Der veruntreute Himmel - Franz Werfel - E-Book

Der veruntreute Himmel E-Book

Franz Werfel

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Beschreibung

Ein Roman über das strenge Festhalten an Lebensentwürfen: Die Magd Teta Linek hat sich Unsterblichkeit und Seligwerdung in den Kopf gesetzt und möchte sich ihren Platz im Himmel sichern. Auch als sich ihr Neffe, den sie als Mittler eingesetzt hat, um ihr Ziel zu erreichen, als Betrüger herausstellt, lässt sie sich nicht beirren und bricht auf eine Pilgerfahrt nach Rom auf. Was ihr bei der Audienz beim Papst widerfährt, hat jedoch niemand erahnen können...-

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Franz Werfel

Der veruntreute Himmel

DIE GESCHICHTE EINER MAGD

Saga

Der veruntreute HimmelCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1939, 2020 Franz Werfel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726511307

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

„Es ist, als hätten die Menschen gar nicht den Mut,

sich recht lebhaft als unsterblich zu denken“

JEAN PAUL

Erstes Kapitel

DAS HEILIGENBILD

Ich habe Teta gekannt. Sie war eine alte Frau, untersetzt, rundlich, mit breiten Backenknochen und hellen Vergißmeinnichtaugen, die einen aufmerksamen, eigensinnigen und oft argwöhnischen Ausdruck besaßen. Sah man sie dann und wann vorüberhuschen, fiel ihr eilig bemühter Watschelgang auf, der scheue Paß eines nächtlichen Tieres, das aus der menschlichen Gefahrenzone fort und seiner sicheren Höhle zustrebt. Damals hätte ich nicht vermutet, daß ich eines Tages den Versuch machen würde, die Geschichte dieser alten Magd aufzuzeichnen, die gerade noch lesen und schreiben konnte. Nun aber sitze ich da, an einem fremden Tisch in einem fremden Land, und rufe sorgfältig die sehr schmerzliche Erinnerung an eine vergangene Welt empor, in welcher freilich meine Heldin nur eine schattenhafte Dienerrolle spielte. Das Landhaus in Grafenegg steht vor meinen Augen. Und der wunderbare Park. Und der niederzwingende Blick auf die schroffen Einsamkeiten des Toten Gebirges, dieser im Sommer lunaren und im Frühjahr und Herbst neblig-saturnischen Landschaft auf österreichischer Erde.

Der schöne Besitz in Grafenegg gehörte der Familie Argan. Die Argans waren meine liebsten Freunde. Sie hatten von allem Anfang an zu mir gestanden und sich auch in meinen unleidlichsten Zeiten nicht abgewandt von mir. Als ein wenig erfolgreicher, vernachlässigter und ziemlich haltloser Junggeselle fand ich in ihrem Hause eine Heimat, so weit das überhaupt nur möglich ist. Unter den zahlreichen Gästen der Argans habe ich mich niemals als einer unter vielen betrachtet, sondern als ein rechtmäßig Zugehöriger, um nicht zu sagen Angehöriger, hatte ich doch die beiden Kinder, Philipp und Doris, von der Wiege heranwachsen gesehen, und sie nannten mich in frühen Jahren ›Onkel‹ und später kameradschaftlich ›Theo‹ wie die Eltern. Es fällt mir schwerer als ich sagen kann, die Argans, diese vier außerordentlichen Menschen, gleichsam nur im Vorübergehen darzustellen. Mein Herz mahnt mich, ihrem bitteren Schicksal ein Requiem in Gestalt eines eigenen Buches zu singen. Aber dazu fühle ich nicht die Kraft. Auch befindet sich ja alles noch in Schwebe. Ich suche mir ein bescheidenes Geschöpf vom Rande ihres Lebenskreises, um dessen Weg bis zum Ende zu verfolgen. Meine lieben Freunde und ihr Haus bilden somit nur den Ausgangspunkt und werden später aus dieser Geschichte verschwinden wie ich selbst.

Was ich dem Hause Argans verdankte, war mehr als unbeschränkte Freundschaft und Gastfreundschaft. In unserer kargen und barschen Krisenwelt des motorisierten Unbehagens und der rekordschlagenden Verdrießlichkeit stand es da wie eine unzeitgemäße Insel der Freude. Was waren das für schöne, für volltönende Menschen alle vier, Leopold und Livia, Philipp und Doris! Sie bezauberten gleichermaßen alle, die über die Schwelle traten, durch ihr Leuchten, ihr Lächeln, ihre Stimmen, durch ihre herzinnige Wärme und ihr hochkarätiges Temperament. Ob in ihrer Wiener Stadtwohnung, ob draußen in Grafenegg, der Tisch war immer gedeckt, man speiste köstlich, der Wein wurde verschwenderisch geschenkt, und vor allem, die Musik regierte im Hause, denn die vier waren durchwegs Musiker und Musikanten, weit über das Maß des guten Dilettantismus hinaus. Leopold – wir waren gleichaltrig – hatte die Klavierklasse des staatlichen Konservatoriums als preisgekrönter Pianist verlassen, ehe er, dem Willen der Familie sich beugend, in den Dienst des Ministeriums des Äußeren getreten war. An Livias bestrickenden Sopran erinnern sich noch viele Opernbesucher, die sie in den Jahren knapp nach dem Kriege als Agathe, Amelia, Elsa, Leonore gehört hatten. Man konnte es nicht verstehen, daß diese blendende Frau und Sängerin in blühender Jugend ohne Not und ersichtlichen Grund der Bühnenlaufbahn entsagt hatte. Dabei war Livia im Gegensatz zu den oft so unförmigen dramatischen Sopranen eine mädchenhafte Erscheinung, sehr groß, mit dem feinsten Kameenkopf auf dem schlanken Hals. Die achtzehnjährige Doris hatte das dunkle Haar, den blassen Gemmenteint und die Stimme der Mutter geerbt. Philipp aber spielte alle erdenklichen Instrumente mit dem reinen Tonsinn eines musizierenden Engels, mit der gerissenen Kunstfertigkeit eines Jazzmeisters und dem trickreichen Witz eines musikalischen Clowns. Oh, wie viele Nächte wurden bei Argans durchgesungen, gehämmert, geklampft, gefiedelt bis zum raschen und erstaunten Morgen hinan! Und dann ging man, taumelnd vor Entzücken, zu Bette, den bernsteingelben Rausch der Musik in allen Adern, diesen besten der irdischen Räusche, denn die von hundert Melodieteilchen durchmaserte Seele atmet sich mit einem ›Seid-umschlungen-Millionen‹ in den Schlaf. Ich habe niemals Menschen gesehen, die so flügelweit offen standen den einzig wahren Geschenken des Lebens, der Natur, dem Lied und dem Bild in allen Formen. Ich erinnere mich, daß mir einmal in Grafenegg Adalbert Stifters berühmte Schilderung der Sonnenfinsternis von 1842 in die Hand fiel. Nach Tisch las ich die wenigen Seiten vor. Bei der schönsten Stelle, jener, wo das »bleifarbene Lichtgrauen« überwunden ist, »die Dinge wieder Schatten geben, das Wasser wieder glänzt und die Bäume grün zu werden beginnen«, warf ich einen Blick auf die Runde. Unvergeßlich für immer wird mir der Ausdruck auf dem Gesichtchen der kleinen Doris bleiben, die damals noch keine dreizehn Jahre alt war. Dieses Zuhören an sich, die platonische Idee des Zuhörens gleichsam, dieses gespannte Versunken- und Hingegebensein, dieses ruhevolle Eintrinken der geistigen Schönheit, dieses reine Hervortreten und Sichtbarwerden der unsichtbaren Seele, – es war einer jener seltenen Augenblicke, in denen man um eines solchen Gesichtes willen von erschütternder Menschenliebe und Menschheitsliebe erfaßt wird. Was Zuhörer wie die Argans für einen Mann des Wortes bedeuten mußten, das wird jeder verstehen. Ich ließ keine Zeile drucken, ohne sie ihrem Urteil zu unterwerfen. Und dieses Urteil erfloß weniger aus den nachfolgenden Gesprächen als im unbestechlichen Kaltbleiben oder Warmwerden während meines Vortrags. Dieses Auf und Ab ihres Zuhörens bildete gewissermaßen ein Fixierbad, in welchem sich Wert oder Unwert, Gelingen oder Mißlingen, Sauberkeit oder Fleckenhaftigkeit meines Produkts unnachsichtlich entwickelte.

