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Seit FBI-Agent Lucian Glass von der Psychologin Iris Bellmer hypnotisiert wurde, quälen ihn mysteriöse Erinnerungen. Visionen früherer Leben? Während er noch versucht, die Dämonen der Vergangenheit zu besiegen, gerät er unversehens ins Zentrum einer der größten Kunstskandale der Geschichte: Ein Verrückter droht, wertvollste Gemälde aus dem Besitz des New Yorker Metropolitan Museum of Art zu zerstören, wenn ihm nicht die antike Skulptur des Gottes Hypnos ausgehändigt wird. Ist sie der Schlüssel zum Rätsel der Wiedergeburt - und soll sie jetzt einem skrupellosen Mörder übereignet werden? Für Lucian und sein Ermittlerteam beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit. Können sie den Erpresser stoppen, ehe eine tödliche Katastrophe geschieht?
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Seitenzahl: 561
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
M. J. Rose
Der Visionist
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Lisa Kuppler
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
The Hypnotist
Copyright © 2010 by Melissa Shapiro
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Bettina Steinhage
Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz / Doug Scofield
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-149-2 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-148-5
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Wenn wir in den wunderbar ausgestatteten Sälen eines Museums stehen, vergessen wir manchmal, dass jedes Ausstellungsstück ein Überlebender ist, der Zeugnis ablegt für unzählige andere, ähnliche Kunstwerke, die verloren gingen. Diese epochale Ausstellung erinnert uns daran, dass jeder Überlebende mehr rettet als nur sich selbst; er ist Teil der Kultur, der Identität und der Geschichte, die nur darauf warten, wieder miteinander verknüpft zu werden.
Roberta Smith in der New York Times über die Ausstellung „Afghanistan: Verborgene Schätze aus dem Nationalmuseum, Kabul“
MEIN DANK GILT …
… allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei MIRA Books, vor allem meiner wundervollen Lektorin Margaret O’Neill Marbury und Adam Wilson.
… Lisa Tucker und Douglas Clegg. Der Gedanke, ein Buch ohne sie zu schreiben, erscheint mir völlig unmöglich. Ich hoffe, das Unmögliche möge nie geschehen.
… Jerry Hooten. Falls sich in den Roman Fehler eingeschlichen haben, die mit Fragen von Gebäudesicherheit oder polizeilichen Ermittlungsmethoden zu tun haben, dann sind sie alle mir zuzuschreiben, nicht ihm.
… Susan O’Doherty, deren Hilfe mir so viel Zeit und Kummer und Nerven erspart.
… allen Leserinnen und Lesern, Buchhändlerinnen und Buchhändlern, Rezensentinnen und Rezensenten auf der ganzen Welt ein großes Dankeschön.
… meiner wunderbaren Familie. Und Doug.
Aufgefordert, in aller Kürze den Begriff Kunst zu definieren, könnte ich ihn nur bezeichnen als die Reproduktion dessen, was unsere Sinne durch den Schleier der Seele von der Natur wahrnehmen.
– Edgar Allan Poe, „Marginalien“ –
Vor zwanzig Jahren
Wann immer er vor der Staffelei stand, spielte die Zeit ihm einen Streich. Er war hypnotisiert vom Rhythmus des Pinsels auf der Leinwand, davon, wie eine Farbe in die nächste floss, wie beide Töne einen dritten erzeugten und der dritte in den vierten überging. Sein ganzes Sein war nur noch auf das Bild gerichtet, alles Übrige verschwand aus seinem Bewusstsein. Wenn er so ins Malen eintauchte, dann vergaß er alle Pflichten. Er erschien nicht zu seinen Seminaren, er trank nichts mehr, aß nichts mehr, schaute nicht mehr auf die Uhr.
Und deshalb hetzte Lucian Glass an diesem Freitagabend um 17.25 Uhr die nach Urin stinkenden Treppen in den düsteren U-Bahnhof hinunter, obwohl er eigentlich schon längst im Geschäft von Mr Jacobs sein sollte, wo dessen Tochter Solange ihn erwartete. Sie wollten zusammen in eine Ausstellung eine Straße weiter gehen, im Metropolitan Museum of Art.
Die Jalousien waren unten, als Lucian beim Laden ankam. CLOSED las er auf dem Schild, das in der Tür baumelte; sie war allerdings offen, also trat er ein. Im Innern waren alle Lampen aus, doch dämmriges Licht fiel durch die Fenster. Er sah sofort, dass Solange nicht mehr hier war. Dicht an dicht gedrängt standen hier nur Dutzende von leeren Bilderrahmen, aus denen nur die hellgelb gestrichene Wand hervorblickte. Wie verlorene Seelen schienen sie auf jemanden zu warten, der endlich ihrer Existenz einen Sinn verlieh.
Er hastete nach hinten in die Werkstatt, wo der Geruch nach Klebstoff und Sägespänen stärker wurde. Auch die Stille nahm zu. Kein Ton war zu hören, nur seine eigene Stimme, die ihren Namen rief.
„Solange?“
Er blieb in der Tür stehen und schaute sich um. Auch hier standen nur leere Rahmen. Wo steckte sie nur? Hatte sie hier allein auf ihn gewartet? Lucian trat zu der Werkbank und fragte sich, ob es vielleicht noch ein Zimmer gab. Da sah er sie. Solange lag ausgestreckt auf dem Boden. Sie war so gegen einen großen, verschnörkelten Rahmen gefallen, als wäre sie das Meisterwerk, das er einrahmen sollte. Ihr Blut war auf die zerbrochenen goldenen Leisten gespritzt, ein Stillleben des Schreckens. Auf ihrem Gesicht und den Händen waren Schnitte, und eine Blutlache breitete sich unter ihr aus.
