Ein Patient an der Hantelstange behauptet, der gerade verstorbene Willi Herren wäre mit Andrea Berg verheiratet gewesen. Lächerlich. Im Boulevard macht mir niemand etwas vor. Wette mit ihm um ein Glas Wasser aus dem Trinkbrunnen, dass das ganz sicher nicht stimmt. Danach endlich 30 Minuten Pause am Stück. Schnell hüpfe ich unter die Dusche und strecke mich ein paar Minuten auf dem Bett aus, bis es zum Abendessen geht.
Am Abend drehen Simon und ich eine Runde im Park. Der ist direkt neben der Klinik, riesengroß und voller netter Attraktionen. „Gehst du gleich mit in den Meridian-Kurs?”, frage ich ihn. „Ja, das wollte ich mir mal angucken.“ „Fein, dann gehen wir zusammen.“
Jeden Mittwochabend findet um 18.30 Uhr „Meridiansummen“ im großen Saal Habichthorst statt. Insgesamt sind wir zehn Frauen und zwei Quotenmänner, der Klassiker. Wir summen und brummen und führen lustige Übungen zur Anregung des Magen-Meridians aus. So was ist genau mein Ding. Um 20.00 Uhr ist das offizielle Programm beendet. Simon und ich ziehen noch einmal los auf eine große Runde im Park, denn fürs Bett ist es eindeutig zu früh. Also noch schnell in die Abwesenheitsliste an der Rezeption eintragen. Dort erhält man übrigens auch die Fernbedienung für den Fernseher ausgehändigt, gegen eine tägliche Gebühr. Das TV-Gerät im Zimmer habe ich aus diversen Gründen noch nicht angemeldet. Mein Ziel hier in der Reha ist es unter anderem, ganz ohne Fernsehen auszukommen. Während der verschiedenen Lockdowns habe ich mir zuhause die Netflix und Amazon Prime Volldröhnung gegeben. Und gelangte zu dem Fazit: Das macht nichts Gutes mit mir, meinen Synapsen und meiner Lebensfreude. Wenn ich Fremden dauerhaft beim Leben zuschaue, versumpfe ich und entziehe meinem eigenen Leben die Power. Deswegen starte ich hier den Selbstversuch „Fünf Wochen keine Glotze und zuhause Netflix-Abo kündigen“. Mal sehen, wie sich das Vorhaben entwickelt.
Im Park treffen wir auf einige Hundebesitzer, die Simon wie an der Schnur gezogen ansteuert und mit breitem Grinsen in ein Gespräch verwickelt. Die Sehnsucht nach seinen Hundedamen zu Hause treibt ihn an. Wie gerne würde er den beiden mal zwischendurch „die Bruscht“ kraulen. Aha. Simon züchtet auch Hunde, Landseer heißt die Rasse. So ergeben sich einige belanglose, freundliche Gespräche im Grünen mit ortsansässigen Hundemenschen. Am Ende des Tages kann ich den einen oder anderen Hund streicheln, was mir auffallend guttut. Hm, habe ich etwa ein latentes Erdungsproblem und benötige dringend die Art von Gegenwärtigkeit, wie sie im Umgang mit Kindern und Tieren entsteht? Gut möglich. So viele Eindrücke und Impulse prasseln seit der Anreise auf mich ein. Nach der langen Auszeit müssen sich meine Synapsen erst wieder an dererlei Reize gewöhnen.
In Zimmer Nr. 112 schlürfe ich eine Tasse Tee und lasse mir ein Fußbad mit Natron einlaufen. Von zuhause habe ich vorsorglich einen Wasserkocher, eine große Plastikschüssel für Fußbäder sowie Natron zum Entgiften mitgebracht. Mit den Füßen im warmen Wasser lasse ich den heutigen Tag vor meinem inneren Auge Revue passieren. Und auf einmal wird mir klar, wo und wann diese nicht massive, aber dennoch wahrnehmbare Unwucht in mir entstanden ist. Die Begegnung mit der nervigen Aggro-Eule hat mich tatsächlich aus meinem Gleichgewicht geschossen. So eine Reha steht und fällt mit den Mitrehabilitanden. Noch ein Kurs mit dieser schwäbelnden Fürstin des Übergriffs, und ich reise ab. Jawoll!
Wie ein rostiges Klappmesser falle ich ins Bett. So viel wie heute habe ich mich schon lange nicht mehr bewegt.
Gut‘s Nächtle.
Der Wecker rappelt bereits um 6.30 Uhr, denn laut Tagesplan soll ich kurz vor 7.00 Uhr zur Blutentnahme ins Labor. Der Arzt ist der Typ, der mich beim ersten Abendessen volle Lotte zusammengeschissen hat, weil ich, mit Blick aufs Buffet, den Sicherheitsabstand an der Essensausgabe nicht korrekt eingehalten habe. Piksen kann er aber gut. Seltsamerweise kann ich direkt im Anschluss frühstücken, obwohl ich zu Hause nie Lust auf Frühstück habe. Ist hier offenbar anders, mit der vorgegebenen Struktur. Um 9.00 Uhr findet erstmals die psychologische Gruppentherapie statt. Wegen der gestrigen negativen Begegnung mit der komischen Tante habe ich etwas Schiss davor. Die Gruppentherapie entwickelt sich jedoch zu einer schönen Erfahrung, denn gleich am Anfang stellt die Psychologin die Regeln deutlich klar: Jeden aussprechen lassen, keine Ratschläge erteilen, nichts bewerten oder kritisieren. Also das totale Gegenteil der gestrigen Veranstaltung. Ich atme tief durch und entspanne mich vorsichtig. Überhaupt machen diese Regeln nicht nur in einer Gruppentherapie Sinn. Klares Steigerungspotenzial sehe ich bei mir selbst, was das „Nicht Unterbrechen“ betrifft. Wahrscheinlich auch ein Symptom der Einsamkeit der letzten Monate.