So lebten die Argans aus der Fülle ihrer starken und bewegten Seelen heraus in einer Art von glücklichem Jenseits, das sie sich aus der so ganz anders gesinnten Umwelt ausgespart hatten. Indessen aber rückte von allen Seiten die Sintflut heran, das bleifarbene Lichtgrauen der geistigen und seelischen Sonnenfinsternis. Ich höre deutlich eine Stimme: »Ihre Freunde hatten es leicht, sich ein glückliches Jenseits aus der Zeit zu sparen und das müßig gesellige Leben von Ästheten, Musiknarren, Natur- und Bücherschwärmern zu führen. Die anachronistische Insel, von der Sie sprechen, mehr als anachronistisch, war sie nicht vor allem eine wirtschaftsbedingte Tatsache?« Schmach über uns, die wir immer und überall nur die Bedingt- und Gebundenheiten des Menschen zu seiner ausschließenden Erklärung heranziehen, die wir mit superklugem Augenzwinkern uns zu den hundert Formen der Schwerkraft bekennen, denen wir unterworfen sind, die wir in selbstmörderischer Schadenfreude uns in den polypenhaften Determinismus vergafft haben, der die Brust der Menschheit umklammert und dem Naturlauf gemäß ewig umklammern wird! Fast möchte man meinen, wir täten das, nicht um uns ein wenig Luft zu verschaffen, sondern um im dumpfen Ingrimm des Plebejers die göttliche Größe und Freiheit unserer Seele zu verraten. – Nein, die Argans wären unter allen Umständen und unter jeder Bedingung das gewesen, was sie sind. Kraft ihrer großen Begabung, ihrer echten Ursprünglichkeit und unbändigen Lebensfülle. Im übrigen war Leopold durchaus kein reicher Mann. Er hatte, wie man so sagt, sein gutes Auskommen, das er freilich alle Zeit bis auf den letzten Groschen verausgabte und leider auch darüber hinaus, wie es sich nach der Katastrophe zeigen sollte. Vielleicht entsprang sein goldener Leichtsinn, seine Gastlichkeit und Gebefreude einem dunklen Vorwissen. Was aber den Besitz in Grafenegg anbetrifft – das alte, ziemlich weitläufige Landhaus inmitten des traumhaften Parks am Fuße eines der eigenartigsten österreichischen Gebirgsstöcke – so wars keine Erwerbung, sondern ein Erbgut.

In diesem Hause besaß ich eines der Fremdenzimmer. Ich sage ›besaß‹, denn man hatte es ausdrücklich und ausschließlich mir eingeräumt, und niemand sonst durfte darin wohnen. Da ich seit Jahren schon meiner langen Reisen wegen keinen Wohnsitz hatte, auch in der Hauptstadt nicht, so war das Zimmer in Grafenegg der einzige Raum, den ich mein eigen nennen konnte, und ich hatte ihn auch mit all meinen Sachen vollgeräumt, wie sie im Laufe der Zeit zusammengewachsen waren. Dort lagen meine Bücher und Handschriften aufgestapelt, all die abgeschlossenen und unterbrochenen Arbeiten, von den vielen Anfängen, Entwürfen, Skizzen und dem heillosen Zettelwerk ganz zu schweigen, das sich innerhalb eines Jahrzehnts in den Schubladen eines Schriftstellers beängstigend ansammelt. Es ist möglich, daß sich diese Menge in qualvollen und enthusiastischen Nächten beschriebenen Papiers noch immer an Ort und Stelle befindet, denn wie ich höre, ist der Besitz in Grafenegg bis zu dieser Stunde weder enteignet worden, noch auch hat er einen Käufer gefunden. Mag mit dem Niedergeschriebenen geschehen, was da will. Der Verlust ist verschmerzt. Ich empfinde das Exil als einen Schicksalsruf zur Erneuerung. An alle Verbannten und Emigranten ergeht ja der Auftrag zum erbarmungslosen Neubeginn, gleichgültig welche frühe oder späte Stunde das eigene Leben geschlagen hat. Diesem Auftrag kann sich keiner entziehen, und von Tag zu Tag wirds für unsereins klarer, wie sehr alles Gewesene und Erworbene verwirkt ist. Dennoch will ich die Wehmut nicht verleugnen, die mich jetzt und hier erfaßt, wenn ich an das Haus zu Grafenegg denke und an mein schönes eigenes Zimmer dort. Es ist wirklich nicht der materielle Verlust meiner Manuskripte, der mich verstört, es ist vielmehr das von mir abgespaltene Leben, es sind die aus meinem Innern hervorgetretenen Geister, die ich dort in einem unbefriedigt-zwielichtigen Zustand umgehen fühle. Ich arbeite im allgemeinen sehr schwer. Welche Mühsal hatte es gekostet, welchen Aufwand an Glauben, Zweifel, schlechtem und gutem Gewissen, um diese ganze Gesellschaft heraufzubeschwören, die nun an meinem Fenster lehnt und über die hohe Rotbuche hinweg auf den höchsten Gipfel des Toten Gebirges starrt, auf den Großen Priel. Es sind meine Geister, so zugehörig mir wie mein eigener Schlaf. Alljährlich im Frühling, wenn ich zur Arbeit nach Grafenegg kam – lange bevor die Hausleute einrückten, – wurde ich beim Betreten des Zimmers von meinen selbeigenen, sich fleißig mehrenden Geistern empfangen. Eine sonderbar behagliche, ja kreuzgemütliche erste Stunde war das jedesmal. Ich schlenderte im Raum umher, begrüßte den und jenen, nahm dies und das in die Hand, las hier einen Satz und dort einen Vers, naschte gleichsam im Vollgefühl meines Reichtums an mir selbst. In dieser ersten Stunde hing ich nicht mehr vereinsamt in der Luft, sondern besaß zahlreiche Verwandtschaft, nahe und ferne, die mir äußerst ergeben war und auf den Wink parierte. Nein, ich war nicht zu beklagen und zweifelte nicht, es müsse so weitergehen und diese alljährliche Begrüßung werde sich wiederholen ungezählte Male, bis ich einst als behäbiger Urvater meiner Geistgeschöpfe sanft erlöschen würde, wills Gott in diesem Zimmer, das mir meine Freunde Argan auf Lebenszeit eingeräumt hatten. Dann erst, bevor ich mich an die neue Arbeit machte, stieg ich herab in die unteren Wohnräume des Hauses und begrüßte die weit froheren Geister von Livia und Leopold, von Philipp und Doris; die lebten hier als der lachende Nachklang ihrer schönen Stimmen vom vorigen Sommer, der zugleich ein glücklicher Vorklang des künftigen war.

In diesem Sommer zu Grafenegg, der schön war wie alle vorhergehenden, dem aber für mich kein künftiger hier mehr folgen sollte, hatte sich die Familie Argan schon früher eingestellt als sonst. Wir verlebten den Juni und halben Juli in guter Gemeinschaft. Um aber ganz aufrichtig zu sein, das Glück dieses Landaufenthalts war nicht mehr ganz so rein und voll wie früher. Wenn wir auch einer stillen Übereinkunft gemäß politische Unterhaltungen vermieden so gut es nur ging, so lastete das gegenwärtige und das herandrohende Weltgeschehen doch schwer auf unseren Gemütern: der spanische Bürgerkrieg und vor allem das ungewisse, zweideutige Schicksal unseres eigenen armen Landes. Alltäglich gegen vier Uhr, wenn der Briefträger, ein hinkender Bote dieses Weltgeschehens, mit den Morgenblättern der Hauptstadt vor dem Haustor auftauchte, hatten wir uns schon alle versammelt, und es begann regelmäßig ein heftiger Kampf um die Zeitungen. Auch das Radio wurde nicht so wie einst nur bemüht, um Konzerte und Opernübertragungen aus dem schwangeren Äther heranzulocken, sondern trotz Livias Protest drehte Philipp am Abend den Knopf, um die Hetz- und Lügenmeldungen der Despotien mit den allzu gleichmütigen Berichten der vorläufig noch freien Staaten zu vergleichen. Dabei waren wir alle in unserer Gesinnung und in unseren Wünschen bis auf leichte Schattierungen gleichgestimmt. Aber vorgestern hatte Doris einen Besuch in der Nachbarschaft abgestattet und dort Meinungen zu hören bekommen, die sie entsetzten, und gestern war Philipp in einem Wirtshaus der Ortschaft mit jugendlichen Rucksacktouristen ihres landfeindlichen Grußes wegen beinahe in tätlichen Streit geraten. Die Kinder kehrten von solchen Erlebnissen tief verstimmt heim, und der Druck legte sich dann auch auf uns Ältere. Dazu kamen noch Livias ständige Befürchtungen wegen Leopolds höchst entschiedener öffentlicher Stellungnahme. Obwohl schon seit zwei Jahren aus dem Amte geschieden, hatte er sich mehrmals in Wort und Schrift für die von außen und innen bedrängte Unabhängigkeit Österreichs auf das schärfste eingesetzt.

Gegen Ende Juli verließen meine Freunde für eine Zeitlang das Haus in Grafenegg. Philipp und Doris waren auf ein Schloß in Tirol eingeladen. Dort gab es viel Jugend der konventionellen Art. Leopold meinte, es wäre für seine anspruchsvollen und sehr kritischen Kinder gar nicht von Übel, ein paar Tage unter harmlosem Allerweltskraut zu verbringen. Er selbst fuhr mit Livia nach Salzburg, um bei den Festspielen gewissen Opernaufführungen beizuwohnen. Seine Einladung, mit nach Salzburg zu kommen, lehnte ich ab. Bis zum zwölften August spätestens wollte alles wieder heimgekehrt sein, denn auf den Siebzehnten fiel Livias Geburtstag, der jedes Jahr spaßhaftfestlich mit einer Art Akademie begangen wurde. So blieb ich, wie schon so oft, allein in dem großen Haus, denn bis auf Teta, die Köchin, war auch das Personal beurlaubt worden. Die plötzliche Einsamkeit war mir anfangs gar nicht unlieb. Ich hatte mich nämlich in den letzten Monaten verbummelt, hatte Zeit um Zeit vertrödelt und war mit meinem Arbeitsplan in bedenklichen Rückstand geraten.