Lucian kniete sich neben sie, er berührte ihre Schulter. „Solange?“
Sie öffnete die Augen nicht, doch ihr Mund verzog sich zu einem kaum sichtbaren Lächeln.
Während er noch darüber nachdachte, was er zuerst tun sollte – ihr helfen oder die Polizei rufen –, öffnete sie die Augen, hob den Arm und berührte ihre Wange. Ihre Fingerspitzen waren rot vor Blut, als sie den Arm wieder senkte.
„Ein Schnitt?“, fragte sie, als hätte sie keine Ahnung, was passiert war.
Er nickte.
„Versprich mir“, flüsterte sie, „dass du mich so nie malen wirst …“ Solange hatte eine halbmondförmige Narbe auf der Stirn und überprüfte immer heimlich, ob ihre Ponyfransen sie auch verdeckten. Wenn sie sich selbst bei der unbewussten Geste erwischte, dann lachte sie über ihre eigne Eitelkeit. Jetzt geriet ihr das Lachen zu einem Stöhnen.
Ihre Lider flatterten, sie wurde wieder ohnmächtig, und Lucian legte ihren Kopf an seine Brust. Es war kein Herzschlag mehr zu hören. Er drückte seinen Mund auf ihre Lippen und versuchte, sie wiederzubeleben, wobei er sich verzweifelt bemühte, ihr Luft in die Lunge zu atmen wie die Leute in den Filmen, die er gesehen hatte. Wahrscheinlich machte er es vollkommen falsch.
Ihm war, als hätte ihre Hand sich bewegt, und für einen Moment durchströmte ihn Erleichterung, weil sie leben und wieder gesund werden würde. Doch dann wurde ihm klar, dass er nur seine eigene Spiegelung in dem glänzenden Rahmen gesehen hatte. Ihr Kopf lag wieder an seiner Brust, und er lauschte, aber es war alles still. Doch als er so dasaß, während das Blut aus ihrer Wunde in sein Brusthaar und das Hemd sickerte, spürte er einen kurzen, heftigen Windstoß.
Lucian war groß gewachsen, aber nicht besonders muskulös. Im Grunde war er nur ein magerer Junge, der ein Maler sein wollte. Er hatte keine Ahnung von Selbstverteidigung, er wusste nicht, wie er das Messer abwehren sollte, das auf ihn niederfuhr und durch sein Hemd in Fleisch und Muskeln drang. Einmal, zweimal … Das Messer stach auf ihn ein, bis er den Schmerz nicht mehr fühlte. Er selbst war zum Schmerz geworden, sein Körper in Todesangst erstarrt. Er strengte sich an, wollte alles mitkriegen – als ob das noch eine Rolle spielte. Mühsam versuchte er, sich wenigstens die Farben der Szene zu merken, die sich um ihn herum abspielte: die Hemdsärmel seines Angreifers waren ocker, Solanges Haut titanweiß … Er ließ sich treiben.
Als Nächstes hörte er weit entfernt undeutliche Stimmen. Lucian versuchte zu verstehen, was sie sagten.
„… sehr großer Blutverlust …“
„… mehrfache Stichverletzungen …“
Er bewegte sich fort von den Worten. Oder bewegten sie sich fort von ihm? Ließen die Leute ihn hier alleine liegen? Sahen Sie denn nicht, dass er verletzt war? Nein, sie gingen nicht weg … Sie hoben ihn hoch. Sie bewegten ihn. Kühle Luft strich über sein Gesicht. Verkehrslärm.
Die Stimmen wurden noch undeutlicher.
„Ich spüre keinen Puls mehr …“
„Er kippt uns weg … Schneller, macht schon! Wir verlieren ihn …“
Der Abstand zwischen ihm und den Stimmen wurde mit jeder Sekunde größer. Die Worte waren nur noch ein Flüstern, so weich wie eine Strähne von Solanges Haar.
„Wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig … Er ist weg.“
„Herzstillstand 18.59 Uhr“, hörte Lucian noch einen Sanitäter zum anderen sagen. Danach bekam er nichts mehr mit. Eine Stille war in Lucian eingetreten, die ihn vollkommen erfüllte. Eine Stille, die ihm zu guter Letzt endlich die Schmerzen nahm.
Gegenwart
Das Gebäude an der Ecke 40. Straße und Third Avenue bestand aus treppenförmig angeordneten, verglasten Kuben. Im fünfzehnten Stock, in einem Büro mit einer luxuriösen Ausstattung, die man in dem modernen Gebäude kaum erwarten würde, unterhielten sich drei Männer in einer Konferenzschaltung mit einem vierten über eine sichere Telefonleitung. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unnötig. Die Ständige Vertretung der Islamischen Republik Iran bei den Vereinten Nationen hatte die Räume angemietet, und vor dem Einzug hatten sie alle nicht tragenden Wände herausreißen lassen, damit sie die Büros gegen superempfindliche Mikrofone zum Abhören aus weiten Entfernungen sichern konnten. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste, vor allem, wenn man sich auf fremdem Boden befand.
Dichter Rauch hing über dem Tisch in dem fensterlosen Konferenzzimmer, und der Geruch von starkem Tabak nahm Ali Samimi fast die Luft. Er hasste den Gestank von kubanischen Zigarren. Aber er hatte hier nicht das Sagen und konnte sich deshalb nicht beschweren. Er hustete. Und hustete noch einmal. Prompt blies sein Boss eine Wolke in seine Richtung, obwohl er genau wusste, dass Ali Zigarrenrauch nicht vertrug. Typisch Farid Taghinia. Was für ein abgebrühter Riesenarsch von einem Hurensohn! Samimi musste fast grinsen beim bloßen Gedanken daran, wie die Amis fluchten.