Nun erzählt jeder reihum, warum er hier ist und wie es ihm gerade geht. Das ist zum Teil sehr bewegend. Ich muss mir ein paar Tränen wegdrücken. Auch der Tischtennis-Rambo von gestern ist in meiner Gruppe. Nachdem er sein Schicksalspäckchen ausgewickelt hat, kann ich auf einmal gut verstehen, warum ihm immer so nach Schmettern ist. Einige Männer in der Gruppe berichten unisono, wie lange sie Gefühle unterdrückt haben, bis sie schließlich krank geworden sind. Als ich an der Reihe bin und verhalten loslege, muss ich bitterlich weinen. Alles in mir löst sich, vor allem die gestrige Anspannung. Danach geht es mir um einiges besser. Ich bin erleichtert, dass es in der Gruppentherapie so natürlich zugeht und kein Klischee abgebildet wird. Mal abgesehen davon, dass ich mit meinem Rumheulen in der ersten Minute voll dem Klischee entsprochen habe. Egal. Es geht ums Fühlen und ums sein dürfen. So wie es gerade ist. Vor allem die Regeln bieten Sicherheit. Wie erleichternd, dass es fortan offiziell verboten ist, andere zu bewerten, mich eingeschlossen. Wäre das nicht mal eine gute Ergänzung für das Grundgesetz, so ganz allgemein und für alle geltend?
Nach 1,5 Stunden Gruppentherapie geht es zum psychologischen Selbsteinstufungstest, der im Computerraum am PC durchgeführt wird. Damit bin ich schnell fertig und gewinne so eine Dreiviertelstunde Freizeit, die ich freiwillig im Kraftsportraum verbringe. Dort treffe ich auf ein bereits bekanntes Gesicht vom Rauchertreff, den ich schon ein paar Mal zum Kontakteknüpfen aufgesucht habe. Wir sind allein im Raum und begrüßen uns freundlich. Das große Fenster wird sperrangelweit geöffnet, und einvernehmlich ziehen wir die Maske unterhalb der Nase. Herrlich, so fast frei atmen zu können, was für eine Wohltat. Eine halbe Stunde radle ich beschwingt auf dem Fahrrad, danach gebe ich mir weitere 20 Minuten Krafttraining mit Gewichten für den Rücken. Der Raum füllt sich langsam wieder, schnell den Mundschutz hochziehen. Richtig durchgeschwitzt bin ich, doch leider reicht die Zeit zum Duschen nicht mehr.
Der Mittagstisch findet pandemisch bedingt in Schichten statt. Alle halten sich exakt an die im Therapieplan aufgeführte Mittagszeit, damit das Konzept funktioniert. Heute werden Spinatknödel mit Gemüse serviert, und die schmecken fast richtig lecker. In der Kantine gibt es gar nichts mit Zucker. Die Tees sind ungesüßt, der Nachtisch besteht meistens aus Joghurt mit Obst. Das ist günstig für mich und meine Abspeckpläne. Schon drei Tage komplett ohne Zucker. Beim Essen treffe ich wieder auf Hunde-Simon, mit dem ich mich für den Abend verabrede. Er ist so ein netter und hilfsbereiter Typ, wird eventuell mein neuer Reha-Hausfreund. Er will mir helfen, das Fahrrad zusammenzubauen, das noch auseinander montiert im Auto liegt. Bestimmt ein gutes Gefühl, jemanden wie ihn während der nächsten Wochen an meiner Seite zu haben.
Nach dem Essen wird endlich geduscht und ein Nickerchen gehalten. Eine Dreiviertelstunde schlafe ich tief und fest. In der Ergotherapie um 14.00 Uhr wächst die kleine Pilzfamilie weiter an. Es ist so heilsam, mit Ton zu arbeiten. Alles Denken fließt in die Hände. Nach den Pilzen will ich ein Vögelchen probieren. Eine 85-jährige neben mir flechtet einen ungewollt lustig gekrümmten Korb, mein Gegenüber malt eine riesengroße Sonne auf Seide, und neben mir geht eine Dame mit Mosaik-Untersetzern in Produktion. Wie bereits erwähnt, sind diese Untersetzer ein echter Trendartikel in Reha-Kreisen. Gerade fühlt es sich an, als wäre die Welt wieder normal. So als hätte man, ein bisschen gelangweilt von sich selbst, einen netten Kurs in einer Kunstakademie oder in der Volkshochschule gebucht.