Wenn eine künstlerische Arbeit ins Stocken kommt und nicht vorwärtsgehen will, so hat das jeweils seinen guten Grund. Zwar ist der Autor dann meist überzeugt, daß ihm die rechte Stimmung fehle oder daß der von ihm gewählte Stoff bockig sei und eigensinnigen Widerstand leiste. Mich aber hat die Erfahrung belehrt, daß es niemals an der Stimmung liegt und niemals am Stoff. Wenn die Stimmung fehlt, so stimmt etwas nicht. Und nicht der Stoff bockt, sondern die an irgendeinem Punkte verletzte Wahrheit. Ein einziger falscher Einschlag stellt das ganze Gewebe in Frage. In keiner anderen menschlichen Betätigung ist das formale Gelingen so unlöslich verknüpft mit Logik und Ethik wie im künstlerischen Schaffen, dieser sogenannten ›Welt des schönen Scheins‹. Ein alter, vielerfahrener Dichter sagte einst zu mir: »Gott darf unlogisch sein, das heißt ohne erkennbare Folgerichtigkeit, der Schriftsteller nicht.« Der Mann hatte recht. Nur wenn bei einer Erzählung alle Grade der Wahrheit in Ordnung sind, von der niedrigen Wahrscheinlichkeit angefangen, über die feinere Richtigkeit und Aufrichtigkeit hinaus bis zu den letzten Übereinstimmungen, nur dann erlebt ein Verfasser das seltene Wunder, daß gleichnisweise die Quellen des erfundenen Lebens wie von selbst zusammenströmen und einen epischen Wasserspiegel bilden, der ihn wie einen glücklichen Schwimmer hochhebt und trägt. Sein Eigengewicht scheint sich dann zu vermindern, und die elementare Wonne des Schöpfertums durchströmt ihn. In solchen Ausnahmefällen ist er Spieler und Zuschauer zugleich, und die Mühe des Schreibens besteht in einem atemlos raschen Ablesen dessen, was in ihm und um ihn schon fertig aufgezeichnet steht.

Nie war ich von dem hier geschilderten Glückszustand weiter entfernt als in den Sommertagen nach der Abreise meiner Freunde. Die plötzliche Einsamkeit erzwang eine bestürzende Bilanz der Arbeit, an die ich schon fast ein Jahr gewandt hatte. Der historische Vorwurf meines Buches erschien mir mit einemmal ganz verstiegen, seine Menschen steif und ohne Leben, ihre Gespräche erklügelt, ihre Handlungen verdreht, das Ganze unecht und bis zur Sinnlosigkeit mißglückt. Was sollte ich tun? Es war ein sehr umfangreiches Werk, und fünfhundert Seiten etwa hatte ich mir schon abgerungen. Die moralische Kraft besaß ich nicht, diesen hohen Stapel zu vernichten, noch auch die Geduld, das Fertige aufzutrennen und gänzlich neu und anders zu beginnen. Diese Arbeitsart der Penelope ist für die Kunst die einzig richtige. Die Welt aber verwandelte alle vier Wochen ihr Gesicht, und was gestern noch glaubwürdig war, entpuppte sich heute schon als Betrug. Wer konnte da die Ruhe und Festigkeit aufbringen oder auch die Blindheit und Taubheit, um mit unnachgiebigem Eifer an seinem Phantasiegespinst sitzenzubleiben! Ich versuchte es trotz allem. Jeden Morgen setzte ich mich stöhnend an den Schreibtisch. Ich brachte meine Phantasie in Gang, die mir zu rasseln schien wie eine eingerostete Maschine, und schrieb ein oder zwei Blätter voll. Dann sprang ich auf und lief hinaus wie vom Teufel gejagt. Mitten im herrlichen Tag und in der teuren Landschaft überfiel mich aber dumpfe Verzweiflung, und ich eilte wieder in mein Zimmer zurück, ohne die Strahlenbilder des Morgens genossen zu haben, die starke, nach Honig schmeckende Luft des Toten Gebirges, und ohne dankbar meiner glücklichen Lage innezuwerden, die es mir erlaubte, in solcher Umgebung, wohlgehegt und ziemlich sorgenfrei der geistigen Arbeit nachhängen zu dürfen. Voll Gereiztheit und Ekel las ich das Geschriebene wieder und wieder durch, um es schließlich zu zerknüllen und in den Papierkorb zu werfen. Wie sehnte ich die Heimkunft meiner Freunde herbei, damit ich erlöst werde von dieser täglichen Konfrontation mit meiner eigenen Unzulänglichkeit. Oft war ich nahe daran, auszubrechen und davonzufahren. Ich war nicht mehr sehr jung und war in Einsamkeiten aller Art recht beschlagen. Der diesmaligen Einsamkeit aber fühlte ich mich nicht gewachsen und verschmachtete nach wohlwollender Gesellschaft, die ja das beste Schlafmittel für jede Art von Selbsterkenntnis ist. Manchmal wiederum gelang mir ein Satz, eine Passage, ein Charakterbild, ein Szenchen, ich glaubte es wenigstens. Sofort schöpfte ich übermütige Hoffnung und fühlte mich grundlos erleichtert. Aber was hilft ein guter Satz in einem schlechten Zusammenhang? Ich starrte nachher nur noch zerschlagener auf das Papier, als ich’s schon vorher getan hatte. Vielleicht werden nur meine Berufskollegen diesen abscheulichen Zustand würdigen können, dieses zermürbende Hin und Her, diese aus heilloser Verwerfung und flüchtigem Selbstbetrug gemischte Hölle? Ich glaubte erloschen zu sein, erledigt, und meine Gabe für immer verloren zu haben.

Eines Tages entschloß ich mich, bis auf weiteres Schluß zu machen und sperrte das Manuskript fort, um es mindestens zwei Wochen lang nicht mehr anzusehen. Wie immer, wenn der Mensch einer Anstrengung ausweicht, einer Versuchung erliegt und somit moralisch Schiffbruch erleidet, war die Folge durchaus kein Katzenjammer, sondern ein unglaubliches Wohlgefühl. Ich hatte mir als mein eigener Vorgesetzter einen Urlaub erteilt. Nun durfte ich rechtmäßig die Zeit vertun, mich regelloser Träumerei hingeben, ohne widerstrebende Ausgeburten gewissenhaft aus dem Nichts heranbannen zu müssen. Ich war befreit, dachte an die unglückselige Arbeit nicht mehr, ging spazieren und fühlte mich passabel.

Der Park zu Grafenegg bestand aus verschiedenen Teilen. Vor der Stirnseite des Hauses lag ein mächtiger Rasen, Tummelplatz der Kinder und ihrer Gespielen, solange sie klein waren. Rechter Hand dehnte sich ein weiter Obsthain, der den Blick auf Glashaus, Wirtschaftsgarten und Kartoffeläcker verhüllte. Auf der anderen Seite sank das Grundstück allmählich zur Straße hinab. Hier standen in großer Dichtigkeit die edelsten alten Bäume, Ulmen, Platanen, echte Kastanien, Blutbuchen von einer Höhe und Schönheit, wie ich sie sonst nirgends gesehen habe. Ein Stück hinter dem Hause begann aber der eigentliche, der »wilde« Park, eine Berglehne emporsteigend. Auf der Höhe verlor er sich in einen endlosen Lärchenwald, der nur teilweise zu Argans Eigentum gehörte. Die alte Einfriedung war dort auf lange Strecken eingestürzt und die eigentumsmäßige Natur ging in herrenlose Natur über, ohne daß man die Grenzen sah. Dieser Teil des Parks und der anschließende Berg, der in einem recht verlassenen und ungebahnten Höhenrücken verebbte, war die Stätte meiner täglichen Entdeckungsfahrten. Hier gab es sogenannte ›Platzln‹ in großer Menge, und nach zehnjähriger Vertrautheit mit dieser Gegend konnte es noch immer geschehen, daß man auf einen neuen Punkt, auf eine unbekannte Baumgruppe und einen überraschenden Ausblick stieß.