„Bei der Zusammenarbeit mit den Briten, den Franzosen und den Österreichern gibt es keine Probleme. Nur bei den Amerikanern tauchen immer wieder Komplikationen auf. Ich habe dem Museum erlaubt, die Skulptur für die Eröffnung ihres neuen Flügels noch zu behalten. War das denn keine großzügige Geste? Haben sie denn unsere Dokumente nicht gesehen? Sie beweisen eindeutig, dass die Skulptur gestohlen ist. Warum zögern sie die Übergabe immer noch hinaus?“ Die Stimme von Hicham Nassir war sechstausend Meilen entfernt, doch selbst über diese Distanz war sein Unverständnis nicht zu überhören.
„Ich habe ihnen die Dokumente noch nicht gezeigt“, erklärte Vartan Reza, ein im Iran geborener amerikanischer Rechtsanwalt mit zerfurchten Gesichtszügen. Er war auf Kulturerbe-Fälle spezialisiert. Vor fast zwei Jahren hatte die Ständige Vertretung Reza mit der Rückforderung einer Skulptur beauftragt, die vor hundert Jahren angeblich illegal aus dem Iran ausgeführt worden war. Derzeit befand sich die Skulptur im Besitz des Metropolitan Museums of Art. Der Anwalt hatte den Fall erst angenommen, als Taghinia ihm mehr als ein großzügiges Honorar versprochen hatte. Auch die noch in Teheran lebenden Familienmitglieder Rezas würden gut versorgt werden.
Hätte Samimi auch nur ein bisschen Respekt vor Taghinia gehabt, dann wäre er beeindruckt gewesen von der cleveren Verhandlungsstrategie seines Bosses. Aber was als großzügiger Bonus daherkam, war eine kaum verhüllte Drohung. Und das machte Samimi nur noch nervöser.
„Sie haben ihnen die Dokumente nicht vorgelegt? Warum nicht?“ Taghinia saß am anderen Ende des Tisches. Er steckte sich die kubanische Zigarre in den Mund und saugte daran.
„Ich habe ein paar Fragen, was die Authentizität der Schriftstücke betrifft“, erklärte Reza. „Und ich möchte den Anwälten des Museums nichts übergeben, das uns nachher unprofessionell dastehen lässt und dem Fall schadet.“
Taghinia pflückte einen Tabakkrümel von seinen wulstigen Lippen, blinzelte mit seinen eidechsenbraunen Augen und begann, mit dem Fuß auf den Teppich zu klopfen. „Fragen?“ Klopf, klopf. „Solche Fragen zu diesem Zeitpunkt sind nicht erwünscht, Mr Reza.“ Klopf, klopf. „Unsere Regierung wird allmählich ungeduldig.“
„Das kann schon sein. Doch es ist nicht in Ihrem Interesse, wenn ich überstürzt vorgehe.“
Taghinia warf Samimi einen bösen Blick zu, als ob das Verhalten des Anwalts irgendwie Samimis Schuld wäre. Höfliche Umgangsformen und wirkliche Kooperation zwischen dem Iran und den USA gab es nur im kulturellen Bereich. Wenn diese Sache sich hinzog und zu einem internationalen Vorfall wurde, dann war bei den sowieso schon angespannten diplomatischen Beziehungen keinem Land gedient.
„Wussten Sie davon?“, schnauzte Taghinia ihn an.
„Es schert mich nicht, ob Samimi darüber informiert war oder nicht. Ich möchte wissen, was es an den Dokumenten auszusetzen gibt.“ Nassirs Stimme brachte die Aufmerksamkeit im Raum zurück zu der Lautsprecherbox, die mitten auf dem glänzenden Ebenholztisch stand.
„Ich halte sie für Fälschungen“, erwiderte Reza.
„Wie bitte?“ Taghinias Gesicht nahm eine rötliche Färbung an, was einen bevorstehenden Wutausbruch signalisierte, doch Samimi vermutete, dass sein Boss ein schlechtes Gewissen hatte.
„Das ist unmöglich!“, rief Nassir in Teheran. „Reza, hören Sie? Das ist unmöglich!“
So aufgebracht hatte Samimi den Kulturminister noch nie erlebt. Nassir hatte in Oxford Kunstgeschichte studiert und zwei Bücher über Islamische Kunst verfasst, die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden waren. Jedes Exponat in den Museen des Irans sei ein Mitglied seiner Familie, hatte Nassir einmal gesagt, und es sei seine Aufgabe, sie alle für die Nachwelt zu bewahren.
„Die Teilungsvereinbarung, in der es um den Verbleib der Stücke geht und die in der Ausgrabung in Susa gefunden wurden, ist auf das Jahr 1885 datiert“, sagte Reza.
„Und?“, fragte Nassir.
„Das Papier, auf dem die Vereinbarung festgehalten wurde, ist erst 1910 hergestellt worden.“
„Das kann nicht sein!“
„Ich fürchte doch. Ich habe es von zwei Spezialisten überprüfen lassen.“
„Aber es gibt andere Quellen, die den Inhalt der Vereinbarung bestätigen!“, widersprach der Minister.