Um 15.00 Uhr geht es wieder zu Sport und Spiel in die Turnhalle zu Herrn Täschle, dem kreisrunden Männlein. „Oh, der Champion kommt“, begrüßt er mich anerkennend. Wie immer thront er auf dem Bänkchen. Aufrechtstehend habe ich ihn tatsächlich noch nicht gesehen. Offenbar hat das gestrige Schmetterballgemetzel Eindruck bei ihm hinterlassen, worüber ich mich natürlich heimlich freue. Heute steht mir mit Joachim ein neuer, männlicher Gegner gegenüber. Auch er leidet unter einer akuten Form von Schmetterballeritis. Scheint ein echtes Männerding zu sein. Höflich, aber bestimmt weise ich ihn in seine Schranken. Dafür spielt er richtig klasse Badminton.
Nach dem Abendessen holen wir die offizielle Hausführung nach, die am ersten Abend ausgefallen ist. Isabel, eine warmherzige Mittzwanzigerin in schwarzem Hoodie mit der Aufschrift „Herzmensch“, hat nützliche Informationen für unsere Truppe parat. Zum Beispiel die thekenähnliche Vorrichtung zur Abfalltrennung am Ende jeder Etage, für autonomes Müllmanagement. Die Zimmer werden nämlich nur einmal pro Woche gereinigt. Dieses Wissen beruhigt mich. Jetzt muss ich den illegalen Teekocher nicht mehr jedes Mal nach Benutzung im Schrank verstecken, aus Angst vor Konfiszierung. Beim Wäschewaschen im Keller sollte man die Waschmarke erst nach der Auswahl des Waschprogramms einwerfen. Sonst ist die Münze perdu und alles für die Katz‘. Na, vielen Dank für diesen Hinweis. Der macht echt Sinn, die Reihenfolge bei der Bedienung der Waschmaschine weniger. Außerdem kann man sich gegen Leihgebühr einen eigenen Wäscheständer für die gesamte Dauer der Reha mieten. Meine innere Hausfrau kriegt gerade rote Bäckchen und hüpft vor Freude. Sie liebt es sehr, wenn praktisch mitgedacht und das Leben dadurch leichter wird.
Dann latschen Simon und ich eine Runde durch den Park und besichtigen das nette Kurstädtchen. Die Geschäfte sind mittlerweile wieder geschlossen. Also beschließen wir, uns im Etagen-Aufenthaltsraum zu treffen, um dort etwas zu trinken. Wasser oder Früchtetee?
Auf dem Tisch im Gemeinschaftsraum liegt das riesige, halbfertige Puzzle einer toskanischen Landschaft. Die Puzzleteilchen sehen allesamt gleich aus. Puzzlen, geht’s noch? Nur Blumen aus Plastik finde ich schlimmer. Unmotiviert lege ich los, um das Toskana-Idyll bald eifrig voranzutreiben. Hätte nicht gedacht, dass Puzzlen so viel Spaß machen kann, vor allem zu zweit. Nach einiger Zeit öffnen wir das Fenster und setzen die Maske ab. Welch‘ Hochgenuss! Heute ist mir das Maske Tragen extrem schwergefallen, ich habe keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, dran herumzuzupfen. Dummerweise kommt eine Kontrolleuse auf ihrem Rundgang in den Etagen-Gemeinschaftsraum und pfeift uns scharf zusammen. „Masken sofort aufsetzen, bitte.“ Schuldbewusst klammern wir uns an den Trinkbechern fest und erklären, dass wir gerade getrunken haben. Und das gilt. Trinken ist überhaupt der Trick und bewahrt einen vor Maskenasthma. Meine bislang leicht vernachlässigte Trinkdosis steigt täglich.
Jetzt haben wir tatsächlich zwei Stunden gepuzzelt, Sachen gibt’s. Die Toskana kann sich schon halbwegs sehen lassen.
Buona notte a tutti!
Der erste Freitag hier, bald ist schon Wochenende. Frühstück gibt’s heute um 7.30 Uhr. Diesmal nehme ich mein Tablett mit aufs Zimmer und esse dort. Während der Hausführung hat Herzmensch Isabel nämlich berichtet, dass einige das so machen. Glücklich schmiere ich direkt mal ein Brot mehr, was sich als kapitaler Fehler erweist. Wenn ich zu viel Weißbrot esse, bekomme ich einen massiven Blähbauch und übles Bauchgrummeln. Also besser wieder unten frühstücken und weniger Brot essen, ist vermerkt.
Um 8.30 Uhr folgt der erste Vortrag „Einführung in die psychosomatische Reha“ im großen Saal. Vor der Tür warten bereits ein paar Leute, nur taucht die Vortragende nicht auf. Gemeinsam schwärmen wir aus und suchen im Haus nach der Dame. Auch an der Rezeption kann man sich keinen Reim darauf machen. Gute 20 Minuten später kommen wir auf die Idee, eine vorbeigehende Reinigungslady zu bitten, uns doch bitte den Raum aufzuschließen. Dort steht die vermisste Ärztin und hält ihren Vortrag vor mindestens 15 Leuten. Wie peinlich! Der Raum ist offensichtlich derart gut isoliert, so dass man Klopfen von außen nicht hört. Ist die Tür erst einmal geschlossen, kommt man nicht mehr rein. Also gerät Pünktlichkeit in den kommenden Wochen zum absoluten Muss. Ich appelliere an meinen inneren Papa Hellmuth und bitte ihn, sich meiner anzunehmen. Mein Vater war zu Lebzeiten stets überpünktlich und erschien mindestens zehn Minuten vor einem Termin. Zum Glück habe ich seine Armbanduhr dabei. Möge seine Pünktlichkeit in mich einfahren! Der Vortrag gibt Aufschluss darüber, welche Behandlungsmöglichkeiten es in der Klinik gibt. Jeden Freitag findet man den neuen Therapie-Wochenplan in seinem persönlichen Postfach vor. Nach Rücksprache mit der betreuenden Ärztin werden auch persönliche Vorlieben darin berücksichtigt. Umgekehrt bittet man um Streichung von gewissen Therapien, wenn diese nicht zuträglich sind. Halleluja, für die „Fragen des alltäglichen Lebens“ hat das letzte Stündlein geschlagen, dieser Programmpunkt gehört eindeutig verschwunden.