Einmal, es war schon ziemlich spät am Nachmittag, hörte ich durch das dunkle Sausen der Lärchen hindurch von fern den zirpenden Laut einer Zither und ein sonderbar dünnes Stimmchen dazu, das dann und wann von dem schmerzlichen Heulen eines Hundes begleitet wurde. Ich folgte dem Klang und kam auf eine ziemlich große Lichtung, die noch innerhalb des Parks lag. Hier mußte vor Zeiten ein geringes Anwesen gestanden haben. Ein ganz und gar vermorschter Brunnentrog sprach dafür und zwei mächtig schöne, wohl hundertjährige Linden, die gerade abgeblüht hatten, jetzt erst vor Maria Himmelfahrt, wie überall im Hochgebirge. Unter der durchgoldeten Kuppel dieser Linden befand sich eins der berühmten Platzln, die halb zusammengestürzte Ruine eines groben Tisches und einer wackligen Bank. Auf dem Tisch lag der Zitherkasten. Unter die Saiten war ein Notenblatt geschoben. Daneben häuften sich ganze Berge von gesammelten Kräutern, Minze, Erika, Thymian, deren Duft mich erreichte. Auf der Bank saß Teta, den Hund Wolf zu ihren Füßen, diesen ältesten und grimmigsten Veteranen der Meute von Grafenegg, gefürchteten Wächter und geschworenen Feind aller Briefträger, der seiner reizbaren Gemütsart wegen sonst stets an der Kette liegen mußte. Wolf war blind. Doch weder Alter noch Blindheit hatten ihm zu einer abgeklärten Betrachtung des Lebens verholfen. Er war bei meinem Kommen aufgesprungen, starrte mich aus der opalisierenden Verglasung seiner Augen bitterbös an und knurrte leise, aber aus ganzer Seele. Auch die alte Magd hatte sich erhoben. Sie mahnte den Hund, ohne ihn anzublicken:

»No, was ist denn, Hundl? Was hat der Burschl? Das ist doch der gnä’ Herr . . .«

Wolf überlegte eine Weile, ob er dieser beruhigenden Kundmachung trauen dürfe, dann ließ er sich voll abweisenden Unmuts auf seine Pfoten nieder und gab mir zu fühlen, daß ich ihm, als unerwünschter Eindringling, eine schöne musikalische Stunde verdorben habe. Teta aber blieb stehen und sah mich aus ihren merkwürdig hellen und schönen Augen erwartungsvoll an. Mir fiel ein, daß ich von Doris öfters folgenden Satz gehört hatte: »Soeben bin ich Fräul’n Teta mit Herrn Gemahl begegnet.« Unter dem Herrn Gemahl wurde Wolf verstanden, dem seine Gönnerin den zärtlichen Namen »Burschl« verliehen hatte. In Grafenegg gab es ein paar edle und schöne Hunde, einen Dobermann, einen Setter, einen reizenden Pudel. Teta aber behandelte all diese wohlgeborenen Hausgenossen mit ausgesprochener Feindseligkeit. Ihre eifersüchtig erbitterte Liebe galt einzig dem blinden, sehr unsympathischen Kettenhund, und es ging die Sage, daß kein Braten auf den Tisch komme, von dem der Wolf nicht schon vorher den Löwenanteil erhalten habe. Alljährlich bei der Übersiedlung nach Grafenegg pflegte Teta das Gepäck der Familie Argan um einige Handkörbe und verschnürte Pappschachteln zu vermehren, in denen sie allerlei abgesparte und zum Teil versteinerte Leckerbissen für ihren angejahrten Liebling mitführte. Niemand wagte es, ihr wegen dieses widerwärtigen Brockenzeugs Vorstellungen zu machen. Fräul’n Teta, wie die alte Frau auch von der Herrschaft genannt wurde, hatte es verstanden, sich im ganzen Hause Respekt zu verschaffen. Man ging mit ihr vorsichtig um. Auch ich verspürte jetzt etwas von diesem sonderbaren Respekt, als ich auf sie mit dieser Entschuldigung zutrat:

»Es tut mir leid, daß ich Sie gestört hab, Fräul’n Teta . . . Sie haben da Musik gemacht . . . Das versteht sich von selbst in einem so musikalischen Haus . . .«

Auf Tetas mongolisches Gesicht trat ein erschrockenes Lächeln. »Der gnä’ Herr haben nicht gestört, wenn ich bittlich sein darf . . . Der gnä’ Herr müssen ja spazierengehen . . .«

Und als ob sie untertänigerweise keine direkte Antwort wage, wandte sie sich wieder an den Hund:

»Wir haben nur gesungen ein bißl . . . Was, Burschl . . . Zwei kleine Liedln nur . . . Nicht wahr, Burschl?«

Der Angeredete hob sich auf die Vorderpfoten, streckte den mürrischen Greisenkopf vor und stieß ein langes tremolierendes Geheul aus, das dem hilferufenden Tone eines Nebelhorns glich. Nach dieser Darbietung ließ er sich gleichgültig wieder fallen. Teta lachte ein kurzes gurrendes Lachen:

»Brav ist der Burschl, kann schön singen der Burschl . . . Er versteht alles, was man sagt . . . Mehr als mancher Mensch . . .« Teta sprach mit einem harten slawischen Tonfall, der aber durch den österreichischen Dialekt seltsam gemildert klang. Sie trug ein schwarzes Kleid, dazu eine hellblaue Schürze und auf dem Scheitel eine weiße Krause. Ihre dünnen Haare, die noch auffällig braun waren, spielten im Wind. Ich sah mich um. Seit vielen Jahren schon war ich nicht auf dem Lindenplatzl gewesen. Unbegreiflich. Es war der Glanzpunkt des ganzen Parks. Nach Westen öffnete ein breiter Baumschlag den Durchblick auf die Spitzen und Grate des Toten Gebirges. Diese oberhalb der Vegetationsgrenze sich meilenweit erstreckende Bergwüste und Felsöde, ein großer weißer Fleck auf der Landkarte, der selbst die Ehrfurcht gewiegter Bergsteiger genießt, eine fremde, abgesondert strenge Welt inmitten bürgerlicher Alpenketten, wuchs, von hier gesehen, zu überwältigenden Maßen auf. Die bereits altgoldene Sonne stand darüber und färbte die zahllosen Schrunden, Risse, Schluchten und die gezackten Schatten der Felswände mit einem kosmischen Violett. Das breite Tal zwischen uns und dem Gebirgsstock verschwand in einem nebligen Blau, in dem jede Form verdunstete. Nur eine Fabriksirene und ein paar in der Ferne ratternde Autos bewiesen, daß es in dieser verschwimmenden Mulde noch menschliches Leben gab. Der weiche Grasboden ging unmerklich in die schwingende Walderde über, deren Nadelgeruch sich stellenweise zum Duft von zehntausend Zyklamen verdichtete.

»Sie haben sich da gar kein schlechtes Platzl ausgesucht, Fräul’n Teta«, sagte ich, »etwas Schöneres gibts hier überhaupt nicht.«

Teta seufzte tief und sagte mit inständigem Ton:

»Ja, das ist eine Pracht dahier . . .«

Zwischen dem Vokal ›a‹ und dem nachfolgenden Konsonanten schaltete sie einen Zischlaut ein, so daß es klang wie ›Prascht‹, und sie schüttelte eine ganze Weile lang den Kopf, um ihrer Verwunderung über diese Pracht Ausdruck zu geben.

»Ich muß Ihnen auch noch vielmals danken, Fräul’n Teta«, begann ich wieder, »weil Sie so nett für mich sorgen . . .«

»Wenns dem gnä’ Herrn nur schmeckt«, erklärte Teta kurz und begann die Kräuter in ihren Korb zu tun.

»Nur zu gut schmeckt’s mir. Man sieht’s mir ja auch an. Ihre Küche verwöhnt einen zu sehr, Fräul’n Teta . . .«

»Die gnä’ Herrschaft hats so angeschafft«, sagte Teta und wies damit jedes eigene Verdienst von sich: »Jetzt aber muß ich gehn, Nachtmahl kochen . . .«

Eilig packte sie ihre Sachen zusammen, als habe unsere Unterhaltung schon die zulässige Dauer eines Gespräches zwischen Herrn und Magd überschritten. Dann verschwand sie mit Zitherkasten, Korb und Hund, schwerfällig trippelnden Ganges unter den Lärchen. Ich sah ihr nach. Sie trug in der rechten Hand einen abgeschnittenen Ast als Stock. Da sie aber meinen Blick im Rücken zu spüren schien, benutzte sie die Stütze nicht, als schäme sie sich. Während ich weiter spazierte, wunderte ich mich darüber, daß ich soeben das erste längere Gespräch mit Teta geführt hatte. Sie diente schon beinah zwanzig Jahre im Hause Argan. Ich war ihr in der Stadt wie in Grafenegg immer wieder begegnet. Wir hatten stets nur einen Gruß getauscht. Das gleichgültige Gespräch dieses Nachmittags aber klang in mir fort. Irgend etwas Festes und Abgeschlossenes spürte ich an der alten Magd, das mich packte. Freilich, wenn mir jemand gesagt hätte, ich würde mich einmal wochenlang mit Teta beschäftigen, ich hätte ihn nicht verstanden. Und doch, schon jetzt beschäftigte ich mich mit Teta. Das Bild, wie sie, den blinden Hund dicht neben sich, eilig und schwerfällig im Walde verschwunden war, wich nicht von meinen Augen. Ich dachte daran, daß Teta eine unerreichte Meisterin ihres Faches war, was alle Freunde und Gäste des Hauses Argan wohl wußten, und daß man mit Fug und Recht von der ›Koch-Kunst‹ spricht und nicht vom ›Koch-Handwerk‹. Denn diese wie jede andere echte Kunst – sie ist die Musik des Geschmackssinns – beruht auf dem Zusammenwirken von Begabung, Formgefühl, hingegebenem Fleiß und echter Persönlichkeit.