„Keine der anderen Quellen bezieht sich direkt auf die Skulptur, Mr Nassir. In den letzten achtzehn Monaten sind wir davon ausgegangen, dass die Dokumente echt sind. Unsere gesamte Argumentation stützt sich auf sie. Das ist ein ernst zu nehmender Rückschlag.“
Im Zentrum der iranischen Forderung stand eine etwa zweieinhalb Meter hohe Statue aus Gold und Elfenbein, die den griechischen Gott Hypnos darstellte, den Gott des Schlafes. Weder Samimi noch einer der anderen Männer, die an der Telefonkonferenz teilnahmen, hatten die Statue je gesehen. Die Kunsthistoriker waren sich einig, dass einige der schönsten chryselephantinen Skulpturen aus Delphi kamen. Die Stadt war Mitte des vierten Jahrhunderts vor Christus von den Phokern geplündert worden. Die Phoker hatten einige der Schätze verkauft, um ihre Truppen bezahlen zu können. Andere Stücke hatten sie eingeschmolzen und das Gold zu Münzen gemacht. Allgemein wurde angenommen, dass ein persischer Satrap oder König aus Susa den Hypnos erstand, als die Phoker in den Osten zogen, und die Statue einige Zeit später vergraben wurde. Vielleicht war sie während eines Überfalls versteckt worden, damit sie nicht wieder Plünderern in die Hände fiel, die es auf das viele Gold, das Elfenbein und die wertvollen Steine abgesehen hatten, mit denen die Skulptur verziert war. Oder sie war wieder gestohlen worden, und der Dieb hatte sie versteckt. Genau wusste man es nicht, aber die Statue hatte bis in die 1880er-Jahre quasi unversehrt in ihrem Versteck in der Erde überdauert.
„Was ist mit dem Vertrag?“, wollte Nassir wissen.
Samimi hatte Reza ebenfalls die Abschrift eines Vertrags übergeben, der auf den 12. April 1885 datiert war und Frankreich das alleinige Ausgrabungsrecht für die Gegend um Schusch gewährte, in der sich das antike Susa befand. „Der ist authentisch. Aber wir haben keinen Beweis dafür, wann Hypnos gefunden wurde. Wir können nur beweisen, wann er aus dem Land geschifft wurde, und deshalb nützt uns der Vertrag nichts.“
„Er wurde vor April gefunden. Der amerikanische Sammler hat Beutekunst gekauft“, betonte Taghinia nachdrücklich. Dabei drehte er den Kopf und warf Samimi wieder einen scharfen Blick zu, bevor er mehr giftigen Rauch in seine Richtung blies.
Niemand konnte Samimi ernsthaft die Schuld an dem aktuellen Fiasko geben. Nassir hatte die fraglichen Dokumente in einem Diplomatenkoffer in die USA bringen lassen. Aber Taghinia brauchte einen Sündenbock, und in den letzten anderthalb Jahren war Samimi für den Fall verantwortlich gewesen. Er wusste mehr über die Geschichte des Hypnos als alle anderen hier im Raum, mit Ausnahme von Reza.
Der amerikanische Sammler hatte die Skulptur 1888 erstanden und sie nach seinem Tod dem Metropolitan Museum of Art hinterlassen, zusammen mit dem Rest seiner umfangreichen Sammlung. Das New Yorker Museum steckte damals noch in den Kinderschuhen und war erst kürzlich von der 14. Straße hoch an die Ecke 81. Straße und Fifth Avenue gezogen. Bald waren die neuen Räumlichkeiten jedoch schon wieder zu klein geworden, und der damalige Direktor, General Luigi Palma di Cesnola, steckte alle ihm zur Verfügung stehenden Gelder in die Vergrößerung des Museums. Als Hypnos in den Besitz des Museums überging, sah Cesnola sofort, wie viel ihn die Restauration der Statue kosten würde. Er ließ sie in dem höhlenartigen Tunnel unterhalb des Central Parks einlagern, bis er wieder Geld hatte, um sich um die Skulptur zu kümmern. Im Jahr 1908 beschriftete ein junger Kurator die eingelagerte Statue falsch. Danach galt sie fast ein ganzes Jahrhundert lang als verschollen. Im Winter 2007 dann war wieder ein Kurator auf der Suche nach einer römischen Bronzeplastik und entdeckte stattdessen die falsch beschriftete Kiste. Ein paar Monate später gab das Met den Fund bekannt. Hypnos, so wurde verlautet, würde einer dringend nötigen Restaurierung unterzogen und dann in einer Sonderausstellung der Öffentlichkeit präsentiert. Bei ihrer Eröffnung im Jahr 2011 würde die geplante Ausstellung als Verbindungsstück zwischen der Sammlung für Griechische und Römische Kunst mit der neuen Sammlung für Islamische Kunst dienen.
Fünf Monate später hatte Vartan Reza dem Museum im Namen der iranischen Regierung ein offizielles Ersuchen um Rückgabe des Hypnos vorgelegt. Darin wurde behauptet, dass die Statue von einem französischen Archäologen illegal außer Landes geschmuggelt worden war.
Kaum wurde international über den Fall berichtet, stellte die griechische Regierung ein ähnliches Ersuchen. Darin wurde gefordert, die Statue Griechenland zurückzugeben, denn auch wenn sie im Nahen Osten entdeckt worden sei, war sie doch offensichtlich griechischen Ursprungs und gehörte deshalb zum nationalen Vermächtnis Griechenlands.
Es überraschte niemanden, dass die weltweit einzig erhaltene Skulptur im chryselephantinen Stil zu einem umstrittenen Kulturgut geworden war, doch das Metropolitan Museum of Art ließ sich erst gar nicht auf einen Rechtsstreit ein.