Um 11.00 Uhr findet die zweite Corona-Testung im Untersuchungsraum statt. Die Ärztin spricht Deutsch mit hörbar französischem Akzent, woraufhin ich sie frage: „Vous êtes Française?“ Glücklich beginnt sie loszusprudeln. Erst sechs Monate ist sie in Deutschland, der Deutschkurs wurde wegen der Pandemie abgesagt. Während wir angeregt plaudern, fragt sie mich beiläufig, ob ich vielleicht lieber einen Rachenabstrich hätte. Das wäre nicht so unangenehm und würde die Schleimhäute nicht dauerhaft traumatisieren. „Die armen Kinder, c’est terrible, was man denen täglich antut.“ „Avec plaisir!“, entgegne ich strahlend. Mindestens 20 Minuten bin ich jetzt schon bei der netten französischsprachigen Ärztin im Testraum. Was für eine nette Begegnung, vraiment très agréable! Das Testergebnis ist negativ, wie bislang immer. Vor dem Mittagessen ist noch ausreichend Zeit, und der Geräteraum ist gerade frei. Ich gebe mir 1000 Meter Rudern auf dem Rudergerät, es folgen weitere fünf Kilometer auf dem Trimmrad. Mein Körper reagiert insgesamt irritiert über das neuerliche Bewegungsprogramm. Verschämt teile ich ihm mit, dass ich ab sofort wieder besser mit ihm umgehen werde und entschuldige mich für den Schlendrian der letzten Monate.
Nach dem Mittagessen findet um 14.00 Uhr wieder Sport und Spiel statt, diesmal bei einer unauffälligen Dame, die wenig erklärt, dafür mit straffem Regiment den korrekten Sitz des Mundschutzes kontrolliert und einfordert. Himmel, dieser Mundschutz. Dieses Thema triggert mich einfach, bei all meinen Bemühungen, den inneren Widerstand abzubauen. Die Luftbremse und ich, wir müssen uns noch aneinander gewöhnen.
Diesmal greife ich mir einen Flexbar und lasse mein müdes Armfleisch in alle möglichen Richtungen flattern. Danach gibt es eine halbe Stunde Tischtennis mit diversen älteren Herren, die keine Schmetterball-Allüren haben und dankbar mit den Äuglein strahlen, wenn man den Pingpong-Ball harmlos zurücktitscht.
Ohne Pause geht es wieder in den gleichen Vortragsraum wie am Morgen. Mein heimlicher Liebling, der kreisrunde, dauersitzende Herr Täschle, erklärt die medizinische Trainingstherapie. Geräte-Krafttraining, Rudern, Radeln, Crosstrainer oder Ballsportarten in der Halle sowie Physiotherapie, Stretching, psychosomatische Rückenschule, Nordic Walking und noch vieles mehr kann man sich nach Rücksprache verordnen lassen. Ich bin zutiefst dankbar, dass ich das alles tun darf, dass Menschen sorgfältig einen Tagesablauf für mich planen. Und dass es mir wieder besser gehen wird. Herr Täschle erteilt zusätzliche Freizeit-Infos über attraktive Ausflugsziele fürs Wochenende, wie zum Beispiel die Touristenstraße des Schwarzwalds, die Schwarzwaldhochstraße, die über 60 Kilometer von Freudenstadt nach Baden-Baden führt. Dort sei es jede Kurve wert, aus dem Auto zu steigen und laut „Ooooh!“ und „Aaaah!“ zu raunen. Auch der Mummelsee, an dem man auf der Route vorbeikommt, sei wunderschön. Er, Herr Täschle, habe einst in jungen Jahren die eine oder andere Dame im Bötchen über den See gerudert. Glücklich über das bonbonfarbene Standbild in meinem Kopf „Der kreisrunde Herr Täschle mit Dame im Boot auf dem Mummelsee“ atme ich tief und selig in meiner Maske aus. Das Leben ist einfach wunderschön. Noch 20 Minuten Pause bis zur nächsten Veranstaltung. Nun aber flott umziehen und mit dem dünnen, hellblauen Laken ab zum Yoga. Yoga liebe und hasse ich zugleich. Intuitiv weiß ich natürlich, dass Yoga guttut. Da ich jedoch seit längerem derart verkürzt und die Faszien verklebt sind, ist jeder Move mit Schmerzen verbunden. Nur daher rührt meine Yoga-Unlust. Außerdem leide ich offenkundig unter Gleichgewichtsproblemen. So gut wie möglich versuche ich, die Asanas mitzumachen, was mal mehr, mal weniger gut funktioniert. In einer Kopfüber-Position hängend kämpft die jetzt entwurzelte Oberweite mit dem Mundschutz um die Besitzergreifung meiner Atemluft. Situationsbedingt lande ich gedanklich schon wieder im Fetisch-Thema und bedauere einmal mehr, nicht pervers veranlagt zu sein. Freunde der Atemnot, hier kommt man voll auf seine Kosten!