Zwei Tage später kam ich um die Mittagsstunde nach Hause und wollte meine Pfeife anzünden. Da mir aber die Streichhölzchen ausgegangen waren, mußte ich in die Küche gehen und Teta um Feuer bitten. Die Küche lag im Erdgeschoß am Ende eines langen Ganges. Als ich nun an die weißlackierte Tür kam, hörte ich ein lautes Gespräch, das mich hinderte, die Klinke niederzudrücken. Es war ein philosophisches Gespräch, das sich zwischen Teta, Burschl und dem Gärtner Bichler entsponnen hatte und das ich indiskret belauschte. Dieser Bichler, ein arbeitsloser Mechaniker mit einer blassen Frau und zwei verhungerten Kindern, war von Leopold Argan auf irgendwelche Empfehlung hin vor Jahren als Gärtner und Hausbesorger in Grafenegg angestellt worden. Damals, als er ins Haus einzog, glich er mit seinen hohlen Wangen und brennenden Augen einem gekränkten Säulenheiligen, der sein Opfer verschmäht sieht. Inzwischen aber schien sich mit zunehmendem Körpergewicht auch seine Seele verändert zu haben. Der Mensch hatte seltsame Rosinen im Kopf, trug eine Samtjoppe, langes Haar, flatternde Krawatten, sog wie ein Löschblatt alle radikalen Parolen des Tages auf, malte Aquarell, bastelte Radios und verlungerte, weil er sich für ein unterdrücktes Genie hielt, ansonsten den lieben Tag. Frau Bichler hingegen plagte sich redlich. Seinetwegen aber mußte man zweimal des Jahres Hilfskräfte aufnehmen, damit Nutzgarten und Park nicht gänzlich verfalle. Leopold und Livia waren nicht die Menschen, den Tagedieb mit seinen armen Kindern auf die Straße zu setzen, so sehr er auch seine Pflicht vernachlässigte und ihnen auf die Nerven ging. Meines Wissens hatte Livia während unserer ganzen Bekanntschaft nur ein einziges Mal ein Hausmädchen Knall und Fall entlassen müssen. Und danach war sie beinahe krank gewesen vor Unbehagen wegen dieser jähen Kündigung. Jetzt hörte ich Herrn Bichler sprechen. Er hatte eine hohe, enge, zugleich eifernde und wehleidige Stimme:

»Ich hab einen Freund gehabt«, sagte er, »einen gewissen Hromada, der war bei der Anatomie bedienstet, in der Währinger Straße. Hunderte von Leichen, sag ich Ihnen, hat der Hromada seziert, und er hat nirgends nicht ein Organ gefunden, wo hätt eine unsterbliche Seele drin sein können, meiner Seel’ . . . Überhaupt, eine gscheite Person wie Sie, Fräul’n Teta, sollt andere Ansichten haben . . . Auch ich bin nicht viel in die Schul gegangen, aber das muß ich sagen, ich hab mich fortgebildet . . .«

»Wer redt denn mit Ihnen über solche Sachen«, entgegnete Tetas Stimme brummig. Dann hörte ich, wie sie unwirsch durch die Küche schlurfte, um nach einer Weile den Hund anzureden: »Spandln für die Feuerung werden wir brauchen, nicht wahr, Burschl, und eine Butte Kohlen . . .«

Bichler aber setzte seine Eiferrede fort:

»Und warum sind wir nicht viel in die Schul gegangen, Sie und ich, Fräul’n Teta . . . Weil bei uns noch immer die Juden und Pfaffen regieren . . . Und die Pfaffen wissen ganz genau, warum sie das Volk blöd machen mit Himmel und Hölle . . . Wenn nämlich das Volk mit dem Jenseits blöd gemacht ist, dann kuschts hier herunten und frißt alles . . . Und die Juden und die Pfaffen können sich den Bauch weiter vollschlagen . . . Sonst wären Sie doch selbst eine Gnädige, Fräul’n Teta . . .«

»Und dann werden wir noch brauchen zwei Häupteln Salat . . . Was, Burschl . . . Und Karotten und Erbsen aus dem Garten, die uns der Herr Bichler bringen muß . . .«

»Das deutsche Volksvermögen aus Österreich aber geht nach Rom zum Oberpfaffen und nach Paris und London an die internationalen Juden . . . Das ist doch klar. Dagegen können Sie nichts sagen . . . Die Religion ist das Opium der Völker . . .«

»Opium bekommt man in den Apotheken«, erklärte Teta, »es ist eine ganz gute Medizin manchmal . . .«

Brav pariert! Keine üble Antwort, dachte ich. Bichlers Stimme aber klang jetzt tief gekränkt:

»Fräul’n Teta, eine Volksgenossin wie Sie verhindert den menschlichen Fortschritt und den Sieg der Idee . . .«

Die Köchin hatte geräuschvoll die Töpfe auf dem Herde hin und hergerückt. Jäh unterbrach sie diese zornige Tätigkeit:

»Wer ist Ihre Volksgenossin? Ich bin nicht Ihre Volksgenossin . . . Und überhaupt, ich hab Sie mir gestern beim Kartoffelhäufeln angeschaut, Herr Bichler . . . Ein junger Mensch, der bei der Landarbeit einen Sessel braucht, um sich draufzusetzen wie im Büro, der kann nicht mitreden . . . Der versteht nichts von solchen Sachen . . . No, was sagst du, Burschl? . . .«

Auf diese deutliche Aufforderung hin mischte sich der Hund mit heftiger Parteinahme ins Gespräch. Ich spürte geradezu hinter der geschlossenen Tür, wie dieser grimmige Kavalier der Köchin den Propagator verbellte, so daß dieser wahrscheinlich blaß wurde und zurückwich. Nach ein paar Sekunden wies Teta den Burschl zur Ruhe und schloß den Disput mit barscher Sachlichkeit:

»Es ist halber zwölf . . . Der Herr muß sein Essen pünktlich bekommen . . . Stören Sie mich nicht länger . . .«

Ich entfernte mich leise, ohne meine Pfeife angezündet zu haben.

Abends gegen acht Uhr erlitt ich einen starken Anfall von Depression. Dergleichen Zustände hatten mich in früheren Zeiten öfters angewandelt, waren aber seit meinem vierzigsten Jahr beinah ganz verschwunden. Es begann wie immer mit einer Blutleere im Kopf, mit Herzgeflatter und einer Auskältung aller Glieder. Der Tod atmete eisig meinen Nacken an. Mir war, als ob sich ein unausdenkbar-unabwendbares Unglück von allen Seiten heranwälze. Nein, ich, dieses Zimmer, dieses Haus, dieses ergrauende Land vor dem Fenster, wir alle schienen vielmehr mit der donnernden Geschwindigkeit eines Schienenautos mitten hineinzufahren in dieses harrende Unglück, das nebelhaft und doch unbeweglich auf seiner Stelle thronte wie vom Beginn der Schöpfung her. Ich warf mich aufs Bett, um von diesem Unentrinnbaren, dem wir entgegensausten, nichts mehr zu wissen. Erst als es ganz finster geworden war, zersprang die Klammer um meinen Kopf. Nichts blieb übrig als das fadschmeckende Bewußtsein von der arktischen Einsamkeit meines ganzen bisherigen Lebens, eines somit heillos verpfuschten Lebens. Ich schlich mich feige aus dem Zimmer. Ich mußte lebendige Wesen sehen, die Bichlers, Teta, die Hunde . . .

Die Küche, in die ich ging, war schon ausgelöscht und leer. Da stieg ich in den Mansardenstock hinauf, wo das Hauspersonal wohnte. Die Angst war noch immer da. Mein Herz arbeitete schnell, und ich mußte mich überwinden, um mich nicht lächerlich zu machen und wie ein furchtsames Kind nach Teta zu rufen. Ich hatte das unsinnige Gefühl, niemand anderer könne mich sicherer vor dem Tode retten als die alte Magd mit ihren Vergißmeinnichtaugen und breiten Backenknochen. Am Ende des Ganges drang durch eine Türritze ein Strich von Licht. Ich klopfte zweimal an. Keine Antwort. Teta war nicht da. Ich öffnete die Tür. Ein echtes Mägdekämmerchen. Auf dem schmalen Bett lag eine Decke, auf der in farbiger Netzstickerei eine Schäferszene mit ausgeblaßten Rokokofiguren dargestellt war. Diese rührend vergilbte Decke bildete zweifellos das wohlbehütete Eigentum Tetas, wahrscheinlich ein Erbstück, das sie auf ihrer ganzen Lebensreise begleitete. Die Kammer war vollgeräumt mit Körben, Schachteln, Paketen aller Arten. Die beiden altertümlichen Strohkoffer, die fest versperrt waren, schienen nicht hinzureichen, um die Habseligkeiten und den Krimskrams der Köchin aufzunehmen. In einer Ecke häuften sich die getrockneten Kräuter in verschiedenen Hügeln. Der scharfe Geruch der Minze schlug mir entgegen. Auf dem Fensterbrett standen zwei Levkojenstöcke, auf dem Tischchen zwei Wassergläser mit Zyklamensträußen. Über dem Bett, wo ich eine Muttergottes vermutet hätte, hing unter Glas und Rahmen der Farbdruck eines jungen bildschönen Heiligen, der mitten in einem ungelenken Walde vor seiner Klause im Gebet versunken kniete, während sich das allzukörperliche Engelgedränge seiner Vision aus einer fast giftig lazuliblauen Himmelswunde auf ihn herabsenkte. Das Gesicht des Ekstatikers aber war jugendfrisch, überaus süßlich und stand in fröhlichem Widerspruch zu dem durch Entsagung erworbenen Heiligenschein. Unterhalb dieses anspruchsvollen Gemäldes hing ein zweites, aber bescheideneres Bild, ebenfalls unter Glas und Rahmen. Es war die Photographie eines jungen Geistlichen im Chorrock, der das Brevier in Händen hielt. Seine Augen blickten schwärmerisch und kurzsichtig in die Ferne, als hätten sie soeben erst von dem erbaulichen Texte aufgesehen. Diese Photographie im sogenannten Kabinettformat schien schon manches Jahr alt zu sein. Die pathetische Haltung des jungen Priesters bewies das, sowie die unnatürlichen Wolken, die hinter seinem Kopf zu einem ewig drohenden Wetter geronnen waren. Ähnliche Bilder mit solchen feierlichen Prospekten im Hintergrund werden noch heute von den Schnellphotographen der Jahrmärkte aufgenommen. Hinter dem Rahmen steckten ein paar drahtige Stengel von pelzigem Edelweiß. Ohne einzutreten besah ich mir lange das Zimmerchen, und derselbe Eindruck von merkwürdiger Abgeschlossenheit und Festigkeit wie vor zwei Tagen ergriff mich. Hier hauste jemand, der mittels ein paar armseliger Dinge einem engen Raum den Stempel seines Wesens aufzudrücken vermochte. Ich fuhr zusammen, als ich Tetas Stimme plötzlich hinter mir vernahm. Da sie in Filzschuhen ging, hatte ich ihr Kommen nicht bemerkt. Aus ihren Worten glaubte ich Mißtrauen und Unwillen herauszuhören: »Was wünscht der gnä’ Herr dahier?«