In einem in der New York Times veröffentlichten Gastkommentar schrieb der Museumsdirektor über das Thema Kulturerbe, an dem sich der Streit um den Hypnos entzündete:
Was hier verhandelt wird, entbehrt einer rechtlichen Grundlage. Frederick L. Lennox hat uns die Skulptur vermacht, doch er hat sie nicht als Beutekunst aufgekauft. Im 19. Jahrhundert war die Teilung ein gebräuchliches und vollkommen legitimes System. Die Statue war Objekt eines solchen Abkommens, in dem Persien im Tausch gegen einen Teil des Funds von der archäologischen Expertise der Ausgräber profitierte. Dies war damals keine illegale Vorgehensweise, und sie kann auch heute nicht als illegal angesehen werden.
Der Hypnos befindet sich seit hundertzwanzig Jahren im Met. Das Museum ist sein Zuhause, bei uns wird er nach höchsten restauratorischen Standards sicher verwahrt. In seinem Herkunftsland kann dies nicht immer gewährleistet werden. Wir werden ihn auch weiterhin schützen und für Ausstellungen vorbereiten, es sei denn, uns werden Dokumente vorgelegt, die unumstritten beweisen, dass er auf ungesetzlichem Weg in den Besitz von Mr Lennox gekommen war.
Auf der ganzen Welt waren Museen mit ähnlichen Fällen konfrontiert, und sie verfolgten genau, was in New York vor sich ging. Bei Vorwürfen von Beutekunst im Museumsbestand ergriffen die meisten selbst die Initiative und erforschten die Herkunft der Objekte, um beweisen zu können, dass diese sich zu Recht in ihrem Besitz befanden. Nicht so das Metropolitan Museum of Art. Der Direktor bestand darauf, dass die Beweispflicht beim Beschwerdeführer lag. Das Met, so seine Argumentation, sei keineswegs verpflichtet, einen Beweis dafür zu erbringen, dass der Hypnos dem Museum gehöre. Die Rechtmäßigkeit des Letzten Willens und des Testaments von Frederick L. Lennox waren überprüft worden, als sie vor über hundert Jahren aufgesetzt worden waren.
Im Gegenzug hatte sich Reza eine gerichtliche Anordnung besorgt, in der das Museum aufgefordert wurde, ihm Lennox’ Vermächtnis und alle anderen den Fall betreffenden Unterlagen zu übergeben. Dies hatte das Museum rundweg abgelehnt. Reza reichte daraufhin beim Bezirksstaatsanwalt von Manhattan eine Klage auf Akteneinsicht ein. Er wollte, so die Klageschrift, die Unterlagen des Metropolitan Museums of Art einsehen und die detaillierte Herkunftsgeschichte der Statue rekonstruieren, um zu beweisen, dass sie sich zu Unrecht im Besitz des Museums befand. In der Presse wurde der Staatsanwalt mit den Worten zitiert: „Jedes Museum ist dazu verpflichtet, Beutekunst an die Ursprungsländer rückzuführen. Nur so werden die Interessen der Öffentlichkeit gewahrt.“ Dennoch sprach er keine Disziplinarstrafe gegen das Met aus, sondern fügte hinzu: „Allerdings obliegt es den Vertretern des Irans, zuerst Dokumente vorzulegen, die beweisen, dass die Skulptur illegal ausgeführt wurde.“
Samimi kämpfte schon wieder mit einem Hustenanfall. Er hasste es, wenn sein Boss bemerkte, wie viel ihm der Zigarrenrauch ausmachte.
„Diese Sache zieht sich schon viel zu lange hin“, beschwerte sich Nassir. „Ich fürchte, weitere Verzögerungen können nicht mehr hingenommen werden.“
„Kulturerbe-Fälle lassen sich nicht schnell lösen“, erklärte Reza. „Bei derartigen Fällen zählt, was am Ende herauskommt. Wie lange es dauert, um ein Ergebnis zu erzielen, ist nebensächlich.“
„Aber können wir denn ein Ergebnis in unserem Sinne erwarten? Wir schlagen uns jetzt schon seit mehr als anderthalb Jahren mit diesen aufreibenden Verhandlungen herum – und haben nur erreicht, dass uns noch ein Land den Hypnos streitig macht. Am Ende tun wir hier die ganze Arbeit, nur damit die Griechen die Skulptur bekommen.“
„Die Statue stammt aus Griechenland, sie wurde dort erschaffen. Es war zu erwarten, dass die Griechen auch Ansprüche erheben, sobald die Nachricht von der Forderung des Irans …“
„Das hätten Sie voraussehen und unsere Forderung aus den Medien heraushalten müssen!“, unterbrach ihn Nassir. Auch das hatte er bis jetzt noch nie getan.
Samimi konzentrierte sich ganz auf Nassirs Angriff. Er ließ seinen Blick von dem Lautsprecher zu dem Anwalt wandern, dann schaute er rasch zu seinem Boss, der auf die brennende Asche an seiner Zigarrenspitze starrte.
„Wir sind in Amerika. Hier kann man nichts aus den Medien heraushalten“, entgegnete Reza.
„Ach wirklich? Heißt es nicht, Amerika sei das Land der unbegrenzten Möglichkeiten?“, fragte Nassir.