Nach dieser Stunde bin ich sowas von platt. Ohne Pause geht es zum Abendbrot. Mein Gegenüber ist die latent anstrengende Dame, die am gleichen Tag wie ich angekommen und vier Zentimeter kleiner ist: die gute Heike mit dem Bürstenschnitt. Wir teilen bereits einige Kurse. Beim Gespräch mit ihr muss ich genauestens darauf achten, wie ich was sage, da sie alles wortwörtlich nimmt und schnell entgleist. Das möchte ich nicht verantworten, also übe ich achtsames Sprechen, frei von Humor, Ironie oder Doppeldeutigkeit. Leider bringt mir der nette Kantinenmann unaufgefordert einen Teller Kartoffeln mit Soße an den Tisch, obwohl ich schon einen Teller vom Buffet gegessen habe. Er hat sich am ersten Tag gemerkt, dass ich gerne vegetarisch esse und will mir mit den Rundlingen etwas Gutes tun. Nur bin ich bereits pappensatt und habe keinen Bock auf Kartoffeln. Aber ich will nicht undankbar sein. Mist, diesen plumpen Gruß aus der Küche habe ich jetzt nicht gebraucht. Und einfach stehen lassen, das traue ich mich nicht. Über dieses Kartoffel-Gate werde ich gerade voll sauer und bemerke eine leichte Hysterie in mir aufsteigen. Wie gerne würde ich die Kartoffeln mit Schmackes an die großen Panoramafenster werfen, eine nach der anderen: batsch, bumm, bäng! Stattdessen: Scheiß‘ Höflichkeit. Als ich es mir wenigstens im Kopfkino ausmale, breche ich in Lachen aus. Mein erster „Einer flog über das Kuckucksnest“-Moment. Ich steigere mich total rein, mein Lachen kippt gefährlich in Richtung Irr- und Wahnsinn. Offenbar bin ich nervlich etwas dünn, dazu übertrainiert und dauergetriggert. Ach ja, und Schlaf fehlt mir auch.
Nach dem Essen findet für die Neuankömmlinge eine kurze Infoveranstaltung mit der Pflegeleitung statt. Mir kommt es vor, als wäre ich bereits eine Ewigkeit hier. Kurz vor 19.00 Uhr falle ich wie ein Klappspaten ins Bett und schlafe gute zwei Stunden tief und fest, bis mich ein Geräusch weckt. Verschlafen koche ich mir einen illegalen Zimmertee und schlurfe in den Aufenthaltsraum meiner Etage, wo ich mich allein der Fertigstellung der Toskana widme. Nach 15 Minuten kommt jemand auf dem stündlichen Kontrollgang vorbei und schiebt den Kopf durch die Tür. Hurra, es ist die entspannte marokkanisch-französische Ärztin vom Corona-Test, quel plaisir! Sie setzt sich zu mir, wir öffnen das Fenster sperrangelweit und quatschen, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. Sie ist aufgeweckt, extrem witzig und voll mit rebellischen Ideen. Solche Menschen liebe ich. Die Tür geht irgendwann auf, Simon kommt dazu. Auch ihn zieht es offenbar in die Toskana. Die Ärztin verabschiedet sich bald darauf. „A bientôt, ma chère.“
Simon und ich puzzlen, bis auch das allerletzte Teil seinen Platz gefunden hat. Wunderbar, wie die Toskana im Abendlicht schimmert. Kein TV, kein Alkohol, stattdessen Hagebuttentee und Landschaftspuzzle. „Zutiefst verstörend, das alles“, konstatiert mein innerer Party- und Spaßminister. Auf die neue, spießige Ausrichtung kommt er nicht drauf klar. Das nehme ich ihm nicht übel, bin ja selbst irritiert.
Kurz nach 23.00 Uhr falle ich ins Bett. Morgen ist Samstag. Da beginnen Frühstück und Therapieprogramm etwas später, so dass der Wecker erst um 8.00 Uhr klingeln wird. Was für ein Geschenk!
Bonne nuit à tous!
Gegen 7.00 Uhr wache ich auf und bereite mir einen Kaffee zu. Mal gucken, was heute auf dem Plan steht, an meinem ersten Wochenende. Um 13.30 Uhr startet jedenfalls die Wanderung mit den anderen Rehabs, der Wildkatzenpfad, der durch das Obere Gaistal führt, wo immer das auch ist. In der Kantine wird schon eifrig geplant. „Ah, hallo Johanna, du kommst ja auch mit. Hast du ein Auto dabei und könntest fahren? Wir sind schon 15 Leute.“ „Klar kann ich fahren und Leute mitnehmen.“ Auf zum Blutdruckmessen an der Station. In meinem Fall wird der Blutdruck engmaschig kontrolliert, und ich soll Protokoll über die Werte führen. Um 9.00 Uhr habe ich wieder eine Dreiviertelstunde Yoga. Diesmal klappt es besser, weil ich mir den Bauch nicht so vollgeschlagen habe. Mein Körperchen tut vollumfänglich weh, alles ziept und zieht. Zeitgleich fühle ich mich ein bisschen beweglicher, nach diesen intensiven vier Tagen. So langsam kenne ich jeden der Mitpatienten und bemühe mich, mir sämtliche Namen zu merken, was bis auf wenige Ausnahmen gelingt. Die meisten kommen aus Baden-Baden, Nürnberg, der Stuttgarter oder Karlsruher Gegend und sprechen für meinen Geschmack sehr drollig. Von wegen: „Weischt Johanna, bischt aber auch eh Luuschtige.“ Im Zimmer packe ich gut gelaunt meinen kleinen Wanderrucksack.