»Ich fühl mich nicht besonders wohl, Fräul’n Teta«, sagte ich verlegen, »vielleicht bekomm ich ein Fieber . . . Es wär nett von Ihnen, wenn ich einen Tee haben könnt . . . Ich hab Sie gesucht . . .«

Teta warf mir einen prüfenden Blick zu. Dann trat sie zu ihren Kräutern und begann in den Häuflein emsig zu wühlen:

»Da hab ich einen Tee«, ächzte sie während des Suchens, »der bringt jede Erkältung weg und Kopfweh und verdorbenen Magen in einer halben Stund wie ein Wunder . . .«

Und indem sie, noch immer gebückt, die Mischung bereitete, blinzelte sie zu mir herüber:

»Der Tee wird gleich fertig sein . . . Geh der gnä’ Herr nur in sein Zimmer . . . Wenn ich bittlich sein darf . . .«

Teta hatte mich nicht nur nicht aufgefordert, bei ihr einzutreten, sondern sie schickte mich fort. Vermutlich mochte sie es gar nicht leiden, wenn irgendwer ihrem Sanctissimum zu nahe kam.

»Da mach ich Ihnen wieder einmal Mühe«, entschuldigte ich mich.

»Mit Erlaubnis, das ist keine Müh, bitte . . . Der gnä’ Herr sind ja immer allein und studieren so viel bis in die Nacht . . . Und die gnä’ Herrschaft hat befohlen, daß ich auf den gnä’ Herrn schaun tu . . . Ich werd auch eine Wärmflasche heiß machen . . .« »Fräul’n Teta«, sagte ich, »unsere gemeinsame Wirtschaft geht jetzt zu End. Übermorgen kommen die Herrschaften zurück, ich hab Nachricht bekommen . . . Da möcht ich mich Ihnen erkenntlich zeigen . . .«

Ich zog einen Geldschein aus der Tasche und drückte ihn ihr in die Hand, hatte aber dabei die peinliche Empfindung, etwas Unangemessenes zu tun. Sie jedoch schloß die Faust ziemlich gierig um das Geld und ließ es schnell in ihrer Schürzentasche verschwinden, wobei sie sich mit einem Lächeln zierte:

»Aber was tun der gnä’ Herr da . . . Nein, so was . . . Das wär ja gar nicht nötig . . .«

Ich mußte ihr die Hand entziehen, die sie nach Art alter Mägde zu küssen versuchte. Nur um einen Abschluß zu finden, deutete ich auf den Farbdruck des Heiligen über dem Bett hin:

»Ein schönes Bild haben Sie da hängen, Fräul’n Teta . . .«

Sie nickte mehrmals, während sie tief aufseufzte:

»Ja, das Bild ist eine Pracht . . .«

Mein Blick aber blieb lange an der Photographie des jungen Geistlichen mit dem Brevier hängen. Zwischen Teta, dieser Photographie und mir ging etwas Undeutliches vor. Ich fühlte, daß mich Teta von der Seite verstohlen ansah, als fürchte sie eine Frage, die zu beantworten sie nicht gesonnen war. Ich aber fragte nichts.

Zweites Kapitel

EIN LEBENSPLAN

Livia hatte von den Festspielen erzählt, von der buntgemischten, erregten Welt jenseits des Toten Gebirges, die nur eine kleine Autostunde und zugleich sternenweit von unserem Grafenegg entfernt lag. Nach Tisch war ein gewaltiges Alpengewitter niedergegangen. Nun aber hatte sich eine durch den Aufruhr entkräftete Augustsonne hervorgekämpft und umspülte angenehm die Terrasse, auf der wir saßen und in den erschöpften und reingeweinten Park hinaussahen. Wir waren allein.

»Und du, Theo«, fragte Livia, »warst du gut aufgehoben und hast anständig gearbeitet all die Tage? . . .«

»Aufgehoben war ich herrlich wie immer bei euch und gearbeitet hab ich . . . ganz anständig . . .«

Ich log. Livia nämlich legte stets großen Wert darauf, daß ich in ihrem Hause mit gutem Gelingen arbeite. Es war ihr Ehrgeiz. Ich sah sie an. Die Frau, die mir so viel bedeutete, war schön wie eh und je. Sie hielt die wie aus mattem Selenit geschnittene Stirn gesenkt, denn ihre Hände waren mit einer Stickerei in Grellgrün beschäftigt. Mir ging mein eigenes Schicksal durch den Kopf. Als geistiges Wesen nahm man mich ernst, erwies mir Achtung, schrankenlose Freundschaft und Sympathie. Als Mensch aber war die letzte Tür immer vor mir zugefallen, und ich hörte den Riegel knirschen. Ich schien der geborene Gast zu sein, ein abseitiger Gefährte, dem man vertraute, weil er als Gegenspieler in der gierigen Partie des Lebens nicht in Betracht kam. Lag es an den andern? War’s eine verborgene Schwäche und kühle Teilnahmslosigkeit meines eigenen Wesens? Oder hatte es nur Livia so weise verstanden, mich genau an der Grenze ihres Bannkreises zu halten, damit das Schöne zwischen uns allen nicht in Brüche gehe? Gleichviel, heute in meinem fünfundvierzigsten Jahr glaubte ich, gewisse Bitterkeiten endlich überwunden zu haben, und nahm eine Stunde wie diese als ein Geschenk hin. Livia sah von ihrer Arbeit auf.

»Du hast noch niemals einen so guten Stoff gehabt, Theo . . . Ich glaub, mit diesem Buch wirst du dein Glück machen . . .«

»So optimistisch bin ich leider nicht, liebste Livia . . . Im Gegenteil, ich wünsche diesen und alle historischen Stoffe zum Teufel . . .«

»Es ist eine deiner nettesten Eigenschaften, Theo, daß du so gar keine Witterung für das Aktuelle und das Erfolgreiche hast . . . Glaubst du vielleicht, es sei ein Zufall, daß die Leute heutzutage einander die historischen Schmöker und Biographien aus den Händen reißen?«

»Ich halts durchaus für keinen Zufall, sondern für das genaue Zeichen unserer chimborassohaften Unkultur, Kunstferne und Geistfeindschaft . . . Die Leute fürchten sich vor allen Gedanken und Gestalten der Phantasie, das ist etwas ›Erfundenes‹ für sie; sie suchen aber das, was sich ›wirklich‹ ereignet hat, und zwar ›genauso‹. Sie suchen nichts anderes als geschickt zusammengestellte Zeitungsausschnitte aus vergangenen Jahrhunderten, die irgendeiner von diesen brillanten Routiniers mit seinem eigenen Senf anrichtet . . . Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir all der brokatene Klatsch zuwider ist, diese würzige Psychologie, diese snobistische Intimität mit sämtlichen bewährten Unsterblichen, die es sich gefallen lassen müssen, beim Vornamen interviewt zu werden . . . Dabei hab ich selbst gar kein Recht, die Nase zu rümpfen. Offen gesagt, Livia, mein eigener historischer Schmöker dort oben ekelt mich an . . . Ich sehne mich von allen Kriegen, Greueln, Massenmorden, Martertoden, Staatsaktionen, hochtrabenden Namen und Kostümen nach einem ganz einfachen, schmalspurigen Stoff, nach den Ungewöhnlichkeiten der gewöhnlichen Menschen, überhaupt nach einem Menschen, nach einer wirklichen Gestalt will ich sagen, ich weiß nicht was für eine und wie . . . Aber sie müßte ganz echt sein und ganz mein, verstehst du, ganz mein . . .«