„Mr Nassir, wir streiten hier wegen etwas, das vor über einem Jahr passiert ist“, sagte der Anwalt. „Dabei haben wir im Moment ein viel schwerwiegenderes Problem und sollten uns lieber darum kümmern. Ich kann das Risiko nicht …“
„Danke, Mr Reza.“ Wieder unterbrach ihn Nassir. „Ich kümmere mich um diese gefälschten Dokumente und finde heraus, woher sie stammen. Und wo die echten stecken. Denn es existieren echte Dokumente, das versichere ich Ihnen. Jemand will uns bloßstellen. Bitte geben Sie die Dokumente an Samimi zurück. … Samimi, Sie sind da?“
„Ja, Minister.“ Er setzte sich hastig auf. Dabei hatten die Lautsprecher natürlich nicht plötzlich Augen bekommen; der Minister konnte ihn nicht sehen.
„Bringen Sie Mr Reza hinaus und kommen Sie dann wieder. Wir müssen noch einige andere Dinge besprechen, die nichts mit dem Hypnos zu tun haben.“
Reza stand auf und ging zur Tür, ohne auf Samimi zu warten. Er rannte ihm hinterher und begleitete den Anwalt bis zum Empfangsbereich. Besuchern war es nicht gestattet, unbeaufsichtigt durch die Büros zu gehen.
Zwei uniformierte Sicherheitsmänner standen in der Lobby und bewachten die Tür. Sie gaben den Weg sofort frei, und Reza und Samimi traten hinaus in den Gang, wo sich die Aufzüge befanden.
„Es hat Hunderte von Jahre gedauert, bis die Statue hier im Met gelandet ist. Ich hoffe, Sie können Ihrem Boss begreiflich machen, dass wir so eine alte Geschichte nicht innerhalb von wenigen Monaten aufklären können.“
„Ich rede mit ihm, Mr Reza. Zumindest versuchen kann ich es“, sagte Samimi und kam sich mit einem Mal klein vor, als er zu dem Anwalt hochblickte, der gut einen Kopf größer war als er. „Wir schätzen sehr, was Sie für uns tun. Selbst der Minister, auch wenn er Ihnen heute sicher ziemlich ungeduldig erschienen ist.“ Er drückte auf den Knopf am Aufzug.
„Er kam mir mehr als nur ziemlich ungeduldig vor.“
Seit Samimi Reza kannte, hatte er ihn noch nie so besorgt gesehen. Er setzte sein überzeugendstes Jungdiplomatenlächeln auf und versuchte, den Anwalt zu beruhigen. „Es ist nur der Schock. Erst der neue Museumsdirektor, der unserem Anliegen so ablehnend gegenübersteht. Und jetzt diese Sache.“ Er zuckte mit den Schultern. „An Tyler Weils Stelle würde ich mir zu meinem Dienstantritt bestimmt kein Debakel um Beutekunstvorwürfe wünschen.“
„Oder vielleicht würden Sie sich genau das wünschen. Ein überzeugender Auftritt, bei dem er eindeutig Position beziehen kann, ist vielleicht genau das, was Tyler Weil für seine Karriere noch braucht.“
„Ja, ich verstehe, was Sie meinen.“ So hatte Samimi die Sache noch nicht betrachtet.
Der Aufzug kam. Reza trat hinein, streckte aber die Hand aus und hielt die Tür offen. „Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie Neuigkeiten haben“, sagte er.
Als der Aufzug sich schloss, fielen Samimi die auf Hochglanz polierten Schuhe des Anwalts ins Auge. Er blickte hinunter zu seinen eigenen glänzenden Schuhen. Er achtete immer sehr genau auf jedes Detail von Rezas Kleidung und Benehmen. Es war Teil eines selbst auferlegten Projekts, das er bei sich die Erziehung des Ali Samimi nannte. Es sollte ihm helfen, wie Reza ein richtiger Amerikaner zu werden, der sich in die Gesellschaft einfügte, trotz der dunklen Hautfarbe und des schwarzen Haars. Samimi war von Reza beeindruckt. Und er beneidete ihn: Reza war ein Bürger der USA, New York war seine Heimat. Reza musste sich keine Sorgen machen, ob er irgendwann zurück in den Iran verschifft wurde, aus der Laune eines Vorgesetzten heraus.
Langsam ging Samimi zurück zu dem verrauchten Raum, in dem die Konferenzschaltung noch immer im Gange war. Falls in seiner Abwesenheit etwas Wichtiges besprochen wurde, würde er es später herausfinden; Samimi schnitt das Gespräch mit. Er hoffte nur, dass sein Boss niemals von diesen geheimen Aufzeichnungen erfahren würde.
Mit den Wölfen kannst du nur spielen, wenn du selbst ein Wolf bist.Das hatte sein Großvater ihm beigebracht. Und Samimi spielte mit den Wölfen, daran konnte es keinen Zweifel geben. Vom ersten Moment an hatte er gewusst, dass er Taghinia nicht trauen konnte. Taghinia mit seinen Blähungen und den Zähnen, die schon gelb waren von der Kettenraucherei. Ständig ließ er den jüngeren Samimi spüren, wer der Boss war, und demütigte ihn, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Auch schob Taghinia ihm immer mehr Arbeit zu, sodass Samimi inzwischen den Löwenanteil der Aufgaben absolvierte, für die eigentlich sein Boss zuständig war. Zusätzlich zu seiner eigenen Arbeit natürlich. Er hätte sich schon längst beschwert, wäre da nicht das Ziel, das er sich auf lange Sicht gesetzt hatte: Samimi wollte einen Weg finden, um in den USA zu bleiben.