Im Therapieraum im Kellergeschoss ist für 11.15 Uhr eine Fantasie-Reise angesetzt. Der erste Kurs ist gerade zu Ende. Mit glasigen Augen strömen die Vorgänger aus dem Raum und schwärmen „Dasch gaaaaanz doll, da kannsch di drauf freue.“ Die Dame sieht interessant aus mit ihren grauen, lockigen Haaren und dem wachen Blick. Freimütig erzählt sie von ihrem geplanten YouTube-Kanal, den sie unter dem Namen „Entspannungspoetin“ starten will, sobald die Technik steht. Soso, Entspannungspoetin. Da bin ich ja mal entspannt, nein gespannt. Wir legen uns alle auf die Matten, gepolstert von Decken und Laken, die jeder von seinem Zimmer mitgebracht hat. Die Entspannungspoetin fängt an, auf die typisch meditative Art zu sprechen. Oh mein Gott, ich könnte ausflippen vor Wohlbehagen. Was für eine sensationell klingende Stimme! Die Art und Weise, wie sie die kunstvoll gebildeten Sätze bespricht und betont, ist der Wahnsinn. Das nenne ich Sex für die Ohren. Dagegen kann sich das schmuddelige Dirty Talking gehackt legen. Sie führt uns ans Meer, wo wir verweilen, 45 Minuten lang. Die Worte sind mit angenehmer Musik hinterlegt, und mittendrin spüre ich den Sand unter meinen Füßen, das Wasser, in dem ich stehe, die leichte Brise am Strand. Die Worte, die sie wählt, sind allesamt kleine Kunstwerke für sich. Am liebsten möchte ich wie in einer Oper begeistert aufspringen und laut „Bravo, bravo!“ rufen. Zugegebenermaßen bin ich latent urlaubssehnsüchtig und meereshungrig. Die anderen offenbar auch, ein sehnsuchtsvoller Seufzer hier, ein tiefes Ausatmen dort. Diese Meditation haut voll in die Entsagungskerbe. Wenn die Entspannungspoetin erst bei YouTube unterwegs ist, werde ich sie auf jeden Fall abonnieren. Ein echtes Naturtalent. Die bekommt garantiert jeden Puls runter. Streiche mir den Sand aus den Klamotten, bedanke mich für die tolle Meditation und schwanke erfüllt auf mein Zimmer.
Um 12.30 Uhr gibt es Mittagessen. Bereits zum zweiten Mal gesellt sich ein etwas seltsamer Vogel mit seinem Tablett an die andere Hälfte des Tisches und grinst mich frei heraus an. Er sieht wie das Klischée eines englischen Hooligans aus und lächelt dabei so schief und zerknautscht wie Stan Laurel von Dick und Doof. Das ergibt einen optisch schrägen Widerspruch, so dass ich mich immer etwas befangen fühle, wenn wir uns begegnen. Heute Mittag gibt es Suppe, ich habe mir noch ein Brot dazu geschmiert. Auf einmal kommentiert mein Gegenüber mit dem seligen Dauergrinsen: „Sie haben Butter am Finger.“ „Danke“, erwidere ich entgeistert und betrachte den gelben Klumpen am Zeigefinger. Auf gar keinen Fall werde ich meinen Finger vor seinen Augen ablecken und lasse die Butter erst einmal da, wo sie ist. So als gehöre sie genau dahin und nirgendwohin sonst. The category is: Loriot meets Mr. Bean. Der nächste Lachkrampf steht bereits in den Startlöchern, meine Nasenflügel flattern. Zum Glück kriege ich mich wieder gefasst. Hui, das war knapp. Jede Begegnung in der Kantine wird zu einem zwischenmenschlichen Abenteuer und damit zur Zerreißprobe für meine leicht entflammbaren Nerven.
Um 13.30 Uhr fahren wir mit vier Autos zum Startpunkt der Wanderroute und legen los mit der etwa dreistündigen Wanderung. Zwar sind es insgesamt nur sechs Kilometer, doch die haben es in sich. Abwechselnd geht es bergauf und runter. Erstmalig wandere ich mit Walking-Stöcken, die ich bald verfluche und für die ich beim Berghoch-Schnaufen dankbar bin. Es sind richtig nette Menschen in unserer Truppe, und ich unterhalte mich mal hier, mal dort. Ein ex-Soldat ist neu dabei, voll tätowiert, mit abgegriffenen, „unluschtigen“ Sprüchen. Na ja. Die Organisatorin der Wanderung, Herzmensch Isabel von der Hausführung, hat frische Erdbeeren dabei, die sie in den Pausen herumreicht. Manchmal lasse ich abreißen, wenn es mir mit den Unterhaltungen zu viel wird. Zu einer wirklich lieben Plaudertüte, die auch bergauf stramm durchtextet und mir ihr gesamtes Beziehungsdrama darlegt, sage ich irgendwann, dass es mir jetzt zu viel wird und ich mich lieber an der Natur erfreuen würde. Sie nimmt es locker und meint: „Ja klar.“ Fühle mich wohl und akzeptiert, habe Anschluss und bin willkommen. Und trotzdem bin ich frei genug, mein Ding zu machen. Auf meiner ganz persönlichen Bedürfnisskala, wie sich das Leben mit Mitmenschen gestalten sollte, sind das volle zehn von zehn Punkten.