»Also los . . . Finde so einen Stoff . . .«

»Nicht wir finden die wirklichen Stoffe, Livia, sie finden uns . . .«

»Geprägte Ausreden hast du selbst einmal solche Sätze genannt, mein Lieber . . .«

Sie schwieg eine Weile, dann aber traf mich ein mißbilligender Blick:

»Theo, du siehst schlecht aus und bist mager geworden . . . Warst du krank? . . . Hat Teta nicht gut für dich gekocht? . . .«

»Teta nicht gut kochen? . . . Sie ist ein Star, der niemals indisponiert ist . . . Übrigens, ich hab’ in diesen Tagen mit Teta Bekanntschaft geschlossen und bin ihr nähergekommen . . .«

»Was du nicht sagst? . . . Nähergekommen? . . . Der ist noch niemand nähergekommen . . .«

Ich wunderte mich über die leichte Schärfe in Livias Ton:

»Dieses alte Hausmöbel«, fragte ich. »Sie hängt doch an dir und euch allen . . . Sie sieht aus wie die sprichwörtliche Treue . . .« »Ja, treu ist sie . . . Treu gegen sich selbst nämlich . . .«

»Wie? Und die Kinder? Sie sind unter ihren Augen groß geworden . . . Die Kinder liebt sie doch . . .«

Livia legte ihre Handarbeit auf den Tisch. Sie sah ziemlich nachdenklich in den Park hinaus:

»Wenn die Kinder«, sagte sie, »und wir alle morgen aus der Welt verschwinden, die liebe Teta wird uns kein warmherziges Angedenken bewahren . . .«

»Ich hätt mir wahrhaftig nicht gedacht, daß du über diese Perle zu klagen hast, Livia . . .«

Sie runzelte ihre glatte, reine Stirn, wie immer, wenn ihr Wahrheitssinn durch eine ungenaue Redewendung beleidigt wurde:

»Zu klagen«, wiederholte sie. »Es ist nicht das richtige Wort. Zu klagen hätt ich zwar auch, Teta ist unverträglich, die Mädchen kommen mit ihr nicht aus, sie ist habgierig, sie läßt sich von den Lieferanten bezahlen, sie verrechnet nicht gerade mit erschütternder Redlichkeit, sie schafft von allen guten Sachen ihren Raubteil auf die Seite, sie verwöhnt in aufreizender Weise den Wolf, diese ekelhafte Bestie . . . das alles aber interessiert mich nicht sehr, weil Teta, wie du sagst, ein Küchenstar ist und von früh bis in die Nacht arbeitet, auch jetzt noch als alte Frau . . . Mich störts aber, wenn du es vielleicht auch für dumm halten wirst, mich störts, daß seit zwanzig Jahren in meinem Haus ein Ewig-Fremder herumläuft, eine ganz und gar teilnahmslose Person, die nicht warm wird, und der gegenüber auch ich nicht warm werden kann . . .«

»Ein Ewig-Fremder, der im Haus herumläuft«, lachte ich, »da könnt auch ich mich getroffen fühlen . . .«

»Überschätz dich nicht, lieber Theo«, sagte Livia ernst. »Du hast nur kurzfristige Arbeitspläne für ein oder zwei Jahre. Teta aber hat einen Lebensplan, der über ihren Tod hinausreicht. Es ist ein Lebensplan bis in alle Ewigkeit, und das ist wirklich keine Phrase . . . Teta ist in ihrer Art grandios, und ich fühl mich ihr nicht immer gewachsen . . .«

Bei diesen Worten trat mir die Photographie des jungen Geistlichen, die über dem Bett der Köchin hing, deutlich vor Augen: »Vor ein paar Tagen«, sagte ich, »hab ich ihr Zimmer gesehen . . .«

»Was? Das ist dir gelungen«, verwunderte sich Livia. »Teta sperrt ja die Tür ab, wenn sie ihre Bude nur für zwei Minuten verläßt. Alle im Haus lachen darüber . . . Ich selbst, die Hausfrau, bin nur zweimal in all diesen Jahren in die holde Kemenate vorgedrungen, einmal, als Teta krank war, und das andere Mal, als ich mit unerschrockenem Mute darauf bestand, daß auch bei ihr die Wände frisch gestrichen werden . . .«

Ich vergegenwärtigte mir den starken Eindruck von Festigkeit und Geschlossenheit, den ich nicht nur durch das Wesen, sondern auch durch die Kammer der alten Magd empfangen hatte:

»Sie muß äußerst religiös sein, diese Teta«, meinte ich. »Das Heiligenbild an der Wand . . . Und dann hab ich ein interessantes Gespräch belauscht zwischen ihr und dem Herrn Bichler, diesem patenten Freidenker, der sich soeben mit bestem Erfolg aus einem Kommunisten zum Nazi entwickelt hat . . . Teta hat übrigens in diesem Gespräch hoch gesiegt. Zehn zu Null mindestens . . .«

Livia blickte noch ernster und versonnener drein als vorhin:

»Ja! Teta ist religiös«, sagte sie, »in einem ganz unvorstellbaren Sinn religiös . . . Nicht nur wir könnten sie darum beneiden, sondern sogar jeder wirklich Gläubige. Bei ihr gibts darin keine Sentimentalitäten, keine halben Gefühle, keine Unbestimmtheiten, ja selbst das Wort Glauben genügt nicht. Für sie sind all diese Dinge, die unsereins solche Schwierigkeiten machen, – wie soll ichs dir nur sagen –, bombensicher sind sie für Teta und fest ausgemacht und unabänderlich und körperlich real wie dieser Tisch hier oder wie der Fahrplan der Eisenbahn . . .«

»Einen Augenblick, Livia«, unterbrach ich sie, »Teta hat einen Sohn, einen unehelichen Sohn natürlich. Für den lebt und stirbt sie. Er ist der hübsche Geistliche auf dieser Photographie überm Bett. Und mit ihm hängt das zusammen, was du ihren Lebensplan nennst . . .«

Livia lachte spöttisch auf:

»Wie doch die Literatur immer hinter dem Leben zurückbleibt, armer Theo . . . Teta ist eine unberührte Jungfrau, garantiert . . . Aber daß ihr Lebensplan mit dieser Photographie zusammenhängt, das hast du schon prophetisch erraten . . . Ich werd jetzt ihr Vertrauen mißbrauchen, denn ich glaub, außer mir hat sie keinen Menschen in ihren Lebensplan eingeweiht . . . Das aber ist auch nur wegen gewisser Briefe geschehen, in denen sie sich nicht gut ausgekannt hat . . .«

Livia blickte sich zweimal um, ziemlich scheu. Dann fing sie mit gedämpfter Stimme zu erzählen an.

Hier folgt nun ein Abriß von Teta Lineks Lebensplan. Ich entnehme ihn nicht nur Livias Bericht, wie er mir von jener schönen Sommerstunde her in Erinnerung geblieben ist, sondern kann ihn durch die Mitteilungen des Kaplans Johannes Seydel ergänzen, mit dem ich vor einiger Zeit in Paris Freundschaft geschlossen habe. In solchen Fällen sagt man mit Recht: ›Die Welt ist klein.‹ Seydel ist der nämliche Geistliche, welcher der alten Magd in den letzten Tagen ihres Lebens und Sterbens Beistand geleistet hat. Die Argwöhnische und Verschlossene hat ihm ihr Herz geöffnet und sämtliche Dokumente ihres Erdenwallens hinterlassen. Er bewahrt als ein merkwürdiges Andenken an einen merkwürdigen Menschen die bewußten Briefe auf, von denen sogleich die Rede sein wird. Johannes Seydel, achtundzwanzig Jahre alt, das Idealbild eines katholischen Seelsorgers und Menschenfreundes, lebt nun – wie könnt es bei ihm auch anders sein – in der Verfolgung und in der Verbannung.

Die Argans waren Teta Lineks siebenter und letzter Posten. Das beweist, daß sie in ihrer fünfundfünfzigjährigen Dienstzeit nur ganz selten ihren Arbeitsort wechseln mußte und trotz der von Livia angedeuteten Untugenden sich die dauerhafteste Zufriedenheit ihrer Brotherren von Anfang an erwarb. Sie kam wie so viele ihresgleichen als fünfzehnjähriges Bauernmädel aus dem mährischen Lande in die Residenz der damaligen Monarchie. Ihr Geburtsdorf hieß Hustopec. Den Aufstieg vom Abwaschmädel zur ›perfekten Köchin‹ und dann zur Diva ihrer Kunst hatte Teta außer ihrer Begabung verschiedenen Eigenschaften zu danken, die bei den strengen Hausgebieterinnen hoch in Gunst standen. Sie schmuggelte niemals Männer ins Haus, uniformierte Männer gar, auch in ihrer blühenden Jugend nicht. Sie kam niemals wie andere Dienstmädchen von ihren Ausgängen nach Mitternacht heim, in verwahrlostem Zustand, mit zerzausten Haaren, ein unordentliches Lachen auf den betrunkenen Zügen. Sie verzichtete zumeist auf diesen ihr allwöchentlich gebührenden Ausgang und verbrachte den Sonntag in ihrem Kämmerlein, immer zu Diensten stehend. Daß sie täglich um sechs Uhr zur Morgenmesse ging, störte keineswegs die Hausordnung, sondern brachte Teta schon sehr früh in den vertrauenerweckenden Ruf frommer Würdigkeit. Auch wurde sie nur ziemlich selten von Angehörigen heimgesucht. Davon gab es in der Hauptstadt eine ansehnliche Menge, die erst durch die Macht der Jahre auf zwei Frauenspersonen herabgemindert wurde, die beiden Schwestern Tetas. Sie aber besaß nur sehr wenig Familiensinn. Auch lag der Dienerin eine seltsam strenge Auffassung ihres Berufes seit Generationen im Blute. Sie empfand Familienbesuch im Hause der gnä’ Herrschaft als ungehörig und der guten Sitte widersprechend.