Mit fünfunddreißig war er in New York angekommen, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte ihn eine wahre Leidenschaft gepackt. Er liebte alles an dieser Stadt, die er zu seiner Wahlheimat erkoren hatte: die Restaurants, die kulturelle Szene, das Nachtleben, die Energie und das Tempo, die Architektur und besonders die Frauen. Samimi kam es vor, als hätte er früher nur existiert; jetzt fühlte er sich lebendig. Eine Beschwerde hätte nur seine Rückversetzung nach Teheran zur Folge. Deshalb ließ er sich das Verhalten dieses zweiundfünfzigjährigen Kerls gefallen, der neben seinen anderen unausstehlichen Eigenschaften auch noch vollkommen immun war gegenüber den Versuchungen Amerikas. Wie konnte das nur sein? Taghinia wohnte drei Straßen vom Büro entfernt und verließ den Stadtteil nur dann, wenn es unbedingt nötig war. Er brüstete sich geradezu damit, dass er noch nie im Central Park gewesen war und weder den nächtlichen Broadway noch die Upper East Side gesehen hatte. Von all den New Yorker Restaurants kannte er nur das persische Lokal zehn Blocks die Third Avenue hinauf, in dem er manchmal aß. Taghinia betonte oft, wie gerne er für sein Land sterben würde, und dass er hier in New York schon mit einem Fuß im Grab stand. Er hasste die Stadt für ihre Auswüchse und konzentrierte sich auf den Tag, wenn sein Heimatland wieder als eine führende Supermacht anerkannt war. Ruhen würde er erst, wenn der Islam wieder die Weltherrschaft innehatte, keinen Tag früher. Diesen letzten Spruch bekam Samimi fast täglich zu hören.
Ich nicht, dachte Samimi, als er den Konferenzraum wieder betrat. Ich nicht.Für seine Überzeugung zu sterben war gewiss ein hehres Ideal, aber für ihn kam es nicht infrage. Nicht, wenn es hier so viel gab, für das es sich zu leben lohnte. Laurie Yardley zum Beispiel. Sie hatte nackt im Bett gelegen, als er am Morgen ihr Apartment verließ. Mit einem unvergleichlich lasziven Gesichtsausdruck hatte sie all die schamlosen Dinge aufgelistet, die ihn am Abend erwarteten. Er setzte sich rasch, damit niemand mitbekam, was sich in seinem Schritt abzeichnete.
„Wenn wir es so laufen lassen wie bisher, kann der Schaden am Ende nur umso größer sein. Diese antiken Teppiche müssen ausgebessert werden, sobald sich die ersten Fäden lösen“, dröhnte Nassirs Stimme aus dem Lautsprecher. „Habe ich mich klar ausgedrückt? Die Sache muss jetzt erledigt werden!“ Samimi blickte hinunter auf seine polierten Schuhe auf dem prächtigen, in Saphirblau und Rubinrot gewobenen Teppich. Der Raum war mit noch fünf weiteren Perserteppichen von ähnlich hoher Qualität ausgestattet. Jeder war mehr wert als die meisten Menschen sogar hier in den USA in einem Jahr verdienten. Es war wirklich der reinste Hohn. Diese kostbaren Teppiche gehörten ins Museum, zumindest sollten sie an den Wänden hängen. Die Teppiche waren nicht reparaturbedürftig, auch wenn täglich etliche Gäste auf ihnen herumtrampelten und Taghinia ständig Zigarrenasche auf die dreihundert Jahre alten Meisterwerke fallen ließ. Sein Boss und der Minister sprachen in einem Code, in den Samimi zwar offiziell nicht eingeweiht war, den er aber schon vor Monaten geknackt hatte.
„Wir behalten die Sache im Auge“, nickte Taghinia.
„Es ist an der Zeit, dass Samimi die Verantwortung für die Teppiche übernimmt“, entschied der Minister.
Taghinia schaute zu Samimi hinüber, wobei er die dicken Augenbrauen hob, als sei er beeindruckt. „Wird gemacht, Minister.“
Samimi lief es kalt den Rücken hinunter.
„Samimi, sind Sie da?“
„Ja, Minister.“
„Ich zähle auf Sie.“
„Ja, Minister.“
„Taghinia wird Ihnen alles erklären.“
Panik stieg in Samimi hoch, und er riss sich zusammen. „Ja, Minister.“ Hoffentlich konnte Nassir nicht hören, wie trocken sein Mund geworden war.
Doch der Minister sagte nur „Ausgezeichnet“ und legte auf.
„Wenn sich die ersten Fäden lösen? Was meint er damit?“, fragte Samimi.
Taghinia wischte die Frage mit einer Handbewegung weg. „Hier geht’s nicht um Teppiche, du Idiot.“
„Das war ein Code?“ Samimi konnte nur hoffen, dass seine Schauspielerei überzeugend wirkte.
„Natürlich war das ein Code. Der Minister will, dass wir Hypnos nach Hause bringen.“
„Dafür haben wir Reza. Er arbeitet daran.“
„In diesem Land gibt es zu viel Bürokratie. Zu viele Regulierungskommissionen. Zu viele Ebenen, die mit einbezogen werden müssen. Wir können die Sache viel schneller erledigen, wenn wir diese Formalitäten umgehen. Also bringen wir die Statue selbst zurück in den Iran.“
„Wir können den Hypnos nicht illegal aus dem Met schaffen.“
„Ein paar unserer Männer arbeiten doch im Museum, oder nicht?“
„Nur zwei.“
„Was hindert uns daran, noch mehr Leute einzuschleusen? Bring noch fünf oder sechs im Museum unter!“
„Die beiden Männer waren für die Bewachung der Statue abkommandiert.“
Taghinia erwiderte nichts.
„Als zusätzliches Sicherheitspersonal, hast du gesagt“, drängte Samimi.