Kurz vor dem Abendessen um 17.30 Uhr sind wir wieder zurück in der Klinik und tragen uns am Empfang aus dem Abwesenheitsbuch aus. Schnell springe ich unter die Dusche und stelle erfreut fest, dass ich ein bisschen Farbe beim Wandern bekommen habe. Mein Körper schmerzt überall. Außerdem bin ich derart verspannt im Nacken, wer oder was sitzt mir da bloß drin? Beim Abendessen gibt es ein großes Hallo in der Kantine. Die Wanderer kennen sich jetzt untereinander und heben vertraut ihre Hand zum Gruß. Wahnsinn, wie schnell eine Gruppe zusammenwächst, innerhalb von so wenigen Tagen.
Wir verabreden uns am Rauchertreff hinter der Klinik, denn ich habe Lust auf ein Kippchen. Wie schon erwähnt ist die Klinik ein Neubau, mit kleineren Baustellen ringsum und Handwerkerarbeiten am laufenden Band. Hätte ich die Reha ein paar Wochen früher angetreten, wäre täglicher Baulärm der Preis gewesen. Was für ein Glück, dass es zurzeit ruhiger zugeht. Hinten am Lieferanteneingang schließt sich der große Besucherparkplatz einer Kurtherme an, die derzeit wegen Corona geschlossen ist. Zwischen dem Klinikgebäude und dem Parkplatz haben die Dauerraucher aus Europaletten von der Baustelle eine Raucherecke gebastelt, die schon fast gemütlich zu nennen ist. Hier hocken wir mit etwa zehn Leuten in der prallen Abendsonne und hängen entspannt ab. Mein Zigaretten-Lieferant ist Lars aus Karlsruhe, den fand ich schon in der Gruppentherapie klasse. Er hat einen total bekloppten Humor und ist ein bisschen frech, was sehr nach meinem Geschmack ist. Launig schließe ich einen Zigaretten-Deal mit ihm ab. Unter keinen Umständen möchte ich wieder regelmäßig rauchen, nur ab und an mal. Sobald ich mir eigene Kippen zulege, drehe ich leider völlig am Rad und rauche alle am Stück weg. Lars ist völlig okay damit, dass ich ihn bei Bedarf anschnorre. Allerdings möchte er kein Geld von mir, was mir zum Ausgleich wichtig wäre. Lieber will er sich behämmerte Dienstleistungen für mich einfallen lassen, quasi als Gegenleistung. Wir quatschen schräges Zeugs, überlegen uns lauthals dämliche Jobs für mich und gackern uns weg. Wellenlänge, wie sie im Buche steht. Safe.
Auch der Militär-Mann von der Wanderung ist am Rauchertreff und berichtet, wie froh er ist, dass er wieder lachen und Witze reißen kann. Okay, unter diesen Umständen werde ich ihm die schlechte Qualität seiner Sprüche und Jokes nachsehen. Er hat im Krieg Schlimmes erlebt und kommt direkt aus der psychiatrischen Akutklinik, wie einige hier. Ich bin still und höre aufmerksam zu, als er derart Persönliches von sich preisgibt.
Mit so einer Reha ist es ein bisschen wie mit Einlagen für Schuhe. Sie sollen zwar gut sein, aber irgendwie sind sie umständlich und nerven erstmal. Wenn man die Einlagen in den Schuh hinein gefummelt hat und damit losmarschiert, spürt man auf einmal, wie unnatürlich der Plattfuß vorher war. Für viele hier ist die Reha lebensnotwendig. Das war mir vorher nicht bewusst. Jetzt schon. Erneut spüre ich tiefe Dankbarkeit für alles, was gerade ist.
Der Typ aus dem Fitnessraum, der Willi Herren mit Andrea Berg zusammengepackt hat, heißt Holger und entpuppt sich als die fürsorgliche Seele der Paletten-People. Bei der Wanderung war er auch dabei, ein männlich-kerniger Typ mit wildem Tribal Tattoo, dabei butterweich und voller Gefühl. Er holt seine eigenen Wolldecken aus dem Auto, sodass die Damen auf den Holzpaletten weich und warm sitzen und sich nicht das Bläschen erkälten. Am Dienstag ist seine Reha-Zeit vorbei, was mich zutiefst traurig stimmt. Strategisch beschließe ich, mich nicht mehr allzu sehr an ihn zu gewöhnen, da ich keine Lust habe, jemanden nach fünf gemeinsam verbrachten Tagen Lebenszeit schmerzlich zu vermissen. Das ist sogar mir zu viel Emotion.
Hätte man mir vor einer Woche erzählt, dass ich es genießen werde, mit zehn Fremden auf einem öffentlichen Parkplatz auf Europaletten abzuhängen, vor uns ein Assi-Sammelaschenbecher und daneben ein Bauwagen, hätte ich meine Augenbrauen höher als Anne Will gezogen. Tatsächlich fühle ich mich gerade pudelwohl und genau richtig. Wer braucht schon Fernreisen und high end Lounge-Möbel? Ein paar Europaletten auf einem Parkplatz im Schwarzwald tun es auch. Schon irre, wie schnell ich mich gerade an die Menschen hier gewöhne. Offenbar habe ich akuten Menschenhunger entwickelt, als Reaktion auf die coronösbedingte Kontaktarmut. Außerdem sind hier alle so herrlich unterschiedlich. Wenn man sich die Zeit nimmt, einer anderen Lebensgeschichte mit offenem Herzen zuzuhören, ohne den eigenen Beurteilungsfilter zu aktivieren, vergeht einem schnell die Lust auf Voreingenommenheit. Dann doch lieber Erfahrungen mit Menschen sammeln, anstatt Vorstellungen und Meinungen zu verwalten. Yes!
Die Sonne geht langsam unter, es wird kühl im Paletten-Paradies. Simon und ich beschließen trotz der Abendkühle, uns ein Eis auf die Hand zu genehmigen. Die Eisdiele befindet sich gegenüber des Klinikgebäudes, und bisher war ich noch kein einziges Mal dort. Für meine Verhältnisse heißt das schon was. Heute gönne ich mir ein Spaghettieis, die erste offizielle Süßspeise, seit ich hier bin. Irgendwie ist dieser Eisladen voll schräg, wie mir beim Warten in zweiter Reihe auffällt. Warum denn bloß? Oh mein Gott, jetzt sehe ich’s. Die gesamte Deko ist gehäkelt. Eindeutige Hauptattraktion sind ca. 35 cm große Puppen mit langen Haaren in allen Farben, quietschbunten Kleidchen und sogar farbigen gehäkelten Fingernägeln. Wie schrottig und abgefahren! Ich überlege kurz, ob ich die Puppen scheußlich oder wunderbar finden soll und entscheide mich schnell. Unter den zahlreichen Häkelpuppen entdecke ich eine: Die muss es sein. Also geht mit dem Spaghetti-Eis noch Gaggilinde mit nach Hause, ein aufmüpfiges schwarzhaariges Mädchen in einem flaschengrünen Kleid und roten Fingernägeln.
Gehäkelte Träume zur Nacht!
Heute Nacht träume ich komisches Zeug. Fahre auf dem Rad eine Straße bergrunter und werde gegen meinen Willen immer schneller. Bremse mit aller Kraft und gewinne mühsam die Kontrolle über das Fahrrad zurück. Mein Herz rast wie verrückt. Kaum löse ich die Hand leicht von der Bremse, rase ich wieder genauso schnell, innerhalb von einer Sekunde. Gleich mündet die Straße in eine große Hauptstraße, das kann ich von oben erkennen, und ich muss abermals stark bremsen, wegen der Vorfahrt. Das klappt gerade noch, aber sobald ich die Hauptstraße erreicht habe, beschleunigt das Fahrrad erneut. Die Tachonadel steigt über 80 km/h, ich fühle Todesangst. Zum Glück wache ich auf und steige aus dem beängstigenden Traum aus. Gegen Morgen folgt dann Teil zwei. Diesmal sitze ich im Führerhaus eines LKWs und versuche, auf einem großen Platz zu wenden. Das Gefährt ist mindestens zehn Meter lang. Angstvoll wird mir bewusst, dass ich mit dem hinteren Teil des Lastkraftwagens sämtliche Autos rammen werde, die auf dem Platz parken. Mir droht ein riesiger Sachschaden, ohne Deckung durch die Versicherung. Die Panik ist grenzenlos, und ich bekomme keine Luft mehr. Jetzt reicht es mir aber. Entrüstet wache ich auf und bereite mit hämmerndem Brustkorb einen Kaffee im Badezimmer zu. Auch wenn mein Unterbewusstsein offenbar auf Hochtouren läuft und eventuell wertvolle Bilder und Symbole sendet, habe ich auf solche Botschaften am Morgen echt keinen Bock.
Die Sonne scheint durch die riesigen Birken vor dem Klinikgebäude, auf die ich durch das große Panoramafenster schauen kann. Heute gibt es erst um 8.30 Uhr Frühstück, weil Sonntag ist. Simon winkt schon von einem Fensterplatz, er hat mir die andere Hälfte freigehalten. Ob ich Lust hätte, mit ihm zu Fuß bis zum Nachbarort zu wandern. Hm, eher nicht. Die Wanderung gestern hatte es in sich. Mir ist mehr nach Radfahren, und so sage ich es ihm. Außerdem möchte ich um 10.00 Uhr noch in den Summ- und Brummkurs von Frau Kathke, der Opernsängerin. Der findet auch sonntags statt, auf freiwilliger Basis. Diesmal sind wir fast 20 Leute. Auch die komische Eule aus dem Alltagsvereinfachungskurs, wegen der ich neulich fast das Weite gesucht hätte, ist mit von der Partie. Na ja, wird schon schiefgehen. Diesmal hat sich Frau Kathke das Herzchakra und den Herzmeridian