Damals – sie hatte bereits ihr vierzigstes Jahr erreicht – war sie bei dem Herrn Sektionsrat im Unterrichtsministerium Slabatnigg im Dienst. Eines Sonntags im Juli, die Herrschaft war glücklicherweise ausgegangen, erschien ein ländlich gekleidetes Weib bei ihr, das einen zehnjährigen Jungen an der Hand führte. Sie erkannte nicht sofort die Witwe ihres jüngst verstorbenen Bruders Mojmir Linek. Kein Wunder, hatte sie doch diese Frau nur zweimal im Leben gesehen. Dem Bruder Mojmir wahrte Teta keine sehr achtungsvolle Erinnerung. Er war niemals über Hustopec hinausgekommen, hatte dort sicherem Vernehmen nach den ererbten Hof vertrunken und sich schließlich als gemiedener Ortsalkoholiker mit irgendwelcher Flickschusterei bis zum verdienten frühen Ende fortgebracht. Ohne Wohlwollen betrachtete die Tante den kleinen Neffen, der Mojmir hieß wie sein Vater und sie aus eigentümlich verschwollenen Schlitzaugen eindringlich abschätzte.

»Es ist ein Elend«, jammerte die Witwe, »mein Alter hat immer gewollt, daß aus dem Mojmir da was wird, ein Herr Doktor oder so, denn gescheit ist dir das Bübchen und zu gut fürs Land, und es war sein letzter Wunsch, der Arme, Gott verzeih ihm, und du bist doch die Schwester und ledig und hast gute Stellungen und Ersparnisse . . .«

»Woher weißt du, daß ich Ersparnisse hab’«, fuhr Teta auf. »Ich hab’ keine Ersparnisse, mit Erlaubnis . . .«

Die Mutter aber schob den Knaben vor, drückte mit der Hand sein bäurisch widerstrebendes Scheitelhaar nieder und nestelte erregt an seinem Feiertagsgewand herum:

»Schau dir doch nur das Bübchen an, Schwägerin, den Sohn deines einzigen Bruders . . . Was soll ich tun, daß der letzte Wunsch vom Seligen in Erfüllung geht . . . Der Herr Lehrer sagt, so einen wie den Mojmir da gibt’s in der ganzen Schul nicht zweimal . . . Er kann dir alles auswendig . . . Steh grad, Bub, und sag dem Tantchen etwas auf . . .«

Mojmir streckte sich, schnupfte den Rotz hoch, machte eine kurze Verbeugung und begann über Stock und Stein ein Gedicht herzuplärren mit seiner krähenden Knabenstimme, von der die erstaunte Küche des Hofrates Slabatnigg hell erschallte. Es war ein Gedicht des Dichters Neruda und hieß ›Die Mittagshexe‹. Er hatte noch kaum geendet, als ihn der zwinkernde Blick der Mutter mahnte, diesem Gedicht in Tetas schon halb vergessener Muttersprache ein zweites in bestem Deutsch folgen zu lassen. Darauf plärrte der Junge Schillers ›Alpenjäger‹ in entschlossenem Geschwindschritt her:

»Willst du nicht das Lämmlein hüten?

Lämmlein ist so gut und sanft.

Nährt sich von des Grases Blüten,

wachsend an des Baches Ranft.«

Nach dem schallenden Vortrag blickte er Mutter und Tante lohnheischend an wie ein Musikant, der jetzt mit dem Teller einsammeln gehn will. Teta aber gab kein Lobeswort von sich, sondern zog den Jungen zum Fenster, hob sein Kinn hoch und betrachtete sein sommersprossiges und inhaltloses Gesicht mit fragender Eindringlichkeit. War er wirklich so stürmisch und kühn wie der Knabe in dem Gedicht, der Gemsenjäger werden wollte und sonst nichts anderes? Die Mutter, durch diese Prüfung unruhig gemacht, zischte ihm etwas zu, und Mojmir leierte sofort folgenden eingelernten Satz herunter:

»Wenn das liebe Tantchen uns hilft, dann will ich auch recht brav sein und mich dem lieben Tantchen bis zum Lebensende stets dankbar erweisen.«

»Wie kann ich euch helfen«, brummte Teta, »ich bin arm wie ihr . . .«

Dann aber ging sie zum Herd, wärmte Kaffee auf, zog unter ihrem Bett einen beiseitegeschafften Guglhupf hervor und servierte ihren Gästen den Imbiß. Der kleine Mojmir entwickelte für sein Alter einen hochansehnlichen Appetit und bat dreimal um eine weitere Kuchenschnitte, wobei die beschämte Mutter Tränen in die Augen bekam und aufschluckte:

»Das muß ich sonst alles schaffen mit meiner Hände Arbeit, eine alleinstehende Witwe . . .«

Beim Abschied aber, nachdem sie sich die ganze Zeit über kühl und ziemlich unzugänglich verhalten hatte, sagte Teta plötzlich:

»Wegen dem Buben da werd ich mit der gnä’ Frau Hofrätin bittlich sprechen . . .«

Zuletzt holte sie eine Nickelmünze hervor und steckte sie dem Mojmir zu. Die Hand des Jungen schloß sich schnappend um das Geldstück wie der Rachen eines Raubfisches.

In Erfüllung ihres Versprechens trat Teta am nächsten Tage festlich gekleidet und mit ihrem umständlichsten Knicks in den Salon der Gebieterin. Diese neigte der Bitte ihrer Magd freundlich das Ohr und erwirkte bei ihrem Gemahl, dem Sektionsrat des Unterrichtsministeriums, daß der Linek Mojmir aus Hustopec einen Freiplatz am Gymnasium und Internat zu Olmütz erhielt. Während Teta nämlich im Lichte des Küchenfensters das sommersprossige und inhaltlose Knabengesicht betrachtet hatte, war in ihrer Seele der große, bisher nur undeutlich umträumte Lebensplan zu fester Gestalt gediehen.

Mit vierzig Jahren hatte Teta bereits dasselbe Altfrauengesicht wie später mit sechzig. Sie erfuhr demnach an sich selbst, wenn sie in den Spiegel schaute, die bedenkliche Kürze dieses Erdenlebens. Ein Tag folgte dem andern, zuerst in gemächlichem, dann in beschleunigtem Ablauf, und kein Tag unterschied sich vom andern. Es war immer dasselbe: Erwachen, Ankleiden, Morgenmesse, Feuermachen, Frühstückkochen, Aufräumen, Einkaufengehen, Mittagessen zubereiten, Geschirrwaschen, Tee oder Kaffee am Nachmittag, die verausgabten Summen zusammenrechnen, Abendessen richten, Geschirrwaschen, die Küche säubern, Schlafengehn. Teta beklagte sich keineswegs über diesen eintönigen Wandel. Sie arbeitete gern. Sie konnte nicht behaupten, daß dieses Leben für sie ein Jammertal war. Den meisten andern Weibern erging es weit schlimmer. Die hatten zu aller Plage noch Not und Tod im Haus, Lungerer oder Trunkenbolde oder Arbeitslose oder Kriegssoldaten oder verkommene Heimkehrer als Männer, Fehlgeburten, kranke Kinder, alle paar Jahre eine Leiche auf der Bahre und tagaus tagein nichts als Gefrett und Unglück. Wenn auch dergleichen Schreck und Schmerz Teta erspart blieb, so fühlte sie doch, daß ihr mit all diesen bösen Dingen zugleich etwas entging, was die unglückseligste Ehefrau im Umkreis besaß, mochte sie’s auch allstündlich verfluchen. Die Ungebundenheit, zu der sich Teta lebhaft bekannte, enthielt zweifellos neben dem Gleichmaß und der Sorglosigkeit ihrer Tage eine gewisse Ödigkeit, die sich zumeist an Sonn- und Feiertagen bemerkbar machte. Teta war daher Mitglied des Vereins katholischer Jungfrauen geworden, und das Ansehen, das sie sich unter ihren Bundesschwestern dort erwarb, bildete eine Milderung jener Öde und brachte in späteren Jahren manche Anfälligkeiten der früheren Zeit zum Verschwinden. Doch wie mans auch nimmt, das Leben war, was es ist. Vor allem wars aber gar nicht das eigentliche Leben, sondern nur eine sonderbare Unterbrechung, eine Art Ausflug oder Urlaub, in den man zu unbekanntem Zweck gesandt wurde. Das lehrten die geweihten Männer, die hoch über allen anderen Menschen standen und die es daher wissen mußten. Das eigentliche Leben begann nachher.