„Das sind sie auch. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht auch für andere Zwecke eingesetzt werden können.“
Darüber hatte Samimi nie auch nur ein Wort in den heimlichen Aufnahmen gehört. Was hatte er da nicht mitbekommen? Er kam sich dumm vor. Dann fiel ihm noch etwas ein, und ihm wurde übel. Zwei Mal in den letzten acht Monaten hatte Samimi der stellvertretenden Kuratorin der Abteilung für Islamische Kunst kleine Kunstobjekte überbracht. Angeblich waren es Schenkungen eines reichen Iraners, der nach Aussage Taghinias anonym bleiben wollte.
„Was ist mit den Objekten, die ich Deborah Mitchell übergeben habe … Gehört sie auch zu diesem Plan?“
„Eine Art Versicherung.“ Taghinia nickte.
„Sind Abhörwanzen in den Objekten?“
„Nein.“ Taghinia lachte. „Die Gegenstände selbst sind authentisch. Ich wollte, dass du jemanden aus dem Museum kennenlernst, der über die Sammlung Islamischer Kunst Bescheid weiß.“
Samimi schaute auf seine gespreizten Finger auf der Tischplatte. Da hatte er gedacht, er hätte seinen Boss überlistet, aber offenbar hatte er selbst doch ein paar wichtige Memos verpasst. „Das Met ist eine der sichersten Institutionen der Welt.“
„Soll heißen?“
„Diebstahl ist ein Ding der Unmöglichkeit.“
„Das klingt, als wärst du beeindruckt von dem Museum. Stimmt das? Diese Deborah Mitchell … bedeutet sie dir etwas?“
Seit dem ersten Tag, als Samimi die große Eingangshalle des Metropolitan Museums of Art betreten hatte, war er vollkommen fasziniert von all dem Marmor und Stein, der kühlen Luft, geschwängert vom Duft der riesigen Blumenarrangements in den Alkoven, der klassischen Beaux-Arts-Architektur und den endlosen Flügeln, die in immer weitere endlose Flügel führten, in denen die künstlerischen Errungenschaften einer großen Kultur nach der anderen zur Schau gestellt wurden. Es war schwer für ihn, Deborah nicht als Teil des Ortes zu sehen, an dem sie arbeitete. Er hatte viele Frauen in New York kennengelernt und fand etliche begehrenswert. Doch sie war die Einzige, mit der er nicht geflirtet hatte. Deborah gehörte einfach zum Metropolitan Museum of Art.
„Natürlich nicht, aber … Was du vorschlägst … das ist Wahnsinn, Farid! Dir ist klar, dass wir von einer zweieinhalb Meter großen Statue aus Marmor sprechen. Ich weiß, es ist ein sehr bedeutendes Artefakt, aber …“
„Stell dich nicht dümmer, als du bist! Hier geht es um viel mehr als nur ein Artefakt.“ Er zog an seiner Zigarre, und seine reptilienartigen Augen verengten sich. „Bei der Suche nach den Unterlagen für Reza ist unser Minister auf ein paar Dokumente gestoßen, die er weder dem Anwalt noch sonst jemandem gezeigt hat. Anscheinend ist der Hypnos eine Art okkultistischer Landkarte. Darin ist das Geheimnis verborgen, wie der Mensch seine eigenen inneren Kräfte nutzen und höhere Sphären des Bewusstseins erreichen kann. Visionen, Hellseherei, Voraussagen, außerkörperliche Erfahrungen – das alles wird dadurch möglich. Mit diesen Kräften genügt allein die Vorstellungskraft des Menschen, um die Realität zu verändern. Du brauchst dir nur vorzustellen, du würdest jemanden umbringen. Die Kraft deiner Fantasie besorgt den Rest.“
„Diesen Quatsch glaubst du nicht im Ernst!“
„Gibt es etwas Wertvolleres als Potenzial, Ali? Als eine Chance? Als ein Versprechen oder eine Drohung? Hypnos und seine Geheimnisse stehen uns von Rechts wegen zu. Wir wollen sie zurückhaben.“ Er schnippte ein überlanges Aschenstück in einen Kristallaschenbecher. „Koste es, was es wolle.“
Die Tugenden, die wir im Laufe eines Lebens erwerben und die langsam in uns reifen, bilden die unsichtbaren Brücken, die unsere jetzige Existenz mit den anderen verbindet – Existenzen, an die sich nur der Geist entsinnt, denn Materie hat keine Erinnerung an Spirituelles.
– Honoré de Balzac, „Seraphita“ –
Der schlaksige Mann schlenderte mit unbekümmerten Schritten die enge Wiener Gasse entlang. Er wirkte völlig sorglos, ganz so, als kenne er Schicksalsschläge oder Krankheit nur aus den Erzählungen anderer. Die Steinplatten unter seinen Füßen schienen nur für ihn die Gasse zu pflastern, und er schritt aus, als lägen die Häuser im strahlenden Sonnenschein. Dabei war es mitten in der Nacht, es war windig, und ein kalter Platzregen kam herunter, mit dem man im April, aber bestimmt nicht im Mai rechnete.
Er war erst seit sechs Tagen in der Stadt, doch hatte er schon genug gesehen, um eine Abneigung gegen Wien zu entwickeln. Müde fühlte die Stadt sich an, als lägen ihre Geheimnisse wie schwere Bürden auf den Schultern ihrer Bewohner. Bürden, die sich nicht abschütteln ließen und die sie kaum mehr tragen konnten.
Vielleicht aber mochte er Wien auch nicht, weil er selbst hier versagt hatte.